Leseprobe - medhochzwei Verlag

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Leseprobe - medhochzwei Verlag
ISBN 978-3-86216-792-0
                                                ISSN 1861-0102
                                     1 | 2021   D 15419
                             Januar //S. 1–48   18. Jahrgang

Case
Management
          Leseprobe
Schwerpunkt „Übergänge“

_Auf dem Weg aus der Haft in die Freiheit

_Übergang aus Arbeitslosigkeit in Arbeit

_Schnittstellenmanagement im Gesundheitswesen

_Integrierte Versorgung als Regelversorgung

_Care und Case Management in der Sozialmedi-
 zinischen Nachsorge

_Patientenportal als Instrument und Aufgabe
 des Case Managements

_Case Management auf Organisationsebene
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Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,
Homeoffice, Quarantäne, Ausgangssperre und das neue              schnell feststellen, dass der Übergang flüchtender Men-
Heft der Case Management grüßt Sie mit dem Motto                 schen mit den Grenzen anderer Systeme in Konflikt gerät.
„Übergänge“. Wenn man im Moment nach dem Befinden                Übergänge sind immer auch eine Gefahr für das Beste-
im Freundeskreis oder im Kollegium fragt, kann man               hende – und die gilt nicht nur innerhalb der Dimension des
sichergehen, dass die Antwort den kollektiven Shutdown           einzelnen Falles, sondern vor allem zwischen den ver-
aufgreift und zwischen Durchhalteparolen, Sarkasmus und          schiedenen, beteiligten Systemen. In vielen Fällen hat die
Resignation pendelt. Welche Rolle spielen Übergänge in           Ordnungsfunktion der Politik dazu geführt, dass die
der Zeit der Pandemie? Geht man davon aus, dass                  Übergänge flüchtender Menschen erschwert oder ver-
Übergänge längerfristige Prozesse darstellen, in deren           hindert wurden.
Verlauf wir Veränderungen mit positiven oder negativen
Auswirkungen erfahren, abhängig davon, ob die Bewälti-           In der Regel „schaffen wir das“ und unterstützen die
gung funktioniert oder nicht, dann befinden wir uns derzeit      Menschen dabei, die Übergänge so zu bewerkstelligen,
mitten in einem Übergang, der viele Ebenen unseres               dass die beteiligten Systeme nicht zu sehr beeinträchtigt
Lebens berührt. Übergänge müssen also keineswegs                 werden. Manchmal reagieren die Systeme aber auch unvor-
geplante, durch vorgegebene Strukturen festgelegte Ver-          hersehbar und auch gut geplante Übergänge führen zu
änderungen sein, wie z. B. der Wechsel vom Kindergarten          Konflikten, manchmal sogar zu Exzessen. Auch die Pandemie
in die Grundschule oder von der Arbeitslosigkeit in die          lehrt uns, wie Systeme reagieren, wenn sie unter Druck
Erwerbstätigkeit.                                                geraten. Man kann sich nicht ohne Weiteres darauf ver-
                                                                 lassen, dass die bestehenden Regeln und Ordnungen von
Obwohl in allen Transitionen Unsicherheit und Angst              allen anerkannt werden. Bestehende Referenzsysteme wer-
mitschweben, sind vorbereitete und von Entschlüssen              den mit ideologischem Eifer außer Kraft gesetzt und
geprägte Übergänge zunächst einigermaßen abschätzbar,            Kommunikation als Mittel zur Lösungssuche verliert an Wert.
wenngleich auch immer mit Krisen zu rechnen ist. Dieses
Abschätzbare wird aber durch verschiedene Momente                Was benötigt wird sind Mittel, mit denen Übergänge
reduziert. Je umfassender und zeitlich dringender die            innerhalb und zwischen den Systemebenen der Einzelnen,
Veränderung wird, umso mehr Lebensbereiche sind von              der Organisationen und der Politik gestaltet werden
Unsicherheit betroffen. Dies kann am Schicksal flüchtender       können. Case Management ist dabei natürlich kein Allheil-
Menschen aus einem Bürgerkriegsland vergegenwärtigt              mittel und schon gar nicht die Wundermedizin, vergleich-
werden. Begleitet man diese Menschen weiter, wird man            bar der mit Hoffnung überschütteten Impfstoffe. Aber Case
                                                                 Management mit seinen Leitprinzipien formuliert Hand-
                                                                 lungsansätze, die uns im Umgang mit den komplexen
                                                                 Übergangsverhältnissen Orientierung geben können: ad-
                                                                 vokatorische Moderation, die einen Austausch aufrecht-
                                                                 erhält und einseitige Deutungsansprüche relativiert, Go-
                                                                 vernance im Mix unterschiedlicher Systeme, Komplexität
                                                                 bewältigen statt vorschnell reduzieren, vorausschauende,
                                                                 nachhaltige und kreative Lösungen statt/im Anschluss an
                                                                 regelkonforme, günstige und schnelle Lösungen. Und bitte
                                                                 erlauben Sie mir eine letzte Pandemieanleihe: Ein einzel-
                                                                 ner Mensch kann dem System in der Regel nicht gefährlich
                                                                 werden … Es sei denn, er ist infiziert. Wie wichtig es ist,
                                                                 Einzelfälle in den Blick zu nehmen, hat uns die Kontakt-
                                                                 verfolgung gelehrt. Wir im Case Management wissen über
                                                                 die Bedeutung von Einzelfällen für die Systeme. Dazu
                                                                 leistet auch das aktuelle Heft der Case Management
                                                                 wertvolle Beiträge.

                                                        Prof. Dr. Michael Monzer

Case Management      1 | 2021
                                                                                                                        1
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Editorial

Wolfgang Wirth, den wir vom DGCC-Jahreskongress 2017           direkt aus der Fallarbeit im Übergang von Klinikversorgung
kennen, hat in seinem Artikel den derzeitigen Stand zur        zu häuslicher Versorgung bei Kindern und Jugendlichen in
vollzugsübergreifenden Zusammenarbeit beim Übergang            den über 90 Bunten Kreisen zügig zur Weiterentwicklung
von Haft in ein straffreies Leben aufbereitet, bei dem er      und Anpassung der Angebote zu nutzen. Vor allem in
Case Management als Mittel der Wahl in den Fokus               Pandemiezeiten könnten dringende Systemanpassungen,
weiterer Professionalisierung rückt. Michael Klassen und       die sich aus den abschließenden Fallevaluationen ergeben,
Sandra Maczurek haben den Übergang von Arbeitslosig-           zu spät kommen. Michael Monzer hat eine Reihe von
keit in Arbeit empirisch untersucht und evaluiert, wobei sie   Veröffentlichungen zum Thema Patientenportale und
sich an der psychosoziokulturellen Theorie menschlicher        Elektronische Patientenakte unter dem Aspekt analysiert,
Bedürfnisse von Werner Obrecht orientiert haben. Ihre          wie diese digitalen Instrumente für das Case Management
Ergebnisse machen deutlich, welche Faktoren in Förder-         genutzt werden könnten. Häufig benötigen vor allem
maßnahmen zum erfolgreichen Übergang beitragen.                ältere Menschen eine Unterstützung, bevor die ange-
Sibylle Bernstein lässt uns in ihrem Beitrag an einem          strebte Selbstverwaltung der eigenen Daten tatsächlich
Projekt zur sektorenübergreifenden Überleitung in Darm-        Vorteile bringt. Last but not least systematisiert Hugo
stadt teilhaben. Mit einer Portion von grenzenlosem            Mennemann seine profunden Kenntnisse bei der Imple-
Optimismus, Zuversicht und erfrischender Offenheit be-         mentierung von Case Management in Organisationen.
schreibt sie die Arbeit an den Schnittstellen zwischen         Dabei verweist er auf viele förderliche, aber auch
Krankenhaus und Pflege. Entstanden ist dabei ein Fahrplan,     hinderliche Konstellationen und gibt dafür hilfreiche
wie mit den vielfältigen Herausforderungen eines Case          Unterstützung. Wir dürfen gespannt sein auf seine
Management-orientierten Systemmanagements planend              zusammen mit Martin Klein verfassten und bald erschei-
und in Pandemiezeiten umgegangen werden kann. Tho-             nenden Bücher zum Case Management und der Netz-
mas Klie, zu dessen Netzwerk Helmut Hildebrandt, der           werkarbeit in der Betrieblichen Sozialen Arbeit.
Experte für integrierte Versorgung in Deutschland, gehört,
hat in seinem Beitrag die möglichen Übergänge der
Integrierten Versorgung zur Regelversorgung aufbereitet.
Er bezieht sich dabei auf ein Konzept, in dem Helmut
Hildebrandt die integrierte Versorgung als nachhaltige
Regelversorgung auf regionaler Ebene entwirft und kon-
kretisiert. Christiane Bader und Andreas Podeswik be-
schreiben in ihrem Beitrag die Notwenigkeit, Erkenntnisse      Michael Monzer

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Inhalt

              INHALT

                     Beiträge im SCHWERPUNKT

        2     Editorial                            26      Care und Case Management in der
              Michael Monzer                               Sozialmedizinischen Nachsorge
                                                           Christine Bader, Andreas Podeswik

        4     Übergänge: Professionelle
              Begleitung auf dem Weg               29      Das Patientenportal – ein Instru-
              aus der Haft in die Freiheit                 ment und eine Aufgabe des
              Wolfgang Wirth                               Case Managements in der
                                                           sektorübergreifenden
                                                           Gesundheitsversorgung
                                                           Michael Monzer
        9     Übergang aus Arbeitslosigkeit
              in Arbeit bedürfnisorientiert
              betrachten
              Michael Klassen, Sandra Maczurek      37     Case Management auf
                                                           Organisationsebene (Teil 2) –
                                                           Implementierungsvorschläge
                                                           Hugo Mennemann
       18     Schnittstellenmanagement
              im Gesundheitswesen – ein Projekt
              zur sektorenübergreifenden
              Überleitung in Darmstadt             47      Berichte und Termine DGCC,
              Sibylle Bernstein                            Netzwerk CM-Schweiz, ÖGCC

       24     Integrierte Versorgung als           48      Impressum
              Regelversorgung
              Thomas Klie

Case Management   1 | 2021
                                                                                               3
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Wolfgang Wirth

Übergänge: Professionelle Begleitung
auf dem Weg aus der Haft in die Freiheit
Die Diskussion zum Übergangsmanagement im und nach Strafvollzug hat Konjunktur. Klar ist, dass die ersten
Monate nach der Entlassung als Hochrisikozeit für den Rückfall (ehemaliger) Gefangener gelten müssen.
Weniger klar ist, dass die Gestaltung der Übergänge aus der Haft in ein straffreies Leben mehr verlangt, als die
klassische Entlassungsvorbereitung leisten kann. Erforderlich ist eine vollzugsübergreifende Zusammenarbeit,
der es gelingt, den Rückweg der Gefangenen in die Freiheit unterstützend zu begleiten und so den Rückfall in
die Straffälligkeit zu vermeiden. Die dabei zu leistenden Aufgaben sind komplex. Sie erfordern eine
fallbezogene Vernetzung individueller Integrationshilfen ebenso wie eine fallübergreifende Kooperation mit
vollzugsexternen Akteuren. Zur weiteren Professionalisierung der Eingliederungsarbeit ist das Handlungs-
konzept Case Management das „Mittel der Wahl“.

Vor etwa 10 Jahren schrieb Heribert Prantl in der                           falls helfend oder betreuend wirken soll. Alle anderen
Süddeutschen Zeitung einen bemerkenswerten Satz, der                        Haftentlassenen müssen ihren Weg in die Freiheit allein
seither in politischen Sonntagsreden, aber auch in wissen-                  finden.
schaftlichen Artikeln oft zitiert worden ist: „Morgen sind sie              Und genau das gelingt – unabhängig von einer Unterstüt-
wieder unsere Nachbarn“.1 Mit „sie“ waren Strafgefangene                    zung durch die genannten ambulanten Sozialen Dienste
gemeint. Davon gab es in deutschen Gefängnissen gemäß                       der Justiz – vielen ehemals Inhaftierten nicht. Tatsächlich
der letzten amtlichen Stichtagsdaten vom 31. März 2019                      werden fast zwei Drittel der zu einer unbedingten Jugend-
insgesamt 50.038 einschließlich 3.679 Gefangenen, die                       strafe Verurteilten im Verlauf von drei Jahren erneut
nach dem Jugendstrafrecht verurteilt worden waren.                          straffällig. Der Vergleichswert bei Erwachsenen liegt bei
Rechnet man Sicherungsverwahrte und Gefangene in                            etwa 45 %. Und nach Verbüßung einer Jugendstrafe wird
Untersuchungshaft oder in anderen Haftformen hinzu,                         ein Drittel bzw. nach einer Freiheitsstrafe im Erwachse-
waren 65.796 Personen inhaftiert.2                                          nenvollzug ein Viertel aufgrund der Schwere oder Häufig-
Manche – etwa Gefangene, die eine Ersatzfreiheitsstrafe zu                  keit des Rückfalls erneut inhaftiert.3 Dabei sind die jeweils
verbüßen haben – werden in der Regel nach wenigen                           höchsten Rückfallraten in den ersten Monaten nach der
Tagen oder Wochen wieder entlassen; vergleichsweise                         Entlassung zu verzeichnen – einer Hochrisikophase des
wenige erst nach fünf Jahren oder mehr. Das Gros der                        Übergangs, in dem folglich besondere Eingliederungshilfen
Strafgefangenen hat Haftstrafen von einem bis fünf Jahren                   und Nachsorgeleistungen gefordert sind. Wenn die aus-
zu verbüßen. Entsprechend lange „sitzen sie ein“. Es sei                    bleiben oder nicht bedarfsgerecht und erfolgreich erbracht
denn, ihre Entwicklung im Strafvollzug sowie die erwartete                  werden können, ist die Rückkehr in den Strafvollzug
Lebenssituation nach der Haft rechtfertigen die Annahme,                    oftmals vorprogrammiert.
dass sie keine weiteren Straftaten begehen werden. Dann
kann der Strafrest nach zwei Drittel, in Ausnahmefällen                     Ziele und Aufgaben des Strafvollzuges
auch nach der Hälfte der Zeit, zur Bewährung ausgesetzt
werden. Diese Haftentlassenen werden für eine Zeit von                      Nun ist es aber ausdrücklich Ziel des Strafvollzuges, die
zwei bis fünf Jahren der Bewährungshilfe unterstellt, die                   Strafgefangenen zur Vermeidung eines Rückfalles wir-
die (Wieder-)Eingliederung unterstützen, aber auch die                      kungsvoll zu behandeln und ihnen bei der Wiedereinglie-
Einhaltung etwaiger Bewährungsauflagen kontrollieren                        derung in das normale Leben zu helfen. In einem solchen,
soll. Bei sogenannten „Vollverbüßern“ oder „Endstrafern“                    auf die soziale (Wieder-)Eingliederung ausgerichteten
kann in Abhängigkeit von Straftat und Strafmaß eine                         Strafvollzug sollen die Gefangenen eine Behandlung
Führungsaufsicht angeordnet werden, die stärker kon-                        erfahren, die sie befähigt, künftig in sozialer Verantwor-
trollierend und überwachend, darüber hinaus aber eben-                      tung ein Leben ohne Straftaten zu führen. Und außerdem
                                                                            soll in der Haft die kriminal- wie sozialpolitische gleicher-
   1   Süddeutsche Zeitung vom 17. Mai 2010; Strafvollzug – Morgen sind
                                                                            maßen intendierte Re-Integration so vorbereitet werden,
       sie wieder unsere Nachbarn – Politik – SZ.de (sueddeutsche.de).
   2   Vgl. die Daten der amtlichen Strafvollzugsstatistik: Statistisches
       Bundesamt (2020).                                                       3   Vgl. Jehle et al. (2016, S. 15–16).

                                                                                                                    Case Management   1 | 2021
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Wolfgang Wirth

dass der Weg aus dem Anstaltstor keinen „Drehtürcha-          In der Regel bedürfen die Inhaftierten nicht nur einer,
rakter“ bekommt. Dieses, aus dem verfassungsrechtlichen       sondern mehrerer der genannten Maßnahmen, was sie in
Sozialstaatsprinzip abgeleitete Resozialisierungsgebot        gewisser Weise zu einer exemplarischen Zielgruppe des
kann nicht zuletzt mit dem „Resozialisierungskonzept“         Case Management macht. Die jeweiligen Behandlungs-
der jüngst aktualisierten Europäischen Strafvollzugsgrund-    erfordernisse müssen fachlich geklärt und im Rahmen der
sätze legitimiert werden. Es basiert nach Dünkel und Debus    gesetzlich vorgesehenen Vollzugsplanung priorisiert wer-
„auf individueller Vollzugsplanung, darauf aufbauend          den. Schon wegen der nur begrenzt zur Verfügung
Maßnahmen der (beruflichen und schulischen) Ausbildung,       stehenden Zeit können nicht immer alle Problemlagen im
ggf. der Therapie, speziellen (‚vollzugsöffnenden‘) Maß-      Laufe der Haft erfolgreich bearbeitet werden. Die ver-
nahmen der Entlassungsvorbereitung und Überleitung in         bleibenden oder mit der Entlassung neu entstehenden
Freiheit (einschließlich der anzustrebenden bedingten         Folgebedarfe, z. B. eine drohende Arbeits- oder Woh-
Entlassung) in Verbindung mit möglichst frühzeitigen          nungslosigkeit, müssen folglich anschließend in Angriff
Kontakten zu den externen Sozialen Diensten der Justiz,       genommen werden, wenn die Wiedereingliederung gelin-
der Freien Straffälligenhilfe und weiteren Leistungserbrin-   gen und die in der Haft erreichten Fortschritte nicht
gern auf kommunaler Ebene, wie sie inzwischen unter dem       verpuffen sollen – was man ggf. durchaus als Vergeudung
Stichwort des Übergangsmanagements geläufig sind.“4           der dazu eingesetzten Ressourcen betrachten könnte.
Ein durch solche Befähigungs- und Einglie-
derungsaufgaben gekennzeichneter moderner
                                                            Schon wegen der nur begrenzt zur Verfügung
„Behandlungsvollzug“ – so der gängige Vollzugs-      stehenden Zeit können nicht immer alle Problemlagen
jargon – ist in der Regel mit Gefangenen im Laufe der Haft erfolgreich bearbeitet werden.
konfrontiert, die durch vielfältige, oftmals
schwerwiegende Problemlagen charakterisiert sind. Soweit      Beides führt zwangsläufig zu der Forderung nach einer
diese die (frühere) Straffälligkeit nach der fachlichen       besseren Verknüpfung stationärer und ambulanter Einglie-
Einschätzung der im Vollzug tätigen Fachdienste begüns-       derungshilfen, die das Ergebnis der Befähigungsmaßnah-
tigt oder gar verursacht haben, können diverse Maß-           men im Strafvollzug nach der Entlassung stärken und
nahmen angezeigt sein, die die Strafvollzugsanstalten in      darüber hinaus zur Bewältigung von Integrationshemm-
jeweils unterschiedlicher Art und Anzahl vorhalten, um das    nissen im Übergang aus dem hochgradig strukturierten
Vollzugsziel zu erreichen. Dazu gehören typischerweise5       Vollzugsalltag in oftmals ungesicherte und prekäre Le-
• Maßnahmen zum Erwerb sozialer Kompetenzen wie               bensverhältnisse beitragen können. Die klassische Ent-
   Soziale Trainings oder Schuldnerberatung,                  lassungsvorbereitung des Vollzuges kann dies nicht
• deliktorientierte Angebote, z. B. Behandlungspro-           hinreichend leisten. Sie beginnt zwar idealiter mit dem
   gramme für inhaftierte Sexualstraftäter oder Maßnah-       Antritt der Haft, ist aber doch faktisch auf die letzten
   men zur Gewaltprävention,                                  Wochen einer Inhaftierung konzentriert und endet in der
• therapeutische Angebote wie Psycho-, Sozial- oder           Regel am letzten Tag der Haft. Insoweit wird zwar die
   Arbeitstherapie,                                           Entlassung hinter den Gefängnismauern vorbereitet, nicht
• schulische Fördermaßnahmen, von elementaren                 aber die anschließende Eingliederung in die Freiheit
   Sprach- und Alphabetisierungskursen über schulische        gestaltet. Der Strafvollzug kann die dazu nötigen Folge-
   Förderkurse bis hin zu schulabschlussbezogenen Maß-        maßnahmen mangels eigener Zuständigkeit in der Regel
   nahmen,                                                    nicht selbst durchführen, muss aber – so die Forderung – in
• Maßnahmen zur Vermittlung beruflicher Fähigkeiten           die Lage versetzt werden, den (ehemaligen) Gefangenen
   und Qualifikationen, angefangen bei niedrigschwelligen     nachsorgende Eingliederungshilfen in möglichst fest ver-
   Orientierungskursen über berufliche Qualifizierungs-       einbarter Kooperation mit ambulanten Leistungsträgern
   maßnahmen bis hin zu anerkannten Berufsausbildun-          zugängig zu machen.
   gen,
• Motivierungs- und Beratungsangebote für Suchtkranke         Ziele und Aufgaben des Übergangsmanagements
   wie Drogenberatung, Suchtherapievorbereitung und
   auch psychosoziale Betreuung von Substituierten            Konzeptionell ist dabei vorzusehen, dass die Vollzugs-
• und schließlich ein Übergangsmanagement, das die            planung um eine über den Entlassungszeitpunkt hinaus-
   klassischen Angebote der Entlassungsvorbereitung um        weisende Eingliederungsplanung ergänzt wird und dass die
   Eingliederungs- und Stabilisierungshilfen in der Hoch-     Umsetzung dieser Eingliederungsplanung durch die Ver-
   risikophase nach der Entlassung ergänzt.                   mittlung nachsorgender Eingliederungshilfen vollzugs-
                                                              übergreifend, also zumindest arbeitsteilig und im Idealfall
   4 Dünkel und Debus (2021, im Druck).                       kooperativ erfolgt, wenn sie nicht „aus einer Hand“
   5 Ausführlicher beschrieben bei Wirth (2020b).             organisiert werden kann. Eine solche fallbezogene Koope-

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Übergänge: Professionelle Begleitung auf dem Weg aus der Haft in die Freiheit

ration mit vollzugsexternen Leistungsträgern setzt wiede-                 sprechpartnerschaften und regionaler Arbeitskreise zur
rum eine fallübergreifende Koordination des Auf- und                      Akquirierung erforderlicher Leistungsangebote oder zur
Ausbaus (inter-)organisatorischer Netzwerke zwingend                      stetigen Verbesserung der Zusammenarbeit. Die Netz-
voraus.                                                                   werkarbeit muss ebenfalls einem regelmäßigen Monito-
Ein modernes Übergangsmanagement kann folglich ver-                       ring bzw. einer inhaltlichen Evaluation unterzogen
standen werden als „eine organisationsübergreifende                       werden, um die Qualitätssicherung der interorganisato-
Schaffung von Förderketten zur Wiedereingliederung von                    rischen Zusammenarbeit und damit auch Effektivitäts-
(ehemaligen) Strafgefangenen, die in enger Kooperation                    steigerungen der individuellen Fallarbeit zu ermöglichen.
zwischen Justizbehörden, Einrichtungen der Straffälligen-
hilfe und kompetenten Dritten innerhalb und außerhalb                   Zur nachhaltigen Verstetigung des Übergangsmanage-
des Strafvollzuges erfolgt.“6 Hierfür ist eine einglie-                 ments auf der institutionellen Systemebene ist schließlich
derungsfördernde Fallsteuerung vonnöten, die stets von                  eine system(at)ische Implementationssteuerung erforder-
einer strukturbildende Vernetzungssteuerung begleitet                   lich, die ebenso wie die beiden vorgenannten Steuerungs-
sein muss, um sowohl im Einzelfall als auch als Integra-                ebenen am besten nach Maßgabe eines an die Besonder-
tionsprogramm wirksam sein zu können. Beides beinhaltet                 heiten des Strafvollzuges und der Strafrechtspflege ange-
eine verbesserte organisatorische Verzahnung des Justiz-                passten Handlungskonzepts Case Management erfolgt.7
vollzuges mit den bereits erwähnten ambulanten Sozialen                 Die Vielschichtigkeit der hier nur grob skizzierbaren
Diensten der Justiz, aber auch eine strukturierte Vernet-               Aufgaben lässt einen Bedarf an Fachpersonal erkennen,
zung mit örtlichen und überörtlichen Hilfesystemen am                   das mit vollzugsinternen Abläufen und vollzugsexternen
Wohnort, nicht am Entlassungsort der Gefangenen, sowie                  Leistungsstrukturen gleichermaßen vertraut ist und auf
deren systematische Vermittlung in den dortigen Aus-                    dieser Basis sowohl die individuelle Fallsteuerung als auch
bildungs- und Arbeitsmarkt. Die dabei zu leistenden                     die strukturbildende Netzwerksteuerung moderieren kann.
Aufgaben sind gemäß der multiplen Problemlagen der                      Für eine entsprechende Professionalisierung hat sich eine
Klienten äußerst komplex:                                               zertifizierte Weiterbildung nach den Standards der Deut-
• Auf der Ebene der eingliederungsfördernden Fallsteue-                 schen Gesellschaft für Care und Case Management8 in der
    rung müssen zunächst freiwillige Teilnahmeverein-                   Praxis als äußerst hilfreich, in manchen Bereichen sogar als
    barungen geschlossen werden, was unter den Zwangs-                  zwingend notwendig erwiesen.
    bedingungen des Strafvollzuges besondere Motivie-                   Zudem müssen die jeweiligen Zuständigkeiten in der
    rungsbemühungen erfordert. Es müssen relevante                      Justizvollzugsanstalt und an den Schnittstellen zur Außen-
    Handlungsbedarfe für die vollzugliche Behandlung und                welt verbindlich definiert und die vollzugsübergreifende
    auch für deren ggf. erforderliche Fortsetzung oder                  Kommunikation verlässlich ermöglicht werden. Dabei sind
    Ergänzung nach der Haft festgestellt, die erforderlichen            stets die unabdingbaren Sicherheitsvorschriften der Ge-
    Maßnahmen geplant und eingeleitet sowie hinsichtlich                fängniswelt zu berücksichtigen – die selbstverständlich
    ihres Verlaufes und ihrer Ergebnisse so kontrolliert,               auch die Übergangsmanager*innen zu kennen und zu
    evaluiert und dokumentiert werden, dass formal kor-                 beachten haben. Vor diesem Hintergrund wird schnell klar,
    rekte und inhaltlich aussagekräftige Fallübergaben an               dass ein funktionierendes Übergangsmanagement nicht
    beteiligte Kooperationspartner möglich sind. Diese hier             nur motivationale, personelle und materielle Ressourcen
    nur grob skizzierte Aufgabenbeschreibung ist mit den                erfordert, sondern vor allem wechselseitige Informations-
    im Case Management gängigen Termini für die Pro-                    flüsse „von drinnen nach draußen“ und den „politischen
    zessschritte Intaking, Assessment, Planning, Linking,               Willen“, die damit verbundene Vollzugsöffnung unter
    Monitoring und Evaluation gut abbildbar.                            Beachtung datenschutzrechtlicher und sicherheitsrelevan-
• Dies gilt auch für die fallübergreifenden Erfordernisse der           ter Bestimmungen zu fördern.
    strukturbildenden Netzwerksteuerung. Sie verlangt zu-
    nächst eine Netzwerkdefinition, die die besonderen (Be-)            Entwicklungsstand und Perspektiven
    Handlungsbedarfe der Zielgruppe abbildet. Daran muss
    eine Netzwerkanalyse zur Prüfung der Verfügbarkeit                  Dieser politische Wille hat sich in den vergangenen Jahren
    relevanter Eingliederungshilfen sowie ihrer jeweils spezi-          deutlich verstärkt. Die Forderung nach einem systemati-
    fischen Erschließungsmöglichkeiten anknüpfen. Eine
    schlüssige Netzwerkplanung zur Gewinnung relevanter                   7   Alle genannten Steuerungsebenen sowie die allgemeinen Grund-
    Kooperationspartner ermöglicht dann die konkrete Ver-                     lagen und spezifischen Erfordernisse für die Anwendung des
    netzung, beispielsweise durch den Aufbau fester An-                       Handlungskonzeptes Case Management im Strafvollzug und in der
                                                                              Straffälligenhilfe sind detailliert von Wirth und Grosch (2018)
                                                                              beschrieben worden.
   6   Diese Definition und die folgende Aufgabenbeschreibung ist bei     8   Aktuell zu Fragen der Qualifikation und Ausbildung im Case
       Wirth (2019b) detaillierter beschrieben und näher begründet.           Management in der Sozialen Strafrechtspflege vgl. Monzer (2020).

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Wolfgang Wirth

schen Übergangsmanagement, zunächst in der krimino-             nerschaften und wieder andere orientieren sich an bereits
logischen Forschung geboren9, ist im Laufe der letzten          bestehenden Beispielen aus unseren europäischen Nach-
Jahre auch in der Strafvollzugspolitik und in der Strafvoll-    barländern. Eine aktuelle Übersicht über die deutsche
zugspraxis angekommen. Die Konferenz der Deutschen              Landschaft des Übergangsmanagements ist bei Wein
Justizministerinnen und Justizminister hat die Wieder-          (2020) zu finden, eine detaillierte Beschreibung der
eingliederung entlassener Inhaftierter im Jahr 2014 zu          vielschichtigen Modelle des „Prisoner Resettlement in
einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe erklärt, deren           Europe“ bei Dünkel et al. (2018).
Gelingen eine enge Zusammenarbeit zwischen der Justiz           Empirische Daten zu den Ergebnissen des Übergangs-
und anderen Ressorts voraussetze. Auf der Ebene des             managements sind zwar noch rar11, aber ermutigend. So
Strafvollzugsausschusses der Länder wurde eine Arbeits-         zeigt Ndrecka (2014) beispielsweise anhand einer interna-
gruppe eingesetzt, um Vorschläge zur Verbesserung der           tionalen Meta-Analyse, dass Programme des Übergangs-
als erforderlich erachteten Zusammenarbeit zu entwickeln.       managements die Rückfälligkeit der teilnehmenden Ge-
In einigen Landesstrafvollzugsgesetzen sind (mehr oder          fangenen gegenüber einer Kontrollgruppe, die nicht am
weniger verbindliche) Innovationen zur Gestaltung der           Übergangsmanagement teilnahm, um 6 % reduziert. Dabei
Übergänge aus der Haft in die Freiheit zu finden.10 Und in      haben sich vor allem dreiphasige Übergangsmanagement-
den Justizvollzugsanstalten sind mittlerweile zahlreiche        Modelle, die im Strafvollzug beginnen und anschließend
Projekte entwickelt, erprobt, zum Teil wieder verworfen,        nicht nur im unmittelbaren Übergang aus der Haft in die
aber teilweise auch nachhaltig installiert worden. Manche       Freiheit, sondern auch danach fortgesetzt werden, als
dieser Projekte sind „selbstgestrickte“ Weiterentwicklun-       effektiv erwiesen. Befunde aus einem landesweiten Über-
gen der vollzugsinternen Entlassungsvorbereitung, andere        gangsmanagement zur Arbeitsmarktintegration in Nord-
haben ihre Wurzeln in EU-finanzierten Entwicklungspart-         rhein-Westfalen bestätigen dies mit Blick auf berufliche
                                                                Eingliederungseffekte. Gefangene, die an einer beschäfti-
   9   Vgl. Matt (2015).
   10 Vgl. Pruin (2018, S. 575).                                   11 Siehe Pruin (2016).

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Case Management            1 | 2021
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Übergänge: Professionelle Begleitung auf dem Weg aus der Haft in die Freiheit

gungsorientierten Entlassungsvorbereitung teilgenommen                           Pruin, I. (2018): Gestaltung von Übergängen. In H. Cornel, G. Kawamura-

und die anschließend ein ebenfalls beschäftigungsorien-                             Reindl, B.-R. Sonnen, T. Bartsch & N. Bögelein (Hrsg.), Resozialisierung.
                                                                                    Handbuch (4., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage, S.
tiertes Nachsorgeangebot genutzt haben, konnten zu etwa
                                                                                    572–590). Baden-Baden: Nomos.
70 % in Arbeit oder (Folge-)Ausbildung vermittelt werden.
                                                                                 Statistisches Bundesamt. (2020): Strafvollzug – Demographische und
Dabei schnitten Gefangene, die im Vollzug eine berufliche
                                                                                    kriminologische Merkmale der Strafgefangenen zum Stichtag 31.3.2019
Qualifikation erworben hatten, sowohl in der Entlassungs-                           (Fachserie 10, Reihe 4.1): Destatis.
vorbereitung als auch in der Nachsorge jeweils um sechs
                                                                                 Wein, C. (2020): Aktualisierte Länderumfrage: Übergangsmanagement – im
bis zehn Prozentpunkte besser ab.12                                                 Verbund zum Erfolg. In B. Maelicke & C. Wein (Hrsg.), Resozialisierung
Das nordrhein-westfälische Übergangsmanagement ist im                               und systemischer Wandel (S. 57–80).
Übrigen aus einem Modellprojekt entstanden, mit dem das                          Wirth, W. (2019a): Befähigung – Eingliederung – Legalbewährung. Die
Handlungskonzept Case Management in den Strafvollzug                                Zieltrias des Jugendstrafvollzuges als Evaluationsgrundlage. ZJJ (Zeit-
„getragen“ wurde und das dafür im Jahr 2011 mit einem                               schrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe) 30 (4), S. 340–349.
Innovationspreis der Deutschen Gesellschaft für Care und                         Wirth, W. (2019b): Entlassung vorbereiten und Eingliederung gestalten: Zur
Case Management ausgezeichnet wurde. Seitdem wurde                                  Komplexität der Aufgaben im „Übergangsmanagement“. Forum Straf-
das Konzept kontinuierlich weiterentwickelt13 und kann als                          vollzug 68 (4), S. 259–263.

ein gelungenes Beispiel dafür betrachtet werden, dass das                        Wirth, W. (2020a): Arbeitsmarktintegration 4.0: Geschichte der evidenzba-
Übergangsmanagement im und nach Strafvollzug mit Hilfe                              sierten Weiterentwicklung des Übergangsmanagements für (ehemalige)

des Handlungskonzepts Case Management erfolgreich                                   Strafgefangene in Nordrhein-Westfalen. In B. Maelicke, T. Berger &
                                                                                    J. Kilian-Georgus (Hrsg.), Innovationen in der Sozialen Strafrechtspflege
professionalisiert werden kann.
                                                                                    (Edition Forschung und Entwicklung in der Strafrechtspflege, S. 325–
                                                                                    356). Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden.
Literatur
                                                                                 Wirth, W. (2020b): Behandlung im Strafvollzug – Unklarer Begriff, vielfältige
                                                                                    Befähigungsziele und offene Wirkungsfragen. In K. Drenkhahn, B. Geng,
Dünkel, F. & Debus, E. K. (2021): Die Europäischen Strafvollzugsgrundsätze in
                                                                                    J. Grzywa-Holten, S. Harrendorf, C. Morgenstern & I. Pruin (Hrsg.),
   der 2020 überarbeiteten Fassung – Was folgt daraus für die deutschen
                                                                                    Kriminologie und Kriminalpolitik im Dienste der Menschenwürde.
   Strafvollzugsgesetze? Forum Strafvollzug 70, im Druck.
                                                                                    Festschrift für Frieder Dünkel zum 70. Geburtstag (S. 1025–1048).
Dünkel, F., Pruin, I., Storgaard, A. & Weber, J. (2018): Prisoner Resettlement      Mönchengladbach: Forum Verlag Godesberg GmbH.
   in Europe. Milton: Routledge.
                                                                                 Wirth, W. & Grosch, B. (2018): Case Management in Strafvollzug und
Jehle, J.-M., Albrecht, H.-J., Hohmann-Fricke, S. & Tetal, C. (2016):               Straffälligenhilfe. Allgemeine Grundlagen und spezifische Erforder-
   Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen. Eine bundesweite                nisse. In P. Löcherbach, W. Klug, R. Remmel-Faßbender & W. R. Wendt
   Rückfalluntersuchung 2010 bis 2013 und 2004 bis 2013. Mönchen-                   (Hrsg.), Case Management (S. 212–236). München: Ernst Reinhardt
   gladbach: Forum Verlag Godesberg GmbH.                                           Verlag.

Matt, E. (2015): Übergangsmanagement und der Ausstieg aus Straffälligkeit.
   Wiedereingliederung als gemeinschaftliche Aufgabe: Centaurus Verlag
   Media.

Monzer, M. (2020): Qualifikation und Ausbildung im Case Management in
   der Sozialen Strafrechtspflege. In B. Maelicke, T. Berger & J. Kilian-
   Georgus (Hrsg.), Innovationen in der Sozialen Strafrechtspflege (Edition
   Forschung und Entwicklung in der Strafrechtspflege, S. 141–162).
                                                                                     Wolfgang Wirth
   Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden.

Ndrecka, M. (2014): The impact of reentry programs on recidivism: A meta-            Ltd. Regierungsdirektor a. D., bis
   analysis. Dissertation, University of Cincinnati.
                                                                                     2020 Leiter des Kriminologischen
Pruin, I. (2016): What works? and what else do we know? Hinweise zur                 Dienstes des Landes NRW, aktuell
   Gestaltung des Übergangsmanagements aus der kriminologischen
                                                                                     Redaktionsmitglied der Fachzeit-
   Forschung. In F. Dünkel, J. Jesse, I. Pruin & M. von der Wense (Hrsg.),
   Die Wiedereingliederung von Hochrisikotätern in Europa – Behand-
                                                                                     schrift Forum Strafvollzug
   lungskonzepte, Entlassungsvorbereitung und Übergangsmanagement                    Wolfgang.wirth@forum-strafvoll-
   (S. 247–271). Mönchengladbach: Forum Verlag Godesberg.                            zug.de

   12 Detaillierte Auswertungen finden sich bei Wirth (2019a).
   13 Die Entwicklungsgeschichte kann in einem kürzlich erschienenen
      Aufsatz von Wirth (2020a) nachgelesen werden.

                                                                                                                           Case Management         1 | 2021
  8
Thomas Klie

Integrierte Versorgung als Regelversorgung

Helmut Hildebrandt hat mit einer ganzen Reihe von namhaften Gesundheitsexpert*innen ein überzeugendes
Konzept zur integrierten Versorgung als nachhaltige Regelversorgung auf regionaler Ebene vorgelegt. Thomas
Klie stellt es im folgenden Beitrag in seinen Grundzügen vor und plädiert dafür, das Papier als Chance für eine
grundlegende Weiterentwicklung des deutschen Gesundheitssystems aufzugreifen.

Im Jahre 2000 hatte die damalige und bisher einzige grüne      ist das Konzept der Integrierten Versorgung über Selektiv-
Gesundheitsministerin Andrea Fischer die Integrierte Ver-      verträge letztlich innovationsfeindlich. Das zeigen auch und
sorgung – heute „Besondere Versorgung“ – als Innovati-         gerade die vom Innovationsfond geförderten Maßnahmen.
onsperspektive für das deutsche Gesundheitswesen im            Dort wo kassenübergreifende Aktivitäten gefragt wären,
Sozialgesetzbuch V eingeführt. Schon damals stand als          verschärft sich der Wettbewerb vor Ort und dies zulasten
Ideengeber und gesundheitspolitischer Vordenker Helmut         regionaler Versorgungsstrukturen.
Hildebrandt hinter diesem Reformvorhaben. Die Integrierte      Helmut Hildebrandt hat mit einer ganzen Reihe von
Versorgung gem. §§ 140a ff. SGB V eröffnet Möglichkeiten       namhaften Gesundheitsexpert*innen nun rechtzeitig vor
sektorenübergreifender und multidisziplinärer Zusammen-        der Bundestagswahl 2021 ein Konzept zur integrierten
arbeit im deutschen Gesundheitswesen. Ob nun bezogen           Versorgung als nachhaltige Regelversorgung auf regiona-
auf bestimmte Diagnosen und Krankheitsbilder in der            ler Ebene vorgelegt. Ziel ist die Entwicklung einer nach-
Fortführung von Leistungskomplexen sektorenübergrei-           haltigen, bedarfsgerechten, robusten und gleichzeitig
fende Finanzierungsstrategien mithilfe des § 140a SGB V        fairen, integrierten Gesundheitsversorgung – und dies in
realisiert werden oder aber, worauf die Idee der Integrier-    einer möglichst großen Zahl von Regionen. Integrierte
ten Versorgung eigentlich hinausläuft, populationsbezoge-      Versorgung als Regelversorgung: Genau das ist gefragt.
ne, regionale Versorgungskonzepte: Die Idee der Integrier-     Corona hat allen noch einmal vor Augen geführt, wie
ten Versorgung bricht mit dem versäulten Finanzierungs-        wichtig ein effizientes und vor Ort gut zusammenarbei-
system der deutschen Krankenversicherung. Mit dem              tendes Gesundheitswesen ist. Unser Gesundheitssystem, so
Gesunden Kinzigtal wurde ein weit über die deutschen           die Analyse von Hildebrandt, folgt immer noch einem
Grenzen hinaus beachtetes Modell realisiert, in dem die        veralteten Modell. Es schaut auf den einzelnen Leistungs-
Leistungserbringer nicht mehr (allein) für die effiziente      erbringer und nicht auf die Qualität der gesamten
Leistungserbringung, sondern für den Gesundheitsstatus         Prozesskette. Die Patient*innen werden nicht ausreichend
der regionalen Bevölkerung „belohnt“ werden. Eine Public       als aktive Partner*innen im Entwicklungsprozess von
Health-Ökonomie steht im Mittelpunkt der gesundheits-          Gesundheit angesehen und unterstützt – dabei ist man
ökonomischen Überlegungen. Nicht möglichst viele, effi-        gerade auf ihre Compliance und Koproduktion angewiesen.
zient durchgeführte, aber gegebenenfalls unsinnige Hüft-       Die bestehenden Strukturen werden der interprofessionel-
operationen gilt es zu finanzieren, sondern in den Gesund-     len Zusammenarbeit nicht gerecht. Deutschland zeichnet
heitsstatus der Bevölkerung zu investieren. So werden          sich immer noch durch eine asymmetrische Kultur der
risikogruppenspezifisch im Gesunden Kinzigtal Präventi-        Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichen Berufen
onsmaßnahmen aufgelegt, die Kooperation mit Schulen,           im Gesundheitswesen aus. Und: Fragen der sozialen und
Kommunen, Arbeitgebern und Sportvereinen gesucht – mit         regionalen Ungleichheit werden kaum systematisch auf-
gutem Erfolg. Durchsetzen konnte sich das Konzept der          gegriffen, obwohl bekannt ist: Einkommen und Bildung
Integrierten Versorgung mit dieser regionalen Ausrichtung      sind immer noch die wesentlichen Prädiktoren für Ge-
trotz einiger weiterer Modellregionen – etwa Hamburg           sundheit und ferne Lebenserwartung. Helmut Hildebrandt
Billstedt – bisher nicht. Die Integrierte Versorgung berührt   entwickelt ein überzeugendes Konzept, das vier Grund-
Steuerungsinteressen zentraler Stakeholder im Gesund-          elemente enthält:
heitswesen. Die Integrierte Versorgung ist über Selektiv-      • die Initiierung und demokratische Verantwortung der
verträge letztlich nicht dazu geeignet, regionale Versor-          Gesundheitsversorgung über die Landkreise und kreis-
gungsbünde kassenübergreifend zu etablieren: Es sind               freien Städte über Gesundheitskonferenzen 2.0,
immer nur einige wenige Kassen, die integrierte Ver-           • die Organisation und Umsetzung als koordinierte nach-
sorgungskonzepte umsetzen – und sich damit im Wett-                haltige Regionalversorgung über innovative Gesund-
bewerb mit anderen Kassen von diesen absetzen. Insofern            heitsregionen,

                                                                                             Case Management       1 | 2021
 24
Thomas Klie

• die Finanzierung und Anreizsetzung über Regelfinan-         und isolierte Stakeholderinteressen bedienende gesund-
  zierung der Integrierten Versorgung und ein Zukunfts-       heitsökonomische Steuerung nicht mehr leisten. Von
  fond für regionale Gesundheit,                              daher sollte das Papier „Integrierte Versorgung als nach-
• Steuerung und Qualitätswettbewerb über einen Monitor        haltige Regelversorgung auf regionaler Ebene“1 jetzt
  innovative regionale Gesundheit.                            besonders aufmerksam gelesen und als gut fundierte
                                                              Chance für eine grundlegende Weiterentwicklung des
Mit Muster- und Standardverträgen für eine regionale          deutschen Gesundheitssystems aufgegriffen werden –
integrierte Versorgung, durch die Auflegung eines Zu-         Stakeholderinteressen hin und her.
kunftsfonds für regionale Gesundheit durch den G-BA und
eine Stärkung der kommunalen Handlungsebene in der               1   Vgl. Hildebrandt, H., Bahrs, O., Borchers, U., Glaeske, G., Griewing, B.,
                                                                     Härter, M. et al. (2020): Integrierte Versorgung als nachhaltige
Gesundheitsversorgung über Gesundheitskonferenzen 2.0
                                                                     Regelversorgung auf regionaler Ebene – Teil 1. In: Welt der
sollen die Voraussetzungen für die Integrierte Versorgung            Krankenversicherung 9 (7-8), S. 164–172; Hildebrandt, H., Bahrs, O.,
als Regelversorgung geschaffen werden. Helmut Hilde-                 Borchers, U., Glaeske, G., Griewing, B., Härter, M. et al. (2020):
brandt und seine Kolleg*innen sind vertraut mit dem                  Integrierte Versorgung als nachhaltige Regelversorgung auf regio-
                                                                     naler Ebene – Teil 2. Vorschlag für eine Neuausrichtung des
deutschen Gesundheitssystem und wissen um die Stake-                 deutschen Gesundheitssystems. In: Welt der Krankenversicherung 9
holderinteressen. Auch sind sie keine staatsgläubigen                (9), S. 210–219.
Akteure und setzen weiterhin auf Wettbewerb, der
allerdings anders ausgerichtet wird: Nicht ein Wettbewerb
von Einzelbetriebswirtschaften, von Kliniken untereinan-         Prof. Dr. habil. Thomas Klie
der, sondern ein Wettbewerb um die beste regionale
Versorgung. Die Wahlfreiheit der Versicherten soll erhal-        Rechtswissenschaftler und
ten bleiben. Ein anspruchsvolles Konzept, nahe an und            Professor für öffentliches Recht und
verschränkt mit der Logik des Care und Case Manage-              Verwaltungswissenschaft (EH Frei-
ments, ohne das integrierte Versorgungskonzepte mit              burg); Privatdozent (Alpen-Adria-
regionaler Ausrichtung nicht denkbar und umsetzbar               Universität Klagenfurt/Wien);
wären. Man kann nur hoffen, dass das Papier von Helmut           Institutsleiter AGP Sozialforschung
Hildebrandt und Kolleg*innen rechtzeitig vor dem Bun-            und nebenberuflich Rechtsanwalt in
destagswahlkampf und in Vorbereitung möglicher Ko-               Freiburg und Berlin. klie@eh-frei-
alitionsvereinbarungen aufgegriffen wird. Wenn Corona            burg.de, www.thomasklie.de
etwas gezeigt hat, dann dies: Wir können uns ineffiziente        (Foto: J. Deichner)

Case Management     1 | 2021
                                                                                                                                        25
Michael Monzer

Das Patientenportal – ein Instrument und eine
Aufgabe des Case Managements in der
sektorübergreifenden Gesundheitsversorgung
Übersicht und Einordnung

Die Anzahl der Studien und Veröffentlichungen zu Patientenportalen und elektronischen Patientenakten ist
mittlerweile beträchtlich. Michael Monzer hat eine umfassende Literaturrecherche zu Studien über die Nutzung
von Patientenportalen durchgeführt und stellt deren Ergebnisse im folgenden Beitrag vor.
Neben der elektronischen Patientenakte und den Ansätzen elektronischer Fallakten, ist das Patientenportal, in
dem die Patient/innen selbst die Möglichkeit haben in das Management ihrer Daten einzugreifen, eine wichtige
Voraussetzung für ein Patientenselbstmanagement. Viele Konzepte von Patientenportalen und Case
Management überschneiden sich in ihren konzeptionellen Zielrichtungen. In beiden Ansätzen wird die
Unterstützung von Klient/innen und Patient/innen durch eine informationelle Selbstbestimmung angestrebt.
Der Nutzen von Patientenportalen muss allerdings durch eine Kombination mit weiteren Maßnahmen
unterstützt werden. Hier verweisen viele der bisherigen Studien auf die Wichtigkeit einer Unterstützung beim
Einsatz der Instrumente, vor allem für digitaltechnikferne Patient/innen. Case Management kann diese
benötigte Funktion als Versorgungsziel in sein Aufgabenspektrum übernehmen und gleichzeitig seine eigenen
Strategien wie z. B. Empowerment ausbauen. Letztlich können die Möglichkeiten von Patientenportalen in allen
Case Managementfunktionen eingebaut und erweitert werden, wie einige Beispiele aus der Praxis zeigen.

Einleitung                                                     Daten einzugreifen, eine weitergehende Lösung eines
                                                               Patientenselbstmanagements. „Sie wird der Ort sein, von
Seit dem 1. Januar 2021 können gesetzlich Versicherte im       wo aus Bürger und Patienten ihren Zugang zum Gesund-
Rahmen einer Testphase die elektronische Patientenakte         heitssystem finden und steuern, wo sich ihre gesundheit-
(ePA) nutzen (gematik GmbH 2021). Die elektronische            lichen Transaktionen abbilden ebenso wie Daten und
Patientenakte wird vor allem mit den Möglichkeiten für die     Befunde zu ihrem Gesundheitszustand.“ (Häussler 2018).
souveränen, eigenverantwortlichen und aktiven Patient/         Die Einführung unterschiedlicher Patientenportale findet
innen beworben. Auf der Systemebene soll mit der ePA die       bereits seit 2006 (vor allem in den USA, z. B. durch electronic
papierlose und bereichsübergreifende Vernetzung im             personal health records (ePHRs) von Microsoft und Google)
deutschen Gesundheitswesen vorangetrieben werden;              statt. Auch in Europa gibt es langjährig gewachsene Systeme
wobei der Rückstand gegenüber anderen Ländern unüber-          (vgl. z. B. Sellberg & Eltes 2017). Patientenportale verfolgen
sehbar ist. „Die Einführung einer elektronischen Patienten-    hauptsächlich die folgenden Ziele:
akte in Deutschland verzögert sich seit Jahren.“ (Bertram      • eine verbesserte Patient/innenaktivierung
et al. 2019).                                                  • eine effizientere und effektivere Kommunikation zwi-
Die ePA ist eine Variante verschiedener Modelle der                schen den beteiligten Akteuren
Patientenakte und wird von Insidern als „Thema mit dem         • eine bessere und rechtzeitige Selbstversorgung der
höchsten Potenzial aber auch mit den meisten Hinder-               Patient/innen
nissen“ (Bachmann 2018) eingeschätzt. In Deutschland           • die Konzentration auf Patient/innen mit hoher Priorität
sollte die ePA durch das GKV-Modernisierungsgesetz             • eine verbesserte Patient/innenzufriedenheit
(2004) und das E-Health-Gesetz (2015) vorangetrieben
                                                               (vgl. National Learning Consortium 2013)
werden. Neben der elektronischen Patientenakte und den
von einzelnen Krankenkassen und privaten Dienstleistern        In der Umsetzung zeigt sich länderübergreifend1 (Essén et
(z. B. vivy) vorangetriebenen Ansätzen elektronischer          al. 2018), dass vor allem folgende Funktionen in Patien-
Fallakten, ist das Patientenportal, in dem die Patient/innen      1   Australien, Dänemark, Estland, Finnland, Frankreich, die Nieder-
selbst die Möglichkeit haben in das Management ihrer                  lande, Neuseeland, Norwegen, Schweden, die Vereinigten Staaten

Case Management      1 | 2021
                                                                                                                                  29
Das Patientenportal

tenportalen genutzt werden: Medikamentenmanagement,                niederländische Studie (Hoogenbosch et al. 2018), in der
Zusammenstellung von Diagnosen mit den entsprechen-                festgestellt wurde, dass vor allem die Aufwandserwartung
den Untersuchungen und Therapien, Krankenhaus- und                 (Benutzerfreundlichkeit und damit verbundene Kenntnisse
Laborberichte, Allergien, Sammlung von Protokollen (aus            und Fähigkeiten) einerseits und die Leistungserwartung
Visiten), Zugriffsprotokolle, Operationsberichte u. a. m.          (wahrgenommene Nützlichkeit, z. B. in der täglichen
Eine Zusammenfassung in 8 Kategorien von Portalfunk-               persönlichen Betreuung durch Angehörige) andererseits
tionen findet sich bei Scheplitz et al. (Scheplitz et al. 2018).   die Nutzung der Patientenportale positiv beeinflussen. Dies
Die zunehmende Bereitschaft von Organisationen des                 kann durch eine Anleitung zur Integration der Portale in
Gesundheitswesens, Patient/innen den Zugang zu ihrer               die täglichen Abläufe, auch in der Betreuung durch
elektronischen Patientenakte zu bieten, ist auch ein               Angehörige, gesteigert werden.
Hinweis darauf, dass es nach wie vor systembedingt
schwierig ist, die Kommunikation zwischen allen betei-             Funktionen der Patientenportale
ligten Versorgern so zu organisieren, dass die vielfältigen,       im Management der Fälle
fallbezogenen Informationen gesteuert und effizient ein-
gesetzt werden und nicht wie üblich immer wieder von               Patientenportale sollen dabei unterstützen, auch ohne
Neuem erfasst und verarbeitet werden und dabei riskiert            Spezialwissen und Zugehörigkeit zu einer Organisation,
wird, dass Wichtiges auf der Strecke bleibt. Zudem leidet          das Management des eigenen Falles selbst oder mithilfe
der medizinische Fortschritt unter den benannten Kom-              von Angehörigen zu übernehmen. Dafür kann es viele
munikationsdefiziten (Schulz-Nieswandt & Kurscheid                 Anlässe geben, besonders dann, wenn eine chronische
2004, S. 47ff). Die zunehmende Verlagerung von medizi-             Erkrankung oder eine anhaltende Pflegesituation vorliegt.
nischen und pflegerischen Aufgaben in die Häuslichkeit,            Ebenso können patient/innenunabhängige Faktoren, die
die gerade unter Pandemiebedingungen noch deutlicher               eine Kommunikation mit Fachdiensten erschweren, den
zutage tritt, erfordert weitere Anstrengungen, damit das           Einsatz von Patientenportalen nahelegen. Die Corona-
Selbst- bzw. Angehörigenmanagement im Rahmen eines                 Pandemie mit ihren kommunikationseinschränkenden
patientenzentrierten medizinischen Zuhauses2 tatsächlich           Auswirkungen gehört hier genauso dazu wie organisati-
funktioniert.                                                      onsbedingte Barrieren beim Versuch an die Informationen
Trotz aller Argumente, die für den Aufbau von Patienten-           zum eigenen Fall zu gelangen.
portalen sprechen, muss bislang davon ausgegangen                  Neben den Anlässen interessieren beim Einsatz von
werden, dass die tatsächliche Nutzung noch gering ist              Patientenportalen aber vor allem die Zielstellungen, die
und sich die Behandlungsergebnisse durch ihren Einsatz             mit einem informationsbegünstigten Selbstmanagement
nur bedingt verbessern. Forschungsergebnisse (Irizarry et          verbunden werden. Es kann nicht ohne Weiteres davon
al. 2015) zeigen, dass das Interesse und die Fähigkeiten           ausgegangen werden, dass allein die Mündigkeit von
Patientenportale zu nutzen von persönlichen Faktoren wie           Patient/innen schon zu einer besseren Gesundheit oder
Alter, ethnischer Zugehörigkeit, Bildungsgrad, Gesund-             zu einer besseren Versorgung führt. Ganz davon abge-
heitskompetenz und -zustand sowie von den Aufgaben                 sehen können umfassend aufgeklärte Patient/innen für die
als Pflegeperson davon zu profitieren, beeinflusst werden.         Dienstleister zu unbequemen und damit zeitintensiven
Zusätzlich hängt die Akzeptanz und tatsächliche Nutzung            Situationen führen, die in einer durchorganisierten Ver-
von der Benutzerfreundlichkeit und von der Bereitschaft            sorgungskonstruktion nicht eingeplant sind. Um validere
der beteiligten Anbieter bzw. Leistungserbringer ab, das           Aussagen über die Wirkung von Patientenportalen treffen
Patientenportal zu bedienen. Stimmen die bereitgestellten          zu können, muss bekannt sein wie die Patient/innen die
Inhalte nicht mit den Informationsbedürfnissen der Pa-             bereitgestellten Informationen nutzen oder wie das Portal
tient/innen überein, lässt die Nutzung nach. In einem              in ein Patientenselbstmanagement einbezogen wird. Laxy
systematischen Review kommen Ammenwerth et al. zum                 und Holle haben dazu das Patientenverhalten von 365
Resultat, dass die meisten Studien zum Einsatz von                 Personen mit Typ-2-Diabetes erfasst und einen Selbst-
Patientenportalen keine oder nur geringe, klinisch nicht           management-Index abgeleitet. Die Ergebnisse zur Morta-
relevante Wirkungen nachweisen konnten (Ammenwerth                 lität über einen Zeitraum von 12 Jahren zeigten, dass
et al. 2019). Dumitrascu et al. empfehlen die Akzeptanz            „Diabetiker mit einem guten Selbstmanagement (…) ein
und Nutzung von Patientenportalen zu steigern, indem               um 39 Prozent verringertes Sterblichkeitsrisiko aufwiesen.“
bevorzugt Tools entwickelt werden, die die Patient/innen           (Laxy & Holle 2014). Neben der Wichtigkeit des Verhaltens
stärker einbinden und sie direkt zur aktiven Teilnahme an          chronisch Erkrankter verweisen die Autoren darauf, dass
ihrer Gesundheitsversorgung auffordern (Dumitrascu et al.          „patientenzentrierte Angebote – wie individualisierte
2018). Zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommt eine                  Beratungsleistungen, die das notwendige Gesundheits-
                                                                   wissen vermitteln und das eigenverantwortliche Selbst-
   2   patient-centered medical home (PCMH) (Fix et al. 2016)      management verbessern“ (ebd.) von entscheidender Be-

                                                                                                 Case Management      1 | 2021
 30
Michael Monzer

deutung sind. Damit können Patientenportale als eine              von Menschen in der letzten Lebensphase zum Ziel hat,
wichtige Voraussetzung für ein Patientenselbstmanage-             könnte in seinen Funktionen durch ein kommunikations-
ment beschrieben werden, deren Nutzen allerdings durch            unterstützendes Patientenportal unmittelbar profitieren.
eine Kombination mit weiteren Maßnahmen unterstützt               Auch diese Studie bestätigt, dass der Einsatz von Portalen
werden muss. Nach Baudendistel et al. ist es für die              dann als hilfreich erlebt wird, wenn seine Nutzer/innen das
Übernahme von Verantwortung durch die Patient/innen               Gefühl entwickeln, in ihren Fragestellungen individuell
entscheidend, dass sie die gesammelten Gesundheits-               unterstützt zu werden, sodass der Aufwand, sich mit dem
informationen als ihr Eigentum im Rahmen ihrer Patien-            Tool zu beschäftigen, als lohnend erlebt wird. ACP-basierte
tenrechte verstehen. Dieses Verständnis sollte von den            Patientenportale sollten eine Funktion beinhalten, mit der
beteiligten Fachkräften geteilt werden, wobei hier Wider-         Vollmachten und Hinweise für die Behandlung ohne große
stände zu überwinden sind (Baudendistel et al. 2015).             Aufwände erstellt und für die Versorger eingestellt werden
In einer Querschnittsbefragung der flämischen Bevölke-            können.
rung (van den Bulck et al. 2018) wurde danach gefragt,
was Patient/innen über ihre digitalen Gesundheits-         Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass
daten wissen möchten und welche Erwartungen und              Patientenportale eine Verbesserung des Patien-
Einstellungen zur Verwendung eines Patientenportals        tenselbstmanagements vor allem bei chronischen
bestehen. Einschränkend muss berücksichtigt werden,        Krankheiten unterstützt.
dass diese Untersuchung das Interesse und nicht eine
tatsächliche Verhaltensweise erfasst. In dieser Studie (n =       Aktuelle Internetrecherchen (z. B. Heath 2020) zeigen,
369) wurde festgestellt, dass das Interesse der befragten         dass Patientenportale im Umgang mit den Anforderungen
Menschen vor allem an den kommunikativen Möglich-                 durch die COVID-19-Pandemie an Patient/innen und das
keiten groß ist, z. B. benachrichtigt zu werden oder mit der      Gesundheitssystem wichtige Funktionen übernehmen
Arztpraxis Kontakt aufzunehmen. Konkret besteht das               können. Gerade unter dem massiven zeitlichen und
Interesse vor allem daran Krankenakten, Testergebnisse            personellen Druck bieten Patientenportale ideale Unter-
und Medikamentenlisten einzusehen, Termine und Re-                stützung, wenn z. B. Testresultate und Verhaltensempfeh-
zepte anzufordern, mit den behandelnden Ärzt/innen zu             lungen zur Verfügung gestellt werden oder Impftermine
kommunizieren, die eigene Gesundheitsversorgung zu                mitzuteilen sind. Obwohl es durch E-Mail und SMS bereits
kontrollieren und benachrichtigt zu werden, wenn sich             Technologien zur Übermittlung gibt, werden eingestellte
der Gesundheitsstatus gefährlich geändert hat. Zudem              Laborbefunde – ob positiv oder negativ – von den
besteht das Interesse, bei bestehenden gesundheitlichen           Betroffenen gegenüber reinen Textnachrichten bevorzugt.
Problemen nicht nur die dazu relevanten Gesundheits-              Beinhalten die Portale darüber hinaus Informationen über
daten zu erhalten, sondern auf dieser Basis auch an               Zuständigkeiten, Anfahrtswege, Öffnungszeiten u. Ä. m.,
Entscheidungen beteiligt zu werden („shared decision              unterstützen sie die notwendigen Abläufe für die Patient/
making“) bzw. Entscheidungen auch hinterfragen zu                 innen zusätzlich.
können. Es ließ sich ebenfalls nachweisen, dass vermehrt          Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass Patien-
Menschen mit niedrigerem Bildungsgrad und Schwierig-              tenportale eine Verbesserung des Patientenselbstma-
keiten beim Verstehen von Gesundheitsinformationen                nagements vor allem bei chronischen Krankheiten un-
Hoffnungen in Patientenportale setzen. Patientenportale           terstützt. Am deutlichsten tritt hier die verbesserte
müssen, um tatsächlich genutzt zu werden, diese Funk-             Kommunikation zwischen Patient/innen und Leistungs-
tionen unterstützen.                                              erbringern zutage. Die Benutzerfreundlichkeit und die
Hoffnungen, mittels Patientenportalen könne die Selbst-           unmittelbare Unterstützung bei der Beschaffung von
verantwortung der Nutzer/innen in einem pädagogischen             Rezepten, Terminen und Informationen spielt bei der
Sinne beeinflusst oder gar gesteuert werden, lassen sich          Akzeptanz eine entscheidende Rolle.
mit der Untersuchung von van den Bulck et al. nicht
bestätigen. Für Hinweise auf riskante Verhaltensweisen            Patientenportale und Case Management
bzw. auf eine gesundheitsbeeinträchtigende Lebensfüh-
rung, besteht bei den Befragten eher wenig Interesse. Dies        Viele Konzepte von Patientenportalen und Case Manage-
gilt auch für einen Patientenportal gestützten Austausch          ment überscheiden sich in ihren konzeptionellen Zielrich-
mit Menschen, die ähnliche Gesundheitsprobleme haben.             tungen. In beiden Ansätzen wird die Unterstützung von
Jordan et al. (Jordan et al. 2019) untersuchten die               Klient/innen und Patient/innen durch eine informationelle
Möglichkeiten, die Patientenportale für das Advance Care          Selbstbestimmung und damit eine bessere Selbstwirksam-
Plannings (ACP) (Coors et al. 2015) im Rahmen von                 keit im Rahmen der Versorgungsorganisation angestrebt.
Palliative Care bieten. ACP, das eine vorausplanende und          Soweit Patientenportale die Kommunikation zwischen Fach-
begleitende Kommunikation im Sinne der Verfügungen                personal und Patient/innen ermöglicht, können auch in

Case Management      1 | 2021
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