Lebensschutz - Lebendige Gemeinde

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Das Magazin der ChristusBewegung 1 | 2022

                        Lebensschutz

  Seite 4                    Seite 8              Seite 12                 Seite 16

  Zum Leben                  Lebensschutz         Das Leben schützen       Bericht von der
  geschaffen                 am Anfang und am     Dr. Friedemann Kuttler   Frühjahrssynode
  Prof. Dr. Wilfried Sturm   Ende des Lebens                               Bischofswahl
                             Thomas Rachel, MdB

                                                               www.lebendige-gemeinde.de
2                       Termine · Inhalt

    Te r m i n e
                                                                            Inhalt
    april                                                             4	
                                                                        Titelthema
                                                                        Zum Leben geschaffen
    18.–23.4.	 Spring, GemeindeFerienFestival, Evang. Allianz,
                Willingen                                                   Prof. Dr. Wilfried Sturm
    28.4.–21.7. Gemeindeakademie, Epheserbrief,
                 Albrecht-Bengel-Haus, Tübingen                       8
                                                                      	
                                                                            Titelthema
                                                                       Lebensschutz am Anfang
    30.4.       Frauentag, Christusbund, Friolzheim
    30.4.       Familientag, DIPM, Lonsingen                                und am Ende des Lebens
    30.4.	     W EITES LAND Kick-Off Forum, Gnadauer Verband,              Aktuelle kirchliche und politische
                CVJM Stuttgart                                              Herausforderungen
                                                                            Thomas Rachel, MdB
    mai
    1.5.	    Saronstag, Süddeutscher Gemeinschaftsverband,
              Haus Saron, Wildberg
                                                                      12	Positionen und Dialog
                                                                           Das Leben schützen
    1.5.      Jugendtag, DIPM, Lonsingen                                    Dr. Friedemann Kuttler
    1.5.      Israel-Freundestreffen, Zedakah, Maisenbach
    6.–8.5.   Lonsinger Missionstage, DIPM, Lonsingen
    13.–15.5. TeenagerMissionsTreffen TMT, Bad Liebenzell
                                                                      14	Interview
                                                                            »Kein Kind darf verloren gehen, schon gar nicht
    14.5.     Lobpreisabend, Diakonissenmutterhaus Aidlingen                aus finanziellen Gründen«
    15.5.     Frühlingsmissionsfest, DMG, Buchenauerhof                     Gespräch mit Martin und Erika Schmid
    21.5.	   Christlicher Pädagogentag, CVJM-Zentrum,
              Walddorfhäslach
    21.+22.5. KinderMissionsFeste, Liebenzeller Mission
                                                                      16	Zwischenruf
                                                                           Frieden beginnt am Gartenzaun
    22.5.     Schönblick, Jahresfest, Die Apis, Schwäbisch Gmünd            Dr. Friedemann Kuttler
    22.5.	   Stuttgarter Konferenz für Weltmission, Coworkers,

    22.5.
              Liederhalle
              SV Gebetstag per Zoom
                                                                      17	Landessynode
                                                                           Synode aktuell
                                                                                        wählt neuen Landesbischof
    25.–29.5. Christival, Erfurt
    juni                                                              21     eranstaltungen
                                                                            V
                                                                            Rückblicke auf die JUMIKO und die
    5.6.         PfingstMissionsfest, Liebenzeller Mission
                                                                             Tagung für Kirchengemeinderäte
    6.6.         ER:FÜLLt, LGV-Pfingsttreffen
    6.6.         Tag der weltweiten Kirche, Stuttgart
    16.6.        Christustag in Württemberg, Baden und Bayern         23	Aus den Bezirken
    16.6.        Jubiläum: 70 Jahre Christus-Bewegung
                  und 50 Jahre Synodaler Gesprächskreis
    19.6.         Jahreskonferenz, Ev. Missionsschule Unterweissach
    25.6.         11. Aidlinger Seminartag,
                   Diakonissenmutterhaus Aidlingen
    25.+26.6.      Landesmissionsfest, Crailsheim
    26.6.          Israelkonferenz, Evangeliumsdienst für Israel
    26.6.          Jahresfest, Bruderhaus Diakonie, Reutlingen
                                                                      Impressum              Herausgeber und Bezugsadresse
    juli                                                                                     Lebendige Gemeinde.
                                                                                             ChristusBewegung in Württemberg e. V.
    1.-3.7.       ounited weekend, Jugendtreffen, Christusbund,
                 Y                                                                           Saalstraße 6
                 Friolzheim                                                                  70825 Korntal-Münchingen
                                                                                             Telefon 0711/83 46 99
    2.+3.7.      Freundestreffen, OM, Deetken-Mühle, Mosbach                                 Telefax 0711/8 38 80 86
    3.7.         Worship Symphony, Christliche Musikakademie,                               info@lebendige-gemeinde.de
                                                                                             facebook.com/lebendige-gemeinde
                  Nürnberg                                                                   twitter.com/lebendigemeinde
    8.-9.7.       Landessynode, Sommertagung                                                 Weitere Exemplare können
                                                                                             nachbestellt werden.
    23.+24.7.     Jahresfest Gustav-Adolf-Werk,                                             Erscheinungsweise: vierteljährlich
                   Bietigheim                                                                Spendenkonto
                                                                                             Lebendige Gemeinde.
                                                                                             ChristusBewegung in Württemberg e. V.
    Weitere Termine finden Sie auch online unter                                             BW-Bank 2 356 075 (BLZ 600 501 01)
    www.lebendige-gemeinde.de/veranstaltung/                                                 IBAN: DE 87 6005 0101 0002 356075
                                                                                             BIC SOLADEST
Editorial      3

                                                Liebe Leserinnen und Leser,

                                                als wir im Redaktionsteam dieses Magazin geplant haben,
                                                haben wir nie damit gerechnet, wie sich unsere Welt zwi-
                                                schenzeitlich verändern wird. Der Krieg in der Ukraine
                                                macht uns fassungslos und macht Angst. Da schickt ein Ag-
                                                gressor mutwillig Menschen in den Krieg und in den Tod. Es
                                                scheint, als ob dem Kreml Menschenleben gleichgültig sind.
                                                Da erweitert sich unser Engagement für den Lebensschutz
                                                auf einer anderen Ebene: unser Einsatz für den Frieden.
                                                Was bedeutet Frieden schaffen? Im Heft werde ich dazu
                                                Stellung nehmen und Sie finden ein Friedensgebet, das Sie
                                                gerne auch in Ihren Gemeinden verwenden dürfen.

                                                Die Fragen des Lebensschutzes werden in Deutschland kon-
                                                trovers diskutiert. Im Magazin vertieft Prof. Dr. Wilfried
                                                Sturm die Frage nach der Würde und Schutzwürdigkeit des
                                                Menschen aus theologischer Sicht. Thomas Rachel, Mitglied
                                                des Rates der EKD und Mitglied des Deutschen Bundesta-
                                                ges zeigt uns die Diskussionslage innerhalb der EKD und
                                                der Politik auf. Ich bin sehr dankbar, dass wir mit Thomas
                                                Rachel ein Ratsmitglied haben, das fundiert und aus Über-
                                                zeugung für den Lebensschutz am Anfang und am Ende des
                                                Lebens eintritt. Ganz bewusst möchten wir auf Hilfsange-
                                                bote hinweisen, die Schwangeren helfen, sich für das Leben
                                                und für ihr Kind zu entscheiden.

                                                Selten wurde eine Tagung der Landessynode so öffentlich
                                                verfolgt wie die Frühjahrssynode. Die Landessynode hat
                                                Dekan Ernst-Wilhelm Gohl zu unserem neuen Landes­
                                                bischof gewählt. Unsere Mitglieder der Landessynode wer-
                                                den in diesem Magazin auch wieder ausführlich berichten.

                                                Der Krieg in der Ukraine überschattet unseren Alltag. Die
                                                Gedanken drehen sich jeden Tag um diesen Krieg. Meine
                                                Augen sind wie gebannt. In dieser Gebanntheit begegnen
                                                mir Verse aus Psalm 25: »Meine Augen sehen stets auf den
                                                HERRN; denn er wird meinen Fuß aus dem Netze ziehen.
                                                Wende dich zu mir und sei mir gnädig; denn ich bin einsam
                                                und elend. Die Angst meines Herzens ist groß; führe mich
Wir danken allen, die durch ihre Spende         aus meinen Nöten!« Es geht nicht darum, die Augen vom
die kostenlose Verteilung dieses Magazins       Leid der Welt abzuwenden, sondern sehenden Auges das
ermöglichen. Wir bitten um vollständige
und deutliche Angabe der Anschrift bei          Leid dieser Welt, unsere eigene Angst vor Gott zu bringen.
Überweisungen, damit wir Spenden­-              Auf den zu sehen, der der Friede ist, nämlich Jesus Christus.
quit­tungen übersenden können. Wir sind
ganz auf die Gaben der Freunde angewiesen.
Redaktion
Dieter Abrell, Steffen Kern, Renate Klingler,   Ihr
Dr. Friedemann Kuttler, Ute Mayer,
Traugott Messner, Claudius Schillinger,
Andreas Schmierer
Gesamtgestaltung
Grafisches Atelier Arnold, 72581 Dettingen
Druck und Postzeitungvertrieb
                                                Dr. Friedemann Kuttler,
Druckerei C. Maurer, 73312 Geislingen           Vorsitzender ChristusBewegung Lebendige Gemeinde
Titelbild: iStock.com/David Ziegler
Fotos ohne Bildnachweis:
©Lebendige Gemeinde oder ©privat
4       Titelthema

                                               DIE MITTE
                               Die Würde und Schutzwürdigkeit des Menschen

    Geht es um das Thema Lebensschutz, so ist damit in der        V Die Menschenwürde ist universal gültig, sie
    Regel auch die Frage nach der Menschenwürde1 angespro-           gilt allen Menschen ohne Unterschied.
    chen. Sie gilt als die Wurzel, aus der die Grundrechte des    V Die Menschenwürde ist bedingungslos gül-
    Menschen und damit auch sein Recht auf Leben erwach-             tig. Sie ist nicht abhängig von irgendwelchen
    sen. »Der Begriff der Menschenwürde ist für die Men-             Eigenschaften, Fähigkeiten oder Leistungen.
    schenrechte etwas Ähnliches wie das Nächstenliebegebot           Sie ist daher unverlierbar, sie kann dem Men-
    für die verschiedenen Gebote der Bibel« (Heinrich Bedford-       schen nicht aberkannt werden.
    Strohm).2 Insofern stellt die Menschenwürde in unserer        V Zur Würde des Menschen gehört es, dass er
    Gesellschaft ein Höchstgut dar, das nicht zuletzt durch          niemals Mittel zum Zweck werden darf. Jede
    den ersten Artikel des Grundgesetzes geschützt wird. Dort        Instrumentalisierung des Menschen, z. B. zu
    heißt es: »Die Würde des Menschen ist unantastbar.               Versuchszwecken oder zur Erreichung »höhe-
    Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller            rer Ziele« ist damit ausgeschlossen.
    staatlichen Gewalt.«                                          V Die Menschenwürde bildet die Basis für das
       Auch wenn der Begriff »Menschenwürde« teilweise un-           Grundrecht des Menschen auf Leben. Aus der
    terschiedlich interpretiert wird, gibt es doch so etwas wie      Universalität und Bedingungslosigkeit der
    einen roten Faden, der sich durch die verschiedenen Defi-        Menschenwürde resultiert die prinzipielle
    nitionen von Menschenwürde hindurchzieht. Vier Kenn-             Schutz-Würdigkeit alles menschlichen Lebens
    zeichen seien genannt:                                           – ohne Wenn und Aber!

                                                  Zum

                                      geschaffen

                                                                                                                     © iStock.com/FadCamera
Titelthema           5

                        Gott gibt dem Menschen in all seiner
                        Bedürftigkeit Anteil an seiner eigenen Ehre
                        und Herrlichkeit. Insofern ist die Würde des
                        Menschen ein Abglanz der Würde Gottes.

                                   DAS FUNDAMENT
           Die Gottebenbildlichkeit des Menschen als Begründung der Menschenwürde

Wer oder was begründet die Würde des Menschen? Be-             ihm Gott selbst aufgesetzt hat: »Mit Ehre und
trachten wir sie aus biblisch-theologischer Perspektive, so    Herrlichkeit hast du ihn gekrönt.« Im Hebräi-
kommt zwar der Begriff »Menschenwürde« selbst in der Bi-       schen steht für »Ehre« das Wort kabod, das im
bel nicht ausdrücklich vor, wohl aber die Sache, wofür er      Alten Testament auch für die Ehre Gottes ge-
steht. Immer wieder spricht die Bibel von der Einzigartig-     braucht wird. Gott gibt dem Menschen in all
keit und besonderen Stellung des Menschen, aus der die Un-     seiner Bedürftigkeit Anteil an seiner eigenen
verfügbarkeit und Schutzwürdigkeit menschlichen Lebens         Ehre und Herrlichkeit. Insofern ist die Würde
resultiert. Diese sachliche Entsprechung hat ihren letzten     des Menschen ein Abglanz der Würde Gottes.
Grund nicht im Menschen, sondern in Gott. Ihre Wurzel          Seit dem Sündenfall sicher nur noch in gebro-
liegt in der Gottebenbildlichkeit des Menschen, wie sie im     chener Form, aber deshalb nicht aufgehoben,
Schöpfungsbericht in 1. Mose 1,27 angesprochen wird:           wird doch auch der sündige Mensch immer
»Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bil-         noch als Ebenbild Gottes bezeichnet (vgl. Jak
de Gottes schuf er ihn.« Manche Ausleger denken bei dem        4,9). Im Gegenteil: Ist Jesus das wahre und
Wort »Bild« an eine Statue. Im Alten Orient haben Könige       vollkommene Ebenbild Gottes (Kol 2,15; Hebr
oft Statuen von sich aufrichten lassen, die den König reprä-   1,3), so verknüpft sich mit dem Glauben an Je-
sentierten. Entsprechend könnte man den Menschen auch          sus Christus die Hoffnung auf die Umgestal-
als einen Repräsentanten Gottes in dieser Welt verstehen.      tung in sein Bild (Röm 8,29; 1. Kor 15,49; vgl.
Das hieße aber, wer sich am Menschen vergreift, vergreift      1. Joh 3,2), d. h. für die Glaubenden steht das
sich letzten Endes an Gott (vgl. Spr 14,31). In 1. Mose 9,6    diesseitige Leben in seiner ganzen Unvollkom-
wird daher die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens         menheit und Gebrochenheit unter der Verhei-
ausdrücklich mit der Gottebenbildlichkeit des Menschen         ßung seiner Vollendung in der zukünftigen
begründet, d. h. in der Unantastbarkeit und Unverfüg­          Welt Gottes (1. Kor 15,42–44; Phil 3,20f.; Offb
barkeit des menschlichen Lebens spiegelt sich letztlich        21,4f.).
die Unantastbarkeit und Unverfügbarkeit Gottes wider.
   Von der Gottebenbildlichkeit des Menschen und seiner        Damit eröffnet sich eine weitere Dimension
Würde spricht indirekt auch Psalm 8,4–6. Dort wird uns zu-     der Würde des Menschen: Sie besteht in dem
nächst die Schwachheit und Hilflosigkeit des Menschen vor      Preis, den Gott in seinem Sohn Jesus Christus
Augen gestellt: »Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger       für die Errettung der Menschen bezahlt hat. Er
Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast: was       hat sie – um mit Paulus zu sprechen – »durch
ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen      sein eigenes Blut erworben« (Apg 20,28) bzw.
Kind, dass du dich seiner annimmst?« Was ist der Mensch        »teuer erkauft« (1. Kor 6,20). Die Tatsache,
angesichts des gewaltigen Universums – ein Staubkorn!          dass die Möglichkeit der Errettung durch Je-
Aber dann fährt David fort: »Du hast ihn wenig niedriger       sus Christus allen Menschen unterschiedslos
gemacht als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn        offensteht (vgl. 1. Tim 2,4), verleiht dem Men-
gekrönt.« Was für eine Spannung! Auf der einen Seite ist       schen zusätzlich eine Würde, die ebenso wie
der Mensch hilfsbedürftig wie ein kleines Kind, auf der an-    seine Bestimmung zur Gottebenbildlichkeit
deren Seite trägt er eine Krone wie ein König.3 Es ist keine   nicht an Volkszugehörigkeit, Geschlecht oder
Krone, die er sich selbst aufgesetzt hätte oder die ihm an-    gesellschaftliche Stellung gebunden ist (vgl.
dere Menschen aufgesetzt hätten – es ist eine Krone, die       Gal 3,28).
6       Titelthema

                                             DIE RÄNDER
                                      Gefährdungen der Menschenwürde

    Die Achtung und Respektierung der Men-            bestimmten Entwicklungsstand. Es besteht darin, dass Gott
    schenwürde ist keineswegs unangefochten,          mit dem Menschen eine Beziehung eingeht (Ps 8,5: »dass du
    sondern sie ist in mehrfacher Weise gefährdet.    seiner gedenkst«), sich seiner annimmt und ihn in seine Ge-
    Das betrifft besonders den Anfang und das         meinschaft ruft. »Damit wird Personsein von Eigenschaf-
    Ende des Lebens. An dieser Stelle seien exem-     ten unabhängig und die Würde des Menschen unverlierbar;
    plarisch zwei Gefährdungen genannt:               sie umschließt den menschlichen Lebensbogen von der Ver-
                                                      schmelzung von Samen- und Eizelle bis zum endgültigen
    Die Unterscheidung zwischen                       Stillstand von Herz und Kreislauf (Michael Herbst).«6
    Mensch und Person
    Die erste Gefährdung ist die Unterscheidung       Die Gleichsetzung von Menschenwürde
    zwischen Mensch und Person. Sie findet sich       und Selbstbestimmung
    u. a. bei dem australischen Philosophen und       Eine zweite Gefährdung der Bedingungslosigkeit der Men-
    Ethiker Peter Singer. Für ihn gehört jeder        schenwürde besteht in der Gleichsetzung von Menschen-
    Mensch zwar biologisch gesehen zur Gattung        würde und Selbstbestimmung. In der Sterbehilfedebatte
    »Homo sapiens«, aber er ist damit nicht au-       bzw. in der Debatte um den assistierten Suizid geht es im-
    tomatisch eine Person. Den Begriff Person         mer wieder um die Frage: Wie sieht menschenwürdiges Ster-
    gebraucht Singer im Sinne »eines rationalen       ben aus? Dabei wird argumentiert, es gehöre zur Würde des
    und selbstbewussten Wesens«4. Dazu gehören        Menschen, sein Lebensende selbstbestimmt gestalten zu
    auch Eigenschaften wie Autonomie, Empfin-         können (so auch das Bundesverfassungsgericht in seinem
    dungsfähigkeit oder die Fähigkeit, sich in Ver-   Urteil vom 26. Februar 2020 zur Aufhebung des Verbots
    gangenheit und Zukunft denken zu können.          der geschäftsmäßigen Beihilfe zur Selbsttötung). Zu einem
    Für Singer resultiert daraus ein abgestufter      verhängnisvollen Fehlschluss führt diese Argumentation,
    Wert des menschlichen Lebens. Er ist da-          wenn daraus abgeleitet wird, ein Mensch müsse die Mög-
    von abhängig, in welchem Grad dieses Leben        lichkeit haben, gegebenfalls mit Hilfe Dritter sein Leben zu
    über die Eigenschaften einer Person verfügt.      beenden, um einem als unwürdig empfundenen Zustand
    Z. B. schlägt Singer im Blick auf die Abtrei-     der Hilflosigkeit und des Kontrollverlusts zuvorzukommen.
    bungsdiskussion vor, »dem Leben eines Fötus       Die Menschenwürde wird in diesem Fall reduziert auf ein
    keinen größeren Wert zuzubilligen als dem         Wesenmerkmal des autonomen Menschen, der frei über
    Leben eines nichtmenschlichen Lebewesens          sein Leben verfügt (einmal ganz abgesehen davon, dass das
    auf einer ähnlichen Stufe der Rationalität,       Recht auf selbstbestimmtes Sterben noch lange kein Recht
    des Selbstbewusstseins, der Bewusstheit, der      auf ein bestimmtes Sterben bedeutet).
    Empfindungsfähigkeit usw. Da kein Fötus eine         Nun gilt es – bei aller Bejahung der gottgewährten Frei-
    Person ist, hat kein Fötus denselben Anspruch     heit des Menschen zu eigenständiger Entscheidung und
    auf Leben wie eine Person.«5 In eine ähnliche     verantwortlicher Lebensgestaltung7 (vgl. das Grundrecht
    Richtung gehen Argumentationen, die in            auf freie Entfaltung der Persönlichkeit) – das Schlagwort
    einem Embryo lediglich das Potenzial einer        vom »selbstbestimmten Sterben« kritisch zu reflektieren:
    menschlichen Person sehen wollen, dessen          Sterben bedeutet ja gerade den »bevorstehenden Verlust
    Verwirklichung von günstigen Entwicklungs-        aller und jeder Möglichkeit von Selbstbestimmung«8. Das
    bedingungen abhängt.                              Sterbenmüssen erinnert uns daran, dass wir nicht Herr
       Biblisch betrachtet ist jedoch das Person-     über unser Leben sind, sondern dass unser Leben abhän-
    sein des Menschen nicht abhängig von einem        gig ist von einer Instanz, über die wir nicht verfügen.
                                                      Gott ist der Herr über Leben und Tod (vgl. 5. Mose 32,39;
                                                      1. Sam 2,6; Ps 90,3) und es ist eine Gnade, dass wir Men-
    Biblisch betrachtet ist                           schen sein dürfen und nicht Gott sein müssen. »Den Men­
                                                      schen zum Herrn über Leben und Tod machen, heißt
    das Personsein des                                ihn prinzipiell überfordern (Robert Spaemann).«9 Damit
    Menschen nicht abhängig                           eröffnet sich eine ganz andere und neue Dimension der
                                                      Selbstbestimmung: Warum sollte es nicht auch ein bewuss­
    von einem bestimmten                              ter Akt der Selbstbestimmung sein, wenn ein Mensch
                                                      vertrauensvoll sein Leben in die Hand dessen legt, der
    Entwicklungsstand.                                ihm das Leben geschenkt hat, und ihm die Entschei­
    Es besteht darin, dass Gott                       dung über den Zeitpunkt des Todes überlässt? Ihm, der
                                                      in Jesus Christus seine Liebe zu uns Menschen unter
    mit dem Menschen eine                             Beweis gestellt hat (vgl. Joh 3,16; Röm 5,8; Tit 3,4)?
    Beziehung eingeht …
7

 DIE GRENZFÄLLE                                         AUF DEN PUNKT GEBRACHT
     Konflikte und Grauzonen                                     Nicht »Schichtsalat«, sondern »Kinderwurst«

Es kann äußerste Grenzfälle geben, in                Nicht »Schichtsalat«, sondern »Kinderwurst« – was ist damit ge-
denen unter Umständen Leben gegen Le-                meint? Für Peter Singer und andere zerfällt der Mensch in un-
ben abgewogen werden muss, z. B. wenn                terschiedliche Lebensphasen, bildlich gesprochen in »Schichten«,
Ärzte in Katastrophenfällen oder we-                 vergleichbar mit einem Schichtsalat, bei dem man verschiedene
gen Mangels an Intensivbetten darüber                Zutaten fein säuberlich getrennt aufeinanderschichtet. Auf den
entscheiden müssen, welche Patienten                             Menschen bezogen: Da gibt es die »Schicht« des Emb-
bevorzugt behandelt werden. Letzteres                               ryos, die »Schicht« des Neugeborenen, die »Schicht«
ein Szenario, das immer wieder im Zu-                                 des erwachsenen Menschen, die »Schicht« des
sammenhang mit der Corona-Pandemie                                     Menschen am Lebensende. Je nach Lebenspha-
in Betracht gezogen wurde. Oder wenn                                   se und gesundheitlicher Entwicklung verfügt
eine Fortsetzung der Schwangerschaft                                   der Mensch über ein unterschiedliches Maß an
das Leben der Mutter gefährden                                        personalen Eigenschaften und je nachdem be-
würde.10 Oder wenn siamesische                                       misst sich die Schutzwürdigkeit seines Lebens.
Zwillinge ungetrennt beide nur                                       Ganz anders das biblische Denken. Da gleicht
eine geringe Lebenserwartung                                       das menschliche Leben einer Kinderwurst. Egal,
hätten, eine Trennung jedoch                                       wo ich sie aufschneide – an jeder Stelle begegnet
den Tod des einen Zwillings                                        mir das fröhliche Gesicht, dass die gesamte Wurst
bedeuten würde. Man mag hier                                       durchzieht. Das heißt übertragen: Hier besitzt der
in echte Dilemmata geraten, in                                    Mensch in jedem Stadium seines Lebens eine gleich-
denen das Schuldigwerden un-                                     bleibende und unverlierbare Würde, auch der Mensch,
vermeidlich erscheint – und doch                               der aufgrund von Krankheit oder Behinderung oder ei-
dürfen wir gerade darin mit der Gna-                        nes Unfalls in seinen Fähigkeiten eingeschränkt ist, auch
de Gottes rechnen, die größer ist als un-               der Mensch, der die Fähigkeit zu einer selbstbestimmten Le-
sere Schuld.                                         bensgestaltung verloren hat oder über sie als Embryo oder Fötus
   Auch wird man in der Praxis immer                 noch gar nicht verfügt. Es geht hier nicht um eine eigene Würde
wieder auf Grauzonen stoßen, in denen                des Menschen, es geht hier sozusagen um eine fremde Wür­
der Unterschied zwischen Töten und                   de, um eine Würde, die dem Menschen von außen, von Gott
Sterbenlassen zu verschwimmen droht,                 her, zugesprochen wird. Sie ist die Grundlage für die Schutz-
z. B. in der Frage des Verzichts auf in-             würdigkeit des menschlichen Lebens – ohne Wenn und Aber! V
tensivtherapeutische Maßnahmen bzw.
ihrer Einstellung. Verantwortliche Ent-
scheidungen können hier trotz Ähnlich-
                                                                                 der autor:
keit der Fälle unterschiedlich ausfallen.
                                                                                 Dr. Wilfried Sturm
Hier kann es hilfreich sein, sich klar-
                                                                                 ist Professor für Systematische Theologie
zumachen, dass die Respektierung von
                                                                                 in pastoraler Praxis und Dekan für S­ tudium
Würde und Lebensrecht nicht gleichbe-
                                                                                 und Lehre an der IHL – Internationale
deutend ist mit der Verlängerung des Le-
                                                                                 Hochschule Liebenzell. Er ist Pfarrer der
bens um jeden Preis. Im Gegenteil: »Der
                                                                                 Evangelischen Landeskirche Württemberg.
künstlichen Verlängerung des Lebens
um jeden Preis und der absichtlichen
Herbeiführung des Todes liegt, auch
wenn sie in vielfacher Hinsicht ent­
gegengesetzten Absichten entsprin­          1    er Begriff »Menschenwürde« ist hier in einem universalen Sinn verstanden im Unterschied zu einer
                                                D
gen, eine verwandte Einstellung zu­             individuellen Würde, die z. B. auf Alter, Lebensleistung, Amt, Auszeichnung oder innerer Haltung beruht.
                                             2 H . Bedford-Strohm: Menschenrechte und Menschenwürde in der Perspektive Öffentlicher Theologie,
grunde« (Eberhard Schockenhoff). 11             in: International Journal of Orthodox Theology 2/3 (2011), 5.
Beides Mal geht es um ein Verfügen­          3 Vgl. Oswald Bayer: Was ist der Mensch?, in: ders.: Freiheit als Antwort. Zur theologischen Ethik,

                                                Tübingen 1995, 78f.
wollen über menschliches Leben, ent-         4 Peter Singer: Praktische Ethik, Stuttgart 32013, 142 (in Anlehnung an das Oxford Dictionary).
weder durch gezielte Verkürzung oder           Fötus meint den menschlichen Embryo ab der 9. Schwangerschaftswoche.
durch Ignorierung seiner von Gott ge­        5 Ebd., 246.

setzten Grenze. Dagegen steht das            6 Michael Herbst: Gentechnik – Frevel oder Fortschritt? Ethische Fragen zum Einsatz der Gentechnik

                                                in der Medizin, Theologische Beiträge 28/5 (1997), 277f.
Bekenntnis in Psalm 31,6: »Meine Zeit        7 Vgl. M. Herbst: »… denn ich möchte lieber tot sein als leben«. Ein kritischer Beitrag zur gegenwärtigen

steht in deinen Händen.«                        Debatte über den assistierten Suizid, in: Theologische Beiträge 52 (2021), 195f.
                                             8 Eilert Herms: Hingabe. Sterben als wesentliche Phase des menschlichen Lebens und sein Vollzug

                                                in christlicher Lebensgewissheit, in: Franz Josef Borman / Gian Domenico Borasio (Hg.): Sterben.
                                                Dimensionen eines anthropologischen Grundphänomens, Berlin / Boston 2012, 547.
                                             9 Robert Spaemann: Verantwortung für die Ungeborenen (1988), in: ders., Grenzen 374.

                                            10 Vgl. Tatjana Hörnle u. a.: Triage in der Pandemie, Tübingen 2021.

                                            11 E . Schockenhoff: Ethik des Lebens. Grundlagen und neue Herausforderungen, Freiburg i.Br. 2013, 544.
8   Titelthema

                 Lebensschutz
                 am Anfang
                 und am Ende
                 des Lebens
                 Aktuelle kirchliche und politische
                 Herausforderungen

                           G
                            von thomas rachel mdb
                                   ott ist ein Freund des Le-
                                   bens«, so lautet der Titel
                                   einer bekannten Gemein-
                            samen Erklärung des Rates der
                            Evangelischen Kirche in Deutsch-
                            land (EKD), der katholischen
                            Deutschen Bischofskonferenz und
                            weiterer Kirchen von 1989. Darin
                            heißt es unmissverständlich, es
                            gebe »keinen Grund, die Aussagen
                            über Gottesebenbildlichkeit bzw.
                            Würde des Menschen nicht auch
                            auf das vorgeburtliche menschli-
                            che Leben zu beziehen oder ihm
                            den Anspruch gleichen Schutzes
                            wie für das geborene Leben zu
                            verweigern. (…) Gottes Annahme
                            des ungeborenen menschlichen
                            Lebens verleiht ihm menschliche
                            Würde. Daraus folgt die Verpflich-
                            tung, dass auch die Menschen das
                            ungeborene menschliche Leben
                            annehmen und ihm den Schutz
                                                                 Bild: © iStock.com/Vladimir Zotov

                            gewähren sollen, der der mensch-
                            lichen Person gebührt.«1 Dass die
                            großen Kirchen bei den grundle-
                            genden Fragen des Schutzes der
                            Menschenwürde – am Anfang wie
                            am Ende des Lebens – so klar und
                            deutlich eine gemeinsame theo-
Titelthema           9

logisch-ethische Grundsatzposi-                                                                              dass es bereits bei den Debatten
tion beziehen konnten, war auch                                                                              zur Strafrechtsreform der 1970er-
schon damals keineswegs selbst-                                                                              Jahre berechtigte Befürchtungen
verständlich.                                                                                                gab, »die Entpönalisierung (Ent-
   Bereits 1976 war es zu einer ers-                                                                         strafung, nicht mehr unter Strafe
ten Reform des bundesdeutschen                                                                               stellen) durch das staatliche Recht
Abtreibungsrechtes gekommen,                                                                                 werde in ihrer Wirkung auf das ge-
eine weitere sollte dann – nach                                                                              sellschaftliche Bewusstsein einer
der Wiedervereinigung – 1992                                                                                 moralischen Anerkennung gleich-
folgen. Massive gesellschaftliche                                                                            kommen«2.
Polarisierungen und politische
Kontroversen beim Thema »Ab-                                                                                 Ein Umdenken in der Kirche?
treibung« dominierten über zwei
Jahrzehnte hinweg die öffentli-                                                                              Auch in manchen Diskussionen
chen Debatten. Eine allgemeine                                                                               innerhalb unserer evangelischen
Befriedung in Bezug auf diese so                                                                             Kirche zeichnet sich leider eine
existenziell bedeutsame, ethisch                                                                             gewisse Kehrtwende im Sinne ei-

                                                                                © Janko Ferlic on Unsplash
komplexe und verfassungsrecht-                                                                               ner ethischen Neubewertung der
lich anspruchsvolle Fragestellung                                                                            Regelung zum Schwangerschafts­
gelang erst 1995 durch die soge-                                                                             konflikt ab. Es gibt auch hier seit
nannte »Beratungsregelung«.                                                                                  geraumer Zeit eine durchaus spür-
                                                                                                             bare Akzentverschiebung, weg von
Kein »Recht« auf Abtreibung                                                                                  der Betonung des Schutzes und
                                                                                                             Würdecharakters des ungebore-
Ausgerechnet dieser hart errunge­      Gottes Annahme des                                                    nen menschlichen Lebens hin zum
ne Schwangerschaftskompromiss                                                                                Fokus auf Fragen der sogenannten
                                       ungeborenen mensch­
wird nun aber seit geraumer Zeit                                                                             »sexuellen Selbstbestimmung« und
wieder massiv infrage gestellt.        lichen Lebens verleiht ihm                                            der Gleichstellungspolitik. Bereits
Ohne unmittelbar erkennbaren           menschliche Würde.                                                    2018 hatte beispielsweise »chris-
Handlungsdruck, aber mit wach-                                                                               mon«-Chefredakteurin Ursula Ott
sender Emotionalität, mehren sich
                                       Daraus folgt die Verpflich-                                           für Aufmerksamkeit gesorgt, als
Stimmen aus Gesellschaft, Politik      tung, dass auch Menschen                                              sie die wegen Verstoßes gegen das
und sogar Kirche, die nicht nur        das ungeborene mensch­                                                Werbeverbot zur Zahlung einer
eine Streichung des Werbeverbo­                                                                              Geldstrafe verurteilte Frauenärz-
tes für Abtreibungen (§ 219a StGB)     liche Leben annehmen und                                              tin Kristina Hänel, verteidigte. Ott
für längst überfällig halten, son-     ihm den Schutz gewähren                                               forderte ebenfalls die Abschaffung
dern auch gleich die komplette         sollen, der der mensch­                                               von § 219a StGB, und zwar mit der
Streichung des § 218 StGB for-                                                                               Begründung, dass wer über »le-
dern. Der konsensstiftende Geist,      lichen Person gebührt.                                                gale« Abtreibungen informieren
der bis heute bewährten gesetzli-      Aus der Erklärung der EKD                                             wolle, schließlich auch nicht län-
chen Regelungen wird in manchen        »Gott ist ein Freund des Lebens«, 1989                                ger »drangsaliert« werden solle.
Kreisen der Gesellschaft offen-                                                                                Während sich die EKD mehrfach
sichtlich nicht mehr wahrgenom-        gleichermaßen unverzichtbaren                                         für die Aufrechterhaltung »des
men oder zum Teil bewusst und          Blickes auf die existenzielle Not-                                    Verbots werbender Handlungen«
wider besseres Wissen als »Recht«      situation einer ungewollt schwan-                                     für Schwangerschaftsabbrüche als
auf Abtreibung missdeutet.             geren Frau und aufgrund des da-                                       einem wichtigen »Baustein im
   Dass Schwangerschaftsabbruch        raus resultierenden, womöglich                                        Schutzkonzept für das ungebore-
als solcher verfassungsrechtlich       nicht auflösbaren Grundkonflik-                                       ne Leben« ausgesprochen hat und
nach wie vor als rechtswidrig ein-     tes zwischen zwei ebenbürtig zu                                       auch der ehemalige EKD-Ratsvor­
gestuft wird und strafbewehrt          schützenden Verfassungsgütern                                         sitzende Heinrich Bedford-Strohm
bleibt, ist immer weniger im all-      kann – unter klar bestimmten                                          das jüngst noch einmal bekräftigt
gemeinen Bewusstsein. Es ent-          rechtlichen Voraussetzungen – die                                     hat, gibt es in unserer Kirche mitt-
spricht aber der Werteordnung          straffreie Ausnahme von der ge-                                       lerweile auch völlig andere Stim-
unseres Grundgesetzes, dass das        setzlichen Regel resultieren. Der                                     men. Die Gruppe der »Frauen in
menschliche Leben von Beginn an        katholische Moraltheolo­ge Eber-                                      der EKBO« (Evangelische Kirche
vollumfänglich als schutzwürdig        hard Schockenhoff erinnerte in                                        Berlin-Brandenburg-schlesische
zu betrachten ist. Aufgrund des        diesem Zusammenhang daran,                                            Oberlausitz) forderte vor Kurzem
10       Titelthema

     sowohl die ersatzlose Streichung      lition 2019 beschlossene Gesetz                         Nach Urteil: Neue Debatte
     des § 219 StGB als auch des § 218     zur »Verbesserung der Informati-                        um »Sterbehilfe«
     StGB. Abtreibung, so die EKBO-        on über einen Schwangerschafts-
     Frauen, dürfe nicht länger »krimi-    abbruch« (DS 19/7693) hat hier                          Doch nicht nur bezogen auf den
     nalisiert« werden und sei vielmehr    übrigens schon längst Abhilfe und                       Anfang, sondern auch auf das Ende
     als eine »medizinische Dienstleis-    Transparenz geschaffen. Gerade                          des menschlichen Lebens gibt es
     tung« einzustufen. Die Kirchen-       vor diesem Hintergrund und in                           gegenwärtig wieder neue politi­
     leitung der EKBO ließ, nach einer     Anbetracht der wieder steigen-                          sche Debatten, die den Kern un-
     kritischen Pressenachfrage, dazu      den Abtreibungszahlen (jährlich                         serer christlichen Grundüberzeu­­
     lediglich verlauten: »Die EKBO ist    über 100.000!) kann von einem                           gungen vom Menschen als Ge-
     froh und dankbar über eine Frau-      bestehenden Informationsdefizit                         schöpf Gottes betreffen und uns
     enversammlung, die sich zu gleich-    betroffener Frauen in unserem                           in die gesellschaftspolitische Ver-
     stellungspolitischen und frauen-      Land nicht wirklich ernsthaft aus-                      antwortung rufen.
     politischen Themen positioniert.«     gegangen werden. Es ist vielmehr                           Das Bundesverfassungsgericht
        In solchen Äußerungen zeigt        offenkundig, dass die Forderung                         (BVG) hat den Gesetzgeber vor
     sich ein bedenklicher Bewusst-        nach Abschaffung von § 219 StGB                         zwei Jahren dazu aufgefordert,
     seinswandel auch in der Kirche        lediglich als politischer Türöffner                     eine gesetzliche Neuregelung für
     in Bezug auf die fundamentale         für die vollständige Abschaffung                        den assistierten Suizid zu schaf-
     Bewertung sowohl der zentralen        des § 218 StGB dient.                                   fen. Diese Entscheidung des BVG,
     ethischen Grundfragen als auch        Die gesetzlichen Regelungen zum                         die die Schaffung einer hinrei-
     der konkreten existenziellen Gü-      Schwangerschaftsabbruch sind                            chenden gesetzlichen Grundlage
     terabwägungen beim Schwan-            nach Jahrzehnten erbitterten                            für die Wahrnehmung des »Rech-
     gerschaftskonflikt. Nicht wenige      Ringens durch mühsame poli-                             tes auf selbstbestimmtes Sterben«
     solcher und ähnlicher aktueller       tische und gesellschaftliche Be-                        fordert, hat gerade auch im Be-
     Stellungnahmen verzichten oben-       friedungskompromisse errungen                           reich von Kirche und Theologie viel
     drein auch vollständig auf eine       worden. Diese aufzukündigen                             Kopfschütteln und Verwunderun-
     eigene theologisch-ethische Be-       wäre, auch mit Blick auf die Ver-                       gen ausgelöst. Sie hat besonders
     gründung. Das ist hoch problema-      antwortung für die betroffenen                          auf all diejenigen irritierend und
     tisch, weil hier der Verdacht ge-     Frauen und die ungeborenen Kin-                         verunsichernd gewirkt, die sich
     nährt werden könnte, man wäre         der, weder ratsam noch förderlich.
     an dieser Stelle nur rein politisch   Eine abgewogene und angemes-
     unterwegs, womöglich sogar ein-       sene evangelische Positionierung
     seitig parteipolitisch motiviert.     sollte deshalb wieder neu betonen:
                                                                                                   Hilfe zum Sterben in Form
                                           »Der Schutz des Lebens ist nicht                        von Assistenz zur Selbst-
     Kein Eingriff wie jeder andere        nur eine individuelle, sondern                          tötung ist keine adäquate
                                           eine solidarische und öffentliche
     Demgegenüber sollte meines Er-        Aufgabe und damit auch eine der                         Option kirchlich-diakoni-
     achtens wieder klargestellt wer-      Rechtsordnung. Ziel des staatli-                        schen Handelns.
     den: Ein vollzogener Schwanger-       chen Handelns muss es sein, den
     schaftsabbruch ist – gerade auch      Schutz und die Förderung des
     aus einer wohlverstandenen evan-      ungeborenen wie des geborenen
     gelischen Perspektive – eben kein     menschlichen Lebens zu verbes-
     medizinischer Eingriff wie jeder      sern und das allgemeine Bewusst-
     andere und keine bloße »medizi-       sein von der Unverfügbarkeit an-
     nische Dienstleistung«. Eine Ab-      deren menschlichen Lebens auch
     treibung kann vielmehr am Ende        im vorgeburtlichen Stadium zu
     eines existenziell notvollen, äu-     verstärken.«3
     ßerst konfliktträchtigen und in
     der Regel psychisch wie körperlich    1 Gott ist ein Freund des Lebens – Herausfor­

     ungemein schmerzvollen und be-           derungen und Aufgaben beim Schutz des
                                              Lebens (Gemeinsame Erklärung),
     lastenden Entscheidungsprozes-           Bonn/Hannover 1989, S. 45.
     ses stehen.                           2 Eberhard Schockenhoff: Ethik des Lebens –

     Auch das Werbeverbot ist als kon-        Grundlagen und neue Herausforderungen,
                                              Freiburg i. Br. 2009, S. 520. Der Autor bemerkt
     stitutiver Bestandteil des gesam-        ebenfalls treffend: »Der Strafverzicht des Staates
     ten staatlichen Schutzkonzeptes          trug nicht nur dazu bei, dass in der Bevölkerung
     für das ungeborene Leben zu ver-         die Einsicht in den Unrechtscharakter der Abtrei-
                                             bung weiter abnahm. Er förderte auch das
     stehen. Das von der Großen Koa-         Missverständnis, der demokratische Rechtsstaat
                                             anerkenne ein moralisches Recht der Frau auf
                                             Abtreibung, dessen Inanspruchnahme der Rang
                                             einer unantastbaren Gewissensentscheidung
                                             zukomme.«
                                           3 Gott ist ein Freund des Lebens, S. 46.
Titelthema                11

                                                                                                       tötung und zur Sicherstellung
                                                                                                       der Freiverantwortlichkeit der
                                                                                                       Entscheidung zur Selbsttötung«
                                                                                                       vorgelegt, bei dem vor allem die
                                                                                                       staatliche Schutzpflicht für die
                                                                                                       betroffenen Menschen im Mit-
                                                                                                       telpunkt steht. Ich bin aus fester
                                                                                                       Überzeugung Mitunterzeichner
                                                                                                       dieses Antrages, weil mir die bis-
                                                                                                       her vorliegenden Gesetzesanträ-
                                                                                                       ge mangelhaft und inakzeptabel
                                                                                                       erscheinen. Es gilt verlässlich da-
                                                                                                       für Sorge zu tragen, dass der Ent-
                                                                                                       schluss zur Selbsttötung weder auf
                                                                                                       einer vorübergehenden Lebenskri-
                                                                                                       se, Einflussnahme Dritter, psychi­
                                                                                                       scher Erkrankung oder mangeln-
                                                                                                       der Aufklärung und Beratung
                                                                                                       beruht. Und es geht darum, der
                                                                                                       möglichen gesellschaftlichen Nor-
                                                                                                       malisierung des assistierten Sui-
                                                                                                       zids wirksam entgegenzutreten.
                                                                                                       Dazu hat das BVG hinreichend
                                                                                                       Raum gelassen, der ausgenutzt
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                                                                                                       werden sollte. Deshalb sieht un-
                                                                                                       ser Gesetzesentwurf notwendige
                                                                                                       und unverzichtbare Kontroll- und
                                                                                                       Sicherungsmechanismen durch
                                                                                                       Beratungen und das Aufzeigen
                                                                                                       von Alternativen vor. Und des-
                                                                                                       halb ist selbstverständlich auch
                                                                                                       hier – ebenfalls ganz analog zum
                            seit vielen Jahren immer wieder       ein Regelfall bzw. eine Art Regel-   Schwangerschaftskonflikt – flan-
                            mit viel Herzblut für ein Verbot      leistung medizinischer Grundver-     kierend ein strafbewehrtes Verbot
                            der organisierten Sterbehilfe und     sorgung werden. Das Proprium         für bestimmte Formen der Wer-
                            für fürsorgliche und verantwort-      (die besondere Eigentümlichkeit)     bung der Hilfe für Selbsttötung
                            liche Alternativangebote in der       evangelischer Sterbebegleitung       vorgesehen.
                            Sterbebegleitung schwerstleiden-      sollte daher auch weiterhin allein
                            der Menschen engagiert haben.         und ausschließlich im Leitbild       »Gott ist ein Freund des Lebens«,
                                                                  bestmöglicher palliativmedizini-     diese rettende und heilsame Per­
                            Ablehnung geschäftsmäßiger            scher und hospizlicher Für- und      spektive gilt es gerade in die aktu-
                            Suizidbeihilfe seitens der EKD        Seelsorge beim Sterben zum Aus-      ellen politischen Debatten um den
                                                                  druck kommen. Hilfe zum Ster-        Würdeschutz am Anfang wie am
                            Aus guten theologisch-ethischen       ben in Form von Assistenz zur        Ende des menschlichen Lebens
                            Gründen hat sich deshalb auch die     Selbsttötung ist darum auch keine    wieder neu, kraftvoll und über-
                            EKD gegen organisierte bzw. ge-       adäquate Option kirchlich-diako-     zeugend mit einzubringen.        V
                            schäftsmäßige Beihilfe zum Sui­       nischen Handelns!
                            zid ausgesprochen. Denn suizida-
                            les Handeln ist immer ein zutiefst    Neuer Gesetzentwurf                            der autor:
                            zu bedauerndes, tragisches Schei-                                                    Thomas Rachel
                            tern und allein schon deshalb         Als fraktionsübergreifende                     ist Mitglied im Rat der EKD
                            ein ethisch wie politisch letztlich   Gruppe von Abgeordneten                        und Mitglied des Deutschen
                            nicht vollständig regulierbarer       des Deutschen Bundesta-                        Bundestages, kirchenpolitischer
                            Grenzfall menschlicher Existenz.      ges haben wir Ende Januar                      Sprecher der CDU/CSU-Bundes-
                            Auch aus einer solchen Grenzsitu-     einen neuen Gesetzesent-                       tagsfraktion, Bundesvorsitzen-
                            ation – ähnlich wie beim Schwan-      wurf zur »Strafbarkeit der ge-                 der des Evangelischen Arbeits-
                            gerschaftsabbruch – darf niemals      schäftsmäßigen Hilfe zur Selbst-               kreises der CDU/CSU (EAK).
12         Positionen und Dialog

                                                                            Der Schutz des
                                                                              ungeborenen Lebens
                                                                                    Im Jahr 2020 wurden knapp
                                                                                      100.000 Schwangerschaftsab-
                                                                                       brüche vorgenommen.2 Eine
     POSITIONEN                                                                         Zahl, die in ihrer Größen-
        UND                                                                              ordnung nicht zu fassen ist,
       DIALOG                                                                            aber ungefähr der Einwoh-
                                                                                         nerzahl von Esslingen am
                                                                                        Neckar, Ludwigsburg oder
                                                                                        Reutlingen entspricht. Diese
                                                                                       Zahl an Schwangerschafts-

       Das Leben                                                                     abbrüchen ist seit 2012 relativ
                                                                                   konstant, aber dennoch können
                                                                                wir uns nicht damit abfinden. Gera-

       schützen                                                             de weil wir uns für den Schutz des un-
                                                                              geborenen Lebens einsetzen und auch
                                                                               weiterhin einsetzen wollen, muss die
                                                                               Frage erlaubt sein, ob das, was wir
       von Dr. Friedemann Kuttler
                                                                               für den Lebensschutz tun, ausrei-

      D
                                                                               chend ist. Es ist gut, wenn wir uns
              er Einsatz für das Leben ist eine                              im politischen Umfeld für eine Stär-
              Kernaufgabe für Christinnen                                  kung des Lebensschutzes einsetzen. Das
              und Christen. In den vergangenen                          ungeborene Leben braucht eine politische
       Jahren führte die gesellschaftliche Diskussion über      Lobby. Die Regierungskoalition hat in ihrem Koaliti-
       den Lebensschutz zu einer immer stärkeren Libera-        onsvertrag eine Stärkung der Selbstbestimmung der
       lisierung. Es war kein Tabu mehr, offen in Frage zu      Frau festgeschrieben, die zur Folge haben soll, dass
       stellen, dass es Grenzen des Lebensschutzes gibt.        Schwangerschaftsabbrüche »zu einer verlässlichen
       Welchen Wert hat das ungeborene Leben? Welchen           Gesundheitsvorsorge«3 gehören. Für uns als Chris-
       Wert hat das Leben am Lebensende? Die gesell-            tusBewegung ist hier ein Punkt erreicht, den wir
       schaftliche Diskussion geht weiter und erreicht auch     nicht mitgehen und mittragen können.
       kirchliche Gremien. Es werden in diesen Diskussio-
       nen Positionen vertreten, die vor dem Hintergrund        Die aktuelle Diskussion um die Abschaffung
       einer evangelischen Ethik befremden. Wenn die            des §219a StGB
       Frage des assistierten Suizids zu einer Position wird,
       die Unterstützung findet. Oder wenn die Frage über       Die Diskussion um die Abschaffung des §219a StGB
       die Abschaffung des § 219a StGB1 zu einer Position       zeigt bereits eine unterschiedliche Gewichtung
       wird, die in kirchlichen Gremien Bejahung findet. Es     der betroffenen Schutzgüter an. Denn die gesamte
       wäre durchaus möglich, dass diese Entwicklung als        Rechtssystematik im Strafgesetzbuch zur Frage des
       gesellschaftliche Entwicklung angesehen wird, die        Schwangerschaftsabbruches soll unterschiedliche
       nun eben auch im Raum der evangelischen Kirchen          Schutzgüter in Einklang bringen. Zuvorderst ist
       angekommen ist und mit der es sich abzufinden gilt.      hier das ungeborene Leben zu schützen. »Durch den
       Es wäre womöglich der einfachere Weg und ein Weg,        Umstand, dass das Leben noch ungeboren ist, hat es
       der auf eine breite gesellschaftliche Akzeptanz tref-    keine andere Wertqualität als das bereits geborene«
       fen würde. Aber kann die Frage nach dem Schutz des       (BVerfGE 39, 37). Die anderen beiden Schutzgüter
       Lebens dem gesellschaftlichen Trend unterliegen?         sind die Gesundheit der Schwangeren und auch die
       Oder braucht es nicht doch andere Maßstäbe, mit          Entscheidungsfreiheit der Schwangeren. Insgesamt
       der diese Frage beantwortet werden soll? Wie gehen       liegt in der derzeit geltenden Gesetzeslage ein Aus-
       wir als ChristusBewegung Lebendige Gemeinde mit          gleich der unterschiedlichen Interessen vor. Der
       dieser Frage um, wenn wir auch die Nöte derjenigen       Schutz des ungeborenen Lebens wird daher so hoch
       Menschen vor uns sehen, die mit den Fragen des Le-       bewertet, dass es gegenüber den Schutzgütern der
       bensschutzes am eigenen Leib betroffen sind?             Schwangeren nicht benachteiligt wird. Nun scheint
Positionen und Dialog                                         13

Schwangerschaftsabbrüche                                 Als ChristusBewegung lehnen wir eine Änderung
                                                         bzw. Liberalisierung der derzeit geltenden Regelun-
sollen laut Koalitionsvertrag                            gen ab. Das ungeborene Leben ist ein von Gott gege-
                                                         benes Leben, dessen Leben für uns unverfügbar ist.
zu einer »verlässlichen                                  Das ungeborene Leben ist bereits ein Mensch und
Gesundheitsvorsorge« gehören.                            wird nicht erst zum Menschen. Aus diesem Grund
                                                         ist das ungeborene Leben genauso zu schützen wie
Für uns als ChristusBewegung                             bereits geborenes Leben. Das ungeborene Leben darf
ist hier ein Punkt erreicht, den                         nicht zu einem beliebigen Objekt gemacht werden,
                                                         über das einfach so verfügt werden darf oder mit
wir nicht mitgehen können.                               dem Geschäfte gemacht oder angepriesen werden.

                                                         Hilfen für Schwangere und Väter
es eine Trendwende zu geben. Denn nun sollen             Es wäre allerdings zu einfach, wenn wir nur auf der
Schwangerschaftsabbrüche »zu einer verlässlichen         politischen Ebene blieben. Es braucht auch den Blick
Gesundheitsvorsorge«3 gehören. Das bedeutet aber         für die Menschen, die an einen Schwangerschaftsab-
nun, dass der Staat seine Schutzverpflichtung ge-        bruch denken. Die Gründe für einen Abbruch sind
genüber dem ungeborenen Leben als weniger wichtig        vielfältig, aber in mancher Not kann geholfen wer-
ansieht. Das ungeborene Leben tritt dann hinter die      den. Eine pauschale Stigmatisierung von Menschen,
anderen Schutzgüter zurück. Wenn jetzt das Werbe-        die eine Schwangerschaft abbrechen, hilft nicht wei-
verbot des §219a StGB fällt, dann wird suggeriert,       ter. Es gilt, die Menschen und ihre Gründe wahrzu-
dass ein Schwangerschaftsabbruch ein legales Mittel      nehmen. Nur dann können wir konkret helfen. Wir
ist und dass das ungeborene Leben nicht mehr die         brauchen eine Stärkung von Beratung und Hilfen,
gleichwertige Wertqualität wie ein geborenes Leben       damit sich Menschen für das Leben und für ihr Kind
hat. Der Regierungsentwurf zur Abschaffung des           entscheiden. Gerade in diesem Bereich braucht es
§219a StGB4 argumentiert damit, dass Frauen eine         eine missionarische Diakonie, wie August Hermann
sachliche Information über Ablauf und Methode des        Francke sie gelebt hat. Der Glaube soll hier in der
Schwangerschaftsabbruches öffentlich bereitgestellt      Liebe tätig werden und nicht im Urteil gegenüber
oder in einer öffentlichen Versammlung berichtet         anderen. August Hermann Francke sagte, »dass der
werden soll. Es kommt dann aber dazu, dass Ärztin-       Glaube, der durch die Liebe tätig ist, eine höhere und
nen und Ärzte nicht nur informieren, sondern impli-      herrlichere Gabe sei als hohe Offenbarungen und
zit auch für ihre Dienstleistung werben. In der Frage    Entrückungen in den dritten Himmel.«6 Aber eben
von Schwangerschaftsabbrüchen darf aber eine Ver-        diese missionarische Diakonie ist das Feld, in dem es
mischung von Information und Kommerzialisie­r ung        um die Rechte und Pflichten, um die Würde des Men-
nicht gegeben sein. Es muss weiterhin der Schutz des     schen und um den Lebensschutz geht und in dem wir
ungeborenen Lebens so hochgehalten werden, dass          uns als Menschen innerhalb der ChristusBewegung
Werbung für Schwangerschaftsabbrüche weiterhin           einbringen.                                         V
unethisch und falsch sind. Eine Werbung oder Infor-
mation konterkariert den Schutz des ungeborenen          1 Verbot der Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft.
                                                         2 https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Schwangerschafts-
Lebens, weil damit in der Öffentlichkeit der Eindruck
                                                            abbrueche/Tabellen/03-schwangerschaftsabbr-rechtliche-begruendung-schwangerschafts-
erweckt wird, dass ein Abbruch etwas völlig Norma-          dauer_zvab2012.html (Stand: 03.03.22).
les und Legales ist. Ein Abbruch ist aber nicht legal,   3 Koalitionsvertrag 2021–2025 »Mehr Fortschritt wagen« zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen
                                                           und FDP, S. 116: »Reproduktive Selbstbestimmung: Wir stärken das Selbstbestimmungsrecht
sondern nur straffrei unter bestimmten Vorausset-          von Frauen. Wir stellen Versorgungssicherheit her. Schwangerschaftsabbrüche sollen Teil
zungen. Der Staat verlässt damit seine Rolle als An-       der ärztlichen Aus- und Weiterbildung sein. Die Möglichkeit zu kostenfreien Schwanger-
walt des ungeborenen Lebens. Denn welchen Schutz           schaftsabbrüchen gehören zu einer verlässlichen Gesundheitsversorgung. Sogenannten
                                                           Gehsteigbelästigungen von Abtreibungsgegnerinnen und Abtreibungsgegnern setzen wir
genießt das ungeborene Leben, wenn die Werbung für         wirksame gesetzliche Maßnahmen entgegen. Wir stellen die flächendeckende Versorgung
den Abbruch plötzlich erlaubt ist? Im Zweifel wohl         mit Beratungseinrichtungen sicher. Schwangerschaftskonfliktberatung wird auch künftig
keinen mehr. Das ungeborene Leben hat als effekti-         online möglich sein. Ärztinnen und Ärzte sollen öffentliche Informationen über Schwanger-
                                                           schaftsabbrüche bereitstellen können, ohne eine Strafverfolgung befürchten zu müssen.
ven Schutz gegenüber den Schutzgütern der Schwan-          Daher streichen wir § 219a StGB.«
geren lediglich die Kriterien des Verfahrens und die     4 https://www.bmj.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Dokumente/RegE_219a_StGB.
                                                            pdf?__blob=publicationFile&v=2 (Stand: 03. 03.2022).
Beratung der Mutter. Das ungeborene Leben wird           5 Vgl. BVerfGE 88, 203 (251f); 39, 1 (37).
seiner Würde und auch seines Menschseins beraubt.5       6 Zitiert nach Kurt Heinbucher: Zukunft durch Umkehr, S. 20.
14                  Interview

                         »Kein Kind soll                                     Herr Schmid, wie kam es zur
                                                                             ­Gründung des Notlagenfonds
                                                                              »Kind willkommen«?

                         verloren ­gehen,
                                                                              Martin Schmid: Die Idee entstand
                                                                             aus einem Gebetskreis mit dem ört-
                                                                             lichen Pfarrer. Wir wollten uns ge-

                         schon gar nicht
                                                                             sellschaftlich engagieren. Uns hat
                                                                             überrascht, dass bis zu 80 Prozent
                                                                             der Frauen, die eine Schwanger-

                         aus finanziellen
                                                                             schaftskonfliktberatung aufsuchen,
                                                                             als Hauptproblem finanzielle Nöte
                                                                              aufführen. Diesen Betroffenen woll-
                                                                              ten wir helfen und fanden Unter-

                         Gründen«                                             stützer unter anderem in den badi-
                                                                              schen und württembergischen Lan-
                                                                              desbischöfen Ulrich Fischer und
                                                                              Frank Otfried July. Zunächst konn-
                         Martin und Erika Schmid engagieren sich beim         ten wir 50.000 Euro Startkapital
                         Notlagenfonds »Kind willkommen« als Vorsitzender     auftreiben: Je 10.000 Euro kamen
                                                                              von den Diakonischen Werken Ba-
                         bzw. Geschäftsführerin. Sie schildern, wie es zur    den und Württemberg, 30.000 von
                         Einrichtung kam und wie der Verein ganz              der CDU-Landtagsfraktion. Nach
                         praktisch hilft.                                     zwei Jahren waren die Gelder aller-
                                                                              dings verteilt. Hans-Michael Ben-
                                                                              der, Sohn des ehemaligen badi-
                                                                              schen Landesbischofs Julius Ben-
                                                                              der, schlug darauf vor, einen Verein
                                                                              zu gründen. Seit der Gründung im
                                                                              Herbst 2012 konnten wir bis Ende
                                                                              vergangenen Jahres 430.000 Euro
                                                                              sammeln.

                                                                             Wie helfen Sie konkret?
                                                                             Erika Schmid: Wir haben einen
                                                                             Flyer erstellt, der in vielen Kirchen-
                                                                             gemeinden ausliegt. Die eingehen-
                                                                             den Spenden gehen 1:1 paritätisch
                                                                             an die Diakonischen Werke Baden
                                                                             und Württemberg für deren Bera-
                                                                             tungsstellen. Zwar gibt es bereits
                                                                             Hilfsfonds des Bundes und des
                                                                             Landes, aber deren Antragsfristen
                                                                             reichen oft über die ersten zwölf
                                                                             Wochen der Schwangerschaft hin-
                                                                             aus, in der eine Abtreibung straffrei
                                                                             möglich ist. Das ist für viele Frau-
                                                                             en für die Entscheidungsfindung
                                                                             zu spät. Hier können wir mit dem
                                                                             Notlagenfonds »Kind willkommen«
                                                                             helfen, ohne langwierige Antrags-
                                                                             verfahren.

                                                                             Woher kommen die Spenden?
                                                                             Erika Schmid: Wir haben bislang
                                                                             rund 120 Spender, dazu kommen
                                                                             fünf Stiftungen und rund 60 Kir-
© Phtotocase/Vanda Lay
Interview                        15

chengemeinden aus Baden und
Württemberg. Über 1.700 Frauen
und Familien konnten bisher un-
terstützt werden. Pro Jahr sind das
bis zu 200 Familien.

Wozu werden die Spenden verwendet?
Martin Schmid: Die Beraterinnen
können Frauen schnell helfen, in-
dem beispielsweise die Kosten für
eine Babyausstattung, für eine
Waschmaschine oder eine Mietkau-
tion übernommen werden.                                        Herzliche Einladung
Welche Rückmeldungen haben                                  zum Kongress »Leben.Würde«
Sie erhalten?
Erika Schmid: Wir erhalten jedes                              vom 21.–23. Oktober 2022
Jahr anonymisierte Fallbeispiele
von den Beraterinnen. Ein Fallbei-
                                                                auf dem Schönblick
spiel möchte ich schildern: Eine
Frau hatte bereits zwei erwachsene                   Wir lieben das Leben! Leben ist Zukunft! Würde ist unantastbar!
Kinder und mit der Familienpla-                      Das Verbot jeglicher Beihilfe zum Suizid ist aufgehoben, das Geschäft
nung abgeschlossen. Sie kam mit er-                  mit »Leihmütter«-Babys boomt, 100.000 Kinder werden jedes Jahr
heblichen psychischen Problemen                      allein in Deutschland abgetrieben: Die im Grundgesetz verbriefte
zur Beratung und man konnte ihr                      Menschenwürde ist nicht bei allen Menschen unantastbar. Der breit
mit Geld aus dem Notlagenfonds                       aufgestellte, ökumenische Kongress bezieht Position für uneinge-
eine psychologische Betreuung er-                    schränkten Lebensschutz. Ärzte, Biologen, Philosophen, Juristen,
möglichen. Die Frau wurde dadurch                    Theologen, Politiker, Journalisten und Experten von Lebensrechts-
aufgefangen und konnte sich auf                      organisationen geben Orientierung und neue Impulse.
ihr Kind freuen.                                     Der Kongress informiert über die aktuellen Debatten, zeigt Initia-
                                                     tiven zum Handeln auf und gibt in Seminaren konkrete Tipps, wie
Wie können Christen Sie unterstützen?                auch Sie in Ihrem Alltag das Recht auf Leben unterstützen und
Erika Schmid: Indem sie spenden.                     ­Lebensschützer sein können.
Martin Schmid: Unser Motto lau-
tet: »Kein Kind soll verloren gehen,                 Wir freuen uns auf Sie!
schon gar nicht aus finanziellen                     Daniel Funk, Programmleitung Schönblick
Gründen.« Dabei orientieren wir
uns ganz an der Aussage Jesu: »Las-
set die Kinder zu mir kommen!« Wir
zeigen unter anderem in Kirchenge-
meinden auf, dass es ein Geschenk
ist, wenn ein Kind zur Welt kommt.
Wir ermutigen Kirchengemeinden
bei Taufen darauf hinzuweisen und
um Spenden für die zu bitten, die       Erika Schmid arbeitete als Grund-       Spendenkonto
sich auch aus finanziellen Gründen      schullehrerin, Martin Schmid als        Verein zur Förderung des Notlagenfonds
schwertun, sich für ein Kind zu ent-    Diplomingenieur. Sie leben im Ruhe-     Kind willkommen
                                                                                DE 20 6405 0000 0100 0757 08
scheiden.                               stand in Lichtenstein-Unterhausen
                                                                                  www.kind-willkommen.de
Erika Schmid: Uns ist es wichtig,       am Fuße der Schwäbischen Alb.
dass wir keine Frauen verurteilen,      Schmids haben drei erwachsene           Beratungsstellen / Hilfeangebote
die sich für einen Abbruch ent-         Kinder und vier Enkelkinder.              www.dww-schwangerenberatung.de
scheiden oder das in Erwägung zie-      Beide sind in der örtlichen Kirchen­      www .diakonie-wuerttemberg.de/abteilungen/
hen. Wir wollen vielmehr da helfen,     gemeinde verwurzelt, Erika Schmid         landkreis-und-kirchenbezirksdiakonie-
wo es möglich ist.                      war viele Jahre Kirchengemeinde­          existenzsicherung/frauen/schwangeren-und-
Das Interview führte                    rätin und leitete 20 Jahre den            schwangerschaftskonfliktberatung
Claudius Schillinger.                   Missionsfrauenkreis.                       www.diakonie-wuerttemberg.de/abteilungen/
                                                                                  landkreis-und-kirchenbezirksdiakonie-
                                                                                  existenzsicherung/frauen/pua/
16              Zwischenruf

                     Frieden beginnt
                     am Gartenzaun
                     D
                             ie Bilder des Krieges aus der Ukraine machen fassungslos und sie machen mir
                             Angst. Das unfassbare Leid der Menschen in der Ukraine macht mich tief be-
                             troffen. Ich kann nicht verstehen, wie die Aggressoren im Kreml dazu in der
                     Lage sind, selbst vor Krankenhäusern und anderen Schutzorten nicht Halt zu ma-
                     chen. Die Bilder dieses Krieges haben sich tief in mir eingebrannt und ich bekomme
                     sie nicht mehr aus meinem Kopf. Ich bin traurig, wütend, fühle mich hilflos und bin
                     einfach nur geschockt. Ich gebe offen zu, dass mich selten
                     ein Krieg so berührt hat wie dieser. Wenn in Deutschland        friedensgebet
                     plötzlich Soldatinnen und Soldaten an Außengrenzen ver-
                                                                                     Herr Jesus Christus, Wohin sollen wir uns
                     legt werden oder in befreundete Nachbarländer, dann spüre
                                                                                     wenden mit unserer Empörung, mit unserer
                     ich die Angst am eigenen Leib vor dem, was noch passie-
                     ren kann. In den letzten Tagen hatte ich viele Gespräche        Trauer, mit unserer quälenden Hilflosigkeit
                     mit älteren Menschen, die mir berichten, dass in ihnen die      angesichts des Krieges zwischen Russland
                     Bilder der eigenen Kriegserlebnisse in Kindertagen wieder       und der Ukraine und der anderen Kriege, die
                     hochkommen. Sie erzählen mir von Flucht und Vertreibung         derzeit toben? So viele Menschen, die in Ruhe
                     von den Orten in der Ukraine, aus denen heute Menschen          leben wollen, werden bedroht, werden aus
                     zu uns flüchten. Es sind Menschen aus der Generation mei-       ihrer Heimat vertrieben, werden getötet. Wir
                     ner Großeltern, die in Bessarabien und anderen Gegenden
                                                                                     sehen die Bilder derer, die um Angehörige
                     in der Ukraine aufgewachsen sind. Sie müssen mitansehen,
                                                                                     und um Freunde weinen. Wir hören hass­
                     wie heute aus denselben Orten, ja fast aus den gleichen Häu-
                     sern Menschen gehen müssen, damit sie am Leben bleiben.         erfüllte Parolen, die laut werden. Wir werden
                                                                                     zerrissen von widersprüchlichen Gefühlen,
                     Frieden darf kein Zufallsprodukt der Geschichte sein. Es        auch von der Angst, was aus dem allen noch
                     liegt eben an uns, uns für den Frieden einzusetzen – in der     werden wird. Jesus Christus, wir bitten dich,
                     Ukraine und an vielen anderen Orten. Es ist gut, wenn wir       schenke den Mächtigen Einsicht. Schenke
                     uns versammeln, um miteinander für Frieden zu beten. Es         Weisheit, wie Frieden wieder gelingen kann.
                     ist gut, wenn wir konkret helfen, indem wir Geld oder Dinge     Schenke Mut, sich falsche Entscheidungen
                     spenden, aber auch unsere Häuser und Wohnungen aufma-
                                                                                     einzugestehen und Schritte aufeinander zu-
                     chen, damit Menschen wieder einen sicheren Ort haben, an
                     dem sie sein können. Aber damit Frieden beginnt und bleibt,     zugehen. Wir bitten dich für die Menschen in
                     reicht das allein nicht aus. Frieden beginnt bei mir und in     der Ukraine und Russland, die unter dem Krieg
                     der eigenen Familie. Frieden beginnt am Gartenzaun. Wie         zu leiden haben, dass du ihnen beistehst.
                     rede ich über andere? Braucht es immer die brutale Spra-        Schaffe Frieden. Du bist der Herr dieser Welt,
                     che, die sich über andere erhebt? Es ist nicht immer leicht,    zu dir kommen wir mit allem, was uns bewegt.
                     in der Familie, mit Kollegen oder Nachbarn Frieden zu ha-       Wir bitten auch für uns, dass du uns Liebe für
                     ben. Uns steht hier die Aufforderung des Apostel Paulus aus     unsere Mitmenschen schenkst und auch den
                     dem Brief an die Kolosser vor Augen: »Der Friede Christi, zu
                                                                                     Mut und die Kraft, bei uns Frieden zu schaffen
                     dem ihr auch berufen seid in einem Leibe, regiere in euren
                                                                                     und Frieden zu halten. Herr Jesus Christus, wir
                     Herzen.« Frieden beginnt in meinem eigenen Herzen. Das
                     ist anstrengend, weil wir uns selbst korrigieren und korri-     bitten dich um Frieden für diese Welt. AMEN.
                     gieren lassen müssen. Es ist unsere dauernde Aufgabe und
                     Verpflichtung als Eltern und Großeltern gegenüber unseren Kindern und Enkeln. Ich
                     wünsche mir für meine Kinder, dass sie in Frieden und ohne Angst leben können.
                     Aber damit dieser Wunsch möglich wird, muss ich bereit sein, mich für den Frieden
                     einzubringen. Was bin ich bereit, für den Frieden zu tun? Auf was bin ich bereit zu
                     verzichten, damit Frieden möglich ist? Es geht nicht, dass wir Frieden für uns wollen,
                     aber dafür nichts tun. Frieden ist kein Selbstläufer und auch kein Zufallsprodukt. Wir
                     leben hier in Frieden und das verpflichtet uns auch gegenüber den Menschen in der
                     Ukraine und Russland, die unter den Folgen dieses Krieges zu leiden haben. Das muss
                     uns Ansporn sein, anzufangen, Frieden zu schaffen – hier bei uns, aber auch weltweit. V
                                                                                     Dr. Friedemann Kuttler
© iStock.com/Diy13
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