Leben in zwei Ländern - Über die Situation polnischer Arbeitnehmer in deutschen Privathaushalten - Nomos eLibrary

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MONITORING

Leben in zwei Ländern
Über die Situation polnischer Arbeitnehmer
in deutschen Privathaushalten

  PATRYC JA KNIEJSK A                          Beim Einsatz ausländischer Pflegenden in deutschen
Patrycja Kniejska ist Doktorandin
in Sozialer Gerontologie an der
                                               Privathaushalten wird oft ein Aspekt vergessen: Wie
TU Dortmund und Stipendiatin                   sich das Leben in zwei Ländern auf die Familie der
der Friedrich Ebert Stiftung. Sie
­promoviert derzeit zur Bedeu-
                                               Pflegenden auswirken kann. Eine neue Studie untersucht
 tung der Pflegearbeit für Migrant             diesen Aspekt bei Frauen und einigen Männern, die
 Care ­Workers aus Polen und ihrer
 ­Verortung im Pflegemix.
                                               zeitweise in Deutschland im Privathaushalt tätig sind.
  patrycja.kniejska@onet.eu

                                               Es sind immer häufiger Ehefrauen,                                   vor allem von Altenpflege an Dritte auf
                                               Mütter und Großmütter, die ihre Fa-                                 der einen Seite, und der Mangel an Ar-
                                               milien (temporär) verlassen, um ihre                                beitskräften im Niedriglohnsektor auf
                                               Zeit, Zuwendung, haushälterischen                                   der anderen Seite führen zur Entstehung
                                               und pflegerischen Fähigkeiten im Aus-                               globaler Betreuungsketten (Fudge 2010;
                                               land anzubieten und zu verkaufen. Eine                              Beck/Beck-Gernsheim 2013: 154 –155).
                                               solche Arbeit nimmt in deutschen Pri-                                  Diese Ketten haben einen komplexen
                                               vathaushalten eine unbekannte, wenn                                 Charakter und nehmen vor allem im
                                               auch laut Schätzungen bedeutende Zahl                               Fall polnischer »Migrant Care Wor-
                                               polnischer Frauen und Männer in An-                                 kers« in deutschen Haushalten diverse
                                               spruch. In ihrem Fall ist meist von einer                           Formen an. Aufgaben und Rollen, die
                                               Pendelmigration zu reden, die dank der                              in der Pflegearbeit entgeltlich erbracht
                                               Grenznähe regelmäßige, wenn auch kur-                               werden, müssen auch – trotz physischer
                                               ze Aufenthalte im eigenen Zuhause er-                               Abwesenheit – in den eigenen Familien
                                               möglicht (Kontos/Shinozaki 2010: 97).                               der Pflegekräften organisiert und erfüllt
                                                  Gosta Esping-Andersen (1999)                                     werden (Metz-Göckel/Münst/Kałwa
                                               spricht in diesem Kontext über Fami-                                2010: 28). Das Arrangement, der Ar-
                                               liarisierung der Pflegearbeit und De-                               beitsrhythmus und der besondere Cha-
                                               familiarisierung der Pflegekraft. Da                                rakter der Arbeitgeber-Arbeitnehmer-
                                               Aufgaben in dieser Branche im deut-                                 Verhältnisse in der häuslichen Pflege
                                               schen Haushalt erfüllt werden, soll das                             ermöglichen ein bilokales, also gleich-
                                               Engagement der Beschäftigten einen                                  zeitiges Funktionieren und Managen
                                               familienorientierten Charakter haben.                               von zwei Haushalten, auch wenn es in
                                               Dies kann allerdings nur unter der Be-                              dem einen nur auf Distanz möglich ist.
                                               dingung gelingen, dass die Arbeitskraft
                                               dauernd am Wohnort der Pflegebedürf-                                Bilokale Lebensführung
                                               tigen beschäftigt ist und getrennt vom
                                               eigenen Zuhause und der eigenen An-                                 In der Literatur werden unterschiedliche
                                               gehörigen lebt. Diese geografische Ab-                              Modelle dieser Organisation beschrie-
                                               wesenheit von der eigenen Familie wird                              ben. Maria S. Rerrich (2006: 131) spricht
                                               bei Esping-Andersen als Vorbedingung                                das »Modell der polnischen Cousine« an.
                                               für die Beschäftigung in der häuslichen                             Demnach wird die Stelle im Ausland,
                                               Pflegearbeit im Ausland gedeutet.                                   aber auch die Versorgung der Familien in
                                                  Familienunfreundliche Verhältnisse                               der Heimat zwischen zwei Frauen, Ver-
                                               auf dem Arbeitsmarkt, die die Delegati-                             wandten oder Freundinnen geteilt und
                                               on nicht nur von Kinderbetreuung, aber                              nach dem Rotationssystem organisiert.

                                                      https://doi.org/10.5771/0340-8574-2015-6-230
230           Blätter der Wohlfahrtspflege     6 | 2015
                                               Generiert durch IP '46.4.80.155', am 25.02.2022, 09:01:19.
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MONITORING

   Diese Frauen arbeiten nicht nur auf           welche der beschriebenen Formen der »Fa-                         gen] … Später an der zweiten Stelle habe
der gleichen Stelle, sondern kümmern             milienbetreuung auf Distanz« sie bevorzu-                        ich für meine Telefonate schon selbst be-
sich auch abwechselnd um beide Fa-               gen, wie sie das Leben in zwei Haushalten                        zahlt … (…) ich könnte hier [in Deutsch-
milien. Ein anderes Modell charakte-             »managen« und die Sehnsucht nach ihren                           land] bleiben und arbeiten, aber nicht
risiert die Anstellung von Fremden aus           Angehörigen überwinden.                                          in so einer Arbeit [24-Stunden-Pflege].«
anderen Ländern (z. B. der Ukraine)                 Die hier referierte Studie, deren
zur Versorgung der eigenen Familie für           Grundlage 26 problemzentrierte Leit-                             Erziehung über Skype
die Zeit, in der die Pendelmigrantin in          fadeninterviews bilden (1), liefert Infor-
Deutschland berufstätig ist.                     mationen dazu, wie die bilokale Lebens-                          Auch das Skypen, das es möglich macht
   Um die Qualität dieser Versorgung zu          führung (am Arbeitsplatz in dem einen                            nicht nur die Stimme, sondern auch
sichern, werden regelmäßig Geld und Ge-          Land und auf Distanz in dem anderen)                             das Gesicht und die Mimik der Ange-
schenke nach Hause geschickt. Um den             aussieht und welche Rolle die Arbeit-                            hörigen zu sehen und zu erfahren, ist
Angehörigen die kurz oder länger dau-            geber und Arbeitgeberinnen dabei spie-                           ein relevantes Kommunikationsmittel.
ernde Trennung zu kompensieren und               len. Einflüsse seitens beider Haushalte                          Die Möglichkeit, die Räumlichkeiten
die transnationale Elternschaft (Kontos/         und Formen der Symbiose zwischen                                 des eigenen Zuhauses zu sehen, bei der
Shinozaki 2010: 99) realisieren zu kön-          den Klienten und Klientinnen sowie                               Auswahl der Kleidung für die Schule
nen, werden die modernen Kommunikati-            den Familienmitgliedern der Migrant                              mitzubestimmen oder in der Not verbal
onstechnologien in Anspruch genommen.            Care Workers wurden untersucht, um                               zur Verfügung zu stehen, beruhigt und
   Telefonate, Gespräche per Skype, E-           zu prüfen, welche Art von Beziehungen                            gibt das Gefühl, als Familienmitglied –
Mails, SMS – all diese interaktive kom-          zwischen ihnen entstehen und wie sie zu                          sei es Mutter oder Vater – immer noch
munikative technische Medien helfen              den globalen Betreuungsketten stehen.                            »das Sagen« zu haben. Daher ist die Of-
die räumliche und zeitliche Distanz                                                                               fenheit und das Schaffen von solchen
zwischen den Pendelmigranten und Pen-            Cell-Phone-Moms and Dads                                         Rahmenbedingungen am Arbeitsplatz
delmigrantinnen und ihren Verwandten                                                                              durch die Arbeitgeber und Arbeitgebe-
zu überwinden (vgl. Haidinger 2013:              Während der Aufenthalte im Deutsch-                              rinnen wichtig und bestimmt die Ar-
59; Metz-Göckel/Münst/Kałwa 2010:                land gehört die telefonische Kommuni-                            beitszufriedenheit.
280-287) und die Rolle als Mutter oder           kation zu den meist bevorzugten Wegen.
Vater zu erfüllen, beispielsweise eine           Das Telefon, sowohl Festnetz als auch                            Geldüberweisungen
moralische Instanz bei der Erziehung             Handy, wird am Arbeitsplatz genutzt,
zu bleiben (Haidinger 2013: 250).                um mit den Angehörigen in intensiven                             Das Bedürfnis ein »vollständiges Famili-
                                                 Kontakt zu bleiben. Es ermöglicht und                            enmitglied« mit allen seinen Rechten und
Virtuelle und berufsbedingte                     stärkt den Einfluss auf das Familien-                            Ansprüchen zu bleiben, zeigt sich auch in
Intimität                                        leben in Polen, das vor der Fahrt zur                            der materiellen Unterstützung und dem
                                                 Arbeit auf bestimmte Art und Weise                               Versand von Lebensmitteln (Zucker, Sü-
Diese »Weltfamilien«, wie sie Ulrich             organisiert und umstrukturiert wurde.                            ßigkeiten) und Geld nach Hause. Durch
Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim                   Die Interviewten werden psychisch                             diese »Liebesbeweise« möchten sich die
(2013: 30) nennen, versuchen, eine vir-          meist von ihren Angehörigen in ihren                             Mütter den Respekt und die Dankbar-
tuelle Intimität (Phoenix 2009: 86) zu           Aufgaben ersetzt. Es sind Ehepartner                             keit der Kinder verdienen und sie hoffen
pflegen, die zwar eine physische, aber           und Ehepartnerinnen, in der Nachbar-                             auf eine »Rückzahlung« dieser Aufopfe-
keine emotionale Abwesenheit von an-             schaft lebende Geschwister, Eltern oder                          rung in der Zukunft.
deren Angehörigen realisiert. Es entste-         die älteren Kinder, die sich um die Haus-                           Diese Haltung wird stark vom »häus-
hen neue Aktivitäten und Routinen, die           haltsführung und andere Angehörige                               lichen Matriarchat« geprägt. Dies ist ein
das Familienleben prägen.                        kümmern. Die Familiengröße begünstigt                            von Sławomira Walczewska eingeführ-
   Im Fall der Migrant Care Workers              die Organisation dieses Arrangements                             ter Begriff. Er bedeutet ein System von
handelt es sich um eine 24-Stunden-              und gewährt Sicherheit und Vertrauen.                            Normen und Praktiken im polnischen
Verfügbarkeit, eine Rund-um-die-Uhr-                In Fällen, in denen der Kontakt zur                           Haushalt und bezeichnet die Dominanz
Anwesenheit am Arbeitsplatz, wo nicht            Familie in Polen nicht unterstützt oder                          der Mutter in der privaten Sphäre be-
immer gearbeitet, aber auch gewohnt              erschwert wird, wird die Belastung                               zeichnet, »die eine reale Macht über
und gelebt wird. Das besondere Merk-             durch die Trennung verstärkt und die                             die Familie und den von ihr geführten
mal der Beschäftigung in der häuslichen          Arbeitszufriedenheit deutlich geringer,                          Haushalt hat« (Kałwa 2007: 218).
Pflege ist, dass aufgrund ihrer Intensität       was in Verbindung mit anderen Schwie-                               Es ist der Wunsch der Migrant Care
und ihres Zeitaufwandes die Pflegekraft          rigkeiten in der Pflegearbeit letztlich zum                      Workers, den Kindern ein gutes Leben
ein sehr nahes Verhältnis zu den Klien-          Verzicht auf die Arbeit führen kann, wie                         zu ermöglichen. Hier spielt das Alter
ten und Klientinnen, also den Pflege-            im Fall einer befragten Pflegerin:                               der Kinder keine große Rolle. Auch im
bedürftigen herstellen kann, das in der             »Damals [2002] konnte ich auf der                             Fall der erwachsenen und selbstständi-
Literatur als »fictive kin relationship«         ersten Stelle einmal in der Woche 5 Mi-                          gen Kinder werden solche Verhaltens-
bezeichnet wird (vgl. Karner 1998).              nuten lang telefonieren und Briefe sch-                          muster aktiviert. Manchmal sehen die
   Eine Frage ist, inwiefern das Famili-         reiben. Sonst nix. Und man wartete und                           interviewten Frauen diese Unterstüt-
enleben der Migrant Care Workers den             wartete auf diesen Samstag … Und man                             zungsleistungen als Investition, die sich
Defamiliarisierungs-Prozessen unterliegt,        hatte so eine große Angst [etwas zu sa-                          nicht unmittelbar, aber doch langfristig

                                                           https://doi.org/10.5771/0340-8574-2015-6-230
                                                                                                    Blätter der Wohlfahrtspflege
                                                    Generiert durch IP '46.4.80.155', am 25.02.2022, 09:01:19.                          6 | 2015      231
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auszahlen soll. In diesem Kontext ist             »Ich programmiere mich und weiß,                                 und Ehepartnerinnen (2) zum Arbeits-
von einem generalisierten Reziprozitäts-       keiner zwingt mich [zu fahren]. So er-                              platz transferiert werden.
prinzip zu reden (vgl. Friedrich 2010:         kläre ich es mir. Es ist meine Entschei-                               Auch hier spielen die Arbeitgeber
72), wonach die Eltern ihre Kinder fi-         dung gewesen. Und ich muss einfach                                  und Arbeitgeberinnen eine bedeutende
nanziell unterstützen, um in Zukunft           aushalten. Also aushalten in dem Sin-                               Rolle. Sie schaffen den Rahmen für die
und bei Bedarf von ihnen entsprechende         ne, dass ich diese bestimmte Zeit da                                Anwesenheit einer dritten Person in ih-
Hilfe zu bekommen.                             [in der Pflegearbeit] verbringen muss.                              rem Haushalt und manchmal helfen sie
   Die Interviewpartnerinnen folgen            Aber falls ich was Schlimmes seitens                                auch bei der Organisation deren Auf-
dem Reziprozitätsprinzip, indem sie            des Patienten [des Klienten] oder seiner                            enthaltes in Deutschland. So ist es im
durch ihre Arbeitsmigration ökonomi-           Familie erleben würde, dann würde ich                               Fall einer Interviewpartnerin, die mit
sches Kapital erwerben, das ihren Kin-         die Stelle verlassen. Das Geld wäre das                             ihrer Klientin eine informelle und per-
dern den Einstieg in das berufliche Le-        nicht wert ...«                                                     sönliche Beziehung hat. Sie trifft sich
ben und ihre Familiengründung erleich-
tert. Durch ihre elterliche Aufopferung
und finanzielle Investition erwerben sie                    »Telefon und Skype sollen die fehlende
sich aber auch Dankbarkeit ebenso wie
die Aussicht auf einen »geborgenen«                         Anwesenheit in der eigenen Familie
Ruhestand im Kreis ihrer Familie, was
eine der Interviewpartnerinnen wie                          ersetzen«
folgt zusammenfasst:
   »Ich bin froh, dass ich meinen Kin-
dern helfen kann, weil wenn ich irgend-           Auch die Männer können sich die                                  mit der Tochter ihrer Pflegebedürftigen
wann nicht mehr arbeiten kann, und             Arbeit im Ausland ohne den Kontakt                                  privat und pflegt den Kontakt auch
wenn ich mich dann an den Tisch setze          per Skype und Telefon nicht vorstellen.                             außerhalb der Arbeitszeit. Da sie zur
und meine Tochter mir einen Suppen-            Sie finden ihn aber ausreichend, um auf                             Pflege mit ihrer kleinen, zur Zeit des
teller gibt, dann werde ich nie denken,        dem aktuellsten Stand, was das Fami-                                Interviews sechsjährigen Tochter pen-
dass sie das aus Gnade tut, weil sie kei-      lienleben angeht, zu bleiben und ihre                               delt, hat die Arbeitgeberin ihr bei der
ne Wahl hat, ne … Mein ganzes Leben            väterliche und eheliche Rolle aus der                               Suche eines Kindergartens in der Nähe
habe ich gearbeitet, geholfen, wo ich          Ferne zu erfüllen.                                                  der Arbeitsstelle geholfen. Sie hat ihr
nur konnte. Dass ich das Brot nicht esse,                                                                          auch Kleider für ihre Kinder geschenkt.
ohne etwas dafür zu tun (…).«                  Transfer der Angehörigen                                               An dieser Pflegestelle arbeiten aus-
                                               zum Arbeitsplatz                                                    schließlich Angehörige oder Freundin-
Männliche Care Workers                                                                                             nen der Interviewpartnerin, die sich re-
                                               Eine andere Strategie der Sorge für die                             gelmäßig abwechseln. Diese Stelle wird
Bei den Frauen sind (trotz intensiver fa-      Familie als 24-Stunden-Pflegekraft tä-                              also im Rahmen einer familienunter-
miliärer Unterstützung) Schuldgefüh-           tig zu sein, hängt mit dem engen Ar-                                nehmerischen Strategie organisiert. Die
le und auch die Angst bemerkbar, die           rangement zusammen. Das Leben und                                   mehrwöchige Beschäftigung, ohne das
Liebe der Kinder zu verlieren. Durch           Wohnen am Arbeitsort kann einerseits                                Kind bei sich zu haben, wäre für die-
intensive Kommunikation mit den An-            die Grenzen der (Pflege-) Arbeit ver-                               se Pflegerin nicht zu ertragen. Da sich
gehörigen und mehrdimensionale Akti-           schwimmen lassen, andererseits Rah-                                 aber das Arbeitsverhältnis im Verlauf
vitäten materieller und emotionaler Art        menbedingungen schaffen, die Besuche                                der Zeit sehr intensiviert hat, wurde
versuchen sie sich selbst und ihre Positi-     und Aufenthalte der Familienmitglieder                              das Kind in das Pflegesetting und in die
on in der Familie zu stärken. Dennoch          aus Polen ermöglichen.                                              deutsche Familie in gewisser Weise »auf-
erleben sie auch immer wieder Zweifel             Einige Interviewpartnern und Inter-                              genommen«. Gleichzeitig bewirkt diese
und bedauern die Abwesenheit von Zu-           viewpartnerinnen pendeln mit ihren                                  Konstellation und das nahe persönliche
hause und den Verzicht auf Teilnahme           Kindern oder Ehepartner und Ehe-                                    Verhältnis eine Haltung der Arbeitgebe-
an familiären Festen und den Alltag der        partnerinnen zur Arbeit oder empfan-                                rinnen, die die Interviewpartnerin als
Kinder und Enkelkinder.                        gen zumindest häufig Besuche von ihrer                              Ausbeutung empfindet. Sie ist empört
   Im Unterschied zu den Frauen gelingt        Familie. So kommt es mancherorts zu                                 und belastet, dass sie nicht nur für die
es den Männern besser, ohne größere            einem Transfer der Angehörigen zum                                  Pflegebedürftige kochen muss, sondern
Krisen ein paar Wochen oder Mona-              Arbeitsplatz. Diese Besuche können                                  auch für ihre Tochter und deren Freund,
te fernab von ihrer Familie zu funkti-         einen sporadischen oder regelmäßigen                                die in der Nachbarschaft wohnen. Diese
onieren. Sie können sich völlig auf die        Charakter haben. Sie können auch als                                Arbeit wurde nicht als Pflegetätigkeit
Tätigkeit vor Ort einstellen und das           dauerhafte Anwesenheit am Arbeits-                                  vereinbart, ist aber mit der Zeit zu ih-
Familienleben in Polen hinter sich las-        platz und mit einem Teilengagement                                  rer Aufgabe geworden und wird von ihr
sen oder zumindest für eine bestimmte          in der Pflegearbeit verbunden werden.                               als anstrengend und zeitraubend emp-
Zeit ausblenden. Diese Haltung kann            Meist wird diese Strategie von Pflege-                              funden, weil sie dafür nicht zusätzlich
als »Sich-programmieren-Strategie« be-         rinnen mit kleinen Kindern gewählt,                                 finanziell entschädigt wird.
zeichnet werden, so erklären und nennen        aber es zeigt sich im Interviewmaterial,                               Im Rahmen dieser Strategie gibt es
es zumindest die männlichen Pfleger:           dass beispielsweise auch die Ehepartner                             auch Konstellationen, die ein direktes

                                                      https://doi.org/10.5771/0340-8574-2015-6-230
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und intensiveres Engagement in dem Pfle-          Interviewmaterial aber auch rationale                            stützung ihrer Familien. Trotzdem emp-
gesetting seitens der (sich am Arbeitsplatz       Überlegungen zu den Vorteilen eines                              finden sie noch Sehnsucht und bedauern
aufhaltenden) Angehörigen fördern. So             familiär gefärbten Verhältnisses an.                             es, wichtige Momente in ihren Leben
verhält es sich im Fall einer Pflegerin,             Für den Pflegebedürftigen bietet die                          zu verpassen (vgl. Parreñas 2005: 66).
deren Ehemann sie nach Deutschland                Deklarierung der Beziehung zur Pfle-                             Pflegende Männer dagegen sehen sich
begleitet und mit ihr an der Pflegestelle         gerin als »geschwisterlich« die Mög-                             hauptsächlich als Brotverdiener und
wohnt. Damit kann diese relativ unbe-             lichkeit, von dem Verdacht einer illegal                         nutzen die von ihnen selbst beschrie-
lastet über zwei Monate am Arbeitsplatz           beschäftigten Pflegekraft abzulenken.                            bene »Sich-Programmieren-Strategie«,
verbringen und ihr Ehemann hilft ihr teil-        Und die Pflegerin kann sich durch die                            um die Trennung von den Angehörigen
weise bei einzelnen Aufgaben, wie Ein-            enge Verbindung unliebsame Konkur-                               relativ unbelastet auszuhalten.
kaufen oder Autofahrten. Er wird dafür            renz fernhalten und die Pflegestelle als                            Wo eine Möglichkeit zum Transfer
nicht bezahlt, bekommt aber kostenlose            ihre Existenzgrundlage sichern.                                  der Angehörigen zum Arbeitsplatz ge-
Unterkunft und Verpflegung. Ihm selbst                                                                             schaffen wird, entstehen für die Mig-
wurde sein Bein amputiert und seitdem             Diskussion der Ergebnisse                                        rant Care Workers neue Chancen und
ist er nicht mehr berufstätig. Seine Hilfe                                                                         Gefahren. Es steigert beispielsweise die
entlastet nicht nur die Pflegerin, sondern        Migrant Care Workers aus Polen ent-                              Zufriedenheit der Pflegerinnen, weil
gibt auch ihm das Gefühl, gebraucht und           wickeln im Verlauf ihrer Erfahrung in                            diese trennungsbedingte Belastungen
aktiv im Haushalt der Pflegebedürftigen           der transnationalen Pflegearbeit mehrere                         mildern und im gewissen Maß zusätz-
sein zu können.                                   Strategien, um der totalen Defamiliarisie-                       lich Hilfe von den Angehörigen bei be-
                                                  rung innerhalb ihrer Familien zu entge-                          stimmten Aufgaben bekommen.
Transfer der Pflegebedürftigen                    hen. Sie entscheiden sich, für ihre Ange-                           Im Arbeitsfeld der häuslichen Pflege
zum Wohnort der                                   hörigen nicht nur als Eltern und Großel-                         kann es nicht nur zu außerberuflichen
                                                  tern etc., sondern auch als Brotverdiener                        Beziehungen zwischen der Pflegekraft
Pflegekräfte in Polen
                                                  und Brotverdienerinnen zu sorgen.                                und ihren Klienten und Klientinnen, son-
Die Beziehungen zwei den beiden Fa-                  Um beide Rollen in Einklang zu                                dern auch zur Annäherung zwischen bei-
milien – der Arbeitgeber und Arbeitge-            bringen und dies nicht als Belastung,                            den Familien kommen. Es entsteht hier
berinnen sowie der Arbeitnehmer und               Überforderung oder Verlust zu empfin-                            ein duales interfamiliäres Verhältnis, das
Arbeitnehmerinnen – können auch das               den, entwickeln sie Strategien, die ihre                         aus dem Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Ver-
Familienleben im Heimatland beein-                vorübergehende Abwesenheit von ihrem                             hältnis folgt und sich im Laufe der Zeit
flussen und dort entwickelt werden.               Zuhause kompensieren sollen. Wie auch                            zum quasi-familiären (vgl. Karner 1998)
Regelmäßige Telefonate der Arbeitgeber            andere Studien belegen (Rerrich 2006;                            Verhältnis entwickeln kann.
und Arbeitgeberinnen nach Polen, Päck-            Haidinger 2013; Metz-Göckel/Münst/                                  Vor allem bei den undokumentiert
chen und Postkarten und nicht zuletzt             Kałwa 2010), organisieren sie das Fa-                            Beschäftigten erfolgen viele Absprachen
kürzer oder länger dauernde Besuche               milienleben in Polen mit Hilfe und Un-                           auf mündlicher Basis. Im Zusammenhang
intensivieren diese Beziehungen und er-           terstützung seitens ihrer Angehörigen,                           damit ist zu betonen, dass im Unterschied
füllen bestimmte Funktionen.                      die sie nicht bezahlen, sondern in die sie                       zu einer rein beruflichen und distanzierten
   Einerseits ermöglichen Besuche die             vielmehr investieren, ihnen also Geld                            Haltung der Arbeitgeber und Arbeitgebe-
Pflege auch während des Aufenthaltes              und Lebensmittel überweisen, um sie                              rinnen das nahe Verhältnis die Arbeitszu-
der Migrant Care Workers in Polen,                zu motivieren, zu trösten und ihnen ihre                         friedenheit der Pflegekräfte steigert und
was eine potenzielle Konkurrenz seitens           »Liebe auf Distanz« zu zeigen.                                   die Organisation des Arbeitens und Le-
anderer Pflegekräften verhindert und                 Im Fall dieser Untersuchungsgruppe                            bens in zwei Ländern erleichtert, in dem
ein festes Einkommen sichert. In diesen           wird das Modell »der polnischen Cou-                             es zu einer Verkettung der zwei Haushalte
Fällen kommt es nicht zu einer langen             sine« oder die Beschäftigung von Frem-                           und zwei Familien kommt und dadurch
Trennung von der Familie, sondern eher            den zur Kinderbetreuung nicht in An-                             zur Entstehung einer neuen Familienform,
zu einer gewissen »Adoption« oder ei-             spruch genommen (Rerrich 2006). Der                              die hier als »global verbal-agreement-fa-
nem temporären Transfer des Pflegebe-             virtuelle, dafür aber häufige Kontakt                            mily« bezeichnet werden soll.
dürftigen zum Wohnort der Pflegerin.              per Telefon, Internet etc. (Metz-Göckel/
   Andererseits kann bei dieser Strate-           Münst/Kałwa 2010) hat die Funktion,                              Lehren für deutsche
gie auch die Motivation der Arbeitge-             auf dem aktuellen Stand zu bleiben                               Arbeitgeber und Träger
ber und Arbeitgeberinnen reflektiert              und Einfluss auf die Entscheidungen
werden. Dies ist am Beispiel einer In-            und das Funktionieren der Familie zu                             Die Strategien, die von überwiegend
terviewpartnerin zu erkennen, die ihre            nehmen. Dieser Kontakt ermöglicht                                undokumentierten Migrant Care Wor-
Pflegestelle mit ihrem Bruder teilt. Ihr          die zumindest provisorische Aufrecht-                            kers ausgeübt werden, könnten bei den
Klient besucht sie regelmäßig in Polen,           erhaltung ihrer (starken) Rolle als Mut-                         regulären Beschäftigungsformen eben-
nimmt an Familienfeiern teil und macht            ter und dient dem Reziprozitätsprinzip,                          falls ­A nwendung finden. Sie könnten
gemeinsam mit ihnen Urlaub. Neben                 also dem Ziel dank den Investitionen                             beispielsweise von den Vermittlungs-
der Suche nach familiärer Anbindung               und der »aufopfernden« Haltung in                                agenturen übernommen werden, die
und den persönlichen Annehmlichkei-               Zukunft von den Kindern bei Bedarf                               die Arbeits- und Lebensbedingungen
ten, die damit offensichtlich für beide           versorgt zu werden. Die Pendelmigran-                            ihrer Beschäftigten mit kleinen Kindern
Seiten verbunden sind, deuten sich im             tinnen leisten daher eine Multiunter-                            optimieren möchten.                  ➔

                                                            https://doi.org/10.5771/0340-8574-2015-6-230
                                                                                                     Blätter der Wohlfahrtspflege
                                                     Generiert durch IP '46.4.80.155', am 25.02.2022, 09:01:19.                           6 | 2015       233
                                              Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
MONITORING

    Der Zugang zum Internet erleichtert            Esping-Andersen, Gosta (1999): Social Founda-
nicht nur den Kontakt mit den Ange-                tion of Postindustrial Economies. Oxford.
hörigen, sondern ermöglicht auch den               Friedrich, Sibylle (2010): Arbeit mit Netzwer-
                                                                                                                           Reihe Diakoniewissenschaft | Diakoniemanagement       |5
Zugang zu Sprachkursen, Pflegefach-                ken. In: Möbius, Thomas/Friedrich, Sibylle (Hg.):
wissen, lokalen Freizeitangeboten etc.             Ressourcenorientiert Arbeiten: Anleitung zu
Kostenlose oder kostengünstige Me-                 einem gelingenden Praxistransfer im Sozialbe-
dienbedienung am Arbeitsplatz gehört               reich. Wiesbaden.
                                                                                                                           Michael Bartels
zum Standard und sollte von den Ar-                Fudge, Judy (2010): Global Care Chains:
beitgeber und Arbeitgeberinnen unmit-              Transnational Migrant Care Workers. http://                             diakonisches profil & universal
telbar zur Verfügung gestellt werden.              www. ialsnet.org/meetings/labour/papers/                                design
                                                                                                                           Diakonie zwischen Verkirchlichung und Verweltlichung des
Darüber hinaus sind die Pflegekräfte               FudgeCanada.pdf (12.12.2011).                                           Christentums

aus dem Ausland in die öffentliche po-             Haidinger, Bettina (2013): Hausfrau für zwei
litische Diskussion über Rahmenbedin-              Länder sein. Zur Reproduktion des transnatio-
gungen und Organisation ihrer Arbeit               nalen Haushalts. Münster.
in der häuslichen Pflege einzubeziehen.            Hochschild, Arlie R. (2003): Love and Gold,
                                                   http://havenscenter.wisc.edu/files/love.and.
                                                                                                                                  Nomos
Anmerkungen                                        gold.pdf (14.02.2012), S. 34-46.
                                                   Kałwa, Dobrochna (2007): »So wie zuhause«.
(1) Die qualitative Forschung, über die            Die private Sphäre als Arbeitsplatz polnischer
    hier berichtet wird, wurde als Pro-            Migrantinnen. In: Nowicka, Magdalena (Hg.):                         diakonisches profil &
    motionsprojekt, im Rahmen zweier               Von Polen nach Deutschland und zurück: Die                         universal design
    Stipendien finanziert: der Gemein-             Arbeitsmigration und ihre Herausforderungen                         Diakonie zwischen Verkirch-
    schaft für Studentischen Austausch             für Europa. Bielefeld.                                             lichung und Verweltlichung
    in Mittel- und Osteuropa (GFPS                 Karner, Tracy X. (1998): Professional Caring:                       des Christentums
    e. V.) (2010-2011) und der Friedrich           Homecare Workers as Fictive Kin, http://www.
                                                                                                                       Von Michael Bartels
    Ebert Stiftung (2011-2015). Sie ba-            researchgate.net/publication/223059945_
                                                                                                                       2015, 711 S., geb., 129,– €
    siert auf problemzentrierten Leitfa-           Professional_Caring_Homecare_Workers_as_
                                                                                                                       ISBN 978-3-8487-2188-7
    deninterviews mit 23 Frauen und 3              Fictive_Kin (09.08.2015).
    Männern aus Polen. Von ihnen ar-               Kontos, Maria/Shinozaki, Kyoko (2010): Integ-
                                                                                                                       (Reihe Diakoniewissenschaft/
    beiten 22 weiterhin in der Pflege und          ration of New Female Migrants in the German
                                                                                                                       Diakoniemanagement, Bd. 5)
    4 haben diese Arbeit aufgegeben. Die           Labour Market and Society. In: Slany, Krystyna/                     www.nomos-shop.de/25096
    Interviews wurden in der polnischen            Kontos, Maria/Liapi, Maria (Hg.): Women in
                                                                                                                       Die Untersuchung geht von seman-
    Sprache in Deutschland (n=17) und in           New Migrations. Current Debates in European                         tischen und semiotischen Bot-
    Polen (n=9) durchgeführt. Die Unter-           Societies. Kraków, S. 83-119.                                       schaften der Diakonie aus und
    suchungsgruppe wurde als »Snow-                Metz-Göckel, Sigrid/Münst, Agnes S./Kałwa,                          beleuchtet kritisch verbreitete dia-
    ball Sampling« zusammengestellt.               Dobrochna (2010): Migration als Ressource:                          konische Profilierungsversuche, die
(2) Einer der männlichen Pflegenden in             Zur Pendelmigration polnischer Frauen in                            im Zusammenhang mit abgren-
    dieser Untersuchungsgruppe emp-                Privathaushalte der Bundesrepublik. Opladen &                       zenden Identitätskonzepten ste-
    fing an seiner Stelle sporadische              Farmington Hills.                                                   hen. Demgegenüber wird ein
    14-tägige Besuche von seiner Frau.             Parreñas, Rhacel S. (2005): Children of global                      Dienstleistungsdesign zur Anwen-
    In dieser Zeit wohnte sie zusammen             Migration. Stanford.
                                                                                                                       dung gebracht, das in Übereinstim-
                                                                                                                       mung mit dem in der UN-Behin-
    mit ihm in der Nähe des Pflegehaus-            Phoenix, Ann (2009): Idealisierung emotiona-
                                                                                                                       dertenrechtskonvention veran-
    haltes.                             n          ler Bindung oder materielle Versorgung? Trans-
                                                                                                                       kerten Ansatz eines universellen
                                                   nationale Mutterschaft und Kettenmigration.                         Designs steht.
                                                   In: Lutz, Helma (Hg.): Gender Mobil. Geschlecht
   Literatur                                       und Migration in transnationalen Räumen.                            Aus der Außendarstellung der Dia-
                                                   Münster, S. 86-102.                                                konie werden so Rückschlüsse auf
                                                   Rerrich, Maria S. (2006): Die ganze Welt zu                         aktuelle organisatorische Heraus-
                                                   Hause: Cosmomobile Putzfrauen in privaten                           forderungen der Diakonie gezogen.
                                                   Haushalten. Hamburg.

Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth (2013):
                                                                                                                                                      Nomos
Miłość na odległość: Modele życia w epoce
globalnej. Warszawa.

                                                          https://doi.org/10.5771/0340-8574-2015-6-230
234          Blätter der Wohlfahrtspflege          6 | 2015
                                                   Generiert durch IP '46.4.80.155', am 25.02.2022, 09:01:19.
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