Letztes Bett' und schwarzer Kasten'. Der Sarg als Objekt zwischen Ausstellen und Verbergen in Texten des Realismus
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pen Zeitschrift für Germanistik | Neue Folge XXXI (2021), Peter Lang, Bern | H. 3, S. 439–451 Kerstin Roose ‚Letztes Bett‘ und ‚schwarzer Kasten‘. Der Sarg als Objekt zwischen Ausstellen und Verbergen in Texten des Realismus Aus dem Palast ins enge Haus, // So dumm läuft es am Ende doch hinaus. Johann Wolfgang Goethe: Faust II I. Einleitung. Am Ende von Herman Melvilles Roman Moby Dick (1851) ist bekanntlich nicht mehr viel übrig. Der Wal ist fort, die Pequod zerstört, und mit ihr sind nicht nur Ahab und die Besatzung, sondern auch sämtliche Dinge und Apparaturen des Walfängers in der Tiefe des Meeres verschwunden. Im Epilog des Romans taucht – buchstäblich – nur noch ein einziges Objekt auf. Es ist der Sarg, der einst für den todkranken Quiqueg gezimmert wurde, diesem dann, weil der Tod (noch) ausblieb, eine Weile als Seemannskiste diente und der schließlich zum Ersatz für die zerstörte Rettungsboje der Pequod umgearbeitet wur- de. Der Erzähler Ismael verwendet nicht nur einige Erzählzeit darauf, die Funktions- und Bedeutungstransformationen des Sarges im Verlauf des Romans zu schildern. Auch sein Erzählen selbst wird am Ende untrennbar mit diesem Objekt verbunden. Denn nur weil er als einziger Überlebender davon über Wasser gehalten wird, bis ihn ein kreuzendes Schiff schließlich aufliest, kann er überhaupt zum Erzähler werden. Melvilles Roman gestaltet diesen Sarg mithin auf kulturell-eigentümliche wie auch narrativ-signifikante Weise als ein ‚letztes Objekt‘. Indem er für Ismael nicht als Begleitobjekt des Todes, sondern als Garant des Überlebens fungiert, wird er zu dem Objekt des Textes, das das Erzählen selbst garantiert. Diese vielleicht singuläre, auf jeden Fall unkonventionelle Inszenierung eines Sarges bildet den Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen. Sie fragen anhand von zwei deutschsprachigen Textbeispielen des Realismus – Gottfried Kellers Roman Der grüne Heinrich (1854/55) und Wilhelm Raabes Erzählung Im alten Eisen (1887) – nach Korrela- tionen zwischen Särgen und Erzählen. Ziel ist es, mögliche poetische sowie poetologische Bedeutungsdimensionen dieser sehr spezifischen Objektklasse zumindest in Ansätzen zu entfalten. Analyseführend sind dabei die Aspekte des Ausstellens und Verbergens. Zum einen, weil sowohl die praktische Funktion als auch die symbolische Bedeutung des Sarges zwischen diesen Polen changiert. Zum anderen, weil Särge als literarisierte Objekte, wie zu zeigen ist, selbst in diesem Spannungsfeld inszeniert werden. Für die Literatur des poetischen Realismus müssen Särge so attraktiv wie verdächtig sein. Weil sich viele Texte einerseits durch ein großes Interesse für Dinge, Dingwelten und Dingbeziehungen auszeichnen,1 andererseits aber ebenso durch ihren Anspruch, Hässliches 1 Die epochentypische Dingfixierung realistischer Texte ist mittlerweile durch eine Reihe literaturwissenschaft- licher Untersuchungen in ihren kulturwissenschaftlichen, poetischen und poetologischen Dimensionen gut erschlossen. Vgl. u. a. Grätz (2006), Schneider, Hunfeld (2008), Vedder (2011, 219–285), Bischoff (2013) oder Begemann (2018, 257–264). © 2021 Kerstin Roose - http://doi.org/10.3726/92170_439 - Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 Internationalen Lizenz Weitere Informationen: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0
440 | Kerstin Roose: Der Sarg als Objekt zwischen Ausstellen und Verbergen in Texten des Realismus und allzu Wirkliches – wie etwa den Tod – poetisch zu überhöhen, wird der Sarg zu einem ambivalenten Topos. Ein geeignetes Beispiel für die Entfaltung dieser Hypothese bietet Kellers Roman Der grüne Heinrich, der in einer Sarg-Episode einer solchen Ambivalenz von Dingfaszination und Poetisierungsanspruch deutlich Rechnung trägt. II. Gottfried Keller: „Der grüne Heinrich“. In Heinrichs Jugendgeschichte wird im Anschluss an den frühen Tod seiner Jugendliebe Anna eine so ausführliche Schilderung einer Sarganfertigung integriert, dass diese Szene zunächst fast als Einführung in das Handwerk des Sargbaus gelesen werden kann.2 Detailgenau beschreibt Heinrich, wie er mit einem Schreinergesellen auf einer beschaulichen Waldlichtung eine „zweckmäßige Hobelbank“ errichtet,3 wie die getrockneten Bretter zugesägt werden, wie auf einer Pfanne der Leim gekocht wird, wie damit der Sargboden zusammenfügt wird, wie die übrigen Bretter mit Hobel und Doppelhobel bearbeitet werden, wie er nach Anleitung des Gesel- len die Sargnägel schnitzt, wie damit die glatten, weißen Bretter zusammengesetzt werden und so fort.4 Das Ergebnis des Ganzen kann sich schließlich sehen lassen: [B]ald stand der fertige Sarg in seiner Einfachheit vor uns, schlank und ebenmäßig, der Deckel schön gewölbt. Der Schreiner hobelte mit wenigen Zügen eine schmale zierliche Hohlkehle um die Kanten, und ich sah verwundert, wie die zarten Linien sich spielend dem weichen Holze eindrückten; dann zog er zwei schöne Stücke Bimsstein hervor und rieb sie aneinander, indem er sie über den Sarg hielt und das weiße Pulver über denselben verbreitete; ich mußte lachen, als er die Stücke gerade so gewandt und anmutig handhabte und abklopfte, wie ich bei meiner Mutter gesehen, wenn sie zwei Zuckerschollen über einem Kuchen rieb. Als er aber den Sarg vollends mit dem Steine abschliff, wurde derselbe so weiß wie Schnee, und kaum der leiseste rötliche Hauch des Tannenholzes schimmerte noch durch, wie bei einer Apfelblüte. Er sah so weit schöner und edler aus als wenn er gemalt, vergoldet oder gar mit Erz beschlagen gewesen wäre.5 Mit diesem Passus wird eine doppelte Produktionsgeschichte in Szene gesetzt. Denn der Text synchronisiert die handwerkliche Erzeugung des Sarges mit dessen narrativer Erzeu- gung als einem poetischen Objekt. Nicht zuletzt die von Heinrich hergestellte, durchaus eigentümliche Verbindung zwischen Sargbau und mütterlichem Backwerk verweist darauf, dass man es hier mit einer hochgradigen Poetisierung zu tun hat. Dass das weiße Pulver der Schleifsteine durch Heinrichs Assoziation wie eine Zuckerschicht auf den Sarg rieselt, ist durchaus als Allegorie für ein Erzählen in Todesnähe lesbar, das hier ohne Verklärung nicht zu haben ist. 2 Tatsächlich hat diese Passage auch Eingang in Darstellungen zur Geschichte des Schreinerhandwerks gefunden. Vgl. Scheffler (1946, 495–498), Häussermann (1962, 139 f.). 3 Keller (2007, 453). 4 Vgl. Keller (2007, 453–456). Bemerkenswert ist diese Szene, und mit ihr der Sarg, auch deshalb, weil sie im Gefüge des Romans und seiner Ding-Erzählungen, soweit ich sehe, von singulärer Akribie ist. Eine gleichartige deskriptive Aufmerksamkeit für Entstehungsprozesse von Objekten – obschon in künstlerischer und nicht in handwerklicher Perspektive – widmet der Roman eigentlich nur noch Heinrichs Zeichnungen. 5 Keller (2007, 454 f.). 6 Keller (2007, 453). Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) Peter Lang
Kerstin Roose: Der Sarg als Objekt zwischen Ausstellen und Verbergen in Texten des Realismus | 441 Die Verklärung des Objekts und damit des Todes und der Toten, auf die es verweist, nimmt mindestens drei Wege. Zuallererst stört keine aufdringliche Trauer den Sargbau. Der für die Anfertigung eigens vorgenommene Ortswechsel – vom klageerfüllten Haus des Schulmeisters „ins lebendige Grüne“6 des Waldes – antizipiert auf der Handlungs ebene geradezu eine der Forderungen, die Friedrich Theodor Vischer an die verklärenden Erzählverfahren des realistischen Romans herantragen wird. Vischers vielzitierte Poeti- sierungsmetapher von der „Aufsuchung der grünen Stellen mitten in der eingetretenen Prosa“7 wird von Heinrich und dem Schreinergesellen ganz buchstäblich vollzogen, weil die Geräusche der Sargarbeiten vor dem Haus der Verstorbenen die Totenandacht stören. Fern vom Schmerz der Trauernden wird auf der Waldlichtung die latente Präsenz des Todes von der Naturschönheit des Ortes vollständig absorbiert. „Junge Buchen“, so erfährt man durch die Augen des zukünftigen Landschaftsmalers, „bilden dort am Wasser eine lichte Vorhalle“, ihre „goldenen Laubkronen […] wölbten“ sich über der Hobelbank, die Schwalben streiften „über den Seespiegel“, und „[d]ie Herbstsonne schien warm und lieblich drein, glänzte frei auf dem Wasser und verlor sich im blauen Duft der Waldnacht“.8 Zweitens, und etwas subtiler, installiert der Text sowohl semantische Korrespondenzen als auch materielle Vermischungen zwischen dieser idyllischen Naturszenerie und dem Sarg. „[D]ie gerollten Späne“ des Sargholzes vermischen sich mit dem „fallenden Laube“ der Bu- chen,9 zunächst auf dem Waldboden und später im Sarg selbst;10 und der Deckel desselben ‚wölbt‘ sich am Ende ebenso schön über Annas „letzte[m] Bett“,11 wie sich die Laubkronen der Bäume über der Hobelbank ‚wölbten‘.12 Eine solche sprachliche und materielle (Re-) Integration des hölzernen Sarges in den organischen Kreislauf der Natur relativiert die faktische und symbolische Todesnähe, die beständig von diesem Objekt ausstrahlt. Die Unausweichlichkeit des menschlichen Todes wird durch die zyklische Vorstellung eines natürlichen Werdens und Vergehens gemildert, bei der jede und jeder Einzelne mit dem Tod wieder in einen universalen Kreislauf übergeht.13 Gestützt wird diese Auffassung einer kontinuierlichen, menschliche Einzelschicksale überdauernden Naturordnung vom Text überdies in grammatikalischer Hinsicht, durch einen subtilen Wechsel der Zeitformen. Während die konkreten und in der erinnernden Erzählperspektive Heinrichs lange zu- rückliegenden Handlungselemente dieser Szene in der Vergangenheitsform erzählt werden, wird die Beschreibung der Lichtung selbst partiell ins Präsens gesetzt und so als sprachliche Konstruktion einer immerwährenden Naturgegenwart lesbar. 7 [Vischer in:] Bucher u. a. (1975, 216). 8 Vgl. Keller (2007, 453 f.). 9 Keller (2007, 453). 10 „[W]ir suchten die feinsten Hobelspäne, unter welche sich manches gefallene Laub mischte, zusammen und breiteten sie zum letzten Bett in den Sarg […].“ Keller (2007, 456). 11 Keller (2007, 456). 12 Keller (2007, 453). 13 Eben jenes Eingehen in eine universale, zyklische Naturordnung ist dann auch der einzige Trost, den der Erzähler im letzten Satz des Romans (in der ersten Fassung) seinem toten Protagonisten spenden kann: „So ging denn der tote grüne Heinrich auch den Weg hinauf in den alten Kirchhof, wo sein Vater und seine Mutter lagen. Es war ein schöner freundlicher Sommerabend, als man ihn mit Verwunderung und Teilnahme begrub, und es ist auf seinem Grabe ein recht frisches und grünes Gras gewachsen“ (Keller [2007, 768]). Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021)
442 | Kerstin Roose: Der Sarg als Objekt zwischen Ausstellen und Verbergen in Texten des Realismus Darüber hinaus und drittens korrespondiert die Darstellung des Sarges in auffallender Weise mit der Darstellung der Toten selbst. Letztere hatte schon in der Totenkammer bei Heinrich vor allem eines ausgelöst: poetische Begeisterung. Beim Anblick von Annas Leiche empfand er, wie es heißt, „beinahe eine Art glücklichen Stolzes […][,] eine so poetisch schöne tote Jugendgeliebte vor [sich] zu sehen.“14 Mit drei Attributen aktiviert der Text in Annas Totenkammer die kulturell wirkmächtige Amalgamierung von Weiblichkeit, Schönheit, Poesie und Tod15 und setzt diese in der Beschreibung des Objekts konsequent fort. Denn Heinrich bemüht für die Beschreibung des Sarges auffallend ähnliche Wortfelder wie zuvor für die Darstellung des poetisch-schönen Leichnams: Der Sarg ist so schneeweiß wie Annas Haut „blütenweiß[]“16, seine Linien sind ebenso „zart[]“17 wie die Linien ihres toten „zarte[n] Gesicht[s]“18, und „der leiseste rötliche Hauch [seines] Tannenholzes“19 wiederholt sogar fast wörtlich den „leisen rosigen Hauche“20, der noch am Morgen ihre Wangen überflog.21 Eine solch ausgeprägte optische wie narrative Parallelisierung von Sarg und toter Frau ist sowohl in kulturgeschichtlicher als auch in textimmanenter Perspektive bedeutsam. Zum einen kann sie als literarischer Spiegel einer Sepulkralkultur begriffen werden, die Särge im Idealfall nicht nur als Präsentations-, sondern auch als Repräsentationsmedien der Toten konzeptualisiert.22 Zum anderen bleibt dieser Zusammenhang im Kontext des Romans nicht ungebrochen. Denn hier hat der Sarg als Repräsentationsmedium viel weniger mit der Toten selbst zu tun als mit dem projektiven Wunschbild, das Heinrich (aber genauso die Familie und die Dorfgemeinschaft) sich von ihr macht. Ein letztes Mal manifestiert sich mit diesem Objekt auch die bildliche Festlegung der schon zu Lebzeiten als fragil und ätherisch verklärten Anna.23 Dass der Sarg so weiß ist wie ihr Gesicht, ihr Totenkleid und die Blumen, die ihn am Tag des Begräbnisses schmücken,24 symbolisiert deshalb nicht allein die Unschuld und Reinheit, die Anna noch auf den toten Leib geschrieben wird. 14 Keller (2007, 451). 15 Vgl. dazu grundlegend Bronfen (1994). 16 Keller (2007, 451). 17 Keller (2007, 454). 18 Keller (2007, 456). 19 Keller (2007, 455). 20 Keller (2007, 451). 21 Diese bis hierhin dargestellten Verklärungsmodi, insbesondere die sprachlich eruierte Symbiose zwischen Anna und ihrem Sarg, sind ein Grund dafür, dass diesem Aufsatz die erste Fassung von Kellers Roman zugrunde gelegt wird. Denn in der zweiten Fassung sind einige der für den gewählten Fokus relevanten Korresponden- zen entweder gestrichen oder umgeschrieben worden. Die Buchenkronen sind nun nicht mehr ‚golden‘, die Linien des Sarges werden nicht mehr in Äquivalenz zu Annas Gesichtszügen als ‚zart‘ benannt, und auch die wörtliche Analogie zwischen dem ‚leisesten rötlichen Hauch‘ des Sarges und dem ‚leisen rosigen Hauche‘ von Annas Wangen wird getilgt, indem es stattdessen heißt, dass „das blütenweiße Gesicht beständig zu einem leisen Erröten bereit schien“ (Keller [1928, 277]). 22 Vgl. Ströbl (2017), Gross, Rosentreter (2010, 262). 23 Die von Heinrich chronisch unternommene bildlich-stereotype Verklärung Annas (sowie ihrer Komplementärfi- gur Judith) ist vielfach diskutiert worden, vgl. zum Folgenden und zum Zusammenhang zwischen Imaginierung, Idealisierung und Medialisierung seiner Frauenbilder Schneider (2009). 24 „Am folgenden Tage wurde die Ärmste in den Sarg gelegt, von allen Blumen umgeben, welche in Haus und Garten augenblicklich blüheten; aber auf die Wölbung des Sarges wurde ein schwerer Kranz von Myrtenzweigen und weißen Rosen gelegt […] und außerdem noch so viele einzelne Sträuße weißer duftender Blüten aller Art, daß die ganze Oberfläche davon bedeckt wurde“ (Keller [2007, 456]). Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) Peter Lang
Kerstin Roose: Der Sarg als Objekt zwischen Ausstellen und Verbergen in Texten des Realismus | 443 Die Dominanz des Weißen25 korrespondiert auch signifikant mit Heinrichs Künstler- biographie, ruft sie doch zugleich den farblichen Urgrund all der Bildmedien auf, die den Roman leitmotivisch durchziehen. Mit der Referenz auf das Motivfeld der weißen Papierbögen und Leinwände,26 auf denen die Farbe Weiß zuvorderst „der Einzeichnung oder Einschreibung den noch unbezeichneten Raum eröffnet“,27 rückt auch der Sarg als ein Medium der Bildgebung in den Blick. Mindestens ebenso deutlich angezeigt ist dieser Aspekt einer sargbasierten Bildschöpfung durch jene Glasscheibe, die zur Vollendung des Sarges in seinen Deckel eingelassen wird: Am Haupte hatte der Schreiner der Sitte gemäß eine Öffnung mit einem Schieber angebracht, durch welche man das Gesicht sehen konnte, bis der Sarg versenkt wurde; es galt nun noch eine Glasscheibe einzusetzen, welche man vergessen, und ich fuhr nach dem Hause, um eine solche zu holen. Ich wußte schon, daß auf einem Schranke ein alter kleiner Rahmen lag, aus welchem das Bild lange verschwunden. Ich nahm das vergessene Glas, legte es vorsichtig in den Nachen und fuhr zurück. […] [I]ch probierte […] die Scheibe, und als ich fand, daß sie genau in die Öffnung paßte, tauchte ich sie, da sie ganz bestaubt und verdunkelt war, in den klaren Bach und wusch sie sorgfältig, ohne sie an den Steinen zu zerbrechen.28 Unverkennbar ruft Kellers Roman mit diesem Element den genderspezifischen Topos der schönen, im Glassarg ausgestellten, weiblichen Leiche auf. Ebenso wie ihre literarischen Schwestern – Grimms Schneewittchen 29 und Goethes Ottilie30 – wird auch die tote Anna von einem männlichen Protagonisten hinter Glas gebannt und damit temporär zur Auto-Ikone. Indem ihr Sarg durch das Glas zu einem Schaukasten wird, wird ihr darin ver- borgener und zugleich ausgestellter Körper zum Objekt einer kurzfristigen Musealisierung, 25 Zum motivischen und semantischen Feld der Farbe Weiß und ihrer Konnotation eines fetischisierenden Begeh- rens des Weiblichen vgl. Schneider (2009, 206) sowie in Bezug auf das Motivspektrum der ‚weißen Wolken‘ Menninghaus (1982). 26 Vgl. Keller (2007, u. a. 16, 204, 393, 422, 647). 27 Schneider (2009, 206). 28 Keller (2007, 455). 29 Die Referenzen auf Grimms Sneewittchen (1819) und die dem gesamten Begräbnisszenario so unterlegte Dimension des Märchenhaften haben relevanten Anteil an der Verklärungsstrategie des Textes. Sie erschöpfen sich nicht im Glassarg, sondern finden sich überdies in der bereits zitierten Sargbeschreibung ‚so weiß wie Schnee‘, aber auch im Motiv des Berges, das am Begräbnistag aufgerufen wird. Denn ebenso wie das nicht verwesende Schneewittchen, das den Zwergen zu schade für ein Erdbegräbnis scheint und daher gut sichtbar in seinem Glassarg auf einem Berg auf- und ausgestellt wird, kommt auch Annas Glassarg vor ihrer Beisetzung auf einem Berg zu stehen: „Das Begräbnis sollte vom Hause des Oheims aus stattfinden, und zu diesem Ende hin mußte Anna erst über den Berg getragen werden. Es erschienen daher eine Anzahl Jünglinge aus dem Dorfe, welche die Bahre abwechselnd auf ihre Schultern nahmen […]. Auf der sonnigen Höhe des Berges wurde ein kurzer Halt gemacht und die Bahre auf die Erde gesetzt. Es war so schön hier oben! […] Hoch am blauen Himmel zogen leuchtende weiße Wolken und schienen über dem Blumensarge einen Augenblick still zu stehen und neugierig durch das Fensterchen zu gucken, welches fast schalkhaft zwischen den Myrten und Rosen hervorfunkelte im Widerscheine der Wolken. Wir saßen, wie es sich traf, umher und selbst mich rührte jetzt eine große Traurig- keit, so daß mir einige Tränen entfielen, als ich bedachte, daß Anna nun zum letzten Mal und tot über diesen schönen Berg gehe“ (Keller [2007, 456 f.]). 30 In Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften (1809) willigt Eduard bekanntlich erst nach langem Widerstreben und nur unter der Bedingung in Ottilies Beisetzung ein, „daß sie im offenen Sarge hinausgetragen, und in dem Gewölbe allenfalls nur mit einem Glasdeckel zugedeckt […] werden sollte“ (Goethe [2002, 255]). Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021)
444 | Kerstin Roose: Der Sarg als Objekt zwischen Ausstellen und Verbergen in Texten des Realismus der einer vorzüglich ästhetisierenden und rein visuellen Wahrnehmung unterworfen ist. Denn wie bei einem Kunstwerk reduziert sich auch bei der Toten im Glassarg der Rezep- tionsmodus zwangsläufig von der haptischen auf die ausschließlich visuelle Berührung.31 Die Glasscheibe erzeugt mithin Nähe und Distanz zugleich. Durch sie bleibt die Leiche einerseits bis zum finalen Begräbnis sichtbar, andererseits wird Anna hinter dieser materi- ellen Trennschicht bereits auf Abstand zu den Lebenden gebracht. Die ästhetisierende Verklärung Annas sowie die medial fixierte Distanz zu ihr, all das erfasst noch einmal in nuce, was schon zu Lebzeiten Heinrichs Beziehung zu ihr charak- terisierte. Denn das Sargarrangement wiederholt mit einiger poetischer Penetranz die Ausgestaltung, die der Roman mit dem einst von Heinrich künstlerisch ungelenk verfer- tigten Bild Annas in Szene gesetzt hatte. Wie der Sarg war auch dieses Bild ehedem in der beschaulichen Einsamkeit des Waldes „an einem klaren Spiegelwässerchen unter dichtem Blätterdache“32 entstanden; wie der Sarg wurde auch dieses Bild (obschon in die andere Richtung) über den Berg getragen, nachdem es durch einen Streich von Heinrichs Basen zum Geschenk für Annas Vater geworden war. Es zeigte Anna „in ganzer Figur […] in einem reichen Blumenbeete, dessen hohe Blüten und Kronen mit Annas Haupt in den tief blauen Himmel ragten; der obere Teil der Zeichnung war bogenförmig abgerundet und mit Rankenwerk eingefaßt“.33 Während Heinrichs Zeichnung also das Bild der im Sarg liegenden, blumenumkränzten Leiche bereits präfiguriert, wird die Zeichnung wiederum durch die Sarg-Inszenierung retrospektiv in ihrer mortifizierenden Dimension sichtbar.34 Doch nicht nur durch die vergleichbare künstlerische Ausgestaltung wird die tote Anna in eigentümlicher Verkehrung einer Sujet-Bild-Relation zum Ebenbild ihres eigenen Bildes. Eine zusätzliche Korrespondenz beider Bildnisse eröffnet die Äquivalenz ihrer materiellen Einfassungen. Denn auch die mit dem ‚Rankenwerk‘ bereits malerisch gerahmte Anna wird noch einmal, wie dann ihr toter Körper, in Glas und Rahmen gebracht. Heinrichs Basen hatten [a]n einem verdorbenen Kupferstiche […] einen schmalen, in Holz auf das Zierlichste geschnitte- nen Rahmen gefunden, welcher wohl siebenzig Jahr alt sein mochte und eine auf einen schmalen Stab gelegte Reihe von Müschelchen vorstellte, von denen eins das andere halb bedeckte. An der inneren Kante lief eine feine Kette mit viereckigen Gelenken herum […][,] die äußere Kante war mit einer Perlenschnur umzogen. Der Dorfglaser […] hatte den Muscheln einen rötlichen Glanz gegeben, die Kette vergoldet und die Perlen versilbert und ein neues klares Glas genommen, so daß ich höchst erstaunt war, meine Zeichnung in diesem Aufputze wiederzufinden.35 31 „[…] Kunst bleibt im Register des Blickens, schließt Berührung aus, verschiebt die Berührung auf den Blick, verwandelt den Blick in eine Form der Berührung“ (Bronfen [1994, 151]). 32 Keller (2007, 303). Zum lokalen Setting des ‚klaren Spiegelwassers‘ als intertextuelle Markierung des Nar- ziss-Mythos vgl. Schneider (2009). Auch in der Sargszene lässt sich diese Referenz (und somit die Analogie zwischen Heinrich und Narziss) mit dem ‚Seespiegel‘ noch einmal herstellen. 33 Keller (2007, 304). 34 Zum Zusammenhang zwischen Bildwerdung und Mortifikation der Frauenfiguren als Bedingung für die Grün- dung der männlichen Künstlerbiographie vgl. u. a. Menninghaus (1982, 30 f. und 39 f.). Zur grundlegenden medialen Ambivalenz von Bildern zwischen scheinhafter Verlebendigung und vorträglicher Mortifikation ihres Gegenstandes vgl. Därmann (1995, 182). 35 Keller (2007, 310). Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) Peter Lang
Kerstin Roose: Der Sarg als Objekt zwischen Ausstellen und Verbergen in Texten des Realismus | 445 Dass der Sarg durch die eingesetzte Glasscheibe zu einem Bilder- bzw. Objektrahmen gerät, ist also doppelt vorbereitet, erstens durch die romanimmanente Referenz auf Annas Bildnis und zweitens durch den Rekurs auf eine analoge Dingbiographie, schließlich stammt auch die Glasscheibe des Sarges ihrerseits aus einem alten, ausgedienten Bilderrahmen. Die somit zweifach indizierte ästhetisierende Wirkung des Glases wird von Heinrich während des Begräbnisses explizit realisiert und als Erklärung für seine ästhetisch genießende, distanziert-gehobene Gefühlslage ausformuliert: Ich glaube, die Glasscheibe tat es mir an, daß ich das Gut, was sie verschloß, gleich einem in Glas und Rahmen gefaßten Teil meiner Erfahrung, meines Lebens, in gehobener und feierlicher Stimmung, aber in vollkommener Ruhe begraben sah; noch heute weiß ich nicht, war es Stärke oder Schwäche, daß ich dies tragische und feierliche Ereignis viel eher genoß als erduldete […].36 An die Seite dieser rahmenden-ästhetisierenden Funktion der Glasscheibe tritt zuletzt ein ikonischer Aspekt, der, obschon als zufällig stilisiert, maßgeblich zu Annas finaler Verklä- rung und Bildwerdung beiträgt. Während Heinrich die Scheibe im Bach so vorsichtig vom Staub vergangener Jahre befreit, hat er ein geradezu surreales Erlebnis: [Ich] ließ das lautere Wasser ablaufen, und indem ich das glänzende Glas hoch gegen die Sonne hielt und durch dasselbe schaute, erblickte ich das lieblichste Wunder, das ich je gesehen. Ich sah nämlich drei reizende, musizierende Engelknaben; der mittlere hielt ein Notenblatt und sang, die beiden anderen spielten auf altertümlichen Geigen, und alle schaueten freudig und andachtsvoll nach oben; aber die Erscheinung war so luftig und zart durchsichtig, daß ich nicht wußte, ob sie auf den Sonnenstrahlen, im Glase oder nur in meiner Phantasie schwebte. Wenn ich die Scheibe bewegte, so verschwanden die Engel auf Augenblicke, bis ich sie plötzlich mit einer anderen Wen- dung wieder entdeckte. […] Jetzt […] war mir die kostbare Scheibe die schönste Gabe, welche ich in den Sarg legen konnte, und ich befestigte sie selbst an dem Deckel, ohne jemandem etwas von dem Geheimnis zu sagen.37 Das Engelsglas macht den Sarg in letzter Instanz zu einem Verklärungsmedium der Toten. Indem das rätselhafte Bild der Engel ihr blasses Gesicht wie ein Palimpsest überlagern wird, ist ihre finale und schon mit Heinrichs Zeichnung initiierte Stilisierung zum „Bild einer märchenhaften Kirchenheiligen“ perfekt.38 Mit dieser Bilderverknüpfung des Romans ist es dann auch nur konsequent, dass der Text in der Begräbnisszene selbst gar nicht mehr explizit von der Wirkkraft des Engelsglases erzählt, sondern diese lediglich als Imagina tionsauftrag an die Rezipierenden überträgt. Jenseits der Diegese steht die Glasscheibe noch für einen anderen Befund ein: nämlich dafür, dass Dinge in Texten des Realismus prinzipiell als poetologisch relevant gewertet werden können. Ausgestellt wird durch das Glas nicht nur die zum Bild verklärte Leiche, sondern auch eine Prämisse realistischen Erzählens. Denn die Glasscheibe wird doppelt vermittelt, indem ihre Narration zwischen poetischer Verklärung und realweltlicher Erklä- rung changiert. Obschon der Passus die jugendliche Verzauberung Heinrichs beim Anblick 36 Keller (2007, 457). 37 Keller (2007, 455 f.). 38 Keller (2007, 311). Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021)
446 | Kerstin Roose: Der Sarg als Objekt zwischen Ausstellen und Verbergen in Texten des Realismus der mysteriösen Engel einerseits reaktiviert, ergänzt er diese andererseits doch sofort mit der nachträglichen Perspektive eines dem Wunder(n) entwachsenen Protagonisten: „Ich habe seither erfahren, daß Kupferstiche oder Zeichnungen, welche lange, lange Jahre hinter einem Glase ungestört liegen, während der dunklen Nächte dieser Jahre sich dem Glase mitteilen und gleichsam ihr dauerndes Spiegelbild in demselben zurücklassen.“39 Die Engel auf der Glasscheibe sind also kein jenseitiges Wunder, sondern das sehr diesseitige Ergebnis einer chemischen Reaktion und als solche ein weiteres Zugeständnis an die Konventionen realistischen Erzählens. Von der Engelserscheinung wird hier nur unter der Voraussetzung erzählt, dass das spätere Wissen um ihre Entstehung gleich mitgeliefert wird. Einerseits darf das ‚lieblichste Wunder‘ mit der erinnerten Perspektive des jugendlichen Protagonisten auch für die Rezipierenden kurzfristig noch einmal als unerklärliches ‚Wunder‘ aufschei- nen, andererseits, und ganz in realistischer Manier, wird es durch die nahtlos eingefügte Wissensperspektive des erwachsenen Protagonisten metonymisch relativiert, so dass seine Wirklichkeitsreferenz gewährleistet ist.40 III. Wilhelm Raabe: „Im alten Eisen“. Mit der bis hierhin dargestellten Poetisierung des Sarges – verklärtes Objekt und Medium der Verklärung in einem – hat Wilhelm Raabes Erzählung Im alten Eisen gar nichts gemein. Statt ländlicher Gemeinschaft und Waldidylle regiert das Armenmilieu der geschäftig-anonymen Großstadt, und statt ei- nes individuell gefertigten, schneeweißen Sarges fokussiert dieser Text einen sperrigen „schwarzen Kasten“,41 der primär auf seine Funktionalität reduziert wird. Die Idee für seine Erzählung hatte Raabe der Tagespresse entnommen.42 Diese berich- tete im März 1877 unter dem Titel Eine Armenleiche43 von zwei Kindern, die in einer Berliner Mietskaserne drei Tage bei der Leiche ihrer Mutter ausharren mussten. Und nicht nur das: Kaum unterstützt von Nachbarn und staatlichen Fürsorge-Instanzen hatten sie überdies das Begräbnis mittellos und eigenständig zu arrangieren. Raabes Text entwickelt daraus eine düstere literarische Sozialkritik. Innerhalb der Erzählung vom konfliktreichen Wiedersehen der ehemaligen Jugendfreunde Peter Uhusen und Albin Brokenkorb wird der Handlungsstrang um die Kinder zur Geschichte eines Begräbnisses, bei dem nahezu alles schief geht. Während die achtjährige Schwester mit der Leiche allein in der Dach- mansarde zurückbleibt, streng gemieden von den Nachbarn, die eine Ansteckung durch die Tote befürchten, eilt der dreizehnjährige Bruder zu Beginn des Textes quer durch die sonntägliche Stadt, um die materiellen Modalitäten der Bestattung zu organisieren. Er läuft mit dem Totenschein des Armenarztes zum Armenvorsteher des Bezirks. Dieser fertigt einen Bestellschein für den Sarg aus. Mit diesem Schein hetzt der Junge nun weiter zum Bezirksarmenschreiner, der bei seiner Ankunft nur lakonisch pariert: „Hm, auch wieder’n 39 Keller (2007, 455). 40 Vgl. dazu Rakow (2013, 165 f.) und ferner Borghardt (2019). 41 Raabe (1985, 140). 42 Vgl. zur Entstehungsgeschichte und Quellengrundlage der Erzählung Raabe (1970, 573–582), Bertschik (2016, 211 f.). 43 Den vollständigen Abdruck dieser in Raabes Nachlass gefundenen Zeitungsnotiz enthält die Braunschweiger Ausgabe der Sämtlichen Werke, Raabe (1970, 573 ff.). Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) Peter Lang
Kerstin Roose: Der Sarg als Objekt zwischen Ausstellen und Verbergen in Texten des Realismus | 447 Geschäft!“44 ‚Geschäft‘ – das ist in Raabes Erzählung ein Leitbegriff.45 Das „Geschäft“ desavouiert das Zwischenmenschliche des modernen großstädtischen Zusammenlebens als ein Gefüge sachlich-systemischer Funktionszusammenhänge und wird zugleich zum Synonym für einen pragmatischen Umgang mit dem Tod46 sowie zur poetischen Richtlinie für die Literarisierungsmöglichkeiten des Sarges. Zwei Tage nach dem Tod der Mutter kommt zwar die Leichenkutsche pünktlich, aber der Sarg zu spät – und der Kutscher fährt wieder ab. Dann wird der Sarg angeliefert, doch vom Tischlerlehrling lediglich im Hof abgestellt. Nur mit der Hilfe eines Nachbarn können ihn die beiden Kinder schließlich die vielen Treppen nach oben ziehen. Dort müssen sie die tote Mutter selbst einsargen und dabei feststellen, dass die Sargnägel fehlen. Für diese muss der Sohn erst den letzten werthaften Besitz, einen Offiziersdegen des Großvaters, im Altwarenladen versetzen, bevor er den Sarg damit – „wie ein Handwerksmann, den die ganze Geschichte nichts angeht“47 – eigenhändig zunagelt. Natürlich fehlt auch der Hammer, und der Junge behilft sich notdürftig mit einem Stück Holz aus dem Treppengeländer. Als der Sarg am Abend dann endlich auf dem Friedhof ankommt, ist es für das Begräbnis zu spät. Die Kinder, die den weiten Weg zum Friedhof neben der Leichenkutsche herlaufen mussten, werden unbegleitet in die Berliner Nacht zurückgeschickt, und die Bestattung wird auf den nächsten Tag verschoben. Dann aber wird sie so plangemäß durchgeführt, dass dafür nicht einmal die erneute Ankunft der Kinder abgewartet wird. Als der Sohn am Morgen in Begleitung von Peter Uhusen etwas verspätet auf dem Friedhof ankommt, findet er von Mutter und Sarg nicht viel mehr als „frisch aufgeschüttete[] Erde“.48 Auf literarische Weise bestätigt diese letzte tragische Unbill das, was Philippe Ariès in seiner Geschichte des Todes (1978) als ein sozialhistorisches Merkmal für seine These einer zunehmenden ‚Ausbürgerung des Todes in der Moderne‘ notieren wird: „Die Gesellschaft legt keine Pause mehr ein. Das Verschwinden eines einzelnen unterbricht nicht mehr ihren kontinuierlichen Gang. Das Leben der Großstadt wirkt so, als ob niemand stürbe.“49 In Raabes Erzählung dreht sich das Rad der Großstadt so unerbittlich weiter, dass nicht mal die Totengräber innehalten. Bevor der Sarg allerdings so geschäftsmäßig in der Erde ver- schwunden ist, wird er – ähnlich wie in Melvilles Moby Dick – auf zentrale Weise mit dem Erzählen verbunden. Nicht weil davon erzählt wird, sondern grundlegender: weil erst das Objekt selbst den Handlungsverlauf und die Begegnungen der Protagonisten motiviert und strukturiert. Denn erst die Dysfunktionalität des Sarges, verursacht durch das Fehlen der Nägel, setzt die Ereigniskette in Gang. Sie führt den Sohn in den Alteisenkeller von Frau Cruse und lässt ihn dort den Degen „für eine Düte Sargnägel“ versetzen.50 Und nur deshalb 44 Raabe (1985, 14). 45 Vgl. Raabe (1985, u. a. 16, 46, 53, 56, 59, 109, 174). 46 „Witwe Wermuth? Ja, auf Namen können wir uns hier und zumal auf der Armenseite nicht gut einlassen; aber die Nummer mit den beiden Kindern zur Begleitung […][,] zu der kann ich Sie gern führen. Dieser Kondukt kam leider wirklich für heute zu spät am Tage, und so haben wir uns dieses Geschäft bis morgen früh aufheben müssen“ (Raabe [1985, 139]). 47 Raabe (1985, 129). 48 Raabe (1985, 182). 49 Ariès (2002, 716). 50 Raabe (1985, 72). Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021)
448 | Kerstin Roose: Der Sarg als Objekt zwischen Ausstellen und Verbergen in Texten des Realismus kann der Protagonist Peter Uhusen den Degen später dort finden, an dessen Inschrift die verstorbene Mutter als Jugendfreundin erkennen und in Sorge um die verwaisten Kinder die Suche nach diesen beginnen. Doch obwohl dem Sarg in erzähltechnischer Perspektive die primäre handlungs- strukturierende Funktion zufällt, ist besagter Degen für den Erzähler nachweislich das interessantere Objekt. Und wie die Forschung zu Raabes Text zeigt, ist er das auch für die Literaturwissenschaft.51 Im Degen, der indirekt ja schon im Titel auftauchen darf, vereint sich nahezu alles, wovon die dingaffinen Texte des Realismus so gern erzählen. Während der Sarg auf seine realgeschichtliche Kurzlebigkeit und Funktionalität reduziert und als ein Objekt inszeniert wird, das zum raschen (optischen) Verschwinden hergestellt ist und nur einmal für ein spezifisches Ereignis genutzt wird, können am Degen das Alter des Objekts, die damit verbundene semantische Komplexität und die daraus resultierende narrative Pro- duktivität ausgespielt werden. Der Degen ist singuläres Erbstück, Erinnerungsstück, Waffe und historisches Artefakt in einem. Durch ihn lassen sich sowohl die Kriegsgeschichten des Großvaters als auch die Kindheitsgeschichten der verstorbenen Mutter erinnern, erzählen und tradieren. Und weniger in seiner Funktion als Waffe, sondern durch diese narrative Aufladung spendet er den Kindern Trost, Schutz und Mut – gerade während der aufge- zwungenen mehrtägigen Totenwache, bei der die Tote immer weniger als vertraute Mutter und immer mehr als furchteinflößende, fremde Leiche wahrgenommen wird.52 Darüber hinaus wird der Degen, zumindest seitens einer dinginteressierten Literaturwissenschaft, in seinem Umschlagen von einem Erinnerungsstück zu einem Tausch- und Trödelobjekt auch als eine produktive, literarische Reflexionsfigur für jene Zirkulations- und Umwer- tungsprozesse betrachtet, denen die Dinge in der Moderne zunehmend unterworfen sind. Während vom Degen also nicht nur viel erzählt werden kann, sondern auch viel erzählt wird, bleibt der Sarg im Text ebenso wesentlich wie unbestimmt.53 Im Kontrast zum Degen gerät er zu einem peripheren Objekt, welches zwar die Handlung motiviert und struktu- riert, aber dennoch vom Text kaum beschrieben, sondern bestenfalls benannt wird. Dies immerhin in aussagekräftiger und variantenreicher Verknappung. In Referenz auf eine 51 Vgl. Grätz (2006, 471–474), Vedder (2011, 253 ff.). 52 „Je länger diese tote Mutter nicht sprach, desto mehr fürchtete sich ihr jüngstes Kind vor ihr und wagte nicht nach ihr hinzusehen. Da war es sehr nützlich, daß die ältere Waise, daß der Junge in den Gassen aufgewachsen war und schon mehr tote Menschen gesehen hatte und wußte, daß die Toten nicht reden. Aber noch besser war es, daß er, wenigstens an diesen beiden Tagen und in diesen zwei Nächten, den Degen seines Großvaters noch zur Abwehr besaß […]“ (Raabe [1985, 77]). 53 Die Dingkonstellation der Erzählung geht indes nicht vollständig in dem hier fokussierten Dualgefüge von Sarg und Degen auf. Auf das dritte handlungskonfigurierende Objekt des Textes, Uhusens Stock, kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Festgehalten sei zumindest, dass dieser Weißdornknüppel in doppelter Hinsicht die Mitte zwischen Sarg und Degen bildet. Zum einen vereinen sich beide Objekte in dessen gegen- ständlicher Beschaffenheit, denn der Knüppel ist hölzern wie der Sarg und gleicht formgestaltlich dem Degen. Zum anderen bildet er auch in seiner quantitativen und qualitativen Ausgestaltung das Mittelglied zwischen kaum erzähltem Sarg und intensiv auserzähltem Degen. Wie dem Degen werden ihm zeichenhafte Präsenz (vgl. Raabe 2007, u. a. 37, 41, 68) und narrative Potenz (vgl. Raabe 2007, z. B. 35, 42) attestiert. Aber wie der Sarg verschwindet er noch vor Ende des Textes aus den Augen des Erzählers. Zum einen, weil er zerbricht und als Stock damit unbrauchbar wird. Zum anderen, weil seine Aufgabe als Zeichenträger im Rahmen der Handlung abgeschlossen ist. Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) Peter Lang
Kerstin Roose: Der Sarg als Objekt zwischen Ausstellen und Verbergen in Texten des Realismus | 449 kulturell tradierte Metaphorik, die Wohnen und Tod korreliert, wird auch dieser Sarg als „letzte[s] harte[s] Bett“ deklariert,54 im Rahmen seiner funktionalen Reduzierung erscheint er als „schwarze[r] Kasten“,55 in Bezug auf seine symbolische und funktionale Todesnähe als „schaurige, schwarze Kiste“56 und in seiner sozialhistorischen Perspektivierung schließlich als „Nasenquetscher“.57 Anders als Kellers Heinrich stellt Raabes Erzähler also die Literaturfähigkeit des Sarges indirekt durchaus in Frage, ohne der Notwendigkeit einer Literarisierung vollständig ent- kommen zu können. Doch er pariert diese Unumgänglichkeit, indem weder er noch seine Protagonisten Ästhetisierungs- oder Imaginationsenergien in dieses Objekt investieren. Stattdessen wird mit der Verbindung von Sarg und Degen hier neben der ökonomischen Allianz vor allem eine poetische Hierarchie ‚letzter Dinge‘ etabliert. Und wie um diese doppelte Verknüpfung beider Objekte zu bestätigen, bringt der Text statt der Figuren die disparaten Objekte zum Begräbnis der Witwe Wermuth ein letztes Mal zusammen. Der Sarg wird in dieser Konstellation nicht nur als ein Objekt relevant, das auf der Handlungs- ebene den Leichnam der Mutter birgt und verbirgt. Er wird auf der Darstellungsebene auch selbst als ein Objekt konfiguriert, das sich im narrativen Spannungsfeld von Ausstellen und Verbergen bewegt. Der diegetisch anwesende, aber narrativ abwesende Sarg verweist mithin darauf, dass Objekte Zeit- und Funktionsregimes unterliegen, die nicht nur ihre außerliterarische Existenz bestimmen, sondern auch die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen ihrer Literarisierungen aufwerfen. Während also Kellers Romanpassage den Sarg zwar narrativ exponiert, dessen Todes- nähe aber hinter einer Reihe ästhetisierender und verklärender Erzählverfahren verbirgt, stellt Raabes Erzählung die Todesnähe des Objekts zwar aus, verbirgt jedoch umgekehrt das Objekt selbst durch dessen narrative Marginalisierung. Eine solche Kontrastierung von exponierend-verklärender und verbergend-marginalisierter Darstellung steckt nicht nur die Extrempole einer Literarisierung von Särgen im Realismus ab und belegt so das ambivalente Verhältnis der Literatur zu dieser Objektklasse. Auch das doppelte Potenzial einer bislang noch ausstehenden Literaturgeschichte des Sarges ist damit partiell skizziert. Mit Blick auf die poetischen und poetologischen Qualitäten von Särgen und die Verfahren ihrer Ästhetisierung könnte diese spezifische Literaturgeschichte einen relevanten Beitrag zu einer Poetik peripherer Objekte leisten und das Forschungsfeld zum Verhältnis von Literatur und materieller Kultur von seinen Rändern aus weiter bereichern. Zugleich trüge sie dazu bei, die Quellengrundlage für die sepulkralkulturelle Erschließung von Särgen zu ergänzen. 54 Raabe (1985, 128). 55 Raabe (1985, 140). 56 Raabe (1985, 146, 158). 57 Raabe (1985, 140). ‚Nasenquetscher‘ wurden volksmundlich nicht nur Sehhilfen, sondern auch schlichte, durch Gemeindekosten finanzierte Armensärge genannt. Ex negativo tradiert diese Bezeichnung damit auch eine realgeschichtliche Entwicklungslinie des Objekts. Sie rekurriert auf die zunächst flachen Sargdeckel, die sukzessive von höher gestalteten Deckeln abgelöst werden: „In der gesamten Neuzeit […] haben die Särge nun fast durchgehend hohe Deckel, die nicht mehr aus einer aufgelegten Platte bestehen, sondern erst einen dreieckigen und dann trapezförmigen Querschnitt haben. […] [E]in höherer Deckel [gewährleistet], dass der Leichnam innerhalb des Sarges auf einem höheren Niveau zu liegen kommt und nicht, wie beim Flachdeckelsarg, unterhalb der Oberkante des Untersarges liegen muss“ (Ströbl [2017, 17]). Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021)
450 | Kerstin Roose: Der Sarg als Objekt zwischen Ausstellen und Verbergen in Texten des Realismus Denn für kaum eine andere Objektklasse ist die Literatur in ihrer archivierenden Funktion so relevant wie für Särge – dies gilt zumindest für die nur schwer zu rekonstruierenden Särge der Mittel- und Unterschicht.58 Obschon fiktionalisiert und poetisiert, konserviert noch der marginalste Nasenquetscher im Medium der Literatur, was real-dinglich dem zügigen Verschwinden und Verfall ausgesetzt und der sepulkralkulturellen Forschung als materielle Grundlage damit für immer entzogen ist. Literaturverzeichnis Ariès, Philippe (102002): Geschichte des Todes. München. Begemann, Christian (2018, 257–264): Realismus und Wahrnehmung der Dinge. Adalbert Stifter. In: S. Scholz, U. Vedder (Hrsg.): Handbuch Literatur & Materielle Kultur. Berlin, Boston. Bertschik, Julia (2016, 211–215): Art.: „Im alten Eisen“. In: D. Göttsche, F. Krobb, R. Parr (Hrsg.): Raabe-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart. Bischoff, Doerte (2013): Poetischer Fetischismus. Der Kult der Dinge im 19. Jahrhundert. München. Borghardt, Dennis (2019): Medialität als realistisches Prinzip. Gottfried Kellers Umwertungen der Wirklichkeit. , zuletzt: 28.1.2021. Bronfen, Elisabeth (21994): Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik. München. Bucher, Max u. a. (Hrsg.) (1975, 216–220): Realismus und Gründerzeit. Bd. 2: Manifeste und Doku- mente zur deutschen Literatur 1848–1880. Stuttgart. Därmann, Iris (1995): Tod und Bild. Eine phänomenologische Mediengeschichte. München. Goethe, Johann Wolfgang (2002): Die Wahlverwandtschaften [11809]. Stuttgart. Grätz, Katharina (2006): Musealer Historismus. Die Gegenwart des Vergangenen bei Stifter, Keller und Raabe. Heidelberg. Gross, Dominik, Michael Rosentreter (2010, 261–266): Art.: Sarg. In: H. Wittwer, D. Schäfer, A. Frewer (Hrsg.): Sterben und Tod. Geschichte – Theorie – Ethik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart. Häussermann, Ulrich (1962): Holz und bauende Hand. Die Geschichte des Schreinerhandwerks. Stuttgart. Keller, Gottfried (1928): Sämtliche Werke. M. e. Geleitwort v. E. Ermatinger. Bd. 1. Leipzig. – (2007): Der grüne Heinrich. Erste Fassung [11854/55]. Hrsg. u. m. e. Nachwort versehen v. C. He- selhaus. München. Menninghaus, Winfried (1982, 14–60): Weiße Wolken im „Grünen Heinrich“. Artistische Ökono- mie eines erotischen ‚Bildes‘. In: Ders.: Artistische Schrift. Studien zur Kompositionskunst Gott- fried Kellers. Frankfurt a. M. Raabe, Wilhelm (1970, 573–582): Sämtliche Werke (= Braunschweiger Ausgabe). Hrsg. v. K. Hoppe. Bd. 16. Bearb. v. H. Oppermann. Göttingen. – (1985): Im alten Eisen [11887]. Hrsg. v. H.-J. Schrader. Frankfurt a. M. Rakow, Christian (2013): Die Ökonomien des Realismus. Kulturpoetische Untersuchungen zur Lite- ratur und Volkswirtschaftslehre 1850–1900. Berlin, Boston. Scheffler, Karl (1946): Lesebuch aus dem Handwerk. Berlin. Schneider, Sabine (2009, 201–219): Ikonen der Liebe. Heinrichs Frauenbilder. In: W. Groddeck (Hrsg.): Der grüne Heinrich. Gottfried Kellers Lebensbuch – neu gelesen. Zürich. 58 Vgl. exemplarisch zu dieser Problematik aus der Perspektive der Sepulkralkultur Weiss (1994, 21). Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) Peter Lang
Kerstin Roose: Der Sarg als Objekt zwischen Ausstellen und Verbergen in Texten des Realismus | 451 –, Barbara Hunfeld (Hrsg.) (2008): Die Dinge und die Zeichen. Dimensionen des Realistischen in der Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts. Würzburg. Ströbl, Andreas (2017, 13–36): Sarg und Grabmal – Wechselspiele zwischen Repräsentation und Ver- hüllung. In: Ethnoscripts. Zeitschrift für aktuelle ethnologische Studien, 19. Jg., H. 1. Vedder, Ulrike (2011): Das Testament als literarisches Dispositiv. Kulturelle Praktiken des Erbes in der Literatur des 19. Jahrhunderts. München. Weiss, Philipp (21994, 10–22): Eine kleine Geschichte des Sarges. In: W. Neumann (Hrsg.): Vom Totenbaum zum Designersarg. Zur Kulturgeschichte des Sarges von der Antike bis zur Gegenwart. Kassel. Abstract Särge sind ambivalente Objekte, die genauso zur Peripherie des menschlichen Lebens wie zur Peripherie der Dingwelt gehören. Ihre realweltlichen Funktionen des Ausstellens und Verbergens korrespondieren in der Literatur des Realismus auffällig mit ihrer narrativen Ausgestaltung. In Folge zweier Koordinaten realistischen Erzählens – dem Dinginteresse einerseits, dem Verklärungsanspruch andererseits – bewegt sich der Sarg als Erzählobjekt in einem Spannungsfeld zwischen exponierend-verklärenden und verber- gend-marginalisierenden Darstellungsverfahren. Coffins are ambivalent objects that belong to the periphery of human life as well as to the periphery of the world of things. In the literature of realism, their real-world functions of exhibiting and hiding correspond conspicuously with their narrative design. Two coordinates of realistic narration – the interest in things on the one hand, the claim to transfiguration on the other hand – cause the narrative object to be pulled between opposing poles of presentation: The coffin might be exposed and transfigured as well as concealed and marginalized. Keywords: Dinge im Realismus, Gottfried Keller, Sarg, Wilhelm Raabe Anschrift der Verfasserin: Kerstin Roose, Hufelandstraße 10, D–10407 Berlin, Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021)
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