Leseprobe Das Spiel - Es geht um Dein Leben Thriller

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Leseprobe Das Spiel - Es geht um Dein Leben Thriller
Leseprobe

                                    Jan Beck
                                    Das Spiel – Es geht um
                                    Dein Leben
                                    Thriller

                                    »Das ist die perfekte Geschichte, die dir
                                    das Blut in den Adern gefrieren lässt.«
                                    Christian Beisenherz in WDR Lokalzeit

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Seiten: 480
Erscheinungstermin: 27. Juli 2020

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Sie jagen dich. Sie töten dich.
Als Mavie während einer Party auf ihr cooles, im Dunkeln leuchtendes
Tattoo angesprochen wird, hält sie das für einen Scherz. Doch dann sieht
sie es im Lichtstrahl der Tanzfläche mit eigenen Augen und gerät in Panik:
Woher kommt der Skorpion auf ihrer Haut? Mavie ahnt nicht, dass das
Zeichen sie zur Zielscheibe eines perfiden Spiels macht.
Zur gleichen Zeit übernehmen die Ermittler Inga Björk und Christian
Brand den Fall einer brutal im Wald ermordeten Joggerin. Noch wissen sie
nicht, dass dies erst der Anfang einer grausamen Mordserie ist. Und dass
sie nur eine Chance haben, diese zu stoppen: Sie müssen die Seiten
wechseln – und das tödliche Spiel mitspielen …

                    Autor
                    Jan Beck
                    Jan Beck, 1975 geboren, ist das Pseudonym eines
                    erfolgreichen deutschsprachigen Autors. Bevor er
                    sich dem Schreiben widmete, arbeitete Jan Beck als
                    Jurist. In seinem rasanten Thrillerdebüt »Das Spiel«
                    lässt Beck seine Leser tief in die Abgründe der
                    menschlichen Seele blicken. Wenn Jan Beck nicht
                    gerade schreibt, verbringt er seine Zeit in der Natur,
                    besonders gerne im Wald.
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Freitag, 21. August

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1
                                  Im Wald

            Sie lief und wollte ihr Glück in alle Welt hinausschreien. Sie hatte
            es geschafft. Endlich war es vorbei.
               Endlich war sie frei.
               Nie wieder würde sie den Menschen gegenübertreten müs-
            sen, die ihr die letzten Jahre zur Hölle gemacht hatten. Diese
            Scheusale. Aber am Ende hatten sie bezahlen müssen. Und zwar
            teuer.
               Man erntet, was man sät.
               Sie lief schneller.
               Die Genugtuung, die sie empfand, brannte stark wie ein Feuer
            in ihr. Vor wenigen Stunden erst war das Urteil im Prozess gegen
            ihren Arbeitgeber verkündet worden. Aufhebung der Kündigung
            und volle Wiedergutmachung des ihr entstandenen Schadens. Er-
            satz aller Behandlungskosten und Nachzahlung des Gehalts seit
            ihrem Rauswurf. Und: Strafanzeige gegen unbekannt.
               Sie würde das Gesicht ihres Chefs niemals vergessen.
               Ich habe gewonnen.
               Sie bog in die große Waldschleife ab.
               Das Gericht sieht es als erwiesen an, dass die Klägerin an ihrem
            Arbeitsplatz erheblichem, systematischem Druck ausgesetzt war.
            Als dies nicht zu ihrem freiwilligen Ausscheiden führte, wurde ihre
            Arbeit nachweislich manipuliert, um eine außerordentliche Kün-

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digung aus wichtigen Gründen zu rechtfertigen. Da diese Gründe
              nicht vorlagen, war der Klage stattzugeben.
                 Sie lief und lief. Wie jeden Abend würde sie erst anhalten,
              wenn sie keine Kraft mehr hatte. Aber gerade fühlte sie sich, als
              könnte sie die ganze Welt umrunden.
                 Sie wollen Krieg? Den können Sie haben!
                 Und wie sie Krieg bekommen hatte. Nach allen Regeln hatte
              die Firma Krieg gegen sie geführt. Tarnen und Täuschen inklu-
              sive. Man wusste erst, was systematisches Mobbing hieß, wenn
              man es am eigenen Leib erlebte. Wenn sich jeder distanzierte,
              wenn das Opfer zum Täter gemacht wurde, zum Störfaktor, zum
              Spinner, der sich das alles nur einbildete, bis sogar die eigene Fa-
              milie sich abwandte. Aber sie hatte durchgehalten. Hatte sich
              von niemandem unterkriegen lassen. Und hatte diesen Krieg, den
              sie nie wollte, am Ende gewonnen.
                 Ohne Mark hätte ich das nie geschafft.
                 Mark hatte vor Glück geweint, als sie ihn vorhin am Telefon
              erreicht und ihm alles erzählt hatte. Er kam erst am nächsten Tag
              aus London zurück. Sie hätte ihn so gerne bei der Urteilsverkün-
              dung an ihrer Seite gehabt. Damit er höchstpersönlich mitbekam,
              dass sein Vertrauen in sie gerechtfertigt war.
                 Ich war nicht verrückt. Die waren es. Und du hast immer an
              mich geglaubt. Ich liebe dich, Mark!
                 Tränen stiegen ihr in die Augen, als ihr klar wurde, dass für sie
              nun ein neues Leben begann. Mit der Entschädigung konnten sie
              eine Weltreise machen, wenn sie wollten. Oder eine riesige Hoch-
              zeit feiern. Vorausgesetzt, Mark fragte sie endlich. Sogar Kinder
              konnte sie sich jetzt vorstellen, ein Gedanke, der in den letzten
              Wochen und Monaten ganz weit in die Ferne gerückt war.
                 Warmer Sommerwind umstrich ihre Beine. Wie lange hatte
              sie nicht mehr so befreit laufen können? Wie lange hatte sie sich

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selbst jede Freude verboten, hatte das Ritual der täglichen Jog-
            gingrunde mit verbissener Disziplin durchgezogen, den Blick starr
            nach vorne gerichtet, aus der irrationalen Überlegung heraus, je-
            der Genuss vor der Urteilsverkündung könnte böses Karma ge-
            ben? Wie lange hatte sie sich tief im Innern schuldig gefühlt und
            fast schon selbst zu glauben begonnen, was die anderen behaup-
            teten? Der eigene Kopf spielte einem die schlimmsten Streiche.
               Vorbei, vorbei.
               Sie erreichte die Lichtung mit dem kleinen Waldsee. Über ihr
            leuchteten die Sterne. Die Vorhersage behielt recht: Es würde
            eine klare Nacht werden. Das war auch nicht schwer zu erraten.
            Seit Wochen brachte ein riesiges Hochdruckgebiet ganz Europa
            zum Schwitzen, nur die Nachtstunden waren halbwegs erträg-
            lich. Aber sie würde sich niemals darüber beklagen. Kalt wurde
            es noch früh genug.
               In ein paar Tagen war Vollmond. Schon jetzt leuchtete er
            hell, spiegelte sich im Wasser und tauchte die ganze Umgebung
            in weißbläuliches Licht. Sie schaltete ihre Stirnlampe aus und
            konnte trotzdem jede Unebenheit des Weges erkennen. Sie fühlte
            sich, als würde sie schweben.
               Dann blieb sie stehen. Einfach so. Weil sie konnte. Weil sie
            durfte. Sie war frei. Nichts hielt sie mehr davon ab, ihr Leben zu
            genießen. Ihr Kopf war leer. Sie atmete ein, sie atmete aus. Was
            jetzt folgte, war ihre Entscheidung, nicht mehr die eines Anwalts
            oder eines Richters. Sie bestimmte wieder selbst über sich und
            ihre Zukunft.
               Da kam ihr ein Gedanke.
               Soll ich es wagen? Einfach … reinspringen? Nackt?
               Es war zu verrückt. Und gerade deshalb perfekt. Perfekt wie
            dieser ganze Tag. Sie lächelte, zog sich das Top über den Kopf
            und spürte, wie sie dabei die Stirnlampe abstreifte. Achtlos ließ

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sie beides ins hohe Gras fallen und schlüpfte aus den Jogging-
              schuhen.
                 Plötzlich hörte sie etwas und hielt inne. Ein kurzes Rascheln
              nur, aus der Richtung, aus der sie gekommen war. Sie horchte.
              Angst hatte sie keine. Im Wald gab es die verschiedensten Geräu-
              sche, und sie kannte sie alle. War es ein Vogel, der durchs Unter-
              holz streifte? Zu leise. Außerdem zu dunkel. Ein Reh? Zu laut für
              das, was sie gehört hatte. Vermutlich war ein Eichhörnchen von
              einem Baum zum anderen gesprungen.
                 Sie kannte diesen Wald wie ihre Westentasche. Sie war hier
              aufgewachsen und hatte einen guten Teil ihrer Kindheit unter
              den Bäumen verbracht. »Eine Halbwilde« hatten ihre Eltern sie
              scherzhaft genannt, wenn Leute zu Besuch waren. Es hatte ihr
              stets ein tierisches Vergnügen bereitet, Kindern aus der Stadt den
              »dunklen, bösen« Wald zu zeigen.
                 Der Wald ist mein Freund.
                 Eine Weile blieb sie ganz ruhig stehen und lauschte, aber das
              Geräusch wiederholte sich nicht. Schließlich zog sie sich aus, zö-
              gerte noch einmal kurz, dann gab sie sich einen Ruck und rannte
              nackt ins Wasser hinein. Der Kies am Ufer bohrte sich schmerz-
              haft in ihre Fußsohlen. Das Wasser war kalt, aber angenehm,
              und wurde schnell tiefer. Eine Sekunde später stürzte sie sich
              vornüber ins kühle Nass.
                 Als sie wieder auftauchte, musste sie lachen vor Glück. Was
              für ein tolles Geschenk, das die Natur ihr da machte! Alles war
              Sommer, alles war Leben.
                 Mit ein paar Zügen gelangte sie in die Mitte des Sees, ließ
              die Füße sinken und bewegte ihre Arme gerade genug, um ihren
              Kopf über Wasser zu halten. Sie staunte über das Konzert der
              Grillen um sie herum. Die Vögel waren schon seit Einbruch der
              Dunkelheit still, aber die Klangwolke, die über der Lichtung auf-

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stieg, aus allen Richtungen zugleich, suchte ihresgleichen. Außer
            dem Zirpen hörte sie nur ihren Atem und die Geräusche, die
            ihre Schwimmbewegungen auslösten: weiches, sanftes Wasser-
            plätschern.
               Sie atmete tief ein, brachte ihre Beine an die Wasseroberfläche
            und streckte sich. Ließ sich mit offenen Augen auf dem Rücken
            treiben. Wieder sah sie Sterne, Sterne, Sterne. Der Mond war zu
            hell, als dass sie die Milchstraße hätte erkennen können, und
            doch waren da oben mehr Lichtpunkte, als sie zählen konnte.
               Nach einer Minute völliger Harmonie zwischen sich und dem
            Universum beschloss sie, dass sie Frieden schließen wollte mit der
            Welt und allem, was war.
               »Ich vergebe euch«, sagte sie laut. »Alles ist wieder gut.«
               Dann drehte sie sich auf den Bauch zurück und schwamm ans
            andere Ufer. Dort setzte sie sich auf, vom Bauchnabel abwärts
            im Wasser, mit den Händen im Kies abgestützt. Immer noch war
            ihr nicht kalt.
               Plötzlich sah sie aus dem Augenwinkel ein Licht aufblitzen.
            Ganz kurz nur, in etwa dort, wo sie in den See gelaufen war. Viel-
            leicht ein Glühwürmchen.
               Zu hell für ein Glühwürmchen.
               Sie kniff die Augenlider zusammen. Ihre leichte Kurzsichtig-
            keit war bei dem schlechten Licht doch hinderlich. Nein, da war
            nichts. Bestimmt hatte sie sich getäuscht. Vielleicht hatte eine
            Welle den Mond im Wasser reflektiert.
               Welche Welle? Der See war spiegelglatt.
               Sie ging in die Hocke, stieß sich vom Ufer ab und schwamm
            zurück, schneller, als sie ursprünglich wollte. Auch wenn sie es
            sich niemals eingestanden hätte, war da jetzt noch etwas anderes
            als Glück und Harmonie in ihr.
               Angsthase.

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Das mit dem Schwimmen war wohl doch zu verrückt gewesen.
              Selbst als Kind – als Halbwilde – hätte sie sich das nie getraut.
              Ihre Mutter hatte sie immer vor dem See gewarnt. Und nun war
              sie mittendrin, und ihre Sinne spielten ihr Streiche. Zum Beispiel,
              dass da eine Gestalt im Gras kauerte, keine fünf Meter von ihr
              entfernt.
                 Sie spürte den Uferkies an ihren Fingerspitzen. Kniete sich hin­
              ein. Kniff die Lider noch schmaler zusammen.
                 Doch, da war etwas. Aber was? Ein Reh? Ein Hund? Jeden-
              falls etwas, das vorhin nicht dort gewesen war. Etwas Lebendi-
              ges. Sie kannte jeden Wurzelstock und jeden größeren Stein in
              der Gegend. Das da kannte sie nicht.
                 »Hey!«, rief sie.
                 Nichts passierte. Sie griff sich eine Handvoll Kies und warf ihn
              ans Ufer. Die Gestalt wuchs in die Höhe.
                 Die Silhouette eines Menschen.
                 Ihr Herz fing an zu rasen, adrenalinbefeuert. »Hau ab, du ver-
              dammter Spanner!«, schrie sie mit sich überschlagender Stimme,
              nahm eine neue Ladung Kies vom Grund und schleuderte ihn der
              Gestalt mit aller Kraft entgegen. Dann zog sie sich rückwärts ins
              Wasser zurück, den Blick starr nach vorn gerichtet.
                 Die Gestalt ließ sich weder von ihrem Geschrei noch dem Kies
              aus der Ruhe bringen. Im Gegenteil, jetzt kam sie auf sie zu, ganz
              langsam.
                 »Hau ab! Hau ab!«
                 Konnte das ein Scherz sein? Nichts hätte sie lieber geglaubt.
              Aber sie kannte niemanden, der sich Späße dieser Art erlaubte.
              Und wenn doch, dann konnte er was erleben. Sie mochte keine
              unheimlichen Scherze.
                 Sie glitt ins tiefere Wasser zurück, schwamm vom Ufer weg
              und überlegte panisch, was sie tun konnte. Rundum lag dichter

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Wald. Nur vorne gab es diesen einen Trampelpfad, überall sonst
            wuchsen dichtes Gras und stacheliges Strauchwerk, auch am an-
            deren Ufer gab es viele Pflanzen, denen man besser nicht mit
            nackten Beinen begegnete.
               Sie paddelte im tiefen Wasser auf der Stelle, drehte sich um
            sich selbst und suchte einen Ausweg, fand aber keinen. Wollte sie
            entkommen, musste sie direkt an der Gestalt vorbei.
               Wie lange kann ich hier durchhalten?
               Langsam wurde ihr nun doch kalt. Sie überlegte, laut um Hilfe
            zu rufen, aber es wäre reines Glück gewesen, hätte sie jemand ge-
            hört. Hier war schon tagsüber kaum etwas los und um diese Uhr-
            zeit gar nichts mehr. Das Zirpen rundum klang jetzt fast spöt-
            tisch.
               Stark sein, erinnerte sie sich an die Empfehlung im Selbstver-
            teidigungskurs. Die meisten Vergewaltiger wurden von Frauen,
            die in die Opferrolle verfielen, nur noch angespornt. Man sollte
            sich stattdessen so ordinär wie möglich verhalten. Nichts törnte
            einen Vergewaltiger mehr ab als eine Frau, die so tat, als wollte
            sie es.
               Das sagt sich so leicht.
               Die Gestalt stand da, am Ufer des Sees, und konnte noch stun-
            denlang durchhalten. Sie selbst würde definitiv früher aufgeben
            müssen. Und was dann?
               Sie zitterte, hatte Gänsehaut am ganzen Körper, klapperte mit
            den Zähnen. Aber innerlich loderte die nackte Angst.
               Eine weitere Minute verging. Dann, von einem Moment auf
            den anderen, drehte sich die Gestalt um und entfernte sich in al-
            ler Seelenruhe, bog links ab und nahm den Weg, der weiter in
            den Wald hineinführte.
               Der Rückweg war frei. Aber wie lange? Jetzt musste sie schnell
            sein. Mit wenigen kräftigen Zügen schwamm sie ans Ufer und

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eilte mit großen Schritten aus dem Wasser. Zweimal verlor sie
              fast die Balance im feinen Kies, aber dann hatte sie Gras unter
              den Füßen und lief zu der Stelle, an der sie sich ausgezogen hatte.
              Ihr Blick schweifte über den Boden auf der Suche nach ihren Sa-
              chen, sie überlegte, suchte weiter – aber ihr Zeug war weg. Ihre
              Kleidung, die Stirnlampe, das Täschchen mit dem Handy …
                 Nichts, was sich nicht ersetzen ließ.
                 Der Schlüsselbund. Verdammt!
                 Wenn der Dieb wusste, wo sie wohnte, hatte er jetzt freien
              Zutritt zu ihrem Haus. Sie musste sofort einen Schlosser rufen,
              wenn sie zu Hause war.
                 Und wie komm ich ohne Schlüssel rein? Sie hatte keine Er-
              satzschlüssel deponiert, da sie das für ein Sicherheitsrisiko hielt.
                 Zu den Nachbarn. Notfalls nackt.
                 Sie lief los. Ohne ihre Joggingschuhe wurde jeder Schritt zur
              Qual. Aber sie konnte, sie durfte nicht zögern. Tempo war das
              Einzige, was jetzt zählte. Sie lief zum Weg und rechts weiter auf
              den Joggingpfad, der aus dem Wald herausführte.
                 Da raschelte etwas hinter ihr. Ein winziges Ästchen brach.
              Rhythmische Schritte ertönten. Die andere Person folgte ihr. Sie
              war getäuscht worden!
                 Sie öffnete den Mund zu einem Schrei, doch sie brachte keinen
              Ton heraus. Schneller, lauf schneller! Sie ignorierte alles – Steine,
              Wurzeln, Dornen, Brennnesseln –, nichts war wichtig, außer dass
              sie rannte. Noch konnte sie entkommen. Sie war gut im Laufen.
              Wochen- und monatelang war sie wie eine Besessene gelaufen.
              Ihre Kondition war besser denn je, ihre Muskulatur gestählt.
                 Wenn ich nur meine Schuhe hätte …
                 Sie streckte die Hand aus, als sie den dicken Zweig eines
              Strauchs erkannte, der in den Pfad hereinragte. Sie kannte ihn,
              wie so viele Details dieser Strecke. Wieso machte sich eigentlich

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niemand die Mühe, ihn abzuschneiden? Sie bog ihn von sich weg
            und ließ ihn zurückpeitschen, lief weiter, so schnell sie konnte.
               Gleich darauf hörte sie, wie der Zweig ihren Verfolger traf, der
            einen erstickten Fluch ausstieß. Die Schritte wurden langsamer,
            aber höchstens für eine Sekunde. Von einem Zweig würde er sich
            nicht aufhalten lassen.
               Sie erreichte dichter bewachsenes Gelände. Hinter ihr leuch-
            tete etwas auf. Eine Taschenlampe. Ihr Verfolger gab sich also
            keine Mühe mehr, unentdeckt zu bleiben. Der Lichtkegel zitterte
            aufgeregt. Sie sah, wie sich ihre Silhouette auf dem Waldboden
            vor ihr abzeichnete. Die Schritte hinter ihr wurden lauter.
               Er holt auf.
               Aber noch konnte sie entkommen. Gleich gelangte sie an einen
            ihrer vielen Geheimplätze. Wenn sie nur schnell genug hinter der
            nächsten Biegung verschwand, sich fallen ließ und dann gleich
            links im Dickicht verkroch, würde er sie niemals finden. In der
            Kindheit war das ihr bestes Versteck gewesen.
               Ob ich überhaupt noch reinpasse? Vielleicht ist es längst zu-
            gewachsen!
               Sie verbot sich jeden Zweifel und lief, so schnell sie konnte.
            Noch zehn Meter … noch fünf …
               Geschafft!, dachte sie noch.
               Und dann ging alles ganz schnell. Sie wusste, dass sie eben
            noch gerannt war und jetzt ausgestreckt dalag, dass sie mit dem
            Gesicht voran auf dem Waldboden aufgeschlagen war, ohne
            sich mit den Händen schützen zu können. Nur das Dazwischen
            fehlte. War sie gestolpert? Aber worüber? Hier gab es keine ho-
            hen Wurzeln. Was konnte sonst noch so scharf, so unnachgiebig,
            so unvorhersehbar gemein sein?
               Ein gespannter Draht?
               Was immer es gewesen war, es hatte sie ihrem Verfolger aus-

                                                                         15

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geliefert. Sie wurde gepackt und brutal in die Höhe gerissen,
              schmeckte das Blut, das warm über ihr Gesicht lief. Sie wollte es
              mit der Hand abwischen, aber ihre Hände gehorchten ihr nicht.
              Völlig benommen spürte sie, wie sie ins Unterholz gezerrt wurde,
              weiter und weiter. Gestrüpp streifte an ihrem nackten Körper
              entlang. Der Wald war hier so dicht, dass man selbst bei Tages-
              licht kaum zwei Meter weit sehen konnte, das wusste sie. Ein
              Dornenzweig verhakte sich in ihrer Seite und riss ihr die Haut
              auf. Sie stöhnte.
                 »Hier!«, zischte jemand.
                 Sie spürte die spröde Rinde eines Baums an ihrem Rücken.
              Ihre Arme wurden nach hinten gezogen und mit schnellen, kräf-
              tigen Bewegungen zusammengebunden.
                 »Bitte nicht«, flehte sie. Die eigenen Worte klangen merkwür-
              dig verwaschen. Da war Blut in ihrem Mund. Etwas stimmte
              nicht mit ihren Zähnen. Sie fuhr mit der Zunge darüber. Meh-
              rere Schneidezähne waren ausgeschlagen. Sie hatte es gar nicht
              gespürt.
                 »Bitte nicht«, wiederholte sie, schloss die Augen und fing an
              zu weinen. Was mochte ihr Verfolger wollen? War er ein Sexual-
              straftäter, ein Perverser, der sie beim Nacktbaden beobachtet
              hatte? Und warum war da noch jemand? Wollten sie etwa ge-
              meinsam über sie herfallen? Aber so zugerichtet, wie sie war,
              musste ihnen doch jede Lust vergehen.
                 Als sie eine Hand an ihrer Schulter fühlte, beschloss sie, dass
              sie sich nicht wehren würde. Sollten sie ihren Körper nehmen.
              Ihren Geist bekämen sie nicht. Sie würde das hier überleben,
              so schlimm es auch werden mochte. Und eines Tages würde sie
              die Gelegenheit haben, sich an ihnen zu rächen. Ja, das würde
              sie. Sie würde sie finden und sich rächen. Der Gedanke gab ihr
              Kraft.

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»Da ist es«, hörte sie eine Männerstimme mit italienischem
            Akzent sagen. »Das Mal. Siehst du?«
               Das Mal?
               »Ja!«, antwortete eine Frau.
               Die beiden gaben sich keine Mühe, ihre Stimmen zu verstellen.
            Sie ahnte, dass das kein gutes Zeichen war.
               Sie zwang sich, die Augen zu öffnen. Blut und Tränen mach-
            ten es ihr fast unmöglich, etwas zu erkennen. Dennoch sah sie
            die Umrisse zweier Gestalten, direkt vor ihr, in bläuliches Licht
            getaucht, anders als das der Taschenlampe, beinahe violett. Oder
            spielten ihr die Sinne einen Streich?
               »Also, was sollen wir tun?«, fragte die Frau nahezu gleich-
            gültig.
               »Warte …«
               Sie fühlte eine Hand an ihrem Bauch. Die Finger drückten und
            zogen, fuhren über die Haut rund um ihren Nabel.
               »In der Mitte durch.«
               »Quer durch? Lass sehen … Mist, du hast recht.«
               Sie verstand nicht, wovon die zwei sprachen. Als sie den Kopf
            senkte, sah sie nichts als das seltsame blaue Licht. Und dann
            noch etwas: ein Leuchten. An ihrem Bauch. Sie erkannte nicht,
            was es darstellen sollte.
               Malen die mich gerade an? Ist das vielleicht doch alles nur
            ein … ein verdammt schlechter Scherz?
               Sie durfte sich nicht wehren. Musste das, was auch immer da
            passierte, über sich ergehen lassen. Konnte sich später rächen.
               »Los jetzt!«
               Eine rasiermesserscharfe Klinge drang in ihren Bauch ein. Der
            Schmerz raubte ihr den Atem. Sofort rann warmes Blut aus der
            Wunde, über den Unterbauch, über ihre Scham, die Beine hin-
            unter.

                                                                       17

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Die wollen mich schlachten.
                 Die Erkenntnis traf sie wie ein Hammerschlag. Sich nicht zu
              wehren, würde ihren sicheren Tod bedeuten. Sie riss an ihren Fes-
              seln, scheuerte daran, wehrte sich, zog ein Bein in die Höhe und
              trat aus, traf jemanden, wiederholte die Bewegung, aber dieses
              Mal fuhr ihr Fuß ins Leere.
                 »Dämliche Bitch!«, hörte sie die Frau schreien.
                 Jemand riss an ihren Haaren und drückte ihren Kopf mit Ge-
              walt gegen den Baum.
                 Sie spürte das Messer, links an ihrem Hals, spürte, wie es
              gegen ihre Haut drückte, bevor es tief durch ihre Kehle schnitt.
                 Mark, dachte sie noch.

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Samstag, 22. August

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2
                                  Wien, 18.11 Uhr
                                  Christian Brand,
                                  Einsatzkommando (EKO ) Cobra

            Brand kauerte hinter einer halbhohen Sitzbank aus Beton. Neben
            ihm lag die Tragetasche mit dem Geschenk, das er eben für die
            Hochzeit seiner Schwester Sylvia besorgt hatte, die in einer Wo-
            che stattfinden sollte.
               Er hörte Sirenen in den Seitenstraßen. Dazu nervös klingende,
            von Megafonen verstärkte Durchsagen: Bleiben Sie in den Häu-
            sern! Verlassen Sie die Straße! Die Kollegen waren gerade dabei,
            die Gegend weiträumig abzusperren.
               In der Mariahilfer Straße selbst herrschte angespannte Stille,
            immer wieder von Schüssen unterbrochen, die ein Amokläufer
            in alle Richtungen abfeuerte. Das Geräusch erinnerte an Peit-
            schenhiebe und schmerzte in den Ohren. Jemand schrie. Eine
            Frau ächzte.
               Brand wusste, dass er eingreifen musste. Er wusste auch, dass
            er sich damit über sämtliche Dienstvorschriften hinwegsetzte,
            nach denen er als Mitglied des österreichischen Einsatzkomman-
            dos Cobra zu handeln hatte. Doch es war die Lösung mit der
            höchsten Erfolgswahrscheinlichkeit. Zugegeben, auch die mit
            dem höchsten Risiko. Aber es gab keine andere Option. Außer-
            dem hatte er Feierabend. Und in seiner Freizeit konnte er tun,
            was er wollte.
               Ein Beamter ist immer im Dienst.

                                                                       21

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Brand verzog den Mund, als ihm die Worte seines Ausbilders
              in den Sinn kamen. Ein Polizeibeamter, ein Elite-Polizist wie er,
              hatte Vorbild zu sein. Und moderne Vorbilder hielten sich an
              Regeln.
                 Regeln retten keinen hier.
                 Er machte sich bereit. Er wusste, dass der Mann, der hier in
              der Fußgängerzone auf Höhe der Zollergasse Angst und Schre-
              cken verbreitete, mit seinem Leben abgeschlossen hatte. Und er
              wusste, dass die Überlebenswahrscheinlichkeit des Kerls auch im
              gegenteiligen Fall unter fünfzig Prozent lag. Entweder erschoss
              er sich am Ende selbst, oder ein anderer tat ihm den Gefallen.
              Aber einen Wahnsinnigen mit gezielten Schüssen auszuschalten,
              war schwerer, als es in der Grundausbildung der österreichischen
              Polizei aussah. Wenn, dann musste man es so machen, dass der
              andere garantiert nicht mehr aufstand. Und die Skrupellosigkeit,
              die man brauchte, um auf den Kopf eines Menschen zu zielen
              und abzudrücken, besaßen Streifenpolizisten bestimmt nicht.
                 Brand rannte los, gut zehn Meter, ohne ein Geräusch zu ma-
              chen, und ließ sich hinter den nächsten großen Blumentrog aus
              Beton fallen, bevor der andere auch nur die geringste Chance
              hatte, ihn zu bemerken.
                 Er spähte am Blumentrog vorbei. Der Amokläufer war schwer
              bewaffnet: zwei Pistolen, eine Automatikwaffe und jede Menge
              Magazine. Dazu trug er schusssichere Kleidung an Oberkörper
              und Beinen sowie einen gepanzerten Helm. Er sah aus, als wäre
              er auf direktem Weg in den Krieg.
                 Bestimmt stand er unter Drogen. Brand tippte auf Metham-
              phetamin. Crystal Meth. Das war das Zeug, das Menschen
              dazu bringen konnte, sich die eigenen Genitalien abzuschnei-
              den, weil sie sie im Rausch für Fremdkörper hielten. Oder – was
              zum Glück viel öfter vorkam und sozial weitaus verträglicher

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war – drei Tage und Nächte lang durchzuvögeln. Unter Meth
            konnte ein Mensch zum Pitbull werden, der im Blutrausch so
            lange kämpfte, bis gar nichts mehr ging. Eine Kugel würde ihn
            nicht aufhalten können, es sei denn, sie drang ihm direkt in den
            Schädel und verquirlte sein Gehirn. Und genau deshalb war die
            Situation so gefährlich. Es war nur natürlich, dass die Kollegen
            diesem Pitbull hier lieber in die Beine schossen als in den Kopf.
            So natürlich wie tödlich.
               Vier Menschen lagen im Umkreis von geschätzt dreißig Me-
            tern am Boden. Der Mann im Anzug war tot. Eine Kugel hatte
            seine Halsschlagader erwischt. Ein Taxifahrer hing halb im Gurt
            seines Mercedes-SUV . Auch er war tödlich verwundet. Der Mo-
            tor lief, die Fahrertür stand offen, die Füße des Toten hingen
            raus. Ob er vergessen hatte, sich abzuschnallen, bevor er die
            Flucht antrat, war schwer zu sagen. So oder so musste der Mann
            wahnsinniges Pech gehabt haben. Wie alle hier. Falsche Zeit, fal-
            scher Ort. Die beiden anderen Opfer – eine Frau mit Stock und
            eine weitere, wesentlich jüngere, die mit dem Fahrrad unterwegs
            gewesen war, das jetzt unter ihr lag – waren vielleicht noch zu
            retten. Brand sah, dass sie atmeten. Aber sie brauchten Hilfe, und
            zwar so schnell es ging.
               Brand war unbewaffnet und würde es auch bleiben. Bis er den
            Kollegen erklärt hätte, wer er war und was er vorhatte, wäre es
            vielleicht zu spät. Außerdem würde keiner von ihnen so leicht­
            sinnig sein, ihm seine Glock auszuhändigen. Die eigene Waffe
            lieh man niemandem.
               Brand hörte neue Einsatzwagen kommen. Das Blaulichtmeer,
            das gegen die Häuserwände der Seitenstraßen brandete, wurde
            greller. Nichts deutete auf ein schnelles Ende hin. Vielmehr war
            das hier erst der Anfang. Garantiert warteten alle in sicherem Ab-
            stand auf das Eintreffen der Kollegen von der Cobra. ­Schließlich

                                                                        23

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waren sie für kritische Situationen wie diese ausgebildet und aus-
              gerüstet. Aber selbst unter besten Verhältnissen brauchte die Be-
              reitschaft noch mindestens fünf Minuten. Fünf Minuten zu viel.
              Und dann musste zuerst ein Überblick gewonnen, der Einsatz ab-
              gewogen und koordiniert werden …
                 Brand hatte diesen Überblick bereits. Und abzuwägen und zu
              koordinieren hatte er bloß mit sich selbst. Eine Win-win-Situation
              für alle, ihn vielleicht ausgenommen. Das klang doch rational.
                 Als sich der Amokläufer umdrehte und mit ausgestreckter
              Schusshand auf ihn zukam, duckte sich Brand schnell hinter
              den Blumentrog. Er hörte Schüsse. Kugeln schlugen in Häuser-
              mauern ein oder trafen auf Glas. Worauf der Dummkopf gerade
              zielte, konnte sich Brand nicht erklären. Vielleicht halluzinierte
              er? Egal. Bestimmt würde er gleich wieder abbiegen und auf ein
              anderes Ziel zusteuern. Er bewegte sich wie einer dieser Staub-
              sauger-Roboter, die nach dem Zufallsprinzip arbeiteten. War un-
              berechenbar. Irrational. Und genau das war seine Schwäche. Frü-
              her oder später lief dieser Roboter in sein Verderben.
                 Brand wartete fünf Sekunden, dann spähte er wieder über
              seine Deckung. Wie erwartet, bewegte sich der Attentäter von
              ihm fort.
                 Jetzt!, sagte er sich, stand auf und lief die letzten Meter zum
              Taxi, so schnell und so leise er konnte. Er beugte sich über den
              toten Fahrer hinweg ins Fahrzeuginnere des Geländewagens,
              löste den Gurt und zog den Mann heraus. Nur einen Moment
              später saß er hinterm Steuer und stellte den Wählhebel der Auto-
              matik auf Drive.
                 Der Amokläufer bewegte sich immer noch von Brand weg.
              Jetzt zielte er auf einen Mann, der sich viel zu auffällig hinter
              einer Litfaßsäule versteckte. Gleich gab es hier Opfer Nummer
              fünf.

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Jetzt oder nie.
               Brand drückte das Gaspedal durch. Der Mercedes beschleu-
            nigte. Brand überfuhr den Anzugträger mit der zerfetzten Hals-
            schlagader, der das Pech hatte, genau zwischen dem Wagen und
            dem Ende dieses Amoklaufs zu liegen. Ein kurzer Hopser, mehr
            nicht.
               Er hätte es bestimmt verstanden.
               Viel zu spät bemerkte der Attentäter, dass etwas auf ihn zu-
            kam. Er drehte sich um. Legte an und zielte.
               Brand duckte sich nicht. Er nahm bloß die Hände vom Lenk-
            rad, um sie vor der Explosion des Airbags zu schützen.
               Einen Augenblick darauf erfasste der Geländewagen den
            Amokläufer und zermalmte ihn an der Litfaßsäule.

            Als Christian Brand gegen einundzwanzig Uhr in seiner Woh-
            nung in der Neubaugasse ankam, hatte seine Mutter schon drei-
            mal angerufen. Er wusste, dass sie Angst bekam, wenn sie zu
            lange nichts von ihm hörte. Beim letzten Besuch in Hallstatt hatte
            sie – seine Mutter! – ihm eines dieser modernen Handys schenken
            wollen, damit er sich bei WhatsApp registrieren und ihr texten
            konnte, wenn er nicht zum Telefonieren kam. Brand hatte Gän-
            sehaut bei der Vorstellung. Nicht, weil er ihr keine elektroni-
            schen Nachrichten hätte schreiben wollen, aber wenn er sich
            die Zombies seiner Generation ansah, die mehr in ihren Smart-
            phones steckten als sonst wo, wusste er, dass er sich dagegen
            wehren würde, solange es ging. Wenn etwas mitzuteilen war,
            ging das bestimmt auch über sein altes Nokia.
               Brand beschloss, später zurückzurufen, und atmete tief durch.
            Im Dachgeschoss staute sich die Hitze. Lüften war längst aus-
            sichtslos geworden. Auf dem Weg ins Badezimmer zog er sich
            aus, stellte sich unter die Dusche, stellte den Mischhebel auf ganz

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kalt, doch das Wasser lief nur lauwarm an ihm hinab. Gar nichts
              wurde mehr kalt bei dieser Hitzewelle.
                 Er hatte Nackenschmerzen, aber nicht stark genug für ein
              Schmerzmittel. Den medizinischen Check nach dem Einsatz
              hatte er abgelehnt. Er wollte schnellstmöglich nach Hause, doch
              die Kollegen vom Landeskriminalamt hatten noch tausend Fra-
              gen gehabt. Ob er sich ausweisen könne, war noch die harmlo-
              seste gewesen. Ob er den Mann absichtlich umgefahren habe,
              die dümmste. Oberst Hinteregger, sein Vorgesetzter, hatte den
              Spuk dann beendet – besser gesagt: auf den nächsten Tag ver-
              schoben.
                 Brand stieg aus der Dusche und blieb nass im Bad stehen. Er
              spürte die Verdunstungskälte auf der Haut. Sonst nichts. Dabei
              sollte, nein: musste ein Mensch in seiner Situation doch etwas
              empfinden. Aber es war, als löschten sich die Genugtuung über
              den gestoppten Amokläufer und der Ärger über das eingegan-
              gene Risiko gegenseitig aus. Sein Verhalten würde ein Nachspiel
              haben. Nicht nur im Dienst, auch in seinem Kopf. Ganz beson-
              ders in seinen Träumen. Das war ihm schon klar gewesen, bevor
              er den Plan mit dem Taxi gefasst hatte.
                 Schneller als erhofft, war das Wasser verdunstet und die Hitze
              in seinen Körper zurückgekehrt. Er zog die Boxershorts an, in
              denen er üblicherweise schlief. Jedes weitere Kleidungsstück
              wäre eines zu viel gewesen. Im Restlicht der Dämmerung ging
              er ins Wohnzimmer, das er zu seinem Atelier umfunktioniert
              hatte. Mehrere Leinwände lagen auf dem Boden oder standen
              irgendwo angelehnt, Farbtuben, Kohlestifte und eingetrocknete
              Pinsel waren überall verstreut. Eine halb volle Flasche Jack Da-
              niels stand neben einem benutzten Glas auf dem Couchtisch. Er
              goss sich etwas Whiskey ein und trank. Dann rief er zu Hause
              an.

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»Mein Gott, Chris, ich hab mir solche Sorgen gemacht! Wo
            warst du?«, rief seine Mutter aufgeregt.
               »Hallo, Mum … ich hatte noch zu tun.«
               »Du klingst komisch. Was ist passiert?«
               Er schluckte. Wieso merkte sie es immer? »Nein, alles gut.«
               »Was war denn los? Was hast du gemacht?«
               Die Fragerei nervte ihn. »Ich hab das Hochzeitsgeschenk für
            Sylvia besorgt.«
               Sie atmete schwer. »Chris, hast du denn noch gar nichts von
            dem Attentäter in der Mariahilfer Straße gehört? In den Nach-
            richten haben sie vermummte Cobra-Beamte gezeigt. Warst du
            etwa einer davon?«
               »Ach so, das. Nein, das war nach meiner Schicht. Aber jetzt
            ist es ja eh vorbei.«
               »Weil so ein Taxifahrer ihn mit seinem Auto zerquetscht hat.
            Sie sagen, er sei ein Held.«
               »Hm.« Brand nahm einen weiteren Schluck. Der Alkohol
            brannte in seiner Kehle. Meistens brauchte er den Whiskey nur
            nach üppigem Essen. Heute würde er ihm helfen müssen, die Bil-
            der in seinem Kopf zu verdauen.
               Er hatte das Richtige getan. Manchmal war das Richtige in
            den Augen der anderen falsch. Brand musste unbedingt verhin-
            dern, dass Mum von seiner Aktion erfuhr. Er hatte ihr auch von
            den anderen Toten nichts erzählt.
               »Wie geht’s Sylvia?«, fragte er, um sie abzulenken, und dachte
            an die Tragetasche mit dem Geschenk, die er nach dem Einsatz
            nicht mehr hatte finden können. Irgendwer musste sie mitgenom-
            men haben.
               »Sie ist aufgeregt. Stell dir vor, die Musikkapelle rückt aus, ex-
            tra für sie. Ist das nicht großartig?«
               »Hm«, machte er wieder. Es war ja wirklich schön, dass seine

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Schwester ihr Glück gefunden hatte, aber meistens führte das
              Thema schnell zu ihm und seinem eigenen Beziehungsstatus oder
              gar zu Enkelkindern, und das gefiel ihm gar nicht.
                 »Wann kommst du?«
                 Er war sich sicher, dass er ihr das bereits gesagt hatte, doch be-
              stimmt schwirrte ihr der Kopf vor lauter Hochzeitsvorbereitun-
              gen. Ȇbermorgen, gleich mit dem ersten Zug. Kannst du mich
              vom Bahnhof abholen?«
                 »Ruf an, wenn du Verspätung hast.«
                 »Klar.«
                 »Ach, warte, das weißt du ja noch gar nicht, hör zu …«
                 Sie erzählte ihm von seiner Cousine, die ein ziemliches Frücht-
              chen war und angeblich irgendwas Verrücktes für die Hochzeits-
              feier plante, was man ihr unbedingt ausreden musste. Brands
              Gedanken drifteten ab. Vor seinen Augen waren da noch die Be-
              tonsäule, der erschlaffte Airbag …
                 Die zerquetschte Leiche.
                 Wurde man von einem tonnenschweren SUV an eine Litfaßsäule
              genagelt, nützte einem der beste Kampfanzug nichts mehr. Lebens-
              wichtige Körperteile wurden auf einen Bruchteil dessen kompri-
              miert, was noch als zu retten eingestuft wurde. »Polytrauma«
              lautete der sterile medizinische Fachausdruck, der dem Anblick
              des Toten nicht im Mindesten gerecht wurde. Die neuen Bilder
              im Kopf gesellten sich zu den alten. Zu Wasserleichen, Bahnto-
              ten, halb verwesten Alten und Selbstmördern, die sich das Gehirn
              rausgeschossen hatten. Brand wusste, dass er sich allen Sinnesein-
              drücken stellen musste. Ekel und Abscheu durften seine Einsatzfä-
              higkeit nicht beeinflussen. Dass ihn die Toten manchmal in seinen
              Träumen heimsuchten, musste keiner wissen. Auch dass es nach
              einem Tag wie heute unmöglich war, ohne Alkohol und seine Ma-
              lerei erholsamen Schlaf zu finden, ging niemanden etwas an.

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Brand schloss die Augen und sah den Amokläufer wieder vor
            sich. Sein Kopf war in Ordnung, der Gesichtsausdruck fast fried-
            lich, aber von der Brust abwärts war da nur noch dieser Brei aus
            Knochen, Blut, Fleisch und Innereien.
               »Wie findest du das?«
               Er schreckte auf. Was hatte sie gesagt? »Äh … ich find’s gut!«,
            versuchte er sein Glück.
               »Du findest es gut? Chris, hast du Fieber?«
               »Mum, hör zu, ich bin total erledigt.«
               »Du hast mir nicht zugehört«, empörte sie sich.
               »Tut mir leid. Ich komme übermorgen für zwei Tage nach
            Hause, und dann reden wir. Gut?«
               Wenige Momente später hüllte Brand wieder die Stille seiner
            Wohnung ein. Er legte das Handy weg, ließ sich auf die Couch
            fallen und starrte an die dunkle Zimmerdecke.
               Seine Mutter meinte es nicht böse, aber sie nervte. Brand
            wusste, dass es ihr sehnlichster Wunsch war, ihren Sohn als Dorf-
            polizist in den engen Gassen seines Heimatorts Hallstatt zu se-
            hen, wo er dafür sorgte, dass sich die Horden chinesischer Tou-
            risten nicht gegenseitig auf die Füße stiegen. Wenn er dann noch
            eine Einheimische heiratete und viele Kinder bekam, war er fer-
            tig, ihr Traum von seinem Leben. Für ihn dagegen war es keine
            Option, als einfacher Polizist am Hallstätter See zu arbeiten,
            tage-, wochen-, monate-, nein jahrelang immer das Gleiche zu
            erleben, bis sein Körper irgendwann in der Hallstätter Erde ver-
            rottete. Brand war glücklich in Wien. Er hatte Freunde hier, hin
            und wieder eine Kurzzeitfreundin, aber die Richtige war bisher
            nicht dabei gewesen. Was machte das schon? Er war neunund-
            zwanzig. Kein Grund für irgendwen, in Panik zu geraten.
               Er stand auf und suchte eine leere Leinwand, fand aber keine.
            Also musste ein Bild herhalten, das er ohnehin nicht leiden

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konnte, von damals, als er sich als Landschaftsmaler versucht
              hatte, um diese Kiki zu beeindrucken. Ein Motiv aus dem Natio-
              nalpark Donau-Auen. Grün in Grün, harmonisch, hoffnungsvoll,
              beruhigend. Schrecklich. Kiki hatte es gemocht. Doch bevor er
              es ihr hätte schenken können, hatte sie ihn abserviert. Ein Grund
              mehr, es aus der Welt zu schaffen.
                 Er nahm eine Farbwalze und öffnete eine Dose Schwarz.
              Schwarz war die richtige Grundierung für das Motiv, das er aus
              seinem Kopf bringen musste. Mit schnellen Bewegungen rollte er
              die Walze über die Donau-Auen. Es fühlte sich gut an.

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3
                                  Hamburg, 22.55 Uhr
                                  Mavie Nauenstein,
                                  Schülerin

            Mavie hatte sich entschieden. Sie würde es tun.
               Sie setzte sich auf den Fenstersims in ihrem Zimmer, win-
            kelte die Beine an, duckte sich unter dem Fenstersturz durch und
            streckte die Beine in den Abgrund. Dann drehte sie sich um und
            tastete mit den Füßen nach einem Halt, während sie sich mit einer
            Hand an den Fenstersims klammerte. In der anderen hielt sie das
            Geschenk. Ihr rechter Fuß fand die Strebe des Blitzableiters.
               Geschickt griff sie in die Dunkelheit, packte die Metallleitung
            und kletterte Strebe für Strebe abwärts, bis sie das kleine Vor-
            dach erreichte. Dort ging sie in die Knie und tastete nach dem
            Fallrohr, das von der Regenrinne senkrecht in die Tiefe führte.
            Mavie warf das Päckchen ins weiche Gras, umfasste das Rohr
            mit beiden Händen, ließ sich daran zwei Meter nach unten rut-
            schen und sprang. Fast lautlos landete sie auf dem weichen Ra-
            sen vor der Nauenstein’schen Villa am Harvestehuder Weg und
            kauerte sich hin.
               Das kann keiner bemerkt haben.
               Sie war im blinden Bereich der Überwachungskameras, leiser
            als jeder Einbrecher. Sie hatte das schon oft so gemacht. Aber
            noch nie um diese Uhrzeit.
               Das Geschenk war unversehrt geblieben. Mavie hob es auf,
            schlich in die Deckung der Büsche, die die Einfahrt säumten,

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und wartete wieder. Wenn Vater sie jetzt erwischte, würde die
              Strafe vielleicht nicht ganz so hart ausfallen. Sie konnte sich im-
              mer noch eine Ausrede einfallen lassen. Zum Beispiel, dass ihr
              etwas aus dem Fenster gefallen war und sie es schnell wiederho-
              len wollte, ohne Lärm zu machen.
                 Sie dachte nach. Nein, das nützt gar nichts.
                 Er hatte ihr ausdrücklich verboten, jemals wieder die Fassade
              hinabzuklettern. Es reichte schon viel weniger, manchmal gar
              nichts, damit er seinen Spazierstock holte. Vergangene Woche
              erst hatte sie beim Abspülen Mist gebaut. Sie hatte eine seiner
              Lieblingstassen zerbrochen, und er hatte sie dafür geschlagen. Er
              meine es nur gut, hatte er behauptet. Wie so oft. Aber wenn er
              sie jetzt beim Ausbüxen erwischte, würde es richtig wehtun. Viel-
              leicht so wie vergangenes Jahr, nach ihrem Weinkrampf, weil sich
              ihre Eltern auf der Rückfahrt aus Italien so böse gestritten hat-
              ten, dass sogar das Wort »Scheidung« gefallen war. Mavie war
              derart verzweifelt gewesen, dass sie nicht mehr aufhören konnte
              zu weinen. An einer Tankstelle in Südtirol war eine Polizeistreife
              auf ihr Schluchzen aufmerksam geworden und hatte sich von Va-
              ter die Ausweispapiere zeigen lassen. Weder er noch Mutter hat-
              ten bis Hamburg ein einziges Wort mit ihr gesprochen. Als sie zu
              Hause angekommen waren, hatte sie solche Prügel bekommen,
              dass sie drei Tage lang nicht mehr …
                 Nicht daran denken.
                 Aber sie wollte, nein, sie musste das Risiko eingehen. Heute
              musste sie tun, was sie für richtig hielt. Egal, was morgen kam.
                 Sie hatte Schmetterlinge im Bauch.
                 Sie dachte an Silas, an sein süßes Lächeln, das Kinngrübchen,
              den selbstsicheren Gang. Und daran, wie er sie vor zwei Wochen
              zur Geburtstagsparty in seiner Wohnung eingeladen hatte. Einfach
              so. Sie, die noch auf keiner einzigen richtigen Party gewesen war.

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Er mag mich.
               Seit der Einladung trug sie ein Gefühl in sich, das jedes an-
            dere überstrahlte, das größer war als jede Konsequenz. Ja, er
            mochte sie. Ganz bestimmt. Und selbst wenn andere sie deshalb
            für dumm halten würden, wusste sie: Diese Party war ihre große
            Chance.
               Mavie hatte zwei Mitschülerinnen dabei belauscht, wie sie
            sich über Silas unterhalten hatten. Er lebe bei seiner Mutter, in
            einer riesigen Wohnung am Rübenkamp, und sei abends oft al-
            lein. Sein Vater sei abgehauen, und deshalb müsse seine Mutter
            die Brötchen nachts auf Pauli verdienen. Mavie konnte nur hof-
            fen, dass es nicht das war, wonach es im ersten Moment klang.
               Silas war schon achtzehn und somit der Klassenälteste. Er war
            einmal sitzen geblieben und seit zwei Jahren in ihrer Klasse. Sein
            Leben hörte sich unglaublich aufregend an, und der Gedanke, bei
            ihm zu sein, mit ihm zu sein, von ihm beschützt zu werden, war
            so verwegen, dass sie ihn kaum zu denken wagte.
               Ich brauche ihn.
               Er würde ihr aus ihrem bisherigen Leben heraushelfen, das so
            wenig Freude und so viel Schmerz brachte. Sie malte sich aus,
            wie es an seiner Seite sein würde. Sogar an eine gemeinsame Fa-
            milie hatte sie schon gedacht, irgendwann in ferner Zukunft. Er
            würde ihr nicht wehtun. Ihr nicht und Kindern schon gar nicht.
               Sie hatte das Geschenk für ihn mit dem Geld gekauft, das sie
            sich nicht bloß sprichwörtlich vom Mund abgespart hatte. Ganze
            zehn Tage lang hatte sie in der Schule aufs Mittagessen verzichtet.
            Das hatte ihr fünfzig Euro verschafft, von denen ihre Eltern nichts
            wussten. Sie hatte Silas’ Geschenk in ihr Zimmer geschmuggelt
            und das Geschenkpapier heimlich aus Mutters Sachen genommen,
            hatte das Papier so gerade wie möglich vom Bogen abgeschnitten,
            damit sie nicht merkte, dass etwas fehlte. All das war sehr aufre-

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gend gewesen. Aufregend und gefährlich zugleich. Denn Mutter
              hasste es, wenn man in ihren Sachen stöberte.
                 Mavie fühlte, dass es richtig war. Es war, als hätte Silas’ Ein-
              ladung eine kleine Flamme in ihrem Inneren entfacht. Sie ahnte,
              dass daraus ein Feuer werden konnte. Und sie würde es zulassen.
                 Zuerst aber musste sie zur Party kommen. Zum Rübenkamp
              brauchte man zu Fuß über eine Stunde. Dann wäre alles viel-
              leicht schon vorbei. Also hatte sie sich eine viel bessere Möglich-
              keit ausgedacht.
                 Sie verharrte in der Deckung der Büsche und konzentrierte
              sich ganz auf ihre Sinne. Über ihr leuchtete der Vollmond. Sanf-
              ter Wind strich um ihren Körper, immer noch warm, obwohl es
              schon nach elf war. So lange hatte sie warten müssen, bis sie si-
              cher sein konnte, dass ihre Eltern schliefen und kein weiteres Mal
              nachschauen kamen, ob es ihrer Tochter auch gut ging. Sie mach-
              ten sich solche Sorgen um sie. Immer schon.
                 Irgendwann sprang sie auf und lief zum Einfahrtstor. Sie
              konnte nicht einfach hindurchspazieren, weil hier eine Kamera
              hing, aber an der Seite ging es. Mit ihrem Talent fürs Klettern fiel
              es ihr leicht, auf die Mauer zu gelangen und sich an einem Ver-
              kehrsschild auf die Straße hinabgleiten zu lassen.
                 Bei den Nachbarn war alles dunkel. Nicht, dass die von
              Nauen­steins mit ihrer Nachbarschaft verkehrt hätten. Aber wenn
              jemand sie hier draußen sah, rief er vielleicht die Polizei, und der
              Effekt wäre derselbe, als würde er sie direkt bei Vater verpetzen.
                 Sie ging los. Die ersten zehn Meter noch auf Zehenspitzen, bald
              aber mit jedem Schritt selbstsicherer, bis sie anfing zu laufen, und
              als sie endgültig außer Hörweite der Nachbarschaft war, schon
              an der Hochschule für Musik und Theater vorbei, musste sie la-
              chen, laut lachen. Sie rannte schneller, fühlte den warmen Wind
              im Gesicht und erreichte die Baustelle, an deren Zaun sie ihr Ge-

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heimfahrrad festgemacht hatte. Niemand durfte wissen, dass es
            ihr gehörte. Und niemand konnte es wissen. Sie hatte es gefunden
            und sich von den zwanzig Euro, die nach dem Kauf von Silas’ Ge-
            schenk übrig waren, nicht nur ein Zahlenschloss, sondern auch
            zerrissene Hotpants und ein schwarzes, enges Spaghettiträger-Top
            besorgt. Die Klamotten hatte sie anschließend in einer unschein-
            baren Plastiktüte beim Fahrrad versteckt. Jetzt zog sie die Sachen
            heraus, streifte ihre Jogginghose ab und schlüpfte in die Pants. Ihre
            nackten Beine glänzten im Mondlicht. Dann kam das Top dran.
            Es war wirklich knapp, verdeckte aber gerade noch die Brand-
            narbe an ihrem Rücken. Mavie sah stolz an sich hinab. Sie war
            schlank, ihr Körper wohlproportioniert. In diesem Aufzug, den
            Vater und Mutter niemals toleriert hätten, würde sie auf der Party
            garantiert der Hingucker sein. Schon das Anprobieren der Sachen
            in einer KiK-Filiale in der Baumeisterstraße war ein besonderes
            Erlebnis gewesen. Als hätte ihr dort aus dem Spiegel ein ganz an-
            derer Mensch entgegengeblickt. Ein Mädchen, das selbst entschei-
            den konnte, was es wollte. Ein Mädchen, das eine Zukunft hatte.
               Der Gedanke, so viele Geheimnisse vor ihren Eltern zu haben,
            war prickelnd, geradezu erregend. Aber an diesem Abend würde
            sie, nein: musste sie noch viel weiter gehen.
               Sie sprang aufs Rad und trat in die Pedale. Schnell war sie an
            der großen Hundewiese vorbei. Ihre langen braunen Haare, die
            sie am Hinterkopf zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden
            hatte, strichen über ihre Schultern. Rechts von ihr glitzerte die
            Außenalster. Mavie schaltete in den nächsthöheren Gang. Ein
            einzelner Fußgänger war auf dem Gehweg unterwegs, aber der
            hatte nur Augen für seinen Hund. So oder so hätte sie niemand
            in diesem Aufzug erkannt. An der ägyptischen Botschaft ging es
            scharf rechts vorbei, über die Alster und gleich links in eine Fahr-
            radstraße hinein.

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Mavie kannte die Strecke genau. Das hier war ihr täglicher
              Schulweg, den sie so oft wie möglich mit dem Fahrrad nahm.
              Ihrem offiziellen Fahrrad, das jetzt zu Hause in der Garage stand.
              Mit dem hier war es ungleich schwerer, voranzukommen. Das
              Hinterrad lief nicht mehr rund, die Kette schleifte, dazu sprang
              immer wieder der Gang um. Trotzdem war es toll. Vielleicht,
              weil der schäbige Drahtesel das Erste war, über das sie – und nur
              sie – bestimmen konnte, wie sie wollte. Sie liebte das Gefühl.
                 Genau wie sie es liebte, verbotene Sachen zu tun. Schon im-
              mer. Egal, wie sehr Vater und Mutter sie bestraften – da war et-
              was tief in ihr, das sie antrieb, Grenzen zu überschreiten. Fast
              konnte sie ihre Eltern verstehen, wenn sie langsam an ihr ver-
              zweifelten. Aber Mavie konnte nicht anders.
                 Weil der Teufel in mir steckt.
                 Zumindest behauptete das ihre Mutter, wenn sie sich gar nicht
              mehr zu helfen wusste. Aber das war Unsinn. Mavie war über-
              zeugt, dass es den Teufel gar nicht gab. Jedenfalls nicht als ge-
              hörntes Wesen mit Bocksfuß, der in einen fahren und dazu ver-
              leiten konnte, Böses zu tun, wie Mutter ihr weismachen wollte.
              Der Teufel – das waren die schlimmen Sachen, die die Menschen
              anstellten, für die sie ganz allein verantwortlich waren, und nicht
              irgendein geheimnisvolles Wesen.
                 Mavie hatte es immer schon schwer gefunden, Mutters Ge-
              danken nachzuvollziehen. Streng genommen glaubte sie nicht
              einmal an die Kirche, die sie so oft besuchen musste, weil Mut-
              ter es wollte. Manchmal hatte sie den Eindruck, dass auch Vater
              nicht freiwillig hinging. Aus seinem Mund hörte sie nie etwas,
              das mit Religiosität zu tun gehabt hätte. Im Gegenteil. Manch-
              mal, wenn Mutter nicht in der Nähe war, konnte er fluchen wie
              ein Kutscher. Dann fühlte Mavie sich ihm so viel näher als sonst.
                 »Hey!«, schrie jemand, der ohne zu gucken auf die Straße ge-

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treten war. Mavie bremste nicht. Stattdessen wich sie gekonnt
            aus und strampelte einfach weiter. Der Mann gab ihr noch ein
            paar Freundlichkeiten mit, aber sie war längst um die nächste
            Ecke gebogen, schon in der Maria-Louisen-Straße.
               Sie überfuhr eine rote Ampel und stellte sich vor, wie es sein
            würde, in Silas’ Wohnung zu kommen. Wie es dort wohl aussah?
            Und was würde er zu ihrem Geschenk sagen? Sie hatte sich so
            viel Mühe gegeben, etwas für ihn zu finden, aber plötzlich fürch-
            tete sie, dass es für einen Achtzehnjährigen zu albern sein könnte.
            Ob er es vor den anderen Gästen auspackte? Und dann? Würden
            sie sie auslachen?
               Sie wurde oft ausgelacht. Besonders wegen der Kleidung, die
            sie tragen musste. Oder wegen ihres adeligen Namens – sie hieß
            offiziell Mavie von Nauenstein –, was sie ja selbst lächerlich fand
            und was am Johanneum völlig deplatziert war. Vor drei Jahren
            hatte Vater sie in diese Schule gesteckt. Weil sie nicht folgen
            wolle, hatte er behauptet. Aber Mavie wusste, dass sich ihr Vater
            das Geld für die private Brecht-Schule nicht mehr leisten konnte.
            Sie hatte ein Telefonat mit seinem Bankberater belauscht, als er
            seine Kreditraten aufschieben wollte. Danach hatte Vater ge-
            weint. Sie war zu ihm gegangen, um ihn zu trösten, was ordent-
            lich nach hinten losgegangen war, denn in dem Augenblick, als
            sie ihm die Hand auf die Schulter gelegt hatte, war seine Traurig-
            keit in Wut umgeschlagen.
               Die Erinnerung an ihre Außenseiterrolle am Johanneum ver-
            setzte ihr einen Stich. Auch der Gedanke, die Party könne nur
            ein Trick sein, um sie vorzuführen, ließ sich nun nicht länger ver-
            drängen. Sollte sie wirklich hingehen? Am Ende warteten alle nur
            auf das Eintreffen der dummen Pute und lachten sie aus. Oder
            die Party fand gar nicht statt und sie stand vor verschlossenen
            Türen. Dabei wollte sie Silas vertrauen. So sehr.

                                                                         37

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Zu sehr?
                 Ihre Tritte verloren an Kraft. Jetzt merkte sie, dass sie schwitzte.
              Würde man es riechen? Daran hatte sie überhaupt nicht gedacht.
              Bestimmt würden sich alle die Nase zuhalten, wenn sie Silas’
              Wohnung betrat.
                 Sie überlegte, umzudrehen, und verbot es sich einen Moment
              später. Aber die Zweifel hatten sich längst festgesetzt.
                 Bei der Schule hielt sie an. Sie hätte sich ohrfeigen können. Da
              war sie nun, viel zu knapp bekleidet, und schwitzte wie blöd. Et-
              was nördlich der Schule, direkt vor ihr, lag der Stadtpark, den
              sie zwar schon oft besucht hatte, aber noch nie alleine und schon
              gar nicht bei Nacht.
                 Ziemlich unheimlich im Dunkeln.
                 Tränen stiegen ihr in die Augen. Jetzt fang bloß nicht an zu
              heulen, schalt sie sich innerlich, doch schon spürte sie, wie ihre
              Wangen nass wurden. Sie war froh, nicht geschminkt zu sein,
              denn dann hätte sie beim Eintreffen am Rübenkamp noch schlim-
              mer ausgesehen. Wenn sie denn jemals dort ankommen würde.
              Der Gedanke ans Umdrehen war jetzt mindestens genauso ver-
              lockend wie der, auf Silas’ Party zu gehen.
                 Ich fahre zurück, beschloss sie.
                 Im selben Moment hörte sie eine Männerstimme. »Hallo?«
                 Mavie drehte den Kopf zur Seite. Da stand ein Polizeiauto. Sie
              hatte es gar nicht kommen hören.
                 »Geht’s Ihnen gut?«, fragte der Beamte auf dem Beifahrersitz.
                 Als sie vor Schreck nicht gleich aus ihrer Starre fand, öffnete
              er die Tür und stieg aus.
                 Mavie konnte nur eines denken.
                 Vater schlägt mich tot.

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4
                                  Stuttgart, 23.01 Uhr
                                  Werner Krakauer,
                                  Journalist

            Krakauer saß an seinem PC . Er wusste instinktiv, dass er es ge-
            funden hatte. Das Puzzlestück, das ihm verriet, dass es dieses
            Puzzle tatsächlich gab.
              Während er den Artikel las, spürte er, wie er zu zittern begann.

                – Südtirol Online News –

                Mann ohne Arme irrte durch Waldstück

                Bozen. Es müssen grauenhafte Szenen gewesen sein, die sich Samstag
                früh im Bergdorf Kohlern oberhalb von Bozen zugetragen haben. Ein Pär-
                chen, das in den Wäldern kampiert hatte, wurde gegen sechs Uhr früh
                von Geräuschen aus dem Schlaf gerissen. Laut Richard R. (22) dachten er
                und seine Begleiterin zunächst an ein verwundetes Tier. Sie beschlossen
                nachzusehen und stießen nach kurzer Suche auf einen geknebelten Mann,
                der vor ihren Augen zusammenbrach. Es handelt sich um den ortsansäs-
                sigen Schmied Peter G. (30), dem beide Arme fehlten. Was genau sich zu-
                getragen hat, ist noch völlig unklar. Der Schwerstverletzte wurde im Zen-
                tralkrankenhaus Bozen sofort in den künstlichen Tiefschlaf versetzt. Die
                behandelnde Ärztin spricht von großem Glück, dass das Pärchen augen-
                blicklich die Rettungskette in Gang gesetzt und Erste Hilfe geleistet habe.

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