Verfahren zur Erstellung und Verwendung von Mikrozonierungsstudien in der Schweiz - Ecab

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Verfahren zur Erstellung und Verwendung von Mikrozonierungsstudien in der Schweiz - Ecab
Verfahren zur Erstellung und Verwendung von
Mikrozonierungsstudien in der Schweiz
Richtlinien des BWG – Directives de l’OFEG – Direttive dell’UFAEG
Bern, 2004
Verfahren zur Erstellung und Verwendung von Mikrozonierungsstudien in der Schweiz - Ecab
Eidgenössisches Departement für Umwelt, Verkehr,
Energie und Kommunikation
Département fédéral de l’environnement, des transports,
de l’énergie et de la communication
Dipartimento federale dell’ambiennte, dei trasporti,
dell’energia e delle comunicazioni

Verfahren zur Erstellung und Verwendung von
Mikrozonierungsstudien in der Schweiz
Richtlinien des BWG – Directives de l’OFEG – Direttive dell’UFAEG
Bern, 2004
Verfahren zur Erstellung und Verwendung von Mikrozonierungsstudien in der Schweiz - Ecab
Impressum

Herausgeber:       Bundesamt für Wasser und Geologie, BWG

Auflage:           1500d / 700f

Zitiervorschlag:   Verfahren zur Erstellung und Verwendung von
                   Mikrozonierungsstudien in der Schweiz,
                   Richtlinien des BWG 2004

Sprachversion:     Original in französisch

Übersetzung:       Petra Blaser, Petraconsult, Arni (deutsche Fassung)
                   Mit dem Beitrag von Hugo Raetzo, (BWG) Biel

Bildnachweis:      Sämtliche Kartenausschnitte reproduziert mit der
                   Bewilligung von Swisstopo
                   PK25/250, DHM25, Luftbild
                   ©swisstopo (BA046448)

Internethinweis:   Die Publikation ist im PDF-Format auf der
                   BWG-Internetsite www.bwg.admin.ch verfügbar

Bezugsadresse      BBL, Vertrieb Publikationen, CH-3003 Bern,
                   Internet: www.bbl.admin.ch/bundespublikationen

Bestellnummer:     804.806.d

Copyright:         © BWG, Biel, November 2004
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Autoren                                                Begleitgruppe
Olivier Lateltin (Vorsitz), Bundesamt für Wasser und   Christoph Beer, SFIG, Bundesamt für Wasser und
Geologie (BWG), Biel                                   Geologie (BWG), Bern

Blaise Duvernay, SGEB, Bundesamt für Wasser und        Peter Haldimann, Vorsitz SFIG, Büro Dr. H. Jäckli AG,
Geologie (BWG), Biel                                   Zürich

Donat Fäh, GSGI, Schweizerischer Erdbebendienst        Prof. Simon Löw, SFIG, Ingenieurgeologie ETH, Zürich
(SED), ETH Zürich
                                                       Walter Müller, SFIG, NAGRA, Zürich
Prof. Domenico Giardini, Schweizerischer
Erdbebendienst (SED), ETH Zürich                       Prof. Aurèle Parriaux, SFIG, Geolep-ENAC,
                                                       EPF Lausanne
Christoph Haemmig, Bundesamt für Wasser und
Geologie (BWG), Biel                                   Martin Koller, SGEB, Résonance Ingénieurs-Conseils,
                                                       Carouge
Corinne Lacave, SGEB/GSGI, Résonance Ingénieurs-
Conseils SA, Carouge                                   Jost Studer, SFIG/SGEB, Bureau Studer Engineering,
                                                       Zürich
Pascal Tissières, SGEB/GSGI Bureau d’ingénieurs
Tissières, Martigny                                    Thomas Wenk, Vorsitz SGEB, Normenkommission SIA
                                                       261, Wenk Engineering, Zürich
Florian Widmer, Bundesamt für Wasser und Geologie
(BWG), Biel

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Vorwort des Herausgebers                                 der Schweizerischen Fachgruppe für Ingenieurgeologie
                                                         (SFIG) und der Schweizer Gesellschaft für Erdbebeninge-
Anfangs des Jahres 2003 hat der schweizerische           nieurwesen und Baudynamik (SGEB) hat die Koordina-
Ingenieur- und Architektenverein (SIA) die neuen SIA     tionsstelle des Bundes für Erdbebenvorsorge im
Normen 260 bis 267 (Swisscodes) veröffentlicht, welche   BWG eine Anleitung für die Durchführung von Mikro-
mit den europäischen Normen (Eurocodes) kompatibel       zonierungsstudien erarbeitet. Diese Richtlinien sind als
sind. Um den schweizerischen Bedürfnissen gerecht zu     Ergänzung der Norm SIA 261 «Einwirkungen auf
werden, sind die Normen momentan noch in einer           Tragwerke» zu verstehen. Die gegenwärtigen Richtlinien
Ausarbeitungsphase. Gleich wie alle anderen nationalen   haben das Ziel, sowohl die Arbeit von Baufachleuten zu
Normen, haben auch diese neuen Normen noch keine         vereinfachen, als auch die Berücksichtigung von
rechtliche Verbindlichkeit. Wenn jedoch bei einem        Standorteffekten und Studien an Bauwerken zu fördern.
Erdbeben ein Schaden auftritt, dann definieren diese     Durch die Anwendung der SIA Baunormen und
Swisscodes gemäss dem anerkannten Stand der              Berücksichtigung der Baugrundklassen ist es in unserem
Technik, den Standard im Bauwesen. Insbesondere sind     Land mit geringer bis mittlerer Erdbebengefährdung
diejenigen Anforderungen erweitert und erhöht            fortan möglich, eine angemessene Erdbebensicherheit
worden, welche die Sicherheit von neuen Bauwerken        bei neuen Bauwerken – ohne oder nur mit bescheide-
und die Standorteffekte bei Erdbeben betreffen.          nen Mehrkosten – zu gewährleisten.

Die Erdbebensicherheit von zukünftigen Bauwerken
basiert in erster Linie auf einem Programm von sieben    Biel, November 2004          Dr. Christian Furrer
Massnahmen (Entscheid des Bundesrats vom 11.                                          Direktor des Bundesamts
Dezember 2000) des Bundes. Dank der Zusammenarbeit                                    für Wasser und Geologie
mit dem Schweizerischen Erdbebendienst (SED/ETHZ),

                                                                                                                5
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Inhaltsverzeichnis

               1. Einführung                                                                   8
                  1.1 Definitionen, Ziele und Zielpublikum
                  1.2 Anlass der Studie
                  1.3 Erdbebenrisiko in der Schweiz
                  1.4 Regionale Erdbebengefährdung in der Schweiz
                  1.5 Bauwerksklassen und Erdbebensicherheit
                  1.6 Mikrozonierungsarten
                  1.7 Wahl der Mikrozonierungsart

               2. Beschreibung der Phänomene                                                  20
                  2.1 Erdbeben
                  2.2 Standorteffekte
                  2.3 Induzierte Effekte: Bergsturz, Erdrutsch,
                      Bodenverflüssigung und Thixotropie
                  2.4 Fundamentalfrequenz des Bodens und Resonanz zwischen
                      Boden und Bauwerk

               3. Karte der Baugrundklassen gemäss SIA 261                                    30
                  3.1 Definition
                  3.2 Die Anwendung der Karte der Baugrundklassen
                  3.3 Basisdaten und Begleitdokumente
                  3.4 Transkription der geologischen Legende
                  3.5 Legende und Interpretation der Karte der Baugrundklassen

               4. Studien zur spektralen seismischen Mikrozonierung                            35
                  4.1 Regionale Gefährdung
                  4.2 Bestimmung der Spektralverstärkung
                  4.3 Elastische Antwortspektren für einen spezifischen Standort und spektrale
                      Mikrozonierungskarte
                  4.4 Methoden
                  4.5 Beispiele für die spektrale Mikrozonierung

               5. Rechtliche Aspekte der Mikrozonierung                                       51
                  5.1 Gefahrenkarten und Raumplanung
                  5.2 Aufgaben der Behörden, Auftragnehmer und Eigentümer

               Anhänge                                                                        54
                 A Fachbegriffe
                 B Intensitätsskala EMS-98
                 C Definition und Anwendung von Antwortspektren
                 D Interaktive Karten der Baugrundklassen über das Internet

               Verzeichnis der Figuren und Tabellen                                           62

               Bibliographie                                                                  64

                                                                                               7
Verfahren zur Erstellung und Verwendung von Mikrozonierungsstudien in der Schweiz - Ecab
1. Einführung

1.1 Definitionen, Ziele und                              1.2 Anlass der Studie
    Zielpublikum
                                                         Lokale Unterschiede bei den geologischen und topo-
In der Mikrozonierung werden seismische Einwirkun-       graphischen Verhältnissen sind für teilweise gravierende
gen basierend auf den geologischen und topographi-       und auf kurzer Distanz auftretende Änderungen in der
schen Standorteffekten berücksichtigt. Die neue Norm     Dauer, dem Frequenzspektrum und der Amplitude
SIA 261 «Einwirkungen auf Tragwerke» (2003) ordnet       eines Erdbebensignals verantwortlich. Dieses Phäno-
den Bauwerksstandorten eine der sechs Baugrundklas-      men, generell als Standorteffekt (Standorteinwirkung)
sen zu. Können die Eigenschaften des Baugrunds           bezeichnet, ist mindestens seit dem Mittelalter bekannt,
nicht normgerecht identifiziert werden, dann müssen      als Sultan Bayazid nach dem Erdbeben von Istanbul
Bodenuntersuchungen die Auswirkungen von Erdbe-          1509 den Bau von Häusern in Küstengebieten auf
ben bestimmen. Die Erdbebensicherheit muss bei           Lockergesteinsgrund verboten hatte.
der Planung und Dimensionierung von neuen
Bauwerken berücksichtigt werden. Dies gilt ebenfalls     Dennoch dauerte es noch bis zu den 1980er Jahren bis
für die Überprüfung von bestehenden Bauwerken.           die Internationale Seismologische Vereinigung im
                                                         Anschluss an die Erdbeben von Mexiko (1985) und
Ziel der Mikrozonierung ist ein einheitlicher Sicher-    Loma-Prieta (1989) sich näher damit befasste. Es zeigte
heitsstandard für Neubauten in allen Erdbebenzonen       sich, dass die grosse Bandbreite der beobachteten
unabhängig von geologischen Standorteffekten. Mit        Schäden, die vom gleichen Beben verursacht wurden
der Mikrozonierung werden Zonen identifiziert, die       und in unmittelbar benachbarten Gebieten (in einigen
während einem Erdbeben ein ungünstiges Verhalten         Hundert Metern Epizentraldistanz) auftraten, aus-
zeigen und spezielle Massnahmen verlangen. Es            schliesslich der lokalen Geologie zuzuschreiben sind.
werden zwei Stufen unterschieden: Die erste Stufe der    Auf der seismischen Intensitätsskala (MSK) können auf
Mikrozonierung, auch Mikrozonierung nach SIA 261         einer Distanz von einigen Kilometern vom Erdbe-
genannt, basiert auf der Erdbebenzonenkarte und den      benherd Unterschiede bis zu zwei Intensitätseinheiten
Baugrundklassen der Norm SIA 261 «Einwirkungen auf       festgestellt werden.
Tragwerke» (2003). Daraus resultiert eine Zuordnung
eines Standortes zu der Erdbebengefährdungszone          Wie die von den Erdbeben von Basel (1356) und
und zu einer Baugrundklasse. Die Karte der Baugrund-     Unterwalden (1601) verursachten Zerstörungen
klassen und zusätzliche Dokumente zur Berücksichti-      zeigen, blieb die Schweiz von solchen Standorteffekten
gung der geometrischen Verstärkungseffekte sind          keineswegs verschont. Dabei wurde die historische
wichtige Instrumente bei der Umsetzung. Die zweite       Altstadt von Basel, die auf Lockergesteinsgrund
Stufe der Mikrozonierung, auch spektrale seismische      errichtet wurde, welcher die seismischen Wellen erheb-
Mikrozonierung genannt, wird für Zonen oder Bauwer-      lich verstärkt, stark in Leidenschaft gezogen (Stadtteile
ke mit hohem Risiko angewendet. Mit der spektralen       St-Leonhard-Rathaus, Münster) (Figur 1). Diesselbe
Mikrozonierung berechnet man den Einfluss                Situation wiederholte sich am 18. September 1601 in
der geologischen Standortfaktoren und erhält             Luzern. Dort kam es durch zahlreiche Rutschungen am
spezifischere sowie genauere Resultate als mit der       Ostufer des Vierwaldstättersees zu einer Destabilisie-
Baunorm SIA 261.                                         rung der feinkörnigen Sedimente im Süden der Stadt.
                                                         Die alten, auf den Molassehügeln errichteten Stadtvier-
Die vorliegende Wegleitung liefert die zur Mikrozonie-   tel hielten dabei viel besser stand als die Wohngebäu-
rung notwendigen Ergänzungen zur Norm SIA 261.           de der neueren Quartiere, die auf feinkörnigem
Geologen, Ingenieure und Architekten wenden die          Baugrund der Alluvialebene und der Uferzonen
Methode an, wenn neue Bauwerke geplant oder reali-       errichtet wurden. Solche Standorteffekte könnten in
siert werden. Die Wegleitung ist auch vorgesehen für     der Schweiz auch durch weitere historische Schadens-
kommunale, kantonale und eidgenössische Behörden,        beben belegt werden (Figur 2).
die im Bereich Raumplanung tätig sind und Baubewilli-
gungen erteilen. Auch politische Entscheidungsträger     Die jüngsten schweren Erdbeben (Northridge 1994,
können bei territorialen Planungen Entscheide auf die    Kobe 1995, Izmit 1999 oder Algier 2003) bestätigen,
Mikrozonierung abstützen. Nicht zuletzt werden mit       dass der geologische Untergrund eine sehr bedeuten-
der vorliegenden Wegleitung auch alle Eigentümer         de Rolle bei der geographischen Schadensverteilung
über die Erdbebengefahren und deren Auswirkungen         spielt. Der entscheidende Einfluss der lokalen
auf Parzellen informiert.                                Baugrundeigenschaften auf die Intensität und das
                                                         Frequenzspektrum der seismischen Anregung wird

8
Verfahren zur Erstellung und Verwendung von Mikrozonierungsstudien in der Schweiz - Ecab
dabei immer offensichtlicher. Diese Anhäufung von                  ihrem seismischen Verhalten zugeordnet werden.
Tatsachen zeigt, dass für den Ingenieur bei der                    Daraus liess sich dann mithilfe des GIS eine Intensitäts-
Projektierung von Bauwerken ein besseres Verständnis               korrekturkarte des Untersuchungsgebiets erstellen.
der Standorteffekte oder der lokalen Änderungen der                Aus der Überlagerung der Korrekturkarte mit der
Bodenunruhen durch eine Mikrozonierungsstudie                      seismischen Gefährdungskarte resultiert eine korrigierte
unerlässlich ist, damit diese Bauten ohne grösseren                seismische Gefährdungskarte, die lokale geotechnische
Schaden potenziellen seismischen Erschütterungen                   Eigenschaften berücksichtigt. Dabei handelt es sich um
standhalten können.                                                eine qualitative Mikrozonierung im Massstab 1: 25'000,
                                                                   basierend auf Intensitätskorrekturen in Abhängigkeit
Entsprechend wurden in der Schweiz (Mayer-Rosa et                  der geotechnischen und hydrogeologischen Eigenschaf-
al., 2000) die ersten Mikrozonierungsstudien im Kan-               ten des Untergrunds. Ein ähnliches Vorgehen wurde in
ton Obwalden (Schindler et al., 1996) durchgeführt.                Basel (Noack et al., 1999), im Kanton Solothurn, im
Bei diesen Studien wurde eine Karte vorgeschlagen, in              Engelberger Tal (Beer, 1997) und im Wallis (Wagner et
welcher den seismisch relevanten Bodenparametern                   al., 2000) zwischen Susten und Brig gewählt. In der
Intensitätskorrekturwerte (MSK-Skala) entsprechend                 Region Sion wurden die Standorteffekte bezüglich der
                    km 611

                                                         km 612

                                                                                                 km 611

                                                                                                                                         km 612
                                                                                        St. Johann-Tor

                                                                                             Dominikanerkl.
                        R hi

                                                                                                 R hi
                             ne

                                                                                                    ne

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 km 268                                                                 km 268

                                                                                    Predigerk.      St. Nikolaus    St. Clara
                                                                                               Fischmarkt
                                                                                       St. Peter
                                                                                                                   St. Theodor
                                                                                 Gnadenthal             St. Martin
                                                                                                                    Augustiner
                                                                                                                     Münster Kartäuser
                                                                                 Spalentor    Rathaus

                                                                                                                            St. Ulrich
                                                                                       St. Leonhard
                                                                                                                     Barfüsser
 km 267                                                                 km 267
                                                                                                                     Steinen-Kloster
                                  sig

                                                                                                           sig
                               Bir

                                                                                                          Bir

                                                                                                                 Spitalschüren

                  expected amplifications                                        damage to buildings reported
                                                                                 for the 1356 earthquake

                                                                                              heavy damage
       0            5                   10   15            20
                                                                                              moderate damage
              low                 medium     increased                                        negligible damage
                                                                                              generally low damage
                                                                                             generally heavy damage

Figur 1: Übersicht der während des Erdbebens von Basel 1356 verursachten Gebäudeschäden und Modellierung der Standorteffekte
(nach Fäh et al., Schweizerischer Erdbebendienst SED, 1997).

                                                                                                                                                  9
Fundamentalfrequenz und Verstärkung (Amplifikation)                   «PEGASOS» (Probabilistische Erdbebengefährdungs-
analysiert (Wagner et al., 2000, Frischknecht, 2000).                 analyse für die KKW-Standorte in der Schweiz) haben
Die numerische Modellierung und die Feldmessungen                     die Betreiber der Kernanlagen sowohl einen namhaf-
der Bodenunruhe wurden angewendet, um Verstär-                        ten Beitrag zur Entwicklung eines neuen Erdbeben-
kungskarten (relative, maximale Verstärkung und der                   katalogs der Schweiz (ECOS, 2003) beigetragen als
Frequenz) in lokalem Massstab zu erhalten. Weitere                    auch Studien zu den Standorteffekten in der näheren
laufende Studien zu Baugutachten (Massstab 1: 5'000                   Umgebung von Kernkraftwerken durchgeführt.
bis 1: 1'000) stützen sich auf numerische Simulationen,
um ein für den Baustandort spezifisches Bemessungs-
spektrum zu erstellen, wie z. B. bei Visp-Brig, Monthey               1.3 Erdbebenrisiko in der Schweiz
oder Basel (Kind, 2002, Kind et al., 2003). Die Hauptab-
teilung für die Sicherheit der Kernanlagen (HSK) hat im               Das mit Erdbeben verbundene Risiko wird berechnet
Jahr 1999 gefordert, den Standorteffekt der schweize-                 aus der Erdbebengefährdung multipliziert mit dem
rischen Kernanlagen zu prüfen. Mit dem Projekt                        Schadenspotenzial.

 Intensität (EMS 98)

Figur 2: Verbreitung der historischen schadenverursachenden Erdbeben. Quelle SED (ECOS), 2003 (nach Fäh et al., Schweizerischer Erdbeben-
dienst SED, 2003).

10
Magnitude

Figur 3: In der Schweiz beobachtete Epizentren und Magnituden, die im ECOS-Katalog verzeichnet sind. Quelle: SED, 2003 (nachbearbeitet).

Bezüglich der Gefährdung sind Erdbeben, wie das von                   Umkreis von ca. 25 Kilometern auslösen, ein solches
Kobe in Japan (1995) mit einer Magnitude von 7 auf                    mit einer Magnitude von 6–7 Schäden im Umkreis von
der Richterskala, zwar relativ selten, prinzipiell aber               über 60 Kilometern.
auch in der Schweiz möglich. In den vergangenen 700
Jahren gab es in der Schweiz und deren unmittelbarer                  Für das Erdbeben, das 1356 teilweise die Stadt Basel
Umgebung mindestens 800 Ereignisse mit einer                          zerstörte, wurde eine Magnitude von 6.9 abgeschätzt.
geschätzten Magnitude von > 4 und 90 Ereignisse mit                   Schwächere Beben (ab einer Magnitude von 5)
einer solchen > 5 (Figur 3).                                          könnten noch schwerwiegende Folgen für unser Land
                                                                      haben, da die Bauwerke bei weitem nicht systematisch
Es wird angenommen, dass sich in der Schweiz alle 10                  geplant und bemessen sind, um den Beanspruchungen
Jahre ein Beben mit einer Magnitude von 5 ereignet                    eines solchen Erdbebens standzuhalten.
(Magnitude 6: alle 100 Jahre). Das letzte Erdbeben, das
zu leichten Schäden führte, hat sich in der Region Vaz                In der Schweiz wurden mehr als 90% aller Gebäude
im Kanton Graubünden im Jahr 1991 ereignet. Ein                       vor 1989 und 70% vor 1970 errichtet. Bis zu diesem
Beben mit einer Magnitude von 5–6 kann Schäden im                     Datum gab es noch keine Baunorm zum Erdbeben-

                                                                                                                                     11
20 Milliarden Franken pro Jahr

                                                                         Erdbeben 34%                       Kältewellen 4%

                                                                         Epidemien 30%                      Stürme 3%

                                                                         Überschwemmungen 10%               Migration 3%

                                                                         Unfälle mit Radioaktivität 8%      Unfälle mit Talsperren 2%

                                                                         Trockenheit 5%                     Lawinen 1%

Figur 4: Statistische Verteilung der Risiken in der Schweiz. Quelle: KATARISK, 2003.

schutz. Von 1970 bis 1989 waren die Bauvorschriften                      ren und sind somit verletzbar bzw. schadenanfällig.
weitgehend unzureichend. Dies bedeutet, dass etwa                        Zudem wurde die Verstärkung der seismischen Wellen
90% der in der Schweiz bestehenden Bauwerke auf-                         durch die Standorteffekte, die in Abhängigkeit der
grund nicht angepasster Vorschriften an die Erdbeben-                    geologischen Verhältnisse eine wichtige Rolle im
sicherheit bemessen wurden. Diese Bauwerke können                        lokalen Massstab spielen kann, als solche nur in der
somit keine ausreichende seismische Sicherheit gewäh-                    neuen Ausgabe der Baunormen 2003 berücksichtigt.

                                                                Regionale
                                                           Erdbebengefährdung

                                                              Standorteffekte                            Exponierte
                                                              Mikrozonierung                             Sachwerte

                                                             Verletzbarkeit
                                                          exponierter Sachwerte

               Schadenskosten                                                                              Anzahl Opfer

Figur 5: Berechnungsmodell zur Abschätzung von Erdbebenschäden unter Berücksichtigung der Standorteffekte (Mikrozonierung).

12
Figur 6: Erdbebengefährdungskarte der Schweiz mit den Bemessungswerten der Horizontalbeschleunigung in cm/s2 für eine Wiederkehrperi-
ode von 500 Jahren. Quelle: SED, 2003.

Die KATARISK-Studie (KATARISK, 2003) hat gezeigt,                   keit der Bauten und der Abminderung der seismischen
dass Erdbeben in der Schweiz das vorherrschende                     Wellen als Funktion der Epizentraldistanz werden
Risikopotenzial (34%) darstellen und noch beträchtli-               Schäden in Höhe von 45 Milliarden Franken an Gebäu-
cher als Überschwemmungen oder Epidemien sind                       den und 15 Milliarden Franken am Mobiliar erwartet
(Figur 4). Dieses Ergebnis lässt sich auf das enorme                (Figur 5).
Schadenspotenzial in Verbindung mit der Gebäudever-
letzbarkeit und hohen Besiedlungsdichte in der Schweiz              Die Rückversicherungsgesellschaften in der Schweiz
zurückführen. In Zusammenhang mit der städtebauli-                  gehen aufgrund ihrer Szenarien davon aus, dass die
chen Entwicklung ist ein beträchtlicher Zuwachs der                 von Jahrhundertereignissen (Magnitude 5.5–6)
Bevölkerung und Sachwerte zu verzeichnen.                           verursachten Schäden ca. 7 Milliarden Franken (an
Öffentliche Infrastrukturbauten und -einrichtungen                  Gebäude und Einrichtungen) betragen, 40 Milliarden
(«Lifelines») haben in gleichem Masse eine enorme                   bei einem alle 500 Jahre auftretenden Beben
Entwicklung erfahren.                                               (Magnitude von 6–6.5) sowie mehr als 75 Milliarden
                                                                    Franken für ein Jahrtausendereignis (Magnitude > 6.5).
Nach den Statistiken der Schweizer Versicherer stellen
die versicherten Gebäude in der Schweiz einen Wert
von etwa 1800 Milliarden Franken dar. Hinzu kommen
noch 700 Milliarden an Mobiliarvermögen. Für ein
mögliches Epizentrum in der Region Basel mit einer
Magnitude von 6.5 und unter Berücksichtigung der
Standorteffekte, des Gebäudeinventars, der Verletzbar-

                                                                                                                                  13
1.4 Regionale Erdbebengefährdung in                        In den letzten 30 Jahren wurden zahlreiche Fortschritte
    der Schweiz                                            bei der Bestimmung der Erdbebengefährdung erzielt.
                                                           Einerseits musste der Erdbebenkatalog (ECOS, 2002)
Im weltweiten Vergleich wird die Erdbebengefährdung        überarbeitet werden, der sämtliche historischen und
in der Schweiz als schwach bis mässig beurteilt.           instrumentell erhobenen Daten enthält und eine
Stärker gefährdet sind das Wallis, die Region Basel,       homogene Abschätzung der Magnitude vorschlägt.
die Zentralschweiz, das Engadin und das Rheintal bei       Andererseits sind die Modelle der seismischen Quellen
St. Gallen. Die Erdbebengefährdung lässt sich als die      verfeinert worden. Schliesslich wurden neuartige
Wahrscheinlichkeit definieren, mit der ein seismisches     Gesetzmässigkeiten zur Abminderung seismischer
Ereignis einer gewissen Intensität, z. B. der horizonta-   Wellen für die Schweiz (Bay, 2002) für alle Magnituden
len Beschleunigung, im Verlauf eines bestimmten            zwischen 3 und 5.5 sowie Epizentraldistanzen zwi-
Zeitintervalls auftritt. Sie berechnet sich anhand der     schen 10 und 300 Kilometern entwickelt.
statistischen geographischen Verteilung sämtlicher auf-
gezeichneter historischer Erdbeben. Die Zonierung der      Die neuen Erdbebengefährdungskarten des
Erdbebengefährdung erfolgt im regionalen Massstab          Schweizerischen Erdbebendienstes (SED, 2003) zeigen:
und bezeichnet den Vorgang der Unterteilung einer
Region in durch gleichartiges Verhalten bezüglich des      •   Spektralwerte der Horizontalbeschleunigung von
Parameters der seismischen Intensität charakterisierte         0.5, 1, 2, 3, 5, 10 und 12 Hz für einen harten Fels
Bereiche.                                                      (Vs: 1500 m/s) und eine Wiederkehrperiode von
                                                               500 Jahren;
Die in der Norm SIA 160 (Ausgabe 1989) vorgeschla-         •   Bemessungswerte der maximalen Horizontalbe-
gene Karte mit Zonen der Erdbebengefährdung beruht             schleunigung für eine Wiederkehrperiode von 500
auf den ersten probabilistischen Erdbebengefähr-               Jahren (Figur 6).
dungsstudien der Schweiz aus den 1970er Jahren
(Sägesser & Mayer-Rosa, 1978). Für jede Erdbebenzone
wurde ein Wert der effektiven horizontalen Bodenbe-        Die vorgeschlagenen Bemessungswerte der Horizontal-
schleunigung eines Bemessungsbebens mit einer              beschleunigung ähneln stark den in der Norm SIA 160
Wiederkehrperiode von 400 Jahren festgelegt. Die           (1989) dargelegten effektiven Bodenbeschleunigun-
strengeren Anforderungen des Eurocode 8 schreiben          gen. Die Beibehaltung der bisherigen vier Zonen Z1,
den Maximalwert der horizontalen Bodenbeschleuni-          Z2, Z3a und Z3b mit den zugehörigen Beschleuni-
gung für eine Wiederkehrperiode von 475 Jahren als         gungswerten 0.6 m/s2, 1.0 m/s2, 1.3 m/s2 und 1.6 m/s2
Bemessungswert vor. Diese Wiederkehrperiode wurde          erwies sich deshalb als zweckmässig. Die geographi-
damit zu einem internationalen Standard erklärt und        sche Ausdehnung der Zonen in der von SIA 261 (2003)
entspricht einer Überschreitungswahrscheinlichkeit von     neu vorgeschlagenen Karte bildet die Verteilung der
10% in 50 Jahren.                                          Erdbebebengefährdung (Figur 7) besser ab als
                                                           diejenige von 1989. Die Neuklassierung der Basler
                                                           Region (Zone 3a) verbessert die Abstimmung mit den
                                                           Nachbarländern entlang der Grenze zu Frankreich, und
                                                           die Homogenität der Zone 3b im Wallis erleichtert das
                                                           behördliche Verfahren.

14
Erdbeben-Gefährdungszone, SIA 261
      Zone 1                Zone 2                 Zone 3a                Zone 3b

Figur 7: Karte der Erdbeben-Gefährdungszonen der Schweiz gemäss SIA 261 (2003).

                                                                                    15
1.5 Bauwerksklassen und                                              In der Norm SIA 261 (2003) werden drei verschiedene
    Erdbebensicherheit                                               Bauwerksklassen definiert. Die Wahl der Bauwerksklas-
                                                                     se erfolgt jeweils entsprechend der Bedeutung eines
Bei der Erdbebenbemessung wird eine Differenzierung                  Gebäudes für die Öffentlichkeit und dessen Umweltge-
des Schutzgrads je nach Funktion und Bedeutung des                   fährdungspotenzial im Schadensfall. Tabelle 1 zeigt die
Bauwerks vorgenommen. So gelten für ein Spital                       Definition der 3 Bauwerksklassen mit jeweils typischen
wesentlich strengere Anforderungen im Vergleich zu                   Beispielen.
einem einfachen Wohnhaus am selben Standort.

BWK        Merkmale                                              Beispiele

     I     – keine grösseren                                     –   Wohn-, Büro- und Gewerbegebäude
             Menschenansammlungen                                –   Industrie- und Lagergebäude
           – keine besonders wertvollen Güter                    –   Parkgaragen
             und Einrichtungen                                   –   Brücken von untergeordneter Bedeutung nach einem
           – keine Gefährdung der Umwelt                             Erdbeben (z. B. Fusswegbrücken und land- oder forst-
                                                                     wirtschaftlich genutzte Brücken, sofern sie nicht über
                                                                     Verkehrswege von erheblicher Bedeutung führen)

     II    – grössere Menschenansammlungen                       – Spitäler samt Anlagen und Einrichtungen (sofern sie
             wahrscheinlich                                        nicht BWK III zuzuordnen sind)
           – besonders wertvolle Güter und                       – Einkaufszentren, Sportstadien, Kinos, Theater,
             Einrichtungen                                         Schulen und Kirchen
           – bedeutende Infrastrukturfunktion                    – Gebäude der öffentlichen Verwaltung
           – beschränkte Gefährdung der Umwelt                   – Brücken von erheblicher Bedeutung nach einem
                                                                   Erdbeben sowie Brücken, die über Verkehrswege mit
                                                                   erheblicher Bedeutung nach einem Erdbeben führen
                                                                 – Stützmauern und Böschungen im Bereich von
                                                                   Verkehrswegen mit erheblicher Bedeutung
                                                                   nach einem Erdbeben
                                                                 – Bauwerke sowie Anlagen und Einrichtungen zur
                                                                   Versorgung, Entsorgung und Telekommunikation
                                                                   (sofern sie nicht BWK III zuzuordnen sind)
                                                                 – Hochkamine

  III      – lebenswichtige Infrastrukturfunktion                – Akutspitäler samt Anlagen und Einrichtungen
           – erhebliche Gefährdung der Umwelt                    – Bauwerke sowie Anlagen und Einrichtungen für den
                                                                   Katastrophenschutz (z. B. Feuerwehrgebäude und
                                                                   Ambulanzgaragen)
                                                                 – Brücken von grosser Bedeutung für die
                                                                   Zugänglichkeit eines Gebiets nach einem Erdbeben
                                                                 – Stützmauern und Böschungen im Bereich von
                                                                   Verkehrswegen mit grosser Bedeutung für
                                                                   die Zugänglichkeit ausgewählter Bauwerke oder eines
                                                                   Gebiets nach einem Erdbeben
                                                                 – lebenswichtige Bauwerke zur Versorgung,
                                                                   Entsorgung und Telekommunikation
                                                                 – Bauwerke, Anlagen und Einrichtungen, die bei
                                                                   Beschädigung eine Umweltgefährdung darstellen
                                                                   (z. B. Tankanlagen und Rohrleitungen, die Gas oder
                                                                   gefährliche Flüssigkeiten enthalten)

Tabelle 1: Bauwerksklassen (BWK) gemäss Tabelle 26 der Norm SIA 261 (2003).

16
Die Zuordnung zu einer Bauwerksklasse verdeutlicht                  Die neue Norm SIA 261 «Einwirkungen auf Tragwer-
die betroffenen Werte und ist zusammen mit der                      ke» (2003) schlägt aktuell 6 Baugrundklassen vor, die
Baugrundklasse ein entscheidendes Kriterium für die                 den in der Schweiz beobachteten lokalen geologischen
Durchführung von Ergänzungsstudien (spektrale                       Verhältnissen angepasst wurden. Für jeden dieser
Mikrozonierung, siehe Kapitel 4).                                   Baugrundtypen werden in Abhängigkeit der vier
                                                                    verschiedenen Erdbebengefährdungszonen entspre-
                                                                    chende Antwortspektren empfohlen (siehe Figur 7).
1.6 Mikrozonierungsarten
                                                                    Die Karten der Baugrundklassen der Norm SIA 261,
Die erste Stufe der Mikrozonierung, auch Mikrozonie-                welche die wichtigsten geologischen Eigenschaften der
rung nach SIA 261 genannt, basiert auf der Erdbe-                   obersten Lockergesteine (Mächtigkeit ca. 30 Meter) im
benzonenkarte und den Baugrundklassen der Norm                      Massstab 1: 25'000 beinhaltet, dient als Hilsmittel bei
SIA 261 «Einwirkungen auf Tragwerke» (2003). Damit                  der Anwendung der Norm SIA 261. Sie werden
resultiert eine Zuordnung eines Standortes zu der                   gemäss der vorliegenden Richtlinie erstellt (Kapitel 3)
Erdbebengefährdungszone und zu einer Baugrundklas-                  und vom Bundesamt für Wasser und Geologie BWG
se, die dem Antwortspektrum der seismischen                         teilweise subventioniert.
Beanspruchung entspricht.

 1. Seismische Mikrozonierung gemäss                                2. Spektrale seismische Mikrozonierung
    Norm SIA 261 (Karten der seismischen                               (punktuell oder regional)
    Gefährdungszonen und Baugrundklassen)

 Ziel: Zuordnung eines Antwortspektrums zur                         Ziel: Dokument mit den elastischen Antwortspektren,
 Dimensionierung von Strukturen gemäss Norm SIA                     welche als Grundlage bei der Dimensionierung von
 261 in einer seismischen Gefährdungszone (1, 2, 3a,                spezifischen Tragstrukturen dienen. Diese Spektren
 3b) für eine bestimmte Baugrundklasse.                             sind sowohl für einzelne Bauwerke (punktuell), als
                                                                    auch für lokale Zonen (regional) anwendbar.
 Topographische Effekte werden mit
 Multiplikationsfaktoren berücksichtigt.

 Inhalt: Auswertung bestehender Dokumente zur                       Inhalt: Präzise Bodenkartierungen werden mittels
 Abschätzung und Kartierung der sechs Baugrundklas-                 detaillierten Felduntersuchungen erstellt.
 sen A bis F gemäss Norm SIA 261 (Geologische Karte,
 Bohrungen, Geophysikalische Studien, usw.).                        Karte gleicher Bodenfrequenzen.
 Baugrundklasse F wird nach induzierten Effekten
 unterschieden (Rutschungen, Bodenverflüssigung,                    Geophysikalisches Modell.
 Thixotropie, usw.).
                                                                    Numerische Modellierungen, spezifische
 Zonenkarte mit topographischen Verstärkungseffek-                  Antwortspektren und Zonenkarte.
 ten und Multiplikationsfaktoren.

 Bearbeitungstiefe: Grobe Übersicht.                                Bearbeitungstiefe: Detailliert (parzellenscharf).

 Massstab: 1: 25'000                                                Massstab: 1: 5'000 bis 1: 500 (punktuell)

 Ausdehnung: Regionen oder ganze Kantone.                           Ausdehnung: Zonen mit hohem Risiko (s. Kapitel
                                                                    1.7).

Tabelle 2: Charakterisierung der Mikrozonierung gemäss Norm SIA 261 und der spektralen seismischen Mikrozonierung.

                                                                                                                        17
Die mit der Geologie und der Schichtmorphologie                       Diese Detailstudien sind dort notwendig, wo ungün-
zusammenhängenden Verstärkungseffekte (Amplifika-                     stige geologische Gegebenheiten, hohe Bevölkerungs-
tionseffekte bei Kreten, engen Tälern, Talflanken,                    dichten und sensible Bauwerke vorliegen (siehe Kapitel
Becken) sollen künftig bei der Umsetzung der Norm                     1.7). Die spektrale seismische Mikrozonierung wird
SIA 261 eingesetzt werden. In der Schweiz erarbeitet                  punktuell bei Einzelbauwerken, deren Erdbebensicher-
man zur Zeit eine Methodik, um diese Verstärkungsef-                  heit garantiert werden muss, eingesetzt. Eine spektrale
fekte in seismischen Karten zu berücksichtigen.                       Mikrozonierungskarte erstellt man bei hoher
                                                                      Bevölkerungsdichte oder grossen Risiken im Massstab
Die zweite Stufe der Mikrozonierung, auch spektrale                   einer Parzelle (1: 5'000 oder grösser).
Mikrozonierung genannt, beinhaltet eine quantitative
Studie in Zonen oder für Bauwerke mit hohem Risiko.                   In der Detailstudie wird das spezifische Antwortspek-
In dieser Studie berechnet man den Einfluss der                       trum für den geologischen Standort mit einer numeri-
geologischen Standortfaktoren mittels den elastischen                 schen Modellierung bestimmt. Die in den spektralen
Antwortspektren und erhält dadurch spezifischere                      Mikrozonierungskarten definierten Antwortspektren
sowie genauere Resultate als mit der Norm SIA 261                     können günstiger, ungünstiger oder gleich den von der
«Einwirkungen auf Tragwerke».                                         Norm empfohlenen Spektren sein.

                                                               Wahl der
                                                          Mikrozonierungsart

                                Objekt                                                           Region

                BWK I / II                      BWK III                         geringe Dichte               hohe Dichte

                             andere Kriterien                                                 andere Kriterien

                 SIA 261               spezifische Spektren                         SIA 261           spektrale Mikrozonierung

Figur 8: Selektionsverfahren für die Mikrozonierung bei punktuellen Bauwerken (links) oder raumplanerischen Aufgaben (rechts).

18
1.7 Wahl der Mikrozonierungsart                             Das in der Figur 8 dargestellte Selektionsverfahren
                                                            führt zu verschiedenen Mikrozonierungsarten. Diese
Kantonale und regionale Mikrozonierungskarten sollen        sind folgendermassen definiert:
die Prioritäten entsprechend den Risiken und der
Erdbeben-Gefährdungszonenkarte berücksichtigen.             SIA 261:
Gebiete hoher Bevölkerungsdichte sollen beispielswei-
se zuerst in der Zone 3a und erst danach in der Zone 1      • Bei den Objekten handelt es sich um die Anwen-
untersucht werden. In der Tabelle 3 werden die                dung der elastischen Antwortspektren, welche aus
Kriterien aufgelistet, die bei der Wahl der Mikrozonie-       der Überlagerung mit den Baugrundklassen nach
rung nach der Norm SIA 261 (Baugrundklassen und               SIA 261 hervorgehen. Die Baugrundklassen werden
Karte der Erdbeben-Gefährdungszonen) berücksichtigt           mittels Untersuchung lokaler Bohrungen in der
werden sollen.                                                Risikozone bestimmt (siehe Kapitel 3).
                                                            • Im Falle einer regionalen Zone handelt es sich um
Die Figur 8 zeigt ein Beispiel eines Selektionsverfahrens     die Anwendung der elastischen Anwortspektren,
für die Mikrozonierungsart bei punktuellen Bauwerken          welche aus der Überlagerung mit den Baugrund-
(Objekte) und bei der spektralen Mikrozonierung für           klassen nach SIA 261 hervorgehen. Hier werden die
eine definierte Region. Das vorgeschlagene Selektions-        Baugrundklassen aus der Karte der Baugrundklas-
verfahren kann von den Kantonen entsprechend der              sen in der Risikozone entnommen.
sozioökonomischen Kriterien und Gewichtung
angepasst werden.                                           Spezifische Spektren:

Wenn die Überbauungsziffer kleiner 0.5 ist, dann            • Das elastische Antwortspektrum ist eigens für den
sprechen wir von Zonen geringer Dichte. In diesem Fall        vorgesehenen Bauwerksstandort berechnet (siehe
sind weniger als 50% der Parzellenfläche überbaut.            Kapitel 4).
Mit der Überbauungsziffer können beispielsweise
Wohnquartiere mit Einfamilienhäusern (Ziffer kleiner        Spektrale Mikrozonierung:
als 0.5) von Stadtzentren (Ziffer grösser als 0.5)
unterschieden werden.                                       • Mit einem kartographischen Verfahren werden die
                                                              verschiedenen Geltungsbereiche für die elastischen
                                                              Antwortspektren in einer Region ermittelt (siehe
                                                              Kapitel 4).

 1. Region                                                  2. Objekt

 – Erdbeben-Gefährdungszone nach SIA 261                    –   Erdbeben-Gefährdungszone nach SIA 261
 – Bevölkerungsdichte                                       –   Anzahl Bewohner
 – Wirtschaftliche Gewichtung                               –   Bauwerksklasse nach SIA 261
                                                            –   Baugrundklasse nach SIA 261

Tabelle 3: Kriterien für die Wahl der Mikrozonierungsart.

                                                                                                                  19
2. Beschreibung der Phänomene

2.1 Erdbeben                                                            dardinstrumentierung. Die Magnitudenskala ist nach
                                                                        oben und unten offen, im Allgemeinen werden jedoch
Ein Erdbeben äussert sich durch eine gewaltige                          Werte zwischen 1 und 9 beobachtet. Der kleinste
Erschütterung im Untergrund, ausgelöst durch eine                       Wert, der negativ sein kann, hängt vor allem von der
relative Verschiebung zwischen zwei Gesteinsmassen                      Genauigkeit der Messinstrumente ab, während
in der tiefen Erdkruste, die durch eine tektonische                     der Höchstwert im Wesentlichen von der Länge des
Diskontinuität (oder Störung) getrennt werden. Die                      betroffenen Störungssegments abhängt, das bei einem
dabei resultierende abrupte Energiefreisetzung (Figur 9)                solchen Ereignis auf einmal zerbricht.
entsteht, wenn nach einem langsamen Druckspan-
nungs- und Energieaufbau entlang von Störungen die                      Die Intensität entspricht einer qualitativen Bewertung
mechanische Bruchfestigkeit der Gesteine in der Tiefe                   der Schadenswirkung basierend auf der Wahrneh-
überschritten wird. Die dann entstehenden verschie-                     mung von Menschen und der an verschiedenen
denen Wellen breiten sich mit unterschiedlicher                         Bauwerken und in der Natur beobachteten Verände-
Geschwindigkeit nach allen Richtungen aus, bis sie an                   rungen. Demzufolge handelt es sich dabei um rein
einem Standort an der Oberfläche verschiedenartige                      statistisch zu behandelnde Beurteilungen. Dafür
Bodenbewegungen verursachen können.                                     wurden verschiedene Skalen vorgeschlagen, die
                                                                        manchmal Verwirrung stiften können. In Europa wird
Erdbeben verursachen an der Oberfläche zyklische,                       derzeit am häufigsten die EMS-98-Skala verwendet.
horizontale und vertikale Versetzungen und können
Amplituden im Zentimeter- bis Dezimeterbereich                          Die seismische Aktivität untersteht in der Schweiz
erreichen, wobei die entsprechenden Beschleunigun-                      einer ständigen Überwachung. Der Schweizerische
gen einige Hundertstel bis mehrere Zehntel der                          Erdbebendienst (SED) betreibt derzeit zwei hochemp-
Erdbeschleunigung betragen können.                                      findliche Seismometernetze zur Registrierung von
                                                                        Erdbeben. Einerseits handelt es sich dabei um ein Netz
Die Stärke und die Auswirkungen eines Erdbebens                         aus 30 über die ganze Schweiz verteilten Stationen,
werden üblicherweise mithilfe zweier Messskalen                         welche gleichzeitig nahe gelegene und weit entfernte
bewertet: Magnitude und Intensität (Anhang B).                          seismische Aktivitäten registrieren können. Die Mess-
                                                                        stationen sind so weit wie möglich von störenden
                                                                        Einflüssen der Zivilisation abgeschirmt. Diese Stationen
                                                                        übermitteln kontinuierlich und in Echtzeit die aufge-
                                                                        zeichneten Signale an die Auswertezentrale in Zürich.

                                                                        Andererseits dient ein zweites Stationsnetz der
                                                                        Registrierung von starken Bewegungen mit Beschleu-
                                                                        nigungsmessern und besteht aus etwa 100 Messein-
                                                                        richtungen, wovon 35 Stationen in der unmittelbaren
                                                                        Umgebung von Talsperren lokalisiert sind. Dieses
                                                                        zweite Netz wird für die Aufzeichnung von lokalen
                                                                        Ereignissen eingesetzt und ermöglicht die präzise
                                                                        Bestimmung der maximalen Bodenbeschleunigung.

                                                                        Parallel zur kontinuierlichen Erdbebenüberwachung
                                                                        hat der Schweizerische Erdbebendienst einen Erdbe-
                                                                        benkatalog der Schweiz (ECOS) erstellt, in welchem
                   Erdbebenwellen
                                                                        alle seit dem Jahr 250 registrierten historischen
Figur 9: Ein Erdbeben ist das Ergebnis einer abrupten Freisetzung von   Ereignisse, die in den Jahrbüchern der Schweizerischen
Energie entlang einer Bruchfläche in der Tiefe.                         Erdbebenkommission seit 1879 publizierten Daten,
                                                                        die vom instrumentellen Netzwerk des SED seit
                                                                        1975 aufgezeichneten Daten sowie Ergänzungen
Die Magnitude ist ein Messwert für die an einem Erd-                    aus 12 Erdbebenkatalogen von Nachbarländern und
bebenherd freigesetzte seismische Energie, die anhand                   internationalen Agenturen aufgenommen sind.
analoger oder digitaler Aufzeichnung quantifiziert wer-
den kann. Die gebräuchlichste Messskala wurde 1935
von C. F. Richter eingeführt und basiert auf einer Stan-

20
Bei einem Erdbeben schwingt der Untergrund schnell –                 Form von Wellen aus, deren Amplituden und Fre-
aber generell in geringem Ausmass – in allen Raum-                   quenzspektrum während des Wegs verändert werden.
richtungen auf der Horizontalen sowie in vertikaler                  In Oberflächennähe sind die geologischen Kontraste
Richtung hin und her. Die Dauer der Schwingungen                     oftmals grösser als in der Tiefe und können eine
beträgt z. B. bei einem Ereignis einer mittleren                     Änderung des Signals bewirken, die manchmal auf
Magnitude ungefähr 10 bis 20 Sekunden (Figur 10).                    kurzen Distanzen erheblich sein kann. Solche
                                                                     oberflächennahen Einwirkungen machen im Wesentli-
Die Erdbebeneinwirkungen auf ein Bauwerk werden                      chen die sogenannten Standorteffekte aus (Figur 11).
im Wesentlichen durch die Amplituden und zeitlichen
Schwankungen dreier Parameter bestimmt, welche die                   Dabei werden verschiedene Szenarien betrachtet, die
Bodenbewegung aufgrund ihrer Beschleunigung (ag),                    solche Standorteffekte erzeugen können:
Geschwindigkeit (vg) und Verschiebung (dg) beschrei-
ben. Das Frequenzspektrum dieser drei Parameter                      A) Geologische Standorteffekte sind vor allem durch
spielt eine wesentliche Rolle beim Ausmass der Einwir-                  den Impedanzkontrast zwischen Lockergesteinsab-
kungen auf Bauwerke.                                                    lagerungen mit generell schwachen bodenmechani-
                                                                        schen Eigenschaften und dem häufig kompakteren
                                                                        Felsuntergrund (oder «Bedrock») bedingt. Dieser
2.2 Standorteffekte                                                     Kontrast bildet die Ursache zweier Effekte: Eine
                                                                        Erhöhung der Bodenbewegungsamplitude im
Die bei einem seismischen Bruch in der Erdkruste frei-                  Vergleich zu der eintreffenden Bewegung an der
gesetzte Energie breitet sich gegen die Oberfläche in                   Basis der wenig konsolidierten Ablagerungen und

              2.5

              1.5

          0.5
   [m/ 2]
   ag      .5

           -1.5

           -2.5
          0.15
              0.1
          0. 5
   [m/                0
   vg     -0. 5
                  .
              .
          .           5

         0.015

         0.005
   [m]
    g                 5

          .           5

         -0.025
                          0   1   2   3   4   5   6   7     8    9     10 11      12    13    14   15    16    17    18   19    20
                                                                     Zeit [s]

Figur 10: Erdbeben der Magnitude 6.0 im italienischen Friaul. Seismogramm vom 15. September 1976 der Station Forgaria-Cornio, die sich
auf kompaktiertem Lockergestein in 14 km Distanz zum Epizentrum befand. Die Messungen des Erdbebens im Friaul sind ebenfalls repräsen-
tativ für potentielle Schweizer Beben.

                                                                                                                                     21
ungenügend dokumentiert und kann in drei
                                                                        Klassen Felsgeometrie, Topografie und Talflanken
                                                                        unterteilt werden (s. unten). Die Norm SIA 261
                                                                        berücksichtigt mit den Antwortspektren und deren
                                                                        Sicherheitsmargen einen Teil dieser geometrischen
                                                                        Effekte.

                                                                    B1) Der Effekt der Felsgeometrie: Die Grenze zwischen
                                                                       Lockergesteinsablagerungen und dem Felsunter-
                                                                       grund wird oft durch eine unregelmässige Geome-
                                                                       trie charakterisiert, die eine besondere Bündelung
                                                                       der Wellen im Inneren des Beckens bewirkt. Eine
                                                                       Verstärkung der Erdbebenwellen und eine Verlän-
Figur 11: Einfluss der lokalen Untergrundverhältnisse auf die          gerung des Bebens sind die Folge.
Erdbebenerschütterungen.                                               Dieser Effekt wird in tiefen Tälern mit einem kleinen
                                                                       Breiten-Längen-Verhältnis beobachtet (L / (2H) < 10).
     ein Resonanzeffekt bedingt durch «Einfang» der                    In verschiedenen Forschungsprojekten wird zur Zeit
     Wellen innerhalb der oberflächennahen                             dieser Effekt untersucht (z.B. Interreg III SISMO-
     Ablagerungen.                                                     VALP). Nach heutigem Kenntnisstand kann man
     Diese Art von Standorteffekt kommt sicherlich am                  keine einheitliche Bestimmung des Verstärkungs-
     häufigsten vor und beeinträchtigt besonders die                   faktors basierend auf der Felsgeometrie vorneh-
     Siedlungsbauten in Tälern, an Flussufern oder in                  men. Die Spannweite des Faktors wird in den
     flachen Sedimentbecken.                                           meisten Fällen zwischen 1.5 und 2.5 liegen. Unter
                                                                       der Berücksichtigung der laufenden Forschungs-
B) Der Effekt der Schichtgeometrie ist ebenfalls direkt                arbeiten ist in der Schweiz eine Kartierung der
   von der Beschaffenheit der lokalen geologischen                     Gebiete mit Felsgeometrieeffekten geplant, um
   Verhältnisse abhängig. Der unter A) weiter oben                     daraus Näherungswerte für den Verstärkungsfaktor
   beschriebene Einfluss des Impedanzkontrasts ist                     abzuleiten. Die Verstärkung ist nicht konstant über
   tatsächlich nur selten der alleinige Effekt, der                    alle Frequenzbereiche. Sie ist grösser, wenn die Fre-
   betrachtet werden muss, da dieser meistens mit                      quenz nahe an der Fundamentalfrequenz des Tales
   dem geometrischen Effekt der Gesteinsoberfläche                     oder des Beckens liegt. Im Rhonetal liegt das Ver-
   verbunden ist. Der geometrische Effekt ist noch                     hältnis L / (2H) zwischen 0.3 und 4 und die Frequenz

Figur 12: Topographische Standorteffekte des Erdbebens von Algier/Boumerdès (2003) mit Konzentration der Schäden auf die überhängen-
den Steilwände des Tals.

22
beträgt zirka 0.5 Hz. Diese Frequenz ist nur für                      Mulden abgemindert wird (Figur 12). Solche Effekte
    einen sehr geringen Anteil von Bauten relevant                        treten lediglich bei extremen topographischen
    (Figur 19).                                                           Szenarien auf (steilwandige Bergkämme, Felswand-
                                                                          kanten etc.). Die heutigen Erkenntnisse über die
B2) Topographische Standorteffekte beeinflussen die
                                                                          Mechanismen eines solchen topographischen
   Verstärkung oder Abminderung eines seismischen
                                                                          Effekts sind noch begrenzt und erlauben lediglich
   Signals, je nachdem, ob die Topographie bzw. das
                                                                          ungefähre Schätzungen. Der Anhang A von Euro-
   Relief konvex oder konkav ist. Für topographisch
                                                                          code 8 (Teil 5, prEN 1998-5: 2003) erläutert die
   bedingte Einwirkungen ist eine geeignete
                                                                          Berücksichtigung dieses Effekts.
   akzentuierte Morphologie erforderlich, um solche
   Standorteffekte sogar auf felsigem Untergrund
   verursachen zu können.
B3) Der Effekt von Talflanken kommt im Kontaktbereich
                                                                      2.3 Induzierte Effekte: Bergsturz,
   von Felsuntergrund und Lockergestein vor. In dieser                    Erdrutsch, Bodenverflüssigung
   Kontaktzone treten Oberflächenwellen auf, welche                       und Thixotropie
   die sonst massgebenden S-Wellen dominieren
   können. Dieser Effekt wird in Zonen, die parallel zu               Seismische Wellen können in bestimmten Gebieten
   den Talflanken liegen, beobachtet. Über die Aus-                   Sekundäreffekte induzieren, die je nach Untergrundei-
   breitung der Zonen und deren Verstärkungseffekt                    genschaften schwerwiegende Folgen auf Bauwerke
   ist heute wenig bekannt. Einzig komplexe Modellie-                 haben können (Figur 13).
   rungen können diese Verstärkung aufzeigen.
                                                                      Seismische Wellen können Felswände destabilisieren
    Im Falle von Festgestein (Fels) wird generell                     und talabwärts gelegene Siedlungsgebiete bedrohen.
    beobachtet, dass die Bodenbewegung in der Nähe                    Sie können zudem latente Rutschungen reaktivieren
    der Berggipfel verstärkt wird, während sie in den                 oder instabile wasserübersättigte Abhänge in

         Schwache Verstärkung                                                        Verstärkung der Erdbebenwellen durch
                                         ja                                  nein
          der Erdbebenwellen                         Boden
               durch den                         überkonsolidiert                         den Impedanzkontrast und die
            Standorteffekt                                                              Topographie des Felsuntergrundes.

                                              Trockene                     Sande und
                                        Bö           örnige                gesättigte                  Gesättigte Tone
                                                                       Feinkornsedimente               und Seekreide

         Geringe Auswirkung             Keine Auswirkungen           Bedeutende                    Bedeutende
           Verstärkung falls                                                                       Auswirkungen
         gesättigte Sande oder                                       – Verflüssigung / Sackung     – Rutschungen
          Feinkornsedimente                                          – Rutschungen                 – Sackungen / Thixotropie
             vorkommen.

Figur 13: Auswirkungen auf den Standort je nach Beschaffenheit des Lockergesteins.

                                                                                                                               23
1946 infolge eines der Nachbeben der Bebenserie von
                                                                    Sierre ereignete.
                                                                    Ein Bergsturz auf einem Mergel-, Tonstein- oder
                                                                    Tonschieferhorizont verläuft ähnlich wie ein Erdrutsch
                                                                    aus Lockergesteinsmassen, ausser dass aufgrund der
                                                                    Kohäsion der Mergel, Tonsteine oder Tonschiefer das
                                                                    Risiko einer Bodenverflüssigung ausgeschlossen wird.

                                                                    b) Erdrutsch

                                                                    Ein stärkeres Erdbeben kann im Gebirge zahlreiche
                                                                    Erdrutsche auslösen, entweder durch Reaktivierung zur
                                                                    Ruhe gekommener oder sich langsam bewegender
                                                                    Rutschmassen oder durch Mobilisierung ursprünglich
                                                                    stabiler Bodenschichten (Figur 15). Wie bei
                                                                    Erdrutschstudien, die nicht die Erdbebengefährdung
                                                                    berücksichtigen, ist Wasser der bestimmende Faktor:
                                                                    Daher muss das unterirdische Fliessregime innerhalb
                                                                    der potenziellen Rutschmasse bekannt sein. Zudem
                                                                    trägt die Erhöhung des Porenwasserdrucks unter

Figur 14: Bergsturz am Südhang des Rawylhorns ausgelöst durch das
Erdbeben vom 30. Mai 1946 in Sierre (Magnitude 6, dabei stürzten
5 Millionen Kubikmeter Felsmaterial in die Tiefe).
                                                                     Tabelle 4: Untersuchung der Geländestabilität
                                                                     unter Erdbebeneinwirkung

Bewegung setzen. Sind wassergesättigte und wenig                     • Abschätzung der Erdbebeneinwirkung
kompaktierte Lockergesteine vorhanden, treten                          (Horizontalbeschleunigung)
gehäuft eine Bodenverflüssigung (Solifluktion) von                     – Bestimmung der Fundamentalfrequenz des
Sanden und Silten und eine Thixotropie von Tonen und                     Bodens
Seekreiden auf. Solche Phänomene induzieren                            – Erhöhung im Falle eines nahen Gebirgskamms
                                                                                            ➔

differenzielle Bodensackungen und können daher
ebenfalls Bauwerke gefährden.                                        • Abschätzung der hydrogeologischen
                                                                        Beanspruchung
a) Bergsturz                                                           – Bestimmung der Fliessbedingungen im
                                                                         Untergrund
Häufig werden in der Literatur durch Erdbeben hervor-
                                                                                            ➔

gerufene Bergstürze beschrieben. Dafür ist vor allem
das Trennflächen-, Lagerungs-, Störungs-, Kluft- und                 • Abschätzung des Bodenverflüssigungspotentials
Schieferungsmuster ausschlaggebend. Ungünstige                         gemäss Tabelle 6
hydrogeologische Verhältnisse können die durch ein
                                                                                            ➔

Erdbeben verursachte Instabilität noch verstärken.
Befindet sich die Felswand in der Nähe eines Gebirgs-                • Abschätzung der Scherwiderstandsparameter
kamms, so wird das Erdbebensignal wie bei einem                        – Innerer Reibungswinkel
Erdrutsch verstärkt. Die Vertikalkomponente der Erdbe-                 – Kohäsion
                                                                                            ➔

benwellen hat bei einer Wand mit einer Neigung von
> 45° einen stärker destabilisierenden Effekt als die
Horizontalbeschleunigungen. Die Erdbebeneinwirkung,                  • Berechnung der Stabilität mit Modellen, die
die bei einer Gleichgewichtsstudie berücksichtigt                       zyklische Horizontalbeschleunigungen und
werden muss, entspricht der Multiplikation aus den                      möglicherweise vorhandene verflüssigbare
maximalen horizontalen und vertikalen Beschleunigun-                    Böden simulieren
                                                                                            ➔

gen mit allgemein abgeschätzten pseudostatischen
Faktoren zwischen 0.1 und 0.5. Figur 14 veranschau-                    Abschätzung der Gefahr durch Schlammströme
licht den Bergsturz am Rawylhorn, der sich am 30. Mai

24
Figur 15: Durch das Erdbeben vom 13. Januar 2001 ausgelöster kreisförmiger Erdrutsch an der Carretera de San Vincente (El Salvador).

wiederkehrenden Belastungen von Böden, die                            Zone und dem angenommenen Erschütterungsgrad
verflüssigbare Sande oder Silte enthalten, ebenfalls                  abhängen. Im Allgemeinen liegt dieser Faktor zwischen
vermehrt zur Destabilisierung des Geländes bei.                       0.1 und 0.5. Befindet sich die Rutschmasse in der Nähe
                                                                      eines Bergkamms, so wird das Erdbebensignal durch
Erdrutsche werden somit häufig von Erdbeben durch                     die Topographie verstärkt (siehe Kapitel 2.2).
Erhöhung der effektiven Horizontalspannung und des
Porenwasserdrucks ausgelöst (bei einer Magnitude                      Für die Berechnung der Massenverlagerung stehen ver-
von ca. > 5).                                                         schiedene Methoden zur Verfügung (Newmark, 1965,
                                                                      etc.). Unter der Voraussetzung, dass diese Methoden
Die detaillierten Schritte bei der Untersuchung eines                 die Phänomene der Bodenverflüssigung und Schlamm-
möglicherweise instabilen Geländes werden in Tabelle 4                ströme vernachlässigen, müssen sie für jede Stabilitäts-
zusammengefasst.                                                      studie unabhängig voneinander verwendet werden.

Die Stabilitätsberechnungen erfolgen auf übliche                      c) Bodenverflüssigung
Weise (statische Gleichgewichtsbedingungen) mit
einer einfachen zyklischen Horizontalkomponente der                   Die sogenannte Bodenverflüssigung bezeichnet einen
Beschleunigung, die gleich der Multiplikation der für                 Prozess, der zum Verlust der Scherfestigkeit eines
den Standort bestimmten maximalen horizontalen                        Bodens durch Porendruckerhöhung und zur Verringe-
Beschleunigung mit einem pseudostatischen Faktor ist.                 rung der effektiven Spannung zwischen den Mineral-
Die Wahl dieses pseudostatischen Faktors ist nicht                    körnern führt. Begleiterscheinungen sind Sackungen,
trivial und muss von der Bedeutung der untersuchten                   Dilatanz oder Erdrutsche. Die Erhöhung des Porenwas-

                                                                                                                                       25
Tabelle 6: Untersuchung der Bodenverflüssi-
                                                                    gung bei einem Erdbeben

                                                                       Kriterium der Korngrössenverteilung erfüllt

                                                                                            ➔
                                                                       Abschätzung der Erdbebeneinwirkung
                                                                       eines Bodens durch:
                                                                        • Beziehung Magnitude – horizontale
                                                                          Bodenbeschleunigung
                                                                        • 1D-Simulation

                                                                                            ➔
                                                                       Abschätzung der Erdbebenwiderstandsfähigkeit
                                                                       eines Bodens durch:
                                                                        • Scherfestigkeit
Figur 16: Einsinken eines Wohngebäudes nach hinten als Folge der
Bodenverflüssigung seines Baugrunds (Erdbeben von Izmit, Türkei,        • Druckfestigkeit (NSPT etc.)
1999).                                                                  • Dynamische Triaxialversuche etc.

                                                                                            ➔
serdrucks erfolgt bei jedem Zyklus der Erdbebenwelle.                  Vergleich zwischen Beanspruchung und
Die Bodenverflüssigung betrifft wassergesättigte und                   Widerstandsfähigkeit: Die Widerstandsfähigkeit
wenig kompaktierte Lockergesteine (Tabelle 5)                          muss ausreichend sein.
geringer Durchlässigkeit. Der Porenwasserdruck hat
dabei nicht genügend Zeit, sich während zweier
Belastungszyklen wieder abzubauen. Deshalb werden
einzig gesättigte Sande und Silte von einer solchen
Bodenverflüssigung betroffen (Böden mit einer Durch-               wird ein empirisches Vorgehen zur Bestimmung der
lässigkeit zwischen 10–5 und 10–6 m/s).                            Bodenverflüssigung vorgeschlagen.

Falls dieses Kriterium erfüllt ist, kann die Bewertung             Von der Bodenverflüssigung sind per Definition Locker-
der Verflüssigungsempfindlichkeit eines Bodens durch               böden betroffen, die auf Erdbeben mit Setzungen
verschiedene Methoden, beispielsweise durch boden-                 reagieren. Daher sind gesättigte Böden aus mehr als
mechanische Tests, wie dem Standard-Penetrometertest               ca. 20 m Tiefe ausreichend dicht, so dass sie nicht
(«standard penetration test» SPT), einer Rammsondie-               mehr von einer Bodenverflüssigung betroffen werden.
rung im Bohrloch und der Drucksondierung («cone
penetration test» CPT) oder auch Laborversuche mit                 Die Gefahr einer Bodenverflüssigung muss für jedes
der dynamischen Triaxialzelle präzisiert werden.                   einzelne Gebäude bewertet werden. Das Verhalten
Dynamische Modelle ermöglichen zudem eine Simula-                  eines Bauwerks hängt auch von der Art seines Funda-
tion der Bodenverflüssigung. Im Eurocode 8 (Teil 5)                ments ab (Einzelfundament, Streifenfundament,
                                                                   Fundamentplatte, Pfahlgründung). Trotz einer Boden-
                                                                   verflüssigung können bei einer entsprechend ausgeleg-
                                                                   ten Pfahlgründung (z. B. Unempfindlichkeit der Pfähle
 Tabelle 5: Das Kriterium der Korngrössenvertei-                   gegenüber Verformungen des Oberbodens, Auslegung
 lung für gesättigte und wenig kompaktierte                        der Pfähle unter Berücksichtigung der durch ober-
 Böden:                                                            flächennahe Bodensetzungen verursachten negativen
                                                                   Reibung) Folgeschäden vermieden werden.
 • 15 % mit Korndurchmesser: d15 > 5 µm
 • 50 % mit Korndurchmesser: 50 µm < d50                           Die Tatsache, dass ein verflüssigter Boden seine Eigenim-
                              < 1.5 mm                             pedanz verändert, wodurch auch eine Änderung des
 • 70 % mit Korndurchmesser: d70 > 75 µm.                          Erdbebensignals bewirkt wird, darf nicht ausser Acht
                                                                   gelassen werden. Das Vorgehen bei der Untersuchung
                                                                   der Bodenverflüssigung ist in Tabelle 6 zusammengefasst.

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Figur 17: Fundamentalfrequenzmessungen von Lockergesteinen in der Region von Yverdon (Widmer et al., 2003).

d) Thixotropie von Tonen                                            sich abzubauen. Eine Rutschmasse kann einen solchen
                                                                    Überdruck lange nach einem Hauptbeben aufrecht-
Nach Ablagerung der Tone in lakustrischem oder mari-                erhalten, vor allem wenn Nachbeben dessen Abbau
nem Milieu, werden die Tonpartikel langsam umgeord-                 beeinträchtigen. Zudem ist im Anschluss an die
net und bilden eine dreidimensionale Struktur. Sie                  plastischen Verformungen, die von dem Hauptbeben
bilden ein Netz aus Plättchen, die mehr oder weniger                verursacht wurden, die mechanische Widerstands-
orthogonal zueinander angeordnet sind. Eine seismi-                 fähigkeit der Tone geschwächt (residualer Reibungs-
sche Erschütterung kann zu einem Zusammenbruch                      winkel, residuale Kohäsion).
dieser Struktur führen, deren Gleichgewicht mit einem
Kartenstapel vergleichbar ist. Wenn die Tone sich                   Die Thixotropie von Tonen bleibt ein vergleichsweise
ursprünglich nicht in einem überkonsolidierten Zustand              seltenes Phänomen in der Schweiz und tritt nur örtlich
befinden, setzen sie sich oder lösen einen Erdrutsch                begrenzt in der Nähe von Seen oder alten lakustrischen
aus. Ihr Konsolidierungsgrad ist somit eine wesentliche             Ablagerungen auf.
Eigenschaft für ihr Verhalten bei einem Erdbeben.
Sogar nach einem Thixotropiephänomen bleibt der Ton
plastisch verformbar.

Die Durchlässigkeit von Tonen ist sehr gering, der
Porenwasserüberdruck, der von den Beschleunigungs-
zyklen erzeugt wird, benötigt Stunden bis zu Tagen um

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