1Dr. phil. Dieter Breithecker
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
1 „Lasst den Philipp doch mal zappeln !“ Warum kippeln Kinder auf Stühlen und welche Rückschlüsse lassen sich daraus auf orthopädisch-physiologische Sitzverhältnisse und Sitzverhaltensweisen ziehen? Dr. phil. Dieter Breithecker Bundesarbeitsgemeinschaft für Haltungs- und Bewegungsförderung e. V. Matthias-Claudius-Straße 14 65185 Wiesbaden Tel. 0611/374209 Fax 0611/9100706 E-Mail: baggesund@aol.com www.bag-haltungundbewegung.de
„Lasst den Philipp doch mal zappeln!“ 2 Inhalt - Vorwort. Seite 3 - Der Homo Sedens und die Folgen. Seite 4 - Das Sitzdogma von Gestern – ein „Belastungspaket mit Zeitzünder“. Seite 6 - Betroffen vom „Sitzfehlverhalten“ sind: 1. die Wirbelsäule, 2. die Muskel- und Atemorgane, 3. das Wahrnehmungs- system. Seite 6 1. „Sitzfehlverhalten“ und seine Auswirkungen auf die Wirbelsäule. Seite 6 2. „Sitzfehlverhalten“ und seine Auswirkungen auf das Muskel- und Atmungssystem. Seite 7 3. „Sitzfehlverhalten“ und seine Auswirkungen auf das Wahrnehmungssystem. Seite 8 - „Aussitzen“ oder handeln? Wie sieht das Klassenzimmer der Zukunft aus? Seite 10 - Regel Nr. 1 Die „Sitzgröße“ muss stimmen. Jedes Kind braucht einen „Arbeitsplatz“ der passt! Seite 10 - Regel Nr. 2 Starr sitzen war gestern, heute sitzen wir in Bewegung! Seite 12 - Regel Nr. 3 Schulmöbel müssen sich dem Bewegungsbedürfnis des Kindes anpassen und nicht umgekehrt („Bedürfnisergonomie“)! Seite 14 - Regel Nr. 4 Längeres Sitzen sollte im Interesse des Kindes häufiger unterbrochen werden! Seite 16 - Sitzen und Bewegen im Klassenzimmer – nicht nur für die Schule der Zukunft. Seite 16 Verfasser: Dr. phil. Dieter Breithecker Herausgeber: Bundesarbeitsgemeinschaft für Haltungs- und Bewegungsförderung e. V. Matthias-Claudius-Straße 14 65185 Wiesbaden Tel. 0611/374209 Fax 0611/9100706 E-Mail: baggesund@aol.com www.bag-haltungundbewegung.de
„Lasst den Philipp doch mal zappeln!“ 3 Vorwort. damit auch die Rückenschäden Erwachsener kontinuier- lich zunehmen werden. Hier ist insbesondere die sich im Zuge der Computerarbeit herauskristallisierende „Tunnel- Die vorliegende Abhandlung soll wichtige Impulse liefern, haltung“ – Kopfhaltung und Blickrichtung ändern sich sel- die zu einer sensibleren und verantwortlicheren Einstel- ten – als Belastungsfaktor hervorzuheben. lung von Lehrkräften und „EntscheidungsträgerInnen“ zu den Themen „Sitzen” und „Bewegen“ und insbesondere dem „Arbeitsplatz Schule“ – im speziellen beitragen. Die BAG ist ein gemeinnütziger Verein, der sich seit über 40 Jahren mit Maßnahmen im Rahmen der Früherkennung und Frühförderung von Kindern und Jugendlichen mit Haltungs- und Bewegungsstörungen beschäftigt. Es ist schon etwas befremdend, wenn die BAG als eine in dieser Thematik stehende und gewachsene Institution erkennen muss, dass eine hinsichtlich Immer noch sitzen viele Schüler auf gesundheitlicher Fragestel- überaltertem, inadäquatem und sitz- physiologischen Anforderungen nicht lungen so aufgeklärte und entsprechendem Schulmobiliar. Dabei aufgeschlossene Zivilisa- ist heute gerade für Heranwachsende höhere Sitzqualität gefordert. tion es sich erlauben kann, Heranwachsende – in einer Altersphase der sensibelsten Ausdifferenzierung biologi- scher Reifungsprozesse – auf Schulmöbeln sitzen zu las- sen, die zum großen Teil 20 Jahre und älter sind. Hinzu kommt, dass nicht einmal 17 % der Grundschüler an Abb. 1: Das Alter trägt auf seinem „Buckel“ der Jugend- Stuhl-Tisch-Kombinationen sitzen, die ihrer Körpergröße sünden Last. entsprechen (Breithecker 2002). Ganz zu schweigen davon, dass selbst neu produzierte Schulmöbel auf überal- Da aber der Deformationsprozess weitgehend schleichend terten sitzphysiologischen Konstruktionen bzw. Sitzdog- und schmerzlos verläuft, klagen Kinder noch nicht so laut, men basieren. obwohl sie mit zunehmendem Grundschulalter immer mehr den Kopf- und Rückenschmerz beklagen. Die „Pisa-Studie“ Argumente wie: „zu unserer Kinder- und Jugendzeit haben lässt grüßen. Wieder wird man nur reagieren, statt rechtzei- wir auch auf solchen Möbeln gesessen…“ machen das tig zu agieren! Problem, Verständnis und Sensibilität für dieses Thema auszulösen, erst richtig deutlich. Kinder sind immer Kin- Schließlich dürfte doch spätestens seit den ersten wissen- der ihrer Zeit. Vor 20 oder 30 Jahren waren Kinder körper- schaftlichen Erkenntnissen, hinsichtlich der Zusammen- lich wesentlich aktiver („Straßenspielkultur“) und hatten hänge von ergonomisch unzureichenden Bürodrehstühlen dadurch den für ihre Entwicklung notwendigen physiolo- und den Rückenerkrankungen der darauf Sitzenden, die gischen Ausgleich. Heutzutage verbringen schon Grund- Notwendigkeit nach ergonomischen Arbeitsplätzen be- schulkinder aufgrund veränderter Freizeitaktivitäten kannt sein. Was für jeden Büroarbeitsplatz heute mit durchschnittlich neun Stunden täglich im Sitzen. Diesem Selbstverständlichkeit Mehr an Sitzzeit steht aber insbesondere für Kinder in gefordert wird - er muss Für Büroarbeitsplätze längst selbstver- ständlich, in der Schule noch nicht in der Schule nicht unbedingt eine bessere orthopädisch- durch ergonomische Ver- voller Tragweite bekannt: der ergono- physiologische Sitzqualität gegenüber. hältnisse die Gesundheit mische Arbeitsplatz. und das psycho-physische Im menschlichen Zivilisationsprozess Zwar gibt es sie, die für die gesunde Entwicklung des Kin- Wohlbefinden des Mitar- werden Haltung und Bewegung regle- des aufklärenden Schulinitiativen wie z. B. „Netzwerk beiters erhalten - wird in mentiert. Mit entsprechenden Auswir- kungen für Kinder, Jugendliche und Schule und Gesundheit“ oder „Bewegte Schule/Gesunde der Schule aus Kostengrün- Erwachsene. Schule“; das Thema „ergonomischer Schülerarbeits- den und aus Unkenntnis platz“ bleibt trotz Erkenntnissen hinsichtlich der entste- vernachlässigt. Ein ergonomisch wertvoller Bürodrehstuhl henden Belastungen ausgeklammert. Spricht man dieses für die Gesunderhaltung darf ca. 600 Euro kosten, ein Thema an, heißt es, „ ...dafür ist kein Geld vorhanden!“. Schulstuhl für die gesunde Entwicklung keine 40 Euro! Bedenkt man, dass mit der aktuellen Initiative „Schulen Unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten ein Eigentor, ans Netz“ sich die Sitzproblematik weiter verschärfen wenn man die Folgekosten antizipiert. Zynisch betrachtet wird, dann dürfte es nicht nur Experten klar sein, dass ist die Konterkarierung solcher Erkenntnisse die beste zukünftig die Haltungsprobleme Heranwachsender und Methode, „Zulieferer“ unserer Medizinsysteme zu werden.
„Lasst den Philipp doch mal zappeln!“ 4 Der Homo Sedens und die Folgen. Der Zivilisationsprozess der Menschen und ihre Verflech- tungsordnung in der westlichen Industriegesellschaft hat zur Folge, dass die unkontrollierten spontanen Äußerun- gen des Körpers immer mehr verdrängt werden und somit auch Haltung und Bewegung des menschlichen Körpers einem „gesellschaftlichen Zwang zum Selbstzwang“ (Elias 1969, 312) unterwirft. Durch die fortschreitende Entwicklung der Computertech- nologie und der wachsenden geistigen Beanspruchung sowie der sich verstärkenden sozialen Isolation verändert sich zunehmend das Verhaltensprofil von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Immer mehr wird die Abb. 2: „Einstuhlung“. körperliche Bewegung zugunsten abstrahierter und digi- talisierter Arbeitsprozesse - welche ausschließlich sitzend Orthopäden, Industrieanthropologen und Möbelhersteller erledigt werden - aus dem Alltag herausgedrängt. sind gleichermaßen an diesem Thema interessiert und ha- ben diese in den letzten Jahren dazu bewegt, die ergonomi- Wir passen uns ständig irgendwelchen unterschiedlichen, schen Aspekte der Gestaltung von Büroarbeitsplätzen stär- unzureichend gestalteten Stühlen an, aber kaum ein Stuhl ker zu berücksichtigen und mit arbeitssicherheitstechni- wird den Bedürfnissen des jeweiligen Benutzers gerecht. schen und gesundheitstechnischen Standards (Arbeits- Diese dadurch eingenom- platzschutzbestimmungen) zu regeln. Für den „Büromen- Statt körperlicher Bewegung herrscht menen fehlerhaften, sta- schen“ werden in der Tat gewaltige Anstrengungen unter- zunehmender Sitzzwang. Doch kaum ein Stuhl wird den wahren Bedürfnis- tischen und verkrampften nommen, gesundheitskonforme Verhältnisse und Verhal- sen des Benutzers gerecht. Zwangshaltungen haben tensweisen anzubahnen. Die Kinder in der Schule dagegen orthopädische Beschwerden sind nie so recht beachtet Das Sitzproblem: zunehmend mehr zur Folge, wodurch Sitzschäden in der Krankheitsstatistik worden, obwohl rein zeit- Menschen sind von Nacken- und zunehmend an Bedeutung gewinnen. lich gemessen, sie sowohl Rückenbeschwerden betroffen. Den Angaben des Berufsverbandes der Betriebskranken- mit der Bürokraft als auch kassen zufolge, dominieren die Erkrankungen am Stütz- mit dem Berufskraftfahrer konkurrieren können, was die und Bewegungsapparat seit Jahren. Wer den überwiegen- Sitzzeit anbelangt. Darüber hinaus sind sie bezüglich der den Teil seiner Tätigkeiten am Bildschirm, Personal-Com- diskutierten Belastungen durch das Sitzen weit mehr puter, Fernseher oder Spielkonsolen verbringt, ist im betroffen, weil stundenlanges Sitzen sie zu einem Zeit- besonderen Maße von Nacken- und Rückenbeschwerden punkt trifft, wo entscheidende wachstums- und reifungs- betroffen. Statistiken zeigen die generelle Bedeutung die- bedingte Veränderungen des Muskel-, Skelett- und Ner- ser Erkrankungen deutlich auf. vensystems ihre Entwicklung prägen. Sitzende Tätigkeiten und ihr Einfluss auf Muskel- und Ske- letterkrankungen - aber auch auf das allgemeine Wohlbefin- den - werden seit langem heftig diskutiert. Schließlich ist das „Sitzproblem“ uralt und seit Jahrhunderten bekannt. Die körperliche Inaktivität der heutigen Zeit kommt besonders erschwerend hinzu. Abb. 3: Leben ist Bewegung – Bewegung ist Leben.
„Lasst den Philipp doch mal zappeln!“ 5 So ist z.B. die Haltungsentwicklung reifeabhängig und • Über 83 % der Grundschüler sitzen an Tisch-Stuhl- verläuft in verschiedenen Entwicklungsphasen. Das heißt, Kombinationen, die nicht ihrer Körpergröße entsprechen Form und Funktion der aufrechten Haltung sind nicht von (Breithecker 2002)! Geburt an vorhanden, sondern werden im Verlauf der Ent- • Kinder im Grundschulalter verbringen durchschnittlich wicklung erworben. Dabei spielen hinsichtlich der Qualität 9 Stunden am Tag im Sitzen (Bös 1998)! dieser an der Entwicklung beteiligten organischen Funk- • Ein Drittel der Schüler zwischen 7 und 17 Jahren bekla- tionen insbesondere Bewegungstätigkeiten eine entschei- gen den „Schulkopfschmerz“ (Illi 1991, Faustmann dende Rolle, wie sie uns aus eigenen Kindheitserinnerun- 1994), 50 % haben Konzentrationsschwierigkeiten und gen noch bekannt sein dürften (Klettern, Springen, Hüp- 43 % haben gelegentlich Rückenschmerzen (Bös 2002)! fen, Balancieren, Drehen…). Fehlen solche natürlichen • Von 1980 bis heute hat sich die Zahl der übergewichti- Entwicklungsreize kann speziell das jüngere bis mittlere gen Kinder um ca. 30 % erhöht (Bös 2002)! Schulalter als Initialphase langwieriger pathogener • Im Durchschnitt haben sich die Schülerinnen und Schü- Fehlentwicklungen des Muskel-Skelett-Systems an- ler in ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit in den ver- gesehen werden. gangenen 20 Jahren um ca. 10 % verschlechtert (Bös 2002)! Anders ausgedrückt: Eine mangelhafte motorische Ent- • 48 % der 11–14-jährigen weisen Haltungsstörungen auf wicklung mit einhergehenden Muskel- und Koordinations- (Schmitt 2002)! schwächen im Vorschulalter bildet bereits die Grundlage • Die meisten Schulmöbel sind veraltet und entsprechen für Haltungsschwächen im Grundschulalter (erster in keiner Weise orthopädisch-physiologischen Mindest- Gestaltwandel). Zunehmender Bewegungsmangel, beglei- anforderungen (Breithecker 1996, Jerosch, Jansen tet von stundenlangen Sitzzeiten auf ergonomisch unzu- 1997)! mutbaren Schul- und Freizeitmöbeln sowie weitere rü- ckenbelastende Faktoren wie z. B. zu schwere Schulta- Experten sind sich einig, spätestens mit Eintritt in das schen, begünstigen in diesen hochempfindlichen Entwi- Schulalter wird aus dem bewegungsfreudigen Spielkind cklungsjahren das Entstehen von Haltungsschäden. ein Sitzkind. Den Kindern das Sitzen zu lehren ist in den westlichen Ländern ein wichtiges Gebot eines „heim- Tatsache ist, dass der Ausgangspunkt vieler Erkran- lichen Lehrplans“. Das gefährlichste am Sitzen aber ist kungen lange vor dem ersten Auftreten, bereits im Vor- das „Stillsitzen“ und das „Dauersitzen“. Erschwerend schul- und Grundschulalter liegt, zu einem Zeitpunkt, wirkt sich darüber hinaus ein noch immer weit verbreitetes wo grundlegende Reifungs- und Entwicklungsprozesse Sitzdogma aus, das ein rechtwinkeliges Sitzen mit fixier- das Heranwachsen prägen. tem Becken favorisiert! Die Bundesarbeitsgemeinschaft für Haltungs- und Bewe- gungsförderung e. V. beschäftigt sich bereits seit mehreren Jahren mit der Betrachtung von Zusammenhängen zwi- schen Bewegungsmangel, zunehmendem Sitzverhalten und Fitness- sowie Gesund- Die Schule macht aus dem Spielkind ein Sitzkind. Um Risikofaktoren in heitsmängel im Kindes- diesem Prozess in den Griff zu be- und Jugendalter (vgl. kommen, gilt es, Kindern richtiges Sitzen zu lehren. Breithecker 1996, Breith- ecker 1998, Illi; Breit- hecker 1998). Dabei sind nachfolgend beschriebene Fak- ten in den so hoch entwickelten westeuropäischen Indu- strienationen zu einem tragenden Risikofaktor gesund- heitspolitischer Überlegungen geworden. Abb. 4: Unphysiologische Sitzhaltung.
„Lasst den Philipp doch mal zappeln!“ 6 Das Sitzdogma von Gestern – Rückenlehne weitmöglichst die ihr zugedachte Aufgabe ei- ein „Belastungspaket ner Rückenstütze übernehmen und erfüllen kann: die Sitzflächen fallen nach hinten leicht ab, um einerseits mit Zeitzünder“. ein Nach-Vorne-Rutschen zu vermeiden und andererseits auch dem Rumpf eine leichte Rückwärtsneigung zu Lange Sitzzeiten auf unzulänglichen Sitzmöbeln sowie ein erleichtern, damit möglichst viel Gewicht auf die Rücken- falsches Sitzverhalten haben schwerwiegende Auswirkun- lehne abgegeben werden kann; zusätzlich sorgen rückwär- gen für den in der Entwicklung befindlichen Heranwach- tige Ausbuchtungen für das Gesäß im Übergang von der senden, mit seinen körperlichen, geistigen und seelischen Lehne zur Sitzfläche dafür, dass man sich möglichst weit Ausdifferenzierungsprozessen. Kinder klagen nur nicht nach hinten setzen kann, um die optimalen Voraussetzung- sofort, denn der Deformationsprozess verläuft zunächst en für einen unmittelbaren Kontakt zwischen dem Kreuz schmerzlos aber wirkungsvoll und betrifft in seiner Konse- und der Rückenlehne zu schaffen. quenz insbesondere die im Folgenden beschriebenen Organsysteme. Betroffen vom „Sitzfehlverhalten“ sind: 1. die Wirbelsäule 2. die Muskel- und Atemorgane 3. das Wahrnehmungssystem 1. „Sitzfehlverhalten“ und seine Aus- wirkungen auf die Wirbelsäule. Allen voran ist die noch wachsende, sich ausdifferenzie- rende und damit grundsätzlich weniger belastbare Wirbel- säule des Heranwachsenden in ihrer Reifung und Entwi- cklung gefährdet. Die Ursache liegt unter anderem darin, Abb. 5: In der Stehhaltung (links) nimmt die Lendenwir- dass beim Sitzen auf den belsäule ihre physiologische Form ein (Lordose), bei der Besonders gefährlich: langes Sitzen traditionellen Schulmöbeln Sitzhaltung (rechts) eine unphysiologische (Kyphose). auf schlechten Möbeln und falsches Sitzverhalten durch den Zwang zum die Oberschenkel etwa im Stillsitzen. rechten Winkel zum Rumpf Besonders die Wirbelsäule des Heran- stehen. Diese Überlegungen und die daraus resultierenden Sitz- wachsenden ist durch Fehlentwick- Dies hat zur Folge, dass das formen weisen zwei, möglicherweise entscheidende Fehler lung gefährdet. Unzulängliches Schul- mobiliar fördert den Rundrücken. bei der Stehhaltung nach auf: vorn gekippte Becken in eine nach hinten geneigte Position gebracht wird. Mit die- • Erstens kann trotz gutem Kontakt zwischen Rücken und ser erheblichen, rund 30 Grad umfassenden Aufrichtung Rückenlehne kaum Gewicht auf die Lehne übertragen des Beckens stellt sich die Basisfläche des Kreuzbeines werden, weil deren Rückwärtsneigung viel zu gering fast horizontal ein, so dass der typische Rundrücken ent- bleibt. steht (vgl. Mandal 1991; Rosemeyer 1974). Das Arbeiten • Zweitens kann man aus dieser Sitzhaltung heraus weder an einer horizontalen Tischplatte verstärkt diese Körper- an einem Tisch arbeiten, noch Gespräche führen; im haltung. Gegenteil: das durch das Absitzen ohnehin schon zu stark aufgerichtete Be- cken vermag noch weiter Stühle mit nach hinten abfallender Sitzfläche und horizontale, nicht Unsere derzeitigen Schulmöbel lassen gar keine andere zurückzurollen, so dass geneigte Schülertische verlangen eine Körperhaltung zu. Diejenigen Möbel, die wir heutzutage nur noch die Bildung Arbeitshaltung, in der der Kopf nach weitverbreitet in Schulen, Tagungsräumen oder Hörsälen eines erheblichen Run- vorn gebeugt werden muss. Eine sol- che "Nick-Haltung" begünstigt Schul- vorfinden, „gehen vom Grundgedanken der möglichst drückens den Kopf über kopfschmerz und Rückenbeschwerden. optimalen, aber passiv verstandenen Entlastung der Wir- die Arbeitsfläche zu brin- belsäule bzw. des Rückens aus. Der Erfolg dieser Sitzkon- gen vermag“ (Senn 1991, 16). Dies hat für das noch rei- struktion wird an der möglichst niedrigen Muskelaktivität fende Knochensystem fatale Folgen. der Rückenstrecker gemessen. Um die Rückenstrecker zu entlasten, wird die Sitzschale derart geformt, dass die
„Lasst den Philipp doch mal zappeln!“ 7 So belegen Untersuchungen, „dass seit dem Zweiten Welt- zu einer Einengung des Bauch- und Brustraumes. Dies krieg immer häufiger von Schülern über Kopfschmerzen beeinflusst maßgeblich die inneren Organe; insbesonde- geklagt wurde und, dass dieser Schulkopfschmerz durch re die Atmungs- und Verdauungsorgane werden in ihrer Anschaffung horizontaler Tische begünstigt wurde.“ Als Funktion behindert. Wo nimmt da wohl der dauersitzen- Ursache wird „eine Blockierung des 1. Halswirbelkörpers, de Schüler den notwendigen Sauerstoff her, den das Hirn des Atlas,“ verantwortlich zur Konzentration braucht? Eine statisch-passive Sitzhaltung be- gemacht, „die durch zu einträchtigt nicht nur Wirbelsäule und Becken, sondern auch Atmungs- und starkes Vorbeugen des Kop- Darüber hinaus führt diese „krumme Sitzhaltung“ zu einer Verdauungsorgane in ihrer Funktion. fes bewirkt wird. Blockade Adaptierung des Muskelsystems im Sinne einer gestörten Darüber hinaus ist die Muskelbalance des Atlas bedeutet behin- Muskelbalance. So werden bei einem Schüler mit stark gestört, als Folge davon stellt sich Überlastungsschmerz ein. derte(s) Gelenkfunktion kyphotisierter Wirbelsäule und deutlich nach vorn gekipp- oder Gelenkspiel zwischen ter Kopfhaltung (Nick-Haltung), die er zum Zweck des Hinterhaupt und dem 1. Halswirbelkörper“ (Reinhardt Schreibens auf einer geraden Tischplatte einnehmen muss, 1983, 63 f). Der Schulkopfschmerz wird also ausgelöst enorme Hebelkräfte - vorwiegend die Halswirbelsäule durch Stühle mit nach hinten abfallender Sitzfläche und betreffend - frei, die den Muskeln, welche den Kopf halten die flachen Arbeitsflächen der Tische, die eine Kopfvor- müssen, eine reaktive Anspannung aufzwingen. Wenn beuge „Nick-Haltung“ erzwingen. diese Haltung länger eingenommen wird, kommt es zu Überlastungsreaktionen, schmerzhaften Muskelanspan- nungen und schließlich zum Überlastungsschmerz. Die zunehmenden Klagen der Schüler über Kopfschmerzen bestätigen dieses Symptom. Abb. 6: „Nick-Haltung“. Viele dieser Schüler, die - durch diese Sitzhaltung bedingt - schon in jungen Jahren verstärkt Haltungs- schwächen aufweisen, werden auch im späteren Leben Abb. 7: Der muskuläre „Abbau“ des Schülerrückens im mit ernsten Rückenbeschwerden zu kämpfen haben. Verlauf des Unterrichts. So entstehen Rücken- und Kopf- schmerzen! Damit einhergehend der „Abbau“ der geisti- gen „Frische“. 2. „Sitzfehlverhalten“ und seine Auswirkungen auf das Muskel- und Abbildung 7 macht deutlich, dass letztlich eine über einen Atmungssystem. längeren Zeitraum einge- Gestörte Muskelbalance hat nicht nur nommene unphysiologische Auswirkungen auf die Haltung, son- Körperhaltung dazu führt, dern auf das gesamte Befinden – und Bei der vorwiegend durch die schlechten Schulmöbel dass durch regelrechte Kon- damit auf Konzentrationsfähigkeit und geistige Frische des Schülers. bedingten statisch-passiven Sitzhaltung, die ein zuneh- trakturen die physiologische mendes „In-Sich-Zusammensacken“ bedingt, kommt es Körperstellung kaum mehr Durch traditionelle rechtwinklige Sitz- haltung treten signifikant mehr neben den bereits beschriebenen Veränderungen im eingenommen werden Verkürzungen der Muskulatur auf. Bereich der Wirbelsäule und des Beckens auch automa- kann. Die daraus resultie- tisch zu einer Absenkung des Schultergürtels - die Schul- renden muskulären Dysbalancen beeinflussen neben der tern fallen nach vorn - und des Brustkorbes und dadurch Haltung auch sehr stark das allgemeine Wohlbefinden des betreffenden Schülers.
„Lasst den Philipp doch mal zappeln!“ 8 Beim Sitzen, einer in der heutigen Gesellschaft überwie- durch die rechtwinkelige Sitzhaltung bedingt, drücken die gend eingenommenen Gewohnheitshaltung, ist die Be- inneren Organe nach vorn (der schwächste Punkt bei der ckenbalance für die physiologische Schwingung der Wir- Verformung der Organe durch das Sitzen liegt vorn bauch- belsäule von besonderer Bedeutung, die gestörte Muskel- wärts), wodurch der Erschlaffungsprozess verstärkt wird. balance des Beckens ein wichtiger Krankheitsfaktor (vgl. Reinhardt 1990, 30 f). Sowohl schlaffe Bauchmuskeln als auch eine Schwächung Speziell die postural tonische Muskulatur reagiert im Zuge der phasischen Gesäßmuskeln haben eine Beckenkippung der Inaktivität und der kontinuierlichen Annäherung von nach vorn mit verstärkter Lordosierung der Lendenwirbel- Ansatz und Ursprung - wie es bei bestimmten Muskeln säule und einer Verkürzung der Gegenspieler, der unteren während stereotyper Sitzphasen gegeben ist - mit Verkür- Rückenstreckmuskulatur sowie des Iliopsoas zur Folge. zung. Bei Kindern im ersten Gestaltwandel kommt es folglich Die vorwiegend durch die traditionelle Sitzhaltung (recht- zu einer ungenügenden Beckenaufrichtung. winkeliges Sitzen) bedingte Beckenaufrichtung nähert u. a. die Ansätze der Muskeln der Oberschenkelrückseite, der Die sitzbedingten muskulären Dysbalancen sind Ursa- Außenrotatoren und der Hüftbeuger. chen von Fehlhaltungen und sorgen schon im Kindes- Wie diverse Untersuchungen zur „Dehnfähigkeit der Hüft- und Jugendalter für entsprechende unphysiologische beuger“ belegen, treten im Vergleich unterschiedlicher Zustände an der Wirbelsäule und an den Hüftgelenken, Altersgruppen bei den älteren Kindern signifikant mehr die auf Dauer zu irreparablen Schäden führen können. Verkürzungen auf (Liebisch/Hanel 1991, 8 f; Tauchel/Mül- ler 1986). Cotta/Sommer (1986, 14) erklären diesen Sachverhalt mit 3. „Sitzfehlverhalten“ und seine Aus- einer Verkürzungstendenz des Lendendarmbeinmuskels, wirkungen auf das Wahrnehmungs- die durch langes Sitzen in der Schule verstärkt wird. Ver- system. kürzte Hüftbeuger ziehen im Stehen das Becken nach vorn unten (verstärkte Kippung) und führen zu einer unphysio- logischen Hohlrückenhaltung (Hohlkreuz). Zusätzlich Aus den bisher dargelegten Erkenntnissen wird deutlich, kommt es mit etwa zehn Jahren zu einer stärkeren Festig- dass Sitzen keine Körperhaltung ist, die den Reifungs- und keit des Bandapparates, die insbesondere im Bereich des Entwicklungsprozess fördert. Neben mangelnder Entwi- Beckengürtels erhebliche Bewegungseinschränkungen be- cklungsreize für ein harmonisches Muskel- und Skelett- wirkt. wachstum ist es vor allem die Körperwahrnehmung, die kinästhetisch-vestibulären Funktionen, die aufgrund man- Ähnliche Verkürzungstendenzen sind durch das Sitzen gelnder Bewegungsreize verspätet oder unvollkommen auch im oberen Rumpfbereich zu vermuten. Durch die heranreift. Dies hat zur Folge, dass viele Kinder und Innenrotationsstellung im Schultergelenk ist der m. pecto- Jugendliche ein mangelhaftes Körperbild und Körper- ralis major und minor (gr. und kl. Brustmuskel) sowie der schema aufweisen, welches natürlich auch das Haltungs- m. subscapularis (Unterschulterblattmuskel) betroffen; die bewusstsein negativ prägt. Appelle wie „sitz gerade“ oder Absenkung des Thorax bedingt eine Annäherung des m. „steh gerade“ können folglich nicht fruchten, da die Ange- rectus abdominis (gerader Bauchmuskel). sprochenen über eine mangelhafte Sensibilität der Proprio- zeptoren (Eigenreizempfänger) verfügen. Die Propriozep- Regelmäßiges Dehnen dieser verkürzten Muskulatur tion ermöglicht, dass wir uns aufrecht halten und bewe- sollte ab etwa dem neunten/zehnten Lebensjahr ebenso gen können. Hätten wir weniger Propriozeption zur Ver- zu Inhalten von Bewegungspausen gehören, wie auch fügung, wären wir zu keiner geordneten Haltungs- und das Kräftigen der durch lange Sitzphasen erschlafften Bewegungsleistung fähig. Muskulatur - phasische Durch sitzbedingte muskuläre Dys- Muskeln neigen bei Inakti- „Das menschliche Gehirn denkt nur in Bewegung, leitet balancen ist auch die Muskulatur im oberen Rumpfbereich beeinträchtigt, vität zur Erschlaffung. aber auch jede Bewegung und führt sie bis in die kleinsten zudem sind Bauch- und Gesäß- Einzelheiten aus“ (Reichel/Schuk u. a. 1992, 206). In den muskeln durch Fehlentwicklungen gefährdet. Auch die für die Becken- Gelenken, Muskeln und Sehnen ist ein umfangreiches aufrichtung und damit har- Meldesystem vertreten, das jede Haltung und Bewegung Eine gestörte Entwicklung führt auch monische Haltungsentwi- registriert und dem Gehirn meldet, damit dieses gegebe- zu einer mangelhaften Ausbildung der Körperwahrnehmung. cklung so wichtige Bauch- nenfalls Korrekturen durchführen kann. muskulatur wird durch zu langes und falsches Sitzen in ihrer atrophen Entwicklung Diese kinästhetischen Empfindungen (Lage- und Bewe- begünstigt, die schon durch den akuten Mangel an Bewe- gungssinn) beruhen „neurophysiologisch auf einer peri- gungsreizen im allgemeinen geschwächt ist. Vornehmlich pherzentralen Interaktion. Mit anderen Worten: die von
„Lasst den Philipp doch mal zappeln!“ 9 den Gelenk-, Sehnen- und Muskelrezeptoren ausgehenden Werden z.B. krumme Körperhaltungen zu Gewohnheits- Meldungen werden an das Gehirn weitergeleitet. Das haltungen, „irritiert“ dies unser körpereigenes Meldesy- geschieht in der Weise, dass sowohl das Kleinhirn und der stem (Propriozeption), d.h., Hirnstamm, und dort insbesondere die retikuläre Forma- es wird sich irgendwann an Der Mangel an ausreichenden eigenen Bewegungserfahrungen und zuneh- tion, als auch die sensorischen und motorischen Felder der diese „gewohnte“ Körper- mendes statisch-passives Sitzen Hirnrinde laufend Informationen erhalten. Sie werden haltung mit seinem Melde- führen zu inadäquater Ausbildung der wahrscheinlich gekoppelt system anpassen und diese Propriozeption. Mit fatalen Folgen für Ein Kind braucht ein gut aus- Haltungs- und psychomotorische Ent- gebildetes Körper- und Bewegungs- mit taktilen Informationen. schließlich automatisieren. wicklung der Kinder. gefühl, um seine Körperhaltung Im allgemeinen laufen Dies ist der Zeitpunkt, wo bewusst kontrollieren und beein- flussen zu können. Zur gesunden Ent- diese kinästhetisch-taktilen eine Aufrichtung in die physiologische Haltung vom Indi- wicklung dieser kinästhetischen Wahr- Wahrnehmungsvorgänge viduum als unangenehm empfunden wird. nehmung bedarf es aber kon- mehr unbewusst als tinuierlicher Bewegungsanreize. bewusst ab. Sie können Um die Körperwahrnehmung zu stimulieren genügt es, aber jederzeit bewusst gemacht werden“ (Kiphard 1983, dass Kinder ausreichend Gelegenheit haben, eigene 18). Je mehr Körper- und Bewegungsgefühl ein Kind Bewegungserfahrungen zu sammeln und nicht - wie in der besitzt, desto bewusster wird das Spannen und Entspan- Schule sowie zu Hause leider häufig die Regel - die meiste nen der Muskulatur erlebt und desto besser ist es auch in Zeit des Tages statisch sitzend zu verbringen. Statisch- der Lage, seine Körperhaltung zu kontrollieren und zu passives Sitzen und zunehmende körperliche Inaktivität beeinflussen. lassen die Körperwahrnehmung, die Propriozeption unserer Kinder „einschlafen“ oder sie gar nicht erst aus- Diese für die aufrechte Haltung und Bewegung des Men- reichend entwickeln. schen notwendige Körperwahrnehmung hat sich im Zuge der Evolution - der Aufrichtung des Menschen - ebenso Ein Mangel an adäquater propriozeptiver Reizung kann verändert und ökonomisiert wie die phylogenetischen Ver- sowohl für die Haltungsentwicklung als auch für die änderungen im Bereich des Muskel-Skelettsystems. Das psychomotorische Entwicklung des Kindes fatale Folgen bedeutet aber auch, dass die kinästhetische Wahrnehmung haben. Häufig sind bei ihnen Haltungsbewusstsein sowie wie auch das Muskel- und Skelettsystem ausreichender Bewegungs- und Lageempfinden ungenügend entwickelt, Bewegungsreize bedürfen, um sich gesund zu entwickeln. aber auch ihr psycho-mentales Verhalten zeigt deutliche Auffälligkeiten. So kann sich ein sensorisches System nur entwickeln, wenn es den Kräften, die seine Sinnesorgane aktivieren, So wirkt sich das statisch-passive Sitzen nachhaltig auf die ausgesetzt ist. „Es muss Licht und etwas zu sehen vorhan- Aufmerksamkeit- und Konzentrationsfähigkeit und somit den sein, damit das visuelle System seine Zwischenverbin- auch auf die Lernqualität der Schüler aus. Denn „nicht nur dungen ausbildet, die es für die entsprechende visuelle die kindliche Muskulatur ist für Dauerbelastungen unge- Wahrnehmung benötigt. Und es müssen Klang und Geräu- eignet, sondern auch der kindliche Geist.“ sche für das Gehörsystem zu seiner Entwicklung vorhan- den sein, sowie Körperbewegung für die vestibulären und propriozeptiven Systeme“ (Ayres 1984, 64). Gerade die Jahre der frühen Kindheit bis hin zur Pubertät sind entscheidende Jahre für die Entwicklung und Vervoll- kommnung vestibulär-kinästhetischer Funktionen. Die Reizung der Sinnesorgane, insbesondere der körpernahen Sinne, über vielfältige Bewegungsaktivitäten regen die Neuronen und die Zwischenverbindungen an, sensorische und motorische Verarbeitungen durchzuführen, welche für die harmonische Haltungs- und Bewegungsentwicklung unserer Heranwachsenden unabdingbar sind und für den Rest des Lebens relativ konstant erhalten bleiben. „Im Alter von etwa zehn Jahren ist das Wachstum sensorischer Verbindungen im Gehirn abgeschlossen oder zumindest fast abgeschlossen. Abb. 8: Die Folgen einer unbewegten Schule? Ältere Kinder und Erwachsene können nicht mehr so leicht neue sensorische Verbindungen in ihrem Gehirn auf- nehmen“ (Ayres 1984, 65).
„Lasst den Philipp doch mal zappeln!“ 10 Eine angemessenes Niveau psychomentaler Aktiviertheit „Aussitzen“ oder handeln? ist Voraussetzung für Aufmerksamkeit und konzentriertes Wie sieht das Klassenzimmer der Lernen. Uniforme Anforderungen wie sie im statischen Zukunft aus? passiven Frontalunterricht häufig zum Tragen kommen, lösen einen Zustand herab- „Bewegungsergonomie“ – Unter dauerhaftem Stillsitzen leidet auch die Lernqualität in der Schule. gesetzter psychomentaler so viel Ergonomie wie nötig, Aufmerksamkeit und Konzentration Aktiviertheit aus mit der so viel Bewegung wie möglich. sind vermindert. Folge, dass das Kind seine "Kippeln" auf dem Stuhl ist häufig psycho-physische Haltung nicht Ausdruck fehlenden Interesses, aufgibt (in sich zusammen- Kinder benötigen Sitzmöbel, die den orthopädisch-physio- sondern der Versuch, pschomentale sinkt, Aufmerksamkeitsver- logischen Anforderungen eines heranwachsenden Orga- Aktiviertheit – und damit Aufmerk- samkeit aufrecht zu erhalten. lust, leerer Blick mit vaga- nismus gerecht werden. Kinder müssen zum aktiv - dyna- bundierenden Gedanken) mischen Sitzen und zu einem bewegten Arbeitsverhalten oder der Organismus nach zusätzlicher Stimulation (kom- angeleitet werden. pensatorische körperliche Aktivität) sucht. Die motorische Aktivität wie Recken oder Strecken oder Kippeln auf dem Deshalb sind folgende vier Regeln für ein gesundes Sitzen Stuhl, als kompensatorische Selbstregulation zur Aufrech- und konzentriertes Lernen sowie für ein Wohlfühlen in der terhaltung der psychomentalen Aktiviertheit, ist also nicht Schule unerlässlich. die von einigen Pädagogen so häufig vermutete Disziplin- losigkeit oder fehlendes Interesse, sondern eine mehr Regel Nr. 1: Die „Sitzgröße“ muss stimmen. - Jedes Kind unwillkürliche Maßnahme die dazu dient, eine Desorgani- braucht einen „Arbeitsplatz“ der passt! sation des Verhaltens zu verhindern. Regel Nr. 2: Starr sitzen war gestern, heute sitzen wir in Bewegung. Motorische Aktivitäten, wie von den Kindern u. a. Regel Nr. 3: Schulmöbel der Gegenwart und der Zukunft durch das „Kippeln“ zum Ausdruck gebracht, dienen müssen sich dem Bewegungsbedürfnis des Kindes anpas- der Aufrechterhaltung der Bedingungen für aufmerk- sen und nicht umgekehrt. sames und konzentriertes Verhalten. Regel Nr. 4: Längeres Sitzen sollte im Interesse des Kin- des häufiger unterbrochen werden. Dies wird dahingehend interpretiert, dass die motorischen Aktionen „die Effekte der mangelnden Stimulation durch die sensorische Wahrnehmung kompensieren, weil die for- Regel Nr. 1 matio reticularis, die die Aufrechterhaltung der allgemei- Die „Sitzgröße“ muss stimmen. Jedes nen Hintergrundaktivität reguliert, durch die von den Kör- Kind braucht einen „Arbeitsplatz“ der perbewegungen ausgelösten Afferenzen stimuliert worden passt! ist und sich diese Stimulation entsprechend ausgebreitet hat, so dass bei den deprivierten Personen die Hinter- grundaktivität besser erhalten geblieben ist“ (Imhof 1995, Kinder sitzen, sitzen, sitzen… und das auf meist völlig 226). ungeeigneten Möbeln. Der Missstand beginnt meist damit, dass man ihnen Möbel zumutet, die nicht ihrer Körpergrö- ße entsprechen. Untersu- Kinder brauchen Sitzmöbel, die ihren chungen an Schulen haben spezifischen Anforderungen gerecht ergeben, dass nur jedes werden. Dazu gibt es vier Grund- fünfte Kind auf Schulmö- regeln. beln sitzt, die seiner Kör- Stuhl und Arbeitstisch müssen der pergröße entsprechen. Dar- jeweiligen Körpergröße der Kinder entsprechen. über hinaus sind die mei- sten Schulmöbel uralt und begünstigen fast ausschließlich die hintere Sitzhaltung (Ruhehaltung), in Form eines sta- tisch-passiven Dauersitzens. Entlastende Ausgleichsbewe- gungen, wie das „Kippeln“ werden meist verboten (vgl. Seite 11).
„Lasst den Philipp doch mal zappeln!“ 11 Was für jeden Büroarbeitsplatz heute mit Selbstverständ- Tischschräge von 16° eingenommen wird. Nur so kann der lichkeit gefordert wird - er muss durch ergonomische Rah- belastenden „Nick-Haltung“ („Nick-Haltung“ = der Kopf menbedingungen die Gesundheit und das psycho-physi- wird zu stark nach vorn gebeugt, es entstehen Muskelver- sche Wohlbefinden des Mitarbeiters erhalten - wird in der spannungen im Bereich der Schulter und des Nackens) ent- Schule aus Kostengründen und aus Unkenntnis vernach- gegengewirkt werden, die nachweislich für den immer häu- lässigt. figer artikulierten Schulkopfschmerz Verantwortung trägt. Abb. 9: Nicht alle Schüler sind gleich. Abb. 10: Physiologische Stuhl-Tisch-Einheit. Die Forderung nach kindgerechten Sitz- und Schreib- Die Schule ist auch für Schüler ein möbeln stellt unter gesundheitsvorbeugenden Gesichts- „Arbeitsplatz“, nicht nur für Lehrer. punkten keine Komfortmaßnahme dar, sondern ein medizinisch-gesundheitliches Muss. Heranwachsende verbringen heute mehr Zeit im Sitzen als die heutigen Erwachsenen während ihrer Kindheit. Um so „Richtiges Sitzen“ mehr ist es erforderlich, ist Einstellungssache. Der ergonomische Schüler-Arbeits- dass dies an einem ergono- platz verfügt über eine größen- angepasste Stuhl-Tisch-Kombination, mischen Schüler-Arbeits- möglichst stufenlos höhenverstellbar, platz geschieht. Dieser soll- 1) Zuerst wird der Stuhl angepasst: Die Stuhlhöhe wird und eine schrägstellbare Arbeitsfläche te im Zuge einer Mindestan- so gewählt, dass die Sitzvorderkante etwa der Höhe des des Tisches. So ist eine gute Sitzhal- tung beim Arbeiten gewährleistet. forderung aus einer Stuhl- unteren Kniescheibenpunktes entspricht. Der Winkel zwi- Tisch–Kombination beste- schen Oberschenkel und Rumpf ist dabei leicht geöffnet hen, die der Körpergröße des Kindes entspricht. Wün- und beträgt zwischen 100° und 110° (Das Hüftgelenk schenswert sind aber Schulmöbel, die entsprechend dem befindet sich oberhalb des Kniegelenks). Beide Füße kontinuierlichen Wachstum des Kindes über funktionale haben in der hinteren Sitzhaltung vollen Bodenkontakt. Verstellmöglichkeiten von Tisch und Stuhl verfügen. Bei voller Nutzung der Sitztiefe darf die Vorderkante den Unterschenkel nicht drücken. Die Lehne soll in Zuhörhal- Neben der wünschenswerten stufenlosen Höhenverstell- tung den Rücken unterhalb der Schulterblätter abstützen. barkeit von Stuhl und Tisch sowie einer an die Rücken- form angepassten Stuhllehne, ist im Besonderen auf 2) Erst jetzt erfolgt die Einstellung der Tischhöhe: In eine um mindestens 16° schrägstellbare Arbeitsfläche seitlicher Sitzhaltung zum Tisch hängen die Arme ent- des Tisches Wert zu legen. spannt neben dem Körper. Die Arme werden nun 90° angewinkelt. Die Ellenbogenspitzen befinden sich jetzt Lesen und Schreiben an der zwei bis drei Zentimeter unterhalb der Tischplatte/Tisch- Stuhl und Tisch müssen optimal auf schräggestellten Tischplatte vorderkante. individuelle Größenverhältnisse der Schüler eingestellt werden. Bei der ermöglichen, dass Rumpf Arbeit mit PC sind auch Bildschirm und Kopf aufrechter gehal- und Tastatur in der richtigen Höhe zu positionieren. ten werden können als an einer waagrechten Tisch- platte. Mehrere Studien von Augenärzten und Orthopäden haben gezeigt, dass eine gute Sitzhaltung erst bei einer
„Lasst den Philipp doch mal zappeln!“ 12 Achten Sie auch auf die Sitzhaltung am Computer! Um auch während der Computertätigkeit eine körperge- rechte Sitzhaltung einnehmen zu können, müssen sich Bildschirm, Tastatur und eventuelle Schreibvorlage im optimalen Sehbereich befinden. Dafür ist es erforderlich, den Bildschirm in seiner Höhe so zu positionieren, dass bei aufrechter Sitzhaltung und gerader Kopfhaltung die Augenhöhe und die Oberkante des Bildschirms einer ge- dachten horizontale Linie entsprechen. Abb. 12: Computerterminal. Regel Nr. 2 Starr sitzen war gestern, heute sitzen wir in Bewegung! Grundschulkinder sind hinsichtlich eines „richtigen“ und physiologischen Sitz- und Körperverhaltens die besten Lehrmeister. Der heranwachsende, auf Bewegung ange- wiesene Organismus weiß sich vor einseitigen Belastun- gen gut zu schützen. Auch Nikis Körper, Geist und Seele reagieren sensibel auf einseitige statische Dauerbelastun- Abb. 11: Sitzarbeitsplatz am Computer. gen. Folglich macht er (unbewusst) genau das, was für sein „körperliches und geistiges Überleben“ wichtig ist, er kip- Um dieser Forderung gerecht zu werden bedarf es der pelt auf dem Stuhl. selbstverständlichen Höhenverstellbarkeit von Tisch und Stuhl. Die Tischfläche selbst muss so tief sein, dass der Bildschirm in einem Abstand von ca. 40 cm bis 50 cm von den Augen positioniert wer- Ein Arbeitsplatz mit Computer muss so zu den Fenstern ausgerichtet wer- den kann. den, dass es keine Tageslichtreflexi- onen auf dem Bildschirm gibt. Bei nur wenigen Computern im Klassen- Auf der Bildschirmfläche zimmer und temporärer Nutzung em- darf es keinesfalls zu pfiehlt sich die Ausgestaltung als Steh- Tageslichtreflexionen kom- arbeitsplätze. men. Deshalb diesen immer so aufstellen, dass es zu keinem direkten oder indirekten Lichteinfall auf die Bildfläche bzw. des Auges kommt. Gerade die Tatsache, dass gegenwärtig die Klassenzimmer mit einem oder gar zwei Computerarbeitsplätzen, zum Teil schon mit Internetzugang ausgestattet sind oder noch wer- den, sollte Veranlassung sein, diesen alternativ als Stehar- Abb.: Brief von Niki an seine Lehrerin. beitsplatz einzurichten. Da Grundschüler noch zeitlich begrenzt mit diesen Medien arbeiten, sollte dieser unbe- Der Hilferuf Nikis, eines Schülers einer ersten Grund- dingt als großzügiger Steharbeitsplatz mit Platz für mehre- schulklasse, der mehrmals von seiner Lehrerin hinsichtlich re Kinder eingerichtet werden. Die Vorteile einer temporä- seines „störenden Bewegungsverhaltens“ ermahnt und ren Stehhaltung werden auf Seite 14 beschrieben. bestraft worden ist, macht ein Problem deutlich. Egal ob die Lehrkräfte in der Schule oder die Eltern zu Hause, alle erwarten ein Kind, das beim Lernen sich besonders ruhig und diszipliniert verhält. Folgende Appelle an das Kind sind typische Beispiele:
„Lasst den Philipp doch mal zappeln!“ 13 „Sitz still, zappele nicht so auf dem Stuhl herum!“ Spielen mit den Fingern, unruhiges Hin- und Herrutschen „Sitz gerade, und nimm die Hände auf den Tisch!“ auf dem Stuhl sichtbar wird. „Lümmele nicht so auf dem Tisch herum!“ Bedürfnisse der Kinder nach entlastender und vor allem Unser Körper ist für die Bewegung notwendiger Bewegung, die sie durch körperliche Unruhe, gemacht – damit er sich gesund und wie z. B. das Kippeln, leistungsfähig entwickeln kann. Einseitige statische Dauerbelastungen bemerkbar machen, werden wie starr sitzen sind zu vermeiden. Viel gesünder ist dynamisches Sitzen. unterdrückt. Bewegung, Es entspricht dem natürlichen Bedürf- körperliche Entlastung ist Man kann dies selbst am ehesten dadurch nachvollziehen, nis der Kinder nach notwendiger Be- wegung. etwas, was nicht sein soll, wenn man sich beispielsweise seine eigenen Körperreak- was der Aufmerksamkeit im tionen beim längeren Stehen bewusst macht. Unweigerlich Unterricht oder der Konzentration beim Lernen schadet. wird man, als notwendigen Belastungsausgleich, einen regelmäßigen Standbeinwechsel vornehmen und mit dem Körper leicht nach vorn, zur Seite oder nach hinten schwanken. Jeder Haltungs- wechsel im Stehen entlastet Wechselspiel von Statik und Dyna- mik, Spannung und Entspannung: die vorher belastete Musku- Beim dynamischen Sitzen werden latur zu Lasten einer ande- Sitzhaltungen immer wieder ver- ändert. Das löst Körper und Geist ren. Jede einzelne Haltung aus Trägheit und Passivität. wäre auf Dauer gesund- heitsschädlich, im ständigen Wechsel allerdings stellen sie das Optimum des Erreichens für eine physiologische Kör- perhaltung und ein subjektives Wohlbefinden dar. Der Körper regelt dieses Wechselspiel von Statik und Dyna- mik, von Spannung und Entspannung ganz selbstständig, wenn er, wie im Stehen beispielhaft gegeben, die Freiheit für diverse wechselnde Haltungen hat. Abb. 13: Karikatur „Lernen für das Leben“. Es ist aber insbesondere für Körper, Geist und Seele von Kindern bis zur Pubertät sehr anstrengend, längere Zeit still sitzen zu müssen. Folgende Richtzeiten können für ruhiges Stillsitzen und konzentriertes Lernen gegeben werden: 3- 5 Minuten bei 5- 7-jährigen 5-10 Minuten bei 7-10-jährigen 10-15 Minuten bei 10-12-jährigen 15-20 Minuten bei 12-16-jährigen Gerade Kinder im Vor- und Grundschulalter haben ein erhöhtes Bewegungsbedürfnis, welches zur Sicherung Abb. 14: ihrer wichtigsten Reifungs- Bewegung beschwingt Körper und Geist. Kinder im Vor- und Grundschulalter und Entwicklungsphase Bewegung, die der Körper braucht, reagieren auf einseitige, statische Belastung und starres Stillsitzen mit naturgemäß angelegt ist. Bewegung, die den Bandscheiben gut tut, einem erhöhten Bewegungsbedürfnis, Die Mediziner sprechen Bewegung, die lockert und entspannt, das für ihre natürliche Reifung und Entwicklung elementar ist. hier von „somatischer Intel- Bewegung, die aktiviert und motiviert, ligenz“. Das heißt, der Kör- Bewegung, die die Leistungsfähigkeit steigert. Der Körper braucht Bewegung – den per weiß viel schneller und kontinuierlichen Wechsel von Muskel- belastungen. viel besser, wann und wie er zu seinem Selbstschutz auf einseitige, statische Belastungen zu reagieren hat. Ein gesundes Gehirn meldet solche Bedürfnisse an, welches z. B. durch Kippeln mit den Stühlen, Recken und Strecken,
„Lasst den Philipp doch mal zappeln!“ 14 Sitz still??? Nein: Sitz dynamisch!!! Die Konsequenz daraus ist, dass man auch im Sitzen so häufig wie möglich die Sitzhaltungen verändern sollte. Man spricht hier vom „dynamischen Sitzen“. Entsprechend dieser Erkenntnis sollten die Lehrkräfte sensibel werden, Signale körperlicher Unruhe und geistiger Trägheit zu erkennen und entsprechend zu handeln. Das verlangt neben konventionellen Maßnahmen - wie die schon lange gefor- derte tägliche Spiel- und Bewegungszeit sowie der Bewe- gungspause - auch manchmal unkonventionelle Maßnah- men, d. h., dass man z. B. das Zappeln auf dem Stuhl, das „Lümmeln“ über den Arbeitstisch oder das Umdrehen des Stuhles zum „Reitsitz“ nicht nur duldet, sondern es zeit- Abb. 16: Eine bewegliche Sitzfläche animiert zum dynami- weise geradezu provoziert. Vorn, hinten, mitten, rechts, schen Sitzen und regt den Hirnstoffwechsel an. links, seitlich, über Eck auf einem Stuhl sitzen, dazu das eine oder das andere Bein überschlagen, befreit Körper und Geist aus der Passivität. Sitzen in Bewegung aktiviert Körper und Geist und trägt dazu bei, dass Kinder sich wohl fühlen! Nicht nur der Kopf des Kindes kommt in die Schule, immer kommt das ganze Kind! Es gibt in der Zwischen- zeit genügend Hinweise und Belege dafür, dass motorische und kognitive Tätigkeit miteinander interagieren. Dabei wird grundsätzlich ein förderlicher Einfluss motorischer Aktivität auf die Merkmale der kognitiven Tätigkeiten angenommen (Breithecker 2003). Regel Nr. 3 Schulmöbel müssen sich dem Bewe- gungsbedürfnis des Kindes anpassen Abb. 15: Sitzgruppe im dynamischen Sitzen. und nicht umgekehrt („Bedürfnisergo- nomie“)! Bewegung kommt nicht nur vom Kopf – Es gibt in der Zwischenzeit sehr gut entwickelte Schulmö- Bewegung nützt auch dem Kopf. bel, die ein dynamisches Sitzverhalten fördern. Diese ver- fügen über eine bewegliche Sitzfläche (freifließender Bewegungsablauf der Sitz- Die beim dynamischen Sitzen verbindliche Muskelakti- fläche), die sich um etwa 6° Gute Schülerstühle unterstützen ein dynamisches Sitzverhalten. Wichtige vität erfordert über die Nervenbahnen einen ständigen nach hinten bzw. nach vorn Voraussetzung: Sie verfügen über Informationsfluss zwischen neigt. Dadurch entstehen eine bewegliche Sitzfläche. Dadurch wird der notwendige Belastungs- Dynamisches Sitzen regt den Hirn- Gehirn und Muskulatur. genau die optimalen Belas- wechsel für Muskeln und Gelenke stoffwechsel an, Aufmerksamkeit und Dadurch sind Millionen tungswechsel für Muskeln Konzentrationsfähigkeit der Kinder optimal gefördert. werden erhöht. von Gehirnzellen aktiviert. und Gelenke, die sich das Der positive Effekt, die Kind ansonsten durch das Kippeln holt. Die Gliederkette erhöhte Hirnfunktionsbereitschaft erhöht nachweislich die der Wirbelkörperreihe funktioniert nur bei labilem Gleich- Aufmerksamkeit und die Konzentration der Kinder. gewicht des Beckens. Erst die Balance des Beckens
„Lasst den Philipp doch mal zappeln!“ 15 ermöglicht die Balance des darauf aufbauenden Halte- und Bewegungssystems. Die natürlichen Schwingungen der Wirbelsäule erhalten genau dann ihre physiologisch wert- vollen Reize, wenn der Rumpf sich im Sitzen genau so dynamisch um das Lot herum bewegen kann wie im Ste- hen. Dabei werden insbesondere: • die Wirbelsäulenschwingungen regelmäßig verändert, • die Bandscheiben permanent mit Nährstoffen versorgt, • die komplexen Rückenmuskeln stimuliert und gekräftigt, • die über 100 Gelenke der Wirbelsäule in Bewegung ge- halten, • die Reflexmotorik „wach gehalten“. Abb. 18: Reitsitz. Das dynamische Sitzen auf dem Stuhl stimuliert wiederum die Beine zu Bewegungen. Mit jeder Bewegung der Beine setzen wir die Venenpumpe in Gang. Der Blutkreislauf wird dadurch aktiviert. Alle Organe, insbesondere auch das Gehirn, werden besser durchblutet und mit Sauerstoff versorgt. Damit ist konzentriertes Arbeiten länger möglich. Abb. 17: „Bewegungsergonomie“ – mobile Schulmöbel, die sich dem bewegten Bedürfnis des Nutzers anpassen. Im Vergleich zum Sitzen auf traditionellen Möbeln mit starrer Sitzfläche ist das Muskelkorsett des Rumpfes in ständiger ökonomischer Aktion. Die labile Sitzfläche des Stuhls folgt jeder Bewegung des Körpers, gleichzeitig animiert er diesen sich zu verändern. Damit werden die natürlichen Bewegungsim- Eine bewegliche, dynamische Sitz- pulse der Schüler nicht fläche folgt jeder Bewegung des Kör- pers und animiert zur Bewegung. mehr gebremst, sondern gefördert – kontinuierlich Temporäres Arbeiten am Stehpult ist die sinnvolle Ergänzung zum Sitzar- und wirkungsvoll. Ein dy- beitsplatz. Das sorgt für regelmäßigen namisches Sitzen wird noch Belastungswechsel und mehr Dynamik. dadurch begünstigt, wenn sich die Sitzlehne im unte- ren Rückenlehnenbereich verjüngt und der Stuhl dadurch auch als „Reitsitz“ benutzt werden kann.
„Lasst den Philipp doch mal zappeln!“ 16 Regel Nr. 4 Aus orthopädischer und physiologischer Sicht ist ein Längeres Sitzen sollte im Interesse Arbeitsplatz sehr günstig zu beurteilen, der einen belie- des Kindes häufiger unterbrochen bigen Wechsel zwischen stehender und sitzender werden! Arbeitshaltung zulässt. Von der Sitzlast zur Stehlust – Wagen wir den „Auf-Stand“! Sitzen und Bewegen im Klassen- zimmer - nicht nur für die Schule der Zukunft. Ein bewegtes Körperverhalten im Klassenzimmer kann zusätzlich und nachhaltig dadurch gefördert werden, wenn ein Steharbeitsplatz eingerichtet wird. Die Vorteile einer Die Vielfalt von Körper-/Arbeitshaltungen und somit auch stehenden Körperhaltung Bewegung wird ganz entscheidend durch die Arbeitsorga- Der Rahmen für Bewegung im gegenüber der Sitzhaltung nisation und die Möblierung des Klassenzimmers be- Klassenzimmer wird durch die Möb- lierung entscheidend bestimmt. Das sind bekannt. Gerade das stimmt. Klassenzimmer von morgen sollte temporäre Arbeiten am möglichst mobil gestaltet sein und Stehpult (ca. 10 Minuten), Die traditionelle Einheitsmöblierung unserer Klassenzim- unterschiedlichste Sitz- und Arbeits- haltungen möglich machen. im Rahmen der Kleingrup- mer wird dem Bedürfnis von Kindern und Jugendlichen penarbeit bzw. während der nach einem aktiv-dynamischen Arbeitsverhalten im Unter- Freiarbeit, stellt eine sinnvolle Ergänzung hinsichtlich der richt in keiner Weise gerecht. Wenn die Humanisierung Forderung nach einem bewegten Körper- und Arbeitsver- des Schülerarbeitsplatzes nicht mit dem Prädikat „sitzen- halten dar. Der regelmäßig zum Tragen kommende Belas- geblieben“ oder der Note mangelhaft abgestempelt werden tungswechsel vom Sitzen zum Stehen und umgekehrt ist soll, dann muss das Klassenzimmer von morgen mobil ein entscheidender Hebel zu mehr Dynamik und Gesund- gestaltet werden. Ergonomische Sitz- und Schreibmöbel, heitsverhalten sowie Wohlbefinden am Arbeitsplatz. Wenn Stehpulte, Sitzmöbelergänzungen wie der Sitzball, die aus Kostengründen kein eigentliches Stehpult angeschafft Turnmatte auf dem Fußboden; die Zukunft der Schule werden kann, ist auch ein Stehen an Sideboards oder Fen- muss geprägt sein von der Wahrnehmung unterschied- sterbänke möglich. licher Sitz- und Arbeitshaltungen sowie Bewegungs- und Entspannungsmöglichkeiten. In einer mobilen Unterrichtsorganisation ist es den Kin- dern (in Grenzen) möglich, sich frei im Raum zu bewegen und sich ihre Körperhal- Eine mobile Unterrichtsorganisation tung/Arbeitshaltung und fördert den regelmäßigen Wechsel von ihren Lernplatz selbst zu Arbeitshaltungen. Der Unterricht kann suchen. Unterricht kann in verschiedensten Körperhaltungen stattfinden. grundsätzlich in verschie- denen Körperhaltungen stattfinden; stehend, sitzend, lie- gend, gehend u. a. m. Die Bewegung im Raum folgt der gegenseitigen Rücksichtnahme. Sich frei im Raum nach eigener Notwendigkeit unter Rücksichtnahme auf andere zu bewegen, ist Mittel und zugleich Ziel eines kultivierten Umgangs miteinander. Regelmäßig wechselnde Arbeitshaltungen bedeuten regel- mäßige und rhythmische Be- und Entlastungswechsel und vermindern physische Beschwerden, beugen Rückenschä- den vor und schützen vor dem Verlust des Körpergefühls. Wir erreichen dadurch eine individuelle Rhythmisierung des Schulmorgens, in der Phasen der geistigen und körper- Abb. 19: Gruppenarbeit im Stehen mit Stehpult. lichen Anspannung mit Phasen offener, bewegter Lern- und Arbeitsformen abwechseln.
Sie können auch lesen