LINIEN UND UMWEGE BYZANZ, NATION UND DER KANON DER KUNST GESCHICHTE IM DEUTSCHSPRACHIGEN RAUM - Armin F. Bergmeier

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LINIEN UND UMWEGE
BYZANZ, NATION UND DER KANON DER KUNST­GESCHICHTE
           IM DEUTSCHSPRACHIGEN RAUM

                      Armin F. Bergmeier

           21: INQUIRIES INTO ART, HISTORY, AND THE VISUAL
                            #2–2021 , pp. 73–95

                  https://doi.org/10.11588/xxi.2021.2.82007

                                    73
Armin F. Bergmeier

      ABSTRACT: LINES AND DETOURS. BYZANTIUM,
     NATION, AND THE CANON OF ART HISTORY IN THE
              GERMAN-SPEAKING WORLD

The article explores the marginalization of Byzantium within the
canon of art history, focusing on the German-speaking tradition.
This peripheral role is particularly striking because art history’s at-
tempts to integrate the Roman East into the canon (the “Byzantine
question”) can be traced back to the beginnings of art history as an
academic discipline. From very early on, art historians and archaeol-
ogists have been interested in global art histories beyond the confines
of the West, a disposition that has increased exponentially in recent
decades. By investigating the historiography of Byzantine art history,
the ideology of nationalism, and modern concepts of time and histo-
ry, this article demonstrates that both the canon and the nation-state
were born of concepts of the linear, teleological flow of time during
the Enlightenment. The article argues that the “Byzantine question”,
the integration of the Eastern Roman Empire into the canon, had al-
ways been doomed to fail. The reason for this is the linear, teleological
structure both of modern temporality and of the canon – one that
does not allow detours, only branches. Byzantium, with its close con-
nections to the Western traditions, has long troubled this narrative
and therefore serves as a lens through which to address questions of
decentering and the position of other non-Western cultures in rela-
tion to the Western canon.

                             KEYWORDS

Zeit; Nationalismus; Global Studies; Geschichtsphilosophie; Kanon;
Museen; Fachgeschichte.

                                    74
Linien und Umwege

Seit vielen Jahren schon beschäftigen sich die Geisteswissenschaften
unter dem Oberbegriff der Transkulturalität mit dem Zusammen-
wirken und den Verflechtungen zwischen den Kulturen Europas,
denen des Mittelmeerraums und jenseits davon.1 Byzanz, das Ost-
römische Reich, erscheint hierfür als tausendjährige, transnationale,
multiethnische Brücke zwischen den Kulturen des Westens und des
Ostens prädestiniert. Jedoch hat die byzantinische Kunstgeschich-
te und Archäologie vom transcultural turn bisher erstaunlich wenig
profitieren können. Byzanz ist nach wie vor kein Bestandteil des
kunsthistorischen Kanons – der linearen Kette als wichtig erachte-
ter Artefakte von der Vergangenheit bis in die Gegenwart. Obwohl
die oströmische Kunst ein integraler Bestandteil der mittelalter-
lichen europäischen Kunstgeschichte war, wurde ihr lediglich eine
periphere Rolle zugewiesen. Die Exklusion von Byzanz ist umso er-
staunlicher, als es parallel zur Etablierung der Kunstgeschichte als
akademische Disziplin durchaus den energischen Versuch gegeben
hat, den Platz des Oströmischen Reichs innerhalb des kunsthisto-
rischen Kanons zu bestimmen. Dieser Versuch, der etwa einhun-
dert Jahre währte und der seit Mitte des 20. Jahrhunderts vorerst als
gescheitert gelten muss, ist als „Byzantinische Frage“ in die Fach-
geschichte eingegangen.
     Byzanz, wie der griechischsprachige Osten des Römischen
Reichs seit dem 19. Jahrhundert vermehrt genannt wird,2 spielte über
einen Zeitraum von tausend Jahren eine politische und kulturelle
Schlüsselrolle für die Länder Westeuropas. Konstantinopel war die
größte Stadt des Mittelalters, Hauptstadt des Römischen Reichs,
wichtigste Mittlerin zwischen Ost und West und Taktgeberin für die
Kunstproduktion des gesamten europäischen Mittelalters. In diesem
Staatsgebilde fand das Römische Reich des Altertums eine bruchlose
Kontinuität bis in die frühe Neuzeit hinein, denn das „byzantinische“
Reich ist nach allen bekannten historischen Fakten identisch mit dem
Römischen Reich – auch wenn Karl der Große die Thronbesteigung
einer Frau, Kaiserin Eirene, zum Anlass nahm, sich selbst ebenfalls
zu einem römischen Kaiser krönen zu lassen. Selbst nach der Etab-
lierung des Heiligen Römischen Reichs im Westen blieb im histori-
schen Bewusstsein der Menschen die Tatsache verankert, dass der
Kaiser in Konstantinopel in einer bruchlosen Kontinuität mit Kai-
ser Augustus stand. Noch 1493 schrieb der venezianische Chronist
Marin Sanudo, die Bauten Venedigs seien denen Roms ebenbürtig.

                                              1
    Dieser Beitrag ist aus dem Workshop „De-marginalizing Byzantium“ am 7./8.12.2019
    am Deutschen Studienzentrum in Venedig hervorgegangen. Für ihre Unterstützung
    dabei danke ich Marita Liebermann. Außerdem danke ich Heidrun Stein-Kecks für die
    Möglichkeit, die Thesen im Rahmen der Tagungssektion „Maniera bizantina – Verdikt
            und Vorbild“ des Italienforums in Erlangen am 22.2.2021 vorzustellen.

                                                2
    Zwar gehen die Begriffe „Byzanz“ und „Byzantinisches Reich“ auf das 16. Jahrhundert
    zurück, doch erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden sie in großem Umfang ge­
    braucht: Jean-Michel Spieser, Art Byzantin et influence. Pour l’histoire d’une construc-
    tion, in: Michel Balard, Élisabeth Malamut und Jean-Michel Spieser (Hg.), Byzance et le
    Monde extérieur, Contacts, relations, échanges, Paris 2005, 271–288, bes. 276; Anthony
    Kaldellis, Romanland. Ethnicity and Empire in Byzantium, Cambridge 2019, 15 und passim.

                                              75
Armin F. Bergmeier

Aus dem Kontext geht hervor, dass er mit Rom Konstantinopel, das
Neue Rom, meinte.3
     Im Folgenden soll untersucht werden, warum Byzanz trotz sei-
ner herausragenden Bedeutung für die Geschichte der europäischen
Kunst, für transkulturelle Prozesse im Mittelalter und für die histo-
rischen Verflechtungen, die bis in die Gegenwart nachwirken, eine
vergleichsweise untergeordnete Rolle innerhalb des Kanons spielt.
Der Artikel wird zeigen, dass dieser Umstand der teleologischen Er-
zählung von Geschichte und der Linearität des kunsthistorischen Ka-
nons geschuldet ist. Die „Byzantinische Frage“ ist dabei gleichzeitig
Symptom und Beleg dafür, dass der Versuch der Integration von By-
zanz in den Kanon von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Um
dies nachzuweisen, geht der Artikel nicht auf einzelne byzantinische
Bilder, Bauten oder Objekte und deren ästhetische Wirkmacht ein.
Denn natürlich sind die byzantinische Kultur und ihre eindrucksvol-
le Kunstproduktion auch im Westen zu vielen Zeiten hochgeschätzt
worden; dies hat jedoch nicht zu einer dauerhaften und systemati-
schen Inklusion in den Kanon geführt. Ebenso wenig soll negiert
werden, dass es seit dem 19. Jahrhundert in vielen Sprachen wichtige
und vielfältige Forschung zu Byzanz gegeben hat. Doch gerade der
Fülle an Forschung steht die Ausprägung des Kanons entgegen, der
weitgehend ohne Byzanz auskommt. Dies spiegelt sich nicht zuletzt
in der Besetzung von Lehrstühlen. Der Fokus des Artikels liegt auf
dem deutschen Sprachraum, in dem man früh begonnen hatte, sich
wissenschaftlich mit dem Osten auseinanderzusetzen. Die Ausfüh-
rungen können aber teilweise auch auf andere westeuropäische Län-
der und die USA übertragen werden, in denen die Herausbildung des
kunsthistorischen Kanons ähnlichen Prinzipien folgte.
     In den USA hat schon seit Langem ein Umdenken eingesetzt.
Doch die Kritik, die Robert Nelson 1996 und 1997 in zwei wegwei-
senden Artikeln zur Rolle von Byzanz in kunsthistorischen Hand­
büchern äußerte, ist in Teilen noch immer aktuell: Darin hat er die
Exklusion von Byzanz aus dem Kanon beschrieben und dahingehend
untersucht, wie diese sich in kunsthistorischen Handbüchern und im
Katalogisierungssystem der Library of Congress manifestiert. Deren
Struktur führt Nelson auf die Tradition deutscher Handbücher des
19. Jahrhunderts zurück. Wann immer Byzanz und das östliche Mit-
telmeer in Handbüchern Platz finden, dann stets in anachronistischer
Weise, eingezwängt zwischen Antike und dem Beginn des Frühmit-
telalters, nicht aber synchron mit dem westlichen Mittelalter und der
frühen Neuzeit.4 Dieses Schicksal teilt es mit der Islamischen und an-
deren Kunstgeschichten, die alle zu unterschiedlichen Zeitpunkten in

                                             3
    Marin Sanudo, Laus urbis Venetae. Eine englische Übersetzung findet sich in David S.
    Chambers, Brian S. Pullan und Jennifer Fletcher (Hg.), Venice. A Documentary History,
                                1450–1630, Oxford 1992, 16f.

                                                4
    Robert S. Nelson, Living on the Byzantine Borders of Western Art, in: Gesta 35, 1996,
    3–11; ders., The Map of Art History, in: Art Bulletin 79, 1997, 28–40. Siehe auch Hannah
    Baader und Gerhard Wolf, Kunstgeschichte, in: Mihran Dabag, Nikolas Jaspert, Achim
    Lichtenberger und Dieter Haller (Hg.), Handbuch der Mediterranistik. Systematische Mittel-
         meerforschung und disziplinäre Zugänge, Paderborn 2019, 253–290, bes. 254–258.

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Linien und Umwege

der Neuzeit enden und dort abbrechen; lediglich die westliche Kunst
setzt sich in verschiedenen „Ismen“ bis in die Gegenwart fort.5
     Zwar sind in den USA in den vergangenen zweieinhalb Jahr-
zehnten viele neue Lehrstühle für Byzanz und für außereuropäische
und präkolumbianische Kunst entstanden. Doch die von Nelson be-
schriebene Grundstruktur des Kanons ist in seinem Kern unver-
ändert. Die sechste Auflage von Marilyn Stokstads Überblickswerk
zur Geschichte der Kunst ist zwar gegenüber der ersten Auflage um
viele Kulturen außerhalb des westlichen Kanons erweitert worden,
doch diese bilden zumeist parallel verlaufende Sub-Kanons.6 Béatri-
ce Joyeux-Prunel hat daher auf den Widerspruch hingewiesen, dass
innerhalb der Kunstgeschichte zwar schon im späten 19. und frühen
20. Jahrhundert ein großes Augenmerk auf außereuropäische Kultu-
ren gelegt worden sei; dem stehe jedoch der Mangel globaler Anteile
am kunsthistorischen Kanon gegenüber.7 Unter dem Begriff der Welt-
kunstgeschichte hatte es besonders im deutschsprachigen Raum ein
überaus großes Interesse an außereuropäischen Kulturen und an an-
tiken Kulturen jenseits der griechisch-römischen Tradition gegeben.8
Auch in den USA gab es seit den 1930er Jahren verstärkte Tendenzen,
präkolumbianische, afrikanische und andere Kunst einzubeziehen.
Präkolumbianische und lateinamerikanische Kunst werden seit 1938
in Yale gelehrt. Zur gleichen Zeit begann man auch, islamische Kunst-
geschichte zu unterrichten.9 Daher fragt Joyeux-Prunel, warum diese
transkulturellen, globalen Bestrebungen nicht dazu geführt haben,
dass auch außereuropäische Artefakte zu integralen Bestandteilen
des Kanons wurden. Sie erklärt dies einerseits damit, dass viele der
frühen Kunsthistoriker rassistische und nationalistische Tendenzen
aufwiesen und andererseits mit der sich seit den 1980er Jahren durch-
setzenden Erkenntnis, dass Nation ein imaginäres Konstrukt sei.10
Dies sind sicherlich wichtige Aspekte. Ich verfolge hier allerdings die
These, dass es umgekehrt bestimmte historistische Denkmuster und
Vorstellungen von linearer Zeit waren, die in der Aufklärung dazu
führten, dass sich das Erzählen von Geschichte als kausale Kette von
Ereignissen durchsetzte. Diese geradlinige Erzählung duldet keine
Umwege und liefert bis heute die Grundstruktur für den Kanon. Im
Folgenden wird daher die Randstellung von Byzanz als Fallbeispiel
genommen um zu zeigen, dass der Kanon – das normative Narrativ

                                            5
                        Nelson, The Map of Art History, Abb. 4 und 5.

                                              6
                 Marilyn Stokstad, Art History, Upper Saddle River, NJ 62018.

                                                 7
    Béatrice Joyeux-Prunel, Art History and the Global. Deconstructing the Latest Canonical
                    Narrative, in: Journal of Global History 14, 2019, 413–435.

                                               8
                                    Ebd., 417f. und passim.

                                             9
                                          Ebd. 423f.

                                               10
    Ebd. 420f. Auch Nelson deutete die Marginalisierung von Byzanz in Handbüchern und
    Bibliotheksklassifizierungen als Resultat aus dem Nationalismus (Nelson, The Map of
                                       Art History, 32).

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Armin F. Bergmeier

von Objekten und Debatten – das Resultat der modernen Vorstellung
einer linear, teleologisch voranschreitenden Zeit ist. Denn dieses
Zeitkonzept ist nicht das Ergebnis des Nationalismus, sondern viel-
mehr dessen Vorbedingung.

                I. Byzanz und der Westen bis zur Aufklärung

Am Beginn kunsthistorischen Schreibens steht Giorgio Vasari, der
schon im 16. Jahrhundert die Kunst des griechischsprachigen Ostens
als eine der westlichen Kunst unterlegene darstellte.11 Er behauptete,
dass Byzanz einerseits die antike Kunstfertigkeit über das Mittelal-
ter hinweg rettete, andererseits aber nur plumpe und schlechte Kunst
hervorbrachte. In Anlehnung an das Vasari’sche Geschmacksurteil
schätzten die meisten Autoren Byzanz gering und stellten das Reich
und seine Kultur als schwächelnd, effeminiert und dekadent dar.12
Das von Vasari erdachte Narrativ vermarktete vor allem die toskani-
schen Künstler als direkte Erben der Antike. Dies funktionierte nur,
indem dem Oströmischen Reich, das tausend Jahre lang das antike
Erbe gehütet hatte, genau dieses Erbe abgesprochen wurde. Zu die-
sem Zweck verfolgte Vasari einen widersprüchlichen Ansatz: Einer-
seits behauptete er, dass die italienische Kunstproduktion durch aus
dem griechischsprachigen Osten herbeigeholte Künstler gelehrt und
am Leben erhalten wurde.13 Andererseits verunglimpfte er die öst-
liche Kunst als schlecht und plump und vertrat die Meinung, dass
die Innovationskraft der toskanischen Kunst internalistisch aus sich
selbst heraus entstanden sei.14 Dass dieses von Vasari konstruier-
te Narrativ in seiner Absolutheit den frühneuzeitlichen Konventio-
nen widersprach, belegen beispielsweise zeitgenössische Künstler­

                                               11
    Siehe hierzu Ernst Kitzinger, The Byzantine Contribution to Western Art of the Twelfth
    and Thirteenth Centuries, in: Dumbarton Oaks Papers 20, 1966, 27–47, hier 27–29. Vor
    Vasari hatte bereits Lorenzo Ghiberti in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts einen
    ähnlichen Ansatz verfolgt, siehe bspw. Lorenzo Ghiberti, Commentario II, in: Julius von
       Schlosser (Hg.), Lorenzo Ghibertis Denkwürdigkeiten (I Commentarii), Berlin 1912, 35.

                                                 12
    Holger A. Klein, Byzanz, der Westen und das ,wahre‘ Kreuz. Die Geschichte einer Reliquie und
         ihrer künstlerischen Fassung in Byzanz und im Abendland, Wiesbaden 2004, 1–14.

                                                  13
    Siehe bspw. Giorgio Vasari, La vita di Cimabue, in: ders., Das Leben des Cimabue, des Giotto
           und des Pietro Cavallini, hg. von Alessandro Nova, Berlin 2015, 19–37, bes. 19.

                                                     14
    In der Vorrede zum zweiten Teil der Viten spricht Vasari bspw. vom „plumpen griech-
    ischen Stil [...], der in seiner Rohheit mehr von den Spuren des Steinbruchs als vom Talent
    der Künstler geprägt war“ (zitiert nach Giorgio Vasari, Kunsttheorie und Kunstgeschichte.
    Eine Einführung in die Lebensbeschreibungen berühmter Künstler anhand der Proemien, hg. von
    Sabine Feser and Matteo Burioni, Berlin 2004). Die irrige Annahme, Byzanz habe es an
    Innovationskraft gefehlt, hat Ernst Kitzinger bereits 1966 widerlegt (The Byzantine Con-
    tribution to Western Art of the Twelfth and Thirteenth Centuries, 27–29). Zur „maniera
    greca“ siehe auch Patricia Lee Rubin, Giorgio Vasari. Art and History, New Haven 1995,
    249–250 und 287–320; Ennio Concina, Giorgio Vasari, Francesco Sansovino e la maniera
    greca, in: ders., Giordana Trovabene und Michela Agazzi (Hg.), Hadriatica. Attorno a
    Venezia e al Medioevo tra arti, storia e storiografia, Padua 2002, 89–96; Gabriele Blickendorf,
    ‚Maniera greca‘. Wahrnehmung und Verdrängung der byzantinischen Kunst in der italie-
    nischen Kunstliteratur seit Vasari, in: Semra Ögel und Gregor Wedekind (Hg.), Okzident
    und Orient, Istanbul 2002, 113–125; Grazyna Jurkowlaniec, West and East Perspectives on
         the ‚Greek Manner‘ in the Early Modern Period, in: Ikonotheka 22, 2009, 71–91.

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Linien und Umwege

verträge, die eine Wertschätzung für die östliche Manier bis weit ins
15. Jahrhundert hinein erkennen lassen.15
      Vasari konnte für seine Ablehnung der maniera greca auf eine lan-
ge Tradition der Polemik gegen das östliche Römische Reich zurück-
greifen. Die Beziehung zwischen dem „Heiligen Römischen Reich“ im
Westen und dem Römischen Reich im Osten war schon seit den Zei-
ten Karls des Großen angespannt. Der Westen sprach gern von einem
Reich der Griechen, um deren Verbindung mit dem römischen Kai-
sertum zu kappen.16 Viele Quellen zeugen von der Praxis, die Genea-
logie der antiken römischen Kaiser nicht zu den oströmischen Kaisern
fortzusetzen, sondern den Weg über die westlichen Kaiser und Köni-
ge zu beschreiten. Deutsche Kaiserchroniken des Mittelalters beru-
fen sich oftmals auf eine Tradition, die von der Gründung Roms bis
zu den deutschen Kaisern des 12. Jahrhunderts verlief.17 Constantin
Fasolt untersuchte die im 16. Jahrhundert geführte Debatte über die
Ursprünge der deutschen Kaiser und der Päpste, die man genea­
logisch auf das Imperium Romanum zurückzuführen bestrebt war.18
      Doch diese genealogische Sichtweise verdrängte die Kenntnis
der oströmischen Geschichte und ihr Identifikationspotential nie
völlig.19 Viele Beispiele zeugen davon, dass die westliche Genealogie
nicht die einzige Möglichkeit darstellte, Geschichte zu konstruie-
ren. Venezianische Quellen wie das Chronicon Altinate enthalten im
12. und 13. Jahrhundert erstellte Kaiserlisten, die die Kontinuität der
römischen Kaiser von Julius Caesar bis zu Alexios Komnenos abbil-
den.20 Vereinzelte Episoden zeigen, dass auch nach 1453 das Oströmi-
sche Reich ein Bezugspunkt für den Westen blieb. Der französische
König Charles VIII. (1483–1498) hatte 1494 von Andreas Palaiologos,

                                                  15
    Aus dem Vertrag mit Leonardo da Vinci für den Marienaltar in San Francesco in Mailand
    geht dies bspw. hervor: „Ebenso in allen jenen Teilen, wo unsere Jungfrau erscheint, sei
    sie geschmückt wie auf der Mitteltafel, und die anderen Figuren in griechischer Art, ge­
    schmückt mit verschiedenen Farben, nach griechischer oder moderner Art.“ („Item in
    tucto li altri capitolli dove sia la nostra dona sia ornata come quella de mezo, et li altre
    figure grege hornati de diversi colori ala fogia grega o moderna.“) Siehe Frank Zöllner,
       Leonardo da Vinci 1452–1519. Complete Paintings and Drawings, Köln 42019, 85–86, 253.

                                               16
    Siehe bspw. Einhard, Einhardi vita Karoli Magni, MGH 25, Hannover 61911, 18 und 24. Li-
    udprand von Cremona schrieb über die Romaioi: „Dormiebat, ut puto, tunc potestas tua,
    immo decessorum tuorum, qui nominee solo, non autem re ipsa imperatores Romano-
    rum.“ (Liudprand von Cremona, Legatio, in: Josef Becker (Hg.), Die Werke Liudprands von
                  Cremona (Liudprandi opera), MGH 41, Hannover 41915, 178.)

                                                  17
    Siehe bspw. Hans-Werner Goetz, Der Umgang mit der Geschichte in der lateinischen
    Weltchronistik des hohen Mittelalters, in: Martin Wallraff (Hg.), Julius Africanus und die
    christliche Weltchronik, Berlin 2006, 179–205, bes. 187; Claudia Wittig, Political Didacti-
    cism in the Twelfth Century. The Middle-High German Kaiserchronik, in: Michele Cam-
    popiano und Henry Bainton (Hg.),Universal Chronicles in the High Middle Ages. Writing
                            History in the Middle Ages, York 2017, 95–119.

                                                18
                 Constantin Fasolt, The Limits of History, Chicago 2004, 92–154.

                                               19
                             Spieser, Art Byzantin et influence, 274.

                                               20
    Diese Liste im Chronicon Altinate führt die frühen römischen Kaiser kursorisch auf. Ab
    der Herrschaft Konstantins werden die Einträge umfangreicher (Roberto Cessi, Origo
    civitatum Italie seu Venetiarum (Chronicon Altinate et Chronicon Gradense), volume unico,
                                      Roma 1933, 102–114).

                                                79
Armin F. Bergmeier

dem Neffen des letzten römischen Kaisers, den kaiserlichen Titel
und den Anspruch auf den Thron erworben.21 Noch als der Habsbur-
ger Leopold I. 1705 starb, wurde seine Büste in eine Reihe mit der-
jenigen Karls des Großen und mit denen der byzantinischen Kaiser
Konstantin I. und Theodosius I. gesetzt.22 In Preußen führte das Stre-
ben nach Legitimierung des jungen Königtums womöglich dazu, dass
die preußischen Herrscher der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
nach Byzanz blickten.23 Die veneto-byzantinischen Monumente im
Schlosspark Glienicke und in der Friedenskirche in Potsdam zeugen
bis heute davon.
     Doch in der Zeit der Aufklärung nahm die Negativität und Schär-
fe des Urteils über Byzanz bei Autoren wie Montesquieu und Voltaire
merklich zu. Voltaire schrieb über die römische Geschichte: „Davon
gibt es noch eine lächerlichere, die byzantinische Geschichte. Diese
unwürdige Sammlung enthält nichts anderes als wertloses Gerede
und Wunder: Sie ist die Schande des menschlichen Geistes, wie das
griechische Reich die Schande der Erde war.“24 Ähnlich charakteri-
siert noch Hegel die Geschichte des Oströmischen Reichs in seinen
Berliner Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte in den 1820er
Jahren als „ununterbrochene Linie von tausend Jahren Verbrechen,
Schwächen, Schmach und Charakterlosigkeit“.25 Séroux d’Agincourt
betitelte sein Werk zur mittelalterlichen Kunst 1823 entsprechend als
Geschichte der Kunst „von ihrem Niedergang im vierten Jahrhundert
bis zu ihrer Erneuerung im 16. Jahrhundert“.26
     Parallel dazu entdeckten besonders deutschsprachige Intellek-
tuelle im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert unter dem Eindruck
der Schriften Johann Joachim Winckelmanns die griechische Antike
als Wurzel der eigenen Kultur und Gesellschaft.27 Wollte man also an
diese verehrten Ursprünge ansetzen, mussten Hindernisse aus dem

                                               21
    Philip Mansel, The French Renaissance in Search of the Ottoman Empire, in: Gerald M.
    MacLean und William Dalrymple (Hg.), Re-Orienting the Renaissance. Cultural Exchanges
                        with the East, Basingstoke 2005, 96–107, bes. 96.

                                                22
    Jean-Michel Spieser, Das Byzanzbild in der Zeit der Aufklärung, in: Benjamin Fourlas (Hg.),
    Wege nach Byzanz, Mainz 2011, 112–121, bes. 114. Siehe auch Spieser, Art Byzantin et in-
                                          fluence, 275.

                                                 23
    Christian Ottersbach, Geheiligtes Königtum. Neubyzantinismus als Mittel zur monar-
    chischen Repräsentation im 19. Jh., in: Benjamin Fourlas (Hg.), Wege nach Byzanz, Mainz
    2011, 122–135; Nicolas Bock, Art and the Origins of Authority. Prussia, from Ravenna to
    Byzantium and the Romanesque, in: Ivan Foletti, Manuela Gianandrea, Serena Romano
    und Elisabetta Scirocco (Hg.), Re-Thinking, Re-Making, Re-Living Christian Origins, Rom
                                          2018, 191–208.

                                              24
              Zitiert nach Spieser, Das Byzanzbild in der Zeit der Aufklärung, 112.

                                                 25
                  Zitiert in Klein, Byzanz, der Westen und das ,wahre‘ Kreuz, 5.

                                                    26
    Séroux d’Agincourt, Histoire de l’art par les monuments depuis sa décadence au IVe siècle
    jusqu’à son renouvellement au XVIe siècle, Paris 1823. Siehe hierzu Daniela Mondini, Séroux
                      d’Agincourt e la storia dell’arte intorno al 1800, Rom 2019.

                                            27
    Hierzu Suzanne L. Marchand, German Orientalism in the Age of Empire. Religion, Race, and
                              Scholarship, Cambridge 2009.

                                               80
Linien und Umwege

Weg geräumt werden, die der Illusion einer direkten, linearen Genea-
logie im Wege standen. Anlässlich der Einweihung der Akropolis als
archäologische Stätte am 28. August 1834 charakterisierte Leo von
Klenze die Zeit zwischen der Antike und der damaligen Gegenwart
als barbarisch; erst der neu eingesetzte König von Griechenland setz-
te angeblich die Zivilisation fort.28
     Einen Sonderweg beschritt das österreichisch-ungarische Habs­
burgerreich. Anstelle einer linearen Entwicklung aus einem einzigen
Ursprung wählte man im Vielvölkerreich ein Narrativ, das sich aus
mehreren Zentren speiste.29 Anders als in Deutschland spielte der sich
an der griechischen Klassik orientierende Philhellenismus in Öster-
reich-Ungarn zwischen der Mitte des 18. und der Mitte des 19. Jahr-
hunderts eine geringe Rolle. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahr-
hunderts ist eine Hinwendung zur Antike zu bemerken. Aber selbst
dann war diese Fokusverschiebung dadurch motiviert, im multieth-
nischen Römischen Reich eine Analogie zu dem zerfallenden moder-
nen Vielvölkerstaat zu sehen.30 Diese Entfernung vom klassischen
Ideal zugunsten eines Bewusstseins der Vielfalt ermöglichte es nicht
zuletzt Alois Riegl, die Spätantike als Forschungsfeld zu etablieren.31

           II. Die „Byzantinische Frage“ nach der Aufklärung

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Kunst des Oströmi-
schen Reichs in den ersten Handbüchern der Kunstgeschichte den-
noch prominent diskutiert.32 Wissenschaftler wie Franz Kugler und
Carl Schnaase besprachen die Kunst des östlichen Mittelmeers und
ihre Auswirkungen auf den Westen erstmals in kunsthistorischen

                                            28
                      James Cuno, Who Owns Antiquity?, Princeton 2011, xi.

                                               29
    Walter Pohl, National Origin Narratives in the Austro-Hungarian Monarchy, in: Joseph
    Patrick Geary und Gábor Klaniczay (Hg.), Manufacturing Middle Ages. Entangled History of
          Medievalism in Nineteenth-century Europe, Leiden 2013, 13–50, bes. 43 und 49.

                                               30
    Siehe hierzu Georg Vasold, Der Blick in den tragischen Spiegel. Zur Kunsthistorischen
    Erforschung der Spätantike in Wien um 1900, in: Ernő Marosi und Gábor Klaniczay (Hg.),
    The Nineteenth-Century Process of „Musealization“ in Hungary and Europe, Budapest 2006,
                                      91–112, bes. 100–104.

                                                 31
    Alois Riegl, Die spätrömische Kunstindustrie nach den Funden in Österreich-Ungarn, Wien
    1901. Siehe auch Willibald Sauerländer, From Stilus to Style. Reflections on the Fate of a
    Notion, in: Art History 6, 1983, 253–270, hier 264; Jaś Elsner, The Birth of Late Antiquity.
            Riegl and Strzygowski in 1901, in: Art History 25, 2002, 358–379, hier 360.

                                                    32
    Eine komplette Historiographie der byzantinischen Kunstgeschichte existiert nicht. Es
    liegen lediglich einige Spezialuntersuchungen vor. Charles Diehl, Les Etudes byzantines
    en France, in: Byzantinische Zeitschrift 9, 1900, 1–13; Robin Cormack und Elizabeth Jef-
    freys (Hg.), Through the Looking Glass. Byzantium through British Eyes, Aldershot 2000;
    Jean-Michel Spieser, En guise d’introduction. Byzance et l’Europe, in: ders. (Hg.), Présence
    de Byzance, Gollion 2007, 7–29; Ivan Foletti, Da Bisanzio alla Santa Russia. Nikodim Kon-
    dakov (1844–1925) e la nascita della storia dell’arte in Russia, Rom 2011; Giovanni Gasbarri,
    Riscoprire Bisanzio. Lo studio dell’arte bizantina a Roma e in Italia tra Ottocento e Novecento,
    Rom 2015; Stamatios T. Chondrogiannis (Hg.), Byzantium in the World. Artistic, Cultural,
    and Ideological Legacy from the 19th to the 21st Century, Thessaloniki 2017. Bislang existie-
    ren keine Untersuchungen, die einen Überblick über die museale Sammlungsgeschichte
                                   byzantinischer Objekte geben.

                                                  81
Armin F. Bergmeier

Lehrbüchern.33 Das Anliegen dieser Überblickswerke war die Her-
ausbildung eines kunsthistorischen Kanons, einer Entwicklung der
Geschichte der Kunst. Die Position von Byzanz innerhalb dieses Ge-
rüsts und das Verhältnis zum Westen wurden ausgehend von diesen
ersten Studien über einen Zeitraum von mehr als hundert Jahren
diskutiert. Die Debatte ist gemeinhin als „Byzantinische Frage“ be-
kannt.34 Im Zuge der Gründung der ersten kunsthistorischen Institu-
te in Bonn (1860), Straßburg (1871), Leipzig (1873), Wien (1874), Prag
(1874) und Berlin (1875) wurde der Diskurs über Byzanz fundierter.
Anton Springer, der erste Lehrstuhlinhaber in Leipzig (der auch in
Prag, Bonn und Straßburg lehrte), präsentierte nun eine nuancierte
Sicht auf Byzanz in seinem Aufsatz Die byzantinische Kunst und ihr
Einfluss im Abendlande.35 Er würdigte Byzanz’ große künstlerische
Leistungen, lehnte jedoch immer noch einen anhaltenden Einfluss
des Ostens auf die westliche Kunstproduktion ab.
     In den folgenden Jahrzehnten beschäftigten sich viele deutsche
Wissenschaftler ausschließlich mit der Spätantike (Franz Xaver Kraus
und andere), einem weniger verminten Feld, da für die Spätantike die
Frage nach der Überlegenheit des Ostens gegenüber dem Westen
nicht in der Weise bestand wie für das Mittelalter. Die künstlerische
Produktion im Westen war bis zur Mitte des sechsten Jahrhunderts
derjenigen im Osten noch annähernd vergleichbar. Forscher wie Ni-
kodim Kondakov, Gabriel Millet und später Josef Strzygowski trieben
derweil das Studium des östlichen Mittelmeers voran.36 In der Folge
ebbte die Beschäftigung mit der mittelalterlichen Phase des Römi-
schen Reichs in Europa ab.
     Um die Mitte des 20. Jahrhunderts erlebte die Auseinanderset-
zung mit Byzanz eine weitere Blüte und verlagerte sich in den anglo-
phonen Raum. Sie wurde hier vor allem durch aus Deutschland und
Österreich geflohene Kunsthistoriker wie Richard Krautheimer, Ernst
Kitzinger, Kurt Weitzmann, Hugo Buchthal, Otto Demus und andere
angetrieben. Bereits in den 1940er Jahren stellte Wilhelm Koeh­ler,
der erste Studienleiter am neu gegründeten Forschungszentrum für
Byzantinische Studien in Dumbarton Oaks (Washington DC), er-
neut die Frage nach dem Platz der byzantinischen Kunstgeschichte
innerhalb des Fachs. Er betonte die Rolle der byzantinischen Kunst
für die Bildung der „romanischen“ Bildsprache. Am Beispiel des

                                                  33
    Franz Kugler, Handbuch der Kunstgeschichte, Stuttgart 1842; Carl Schnaase, Geschichte der
           bildenden Künste im Mittelalter, Bd. 1, 2. verb. Aufl., Düsseldorf 1869 [1844].

                                             34
    Zur „Byzantinischen Frage“ fehlt bis heute eine systematische, kritische Bestandsauf-
    nahme. Kurze Überblicke finden sich bei Klein, Byzanz, der Westen und das ,wahre‘
                     Kreuz, 1–14; und Gasbarri, Riscoprire Bisanzio, 79f.

                                               35
    Anton Springer, Die byzantinische Kunst und ihr Einfluss im Abendlande, in: ders., Bilder
                   aus der neueren Kunstgeschichte, Bd. 1, Bonn 1886, 79–112.

                                               36
    Siehe hierzu Foletti, Da Bisanzio alla Santa Russia; Jean-Michel Spieser, Die Rezeption
    von Strzygowski (und Riegl) bei den französischen Byzantinisten zwischen 1900 und
    1940, in: Falko Daim, Dominik Heher und Claudia Rapp (Hg.), Menschen, Bilder, Sprache,
    Dinge. Wege der Kommunikation zwischen Byzanz und dem Westen, Bd. 2, Mainz 2018, 383–
                                              424.

                                              82
Linien und Umwege

Freskenzyklus in Berzé-la-Ville schrieb Koehler: „Byzantine art of
the eleventh century is the source from which the international style
which so profoundly influenced European Romanesque painting was
derived.”37 Einer der Nachfolger Koehlers in Dumbarton Oaks, Ernst
Kitzinger, setzte diese Untersuchung fort und konzentrierte sich auf
das Überleben klassischer Traditionen in der byzantinischen Kunst
in Süditalien und die Auswirkungen der byzantinischen auf die west-
liche Kunstproduktion. Wegweisend war hier insbesondere sein Arti-
kel über den byzantinischen Beitrag zur westlichen Kunst des 12. und
13. Jahrhunderts.38 In diesem Text argumentiert Kitzinger energisch
gegen alte Vasari’sche Missverständnisse über die byzantinische Kunst,
der es weder an Dynamik noch an Erfindungsreichtum mangele.
      Einen Endpunkt der intensiven wissenschaftlichen Auseinan-
dersetzung über die „Byzantinische Frage“ stellt in gewisser Weise
Otto Demus’ Buch Byzantine Art and the West dar.39 Demus, der seine
Karriere der Markusbasilika in Venedig widmete, einem Hauptmo-
nument der Ost-West-Interaktion, sammelte in diesem Band zahl-
reiche Beispiele, die das lebhafte Interesse des Westens an byzanti-
nischen Stilen und Ikonographien belegen. Die Beziehung zwischen
West und Ost charakterisierte Demus weniger als ein von passivem
Einfluss geprägtes, sondern eher als ein Schüler-Lehrer-Verhältnis.40
      In den vergangenen 50 Jahren ist hingegen kaum noch versucht
worden, das Verhältnis zwischen Byzanz und dem Westen als Gan-
zes in den Blick zu nehmen. Byzantinische Themen sind vor allem
in unabhängigen Einzelstudien untersucht worden. Einen neuen
Ansatz definierte Hans Beltings Bild und Kult.41 Belting verzichtete
darauf, quantifizierbaren Einfluss zu bestimmen und Entwicklungen
zu verfolgen. Stattdessen versuchte er, den Status von Bildern in der
jeweiligen Periode und in der jeweiligen Region zu untersuchen, aber
dabei den größeren europäischen Kontext nicht aus den Augen zu
verlieren. Holger Klein stellte in einer Publikation zu byzantinischen
Kreuzreliquiaren die Tätigkeit westlicher Künstler als aktive und
kreative Übernahme aus dem byzantinischen Formenkanon dar.42
Generell muss jedoch festgestellt werden, dass es der intensiven Be-
schäftigung mit der „Byzantinischen Frage“ über mehr als hundert
Jahre nicht gelungen ist, der Kunst des östlichen Mittelmeers, obwohl

                                             37
    Wilhelm Koehler, Byzantine Art in the West, in: Dumbarton Oaks Papers 1, 1941, 63–87,
                                          Zitat 76.

                                              38
    Kitzinger, The Byzantine Contribution to Western Art of the Twelfth and Thirteenth Cen-
                                            turies.

                                              39
                      Otto Demus, Byzantine Art and the West, London 1970.

                                               40
                                             Ebd., vii.

                                                 41
    Hans Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München
                                               1990.

                                              42
                      Klein, Byzanz, der Westen und das ,wahre‘ Kreuz, 14.

                                                83
Armin F. Bergmeier

diese sogar Teil der westlichen Tradition ist, einen Platz innerhalb
des Kanons zuzuweisen.
     Die Situation in den Museen ist vergleichbar mit derjenigen der
Wissenschaft. Museen oder spezielle Abteilungen für Byzanz exis-
tieren in Europa außerhalb Griechenlands und der Türkei kaum.
Objekte aus dem Oströmischen Reich finden sich vereinzelt in Kir-
chenschätzen und Diözesanmuseen (beispielsweise in Limburg
und Halberstadt), als Anhängsel archäologischer Sammlungen und
Kunstkammer-Sammlungen (im Fall des Kunsthistorischen Muse-
ums Wien) oder verteilt über die verschiedenen Abteilungen größe-
rer Museen (beispielsweise im Louvre). Sie teilen häufig das Schick-
sal außereuropäischer Objekte, deren Status als Kunstwerk innerhalb
europäischer Kategorien unsicher ist.43 Das Museum für Byzantini-
sche Kunst in Berlin – das einzige allein auf Byzanz spezialisierte
Museum westlich von Griechenland und östlich der USA – ist eine
Anomalie unter den westlichen Museumsgründungen des 19. und
20. Jahrhunderts. Seine Existenz ist der Weitsichtigkeit Wilhelm von
Bodes zu verdanken, der die Skulpturensammlung um Werke außer-
halb des westeuropäischen Kanons erweitern wollte.44 Es eröffnete
jedoch erst 1904, mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Alten
und dem Neuen Museum.

                                 III. Nationalismus

Den beachtlichen Bemühungen um eine wissenschaftliche Würdi-
gung der kulturellen Verflechtungen zwischen Ost und West über
mehr als ein Jahrhundert hinweg steht die ausgebliebene Eingliede-
rung von Byzanz in den Kanon gegenüber. Vielerorts sind Byzanz
und der östliche Mittelmeerraum kaum mehr sichtbar in Forschung
und Lehre. Das kann nicht nur mit dem Wegfall von Lehrstühlen für
die Mittelalterkunstgeschichte erklärt werden. Daher wird hier die
These diskutiert, dass diese in sich widersprüchliche Situation na-
hezu alternativlos aus der Konstruktion nationaler Geschichts- und
Kunstgeschichtserzählungen im 19. Jahrhundert herrührt. Mehr als
zweihundert Jahre nach Vasari, der die eigenen toskanischen Kultur-
leistungen als Innovationen aus sich selbst heraus erklärte, dominiert
seit dem Aufkommen des Nationalismus eine ähnlich internalisti-
sche Auffassung von Kultur das westliche Fortschrittsdenken.
     In Imagined Communities definiert Benedict Anderson den Nati-
onalismus als horizontale Kameradschaft, die die Herrschaft über ei-
nen großen, jedoch schlussendlich begrenzten Personenkreis ausübt

                                            43
    Wendy Shaw, Museums and Narratives of Display from the Late Ottoman Empire to the
                 Turkish Republic, in: Muqarnas 24, 2007, 253–279, bes. 255.

                                             44
    Außer von Theodor Wiegand bekam Bode hierfür vor allem Unterstützung durch Josef
    Strzy­gowski. Siehe hierzu Gabriele Mietke, Josef Strzygowski und die Berliner Museen,
    Wiesbaden 2012; Gabriele Mietke, Theodor Wiegand und die byzantinische Kunst, Wies-
                                        baden 2014.

                                             84
Linien und Umwege

und die vor allem imaginiert ist.45 Vermittelt durch die Herstellung
von Uhren, die Entstehung von Schriftsprachen, der Druckerpres-
se und der Geschichtsdisziplin ersetzte der Nationalismus im Zuge
der Aufklärung teilweise die integrative Rolle der Religion.46 Patrick
Geary hat darauf hingewiesen, dass der imaginäre Charakter dieser
Ideologie nicht dazu verleiten sollte, den Nationalismus als zahnlos
misszuverstehen.47 Obwohl die Zugehörigkeit zu einer nationalen
Gemeinschaft nach innen das Potential hat, Menschen zusammen-
zubringen, darf nicht außer Acht gelassen werden, dass der Natio-
nalismus in der Menschheitsgeschichte so viele Leben gekostet hat
wie sonst nur die Pest. Einer der ersten Kriege, der von der proble-
matischen Annahme der Existenz einer in sich geschlossenen Na-
tion ausgelöst wurde, war der Unabhängigkeitskrieg der Christen im
Osmanischen Reich gegen die Muslime im Osmanischen Reich zu
Beginn des 19. Jahrhunderts (1821–1829).48 Das rassistische Attentat
von Hanau am 19. Februar 2020 auf deutsche Menschen mit Migra-
tionsgeschichte zeigt schmerzhaft, dass der Nationalismus auch im
21. Jahrhundert noch nicht überwunden ist.49
     Während Anderson den Nationalismus vor allem in seiner ho-
rizontalen Breitenwirkung untersuchte, haben andere nach ihm
die Konstruktion von Geschichte, die vertikale Dimension des Na-
tionalismus und dessen Geschichtlichkeit vermehrt in den Blick ge-
nommen. Dipesh Chakrabarty hat angemahnt, das eurozentristische
Modell, das seine Ursprünge seit der Aufklärung in der griechischen
Antike verortet, zu dezentrieren.50 Maria Todorova zeichnete die
Konstruktion des Mythos von „dem“ Balkan von der Aufklärung bis
in die 1990er Jahre nach.51

                                             45
    Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origins and Spread of Nation-
                                  alism, London 42016, 5–7.

                                               46
                                            Ebd., 194.

                                                47
     Patrick J. Geary, The Myth of Nations. The Medieval Origins of Europe, Princeton 2002, 17.

                                                48
    Zum Import westeuropäischer nationalistischer Ideologie und zur Entstehung des
    Mythos der Nation unter den Christen im Osmanischen Reich siehe bspw. Konstantina
    Zanou, Transnational Patriotism in the Mediterranean, 1800–1850. Stammering the Nation,
    Oxford 2018. Stamatopoulos hat darauf hingewiesen, dass sich die Aufstände auf der
    Peloponnes im Jahr 1808 gegen die korrupte osmanische Verwaltung unter den Söhnen
    Ali Paşas richteten. Anders als 1821 zielten diese nicht auf die Etablierung einer eigenen
    Nation. Als gemeinsame Flagge wurde eine mit Kreuz und Halbmond vorgeschlagen
    (Demetrios A. Stamatopoulos, The Eastern Question or Balkan Nationalism(s). Balkan His-
                             tory Reconsidered, Göttingen 2018, 13).

                                                49
    Die Namen der Opfer sind Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Gökhan Gültekin, Kaloyan
    Velkov, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar, Hamza Kurtović und Said Nesar
                                            Hashemi.

                                               50
    Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference,
                                Princeton 2000, 5 und passim.

                                              51
     Maria Todorova, Imagining the Balkans, Oxford 2009 (erw. Aufl.), passim, bes. 140–160.

                                                85
Armin F. Bergmeier

     Patrick Geary zeigte auf, wie die Philologie, Geschichtsfor-
schung und die Archäologie seit der Aufklärung Nationen über Spra-
che, Territorium, Ethnie und Kulturstile konstruierten. Er diskutiert
die Herausbildung der Geisteswissenschaften nach deutschem Vor-
bild als Modell, das das Denken in nationalstaatlichen Entwicklun-
gen vorzeichnete. In Bezug auf die Herausbildung der Philologie, die
ferne Kulturen und deren Sprache in eine Entwicklungslinie mit den
modernen Sprachen Europas stellte, bemerkt Geary: „It made possi-
ble the creation of a national, ‚scientific‘ history that projected both
national language and national ideology into a distant past.“52 Andere
Wissenschaftszweige folgten und das deutsche Modell wurde rasch
in andere Länder exportiert.53 In Bezug auf Deutschland bestand
eine Schwierigkeit darin, dass aus der multiethnischen, multisprach-
lichen und multikulturellen Vergangenheit des Heiligen Römischen
Reichs eine ausschließlich deutsche Vergangenheit konstruiert wer-
den musste. Zu diesem Zweck wurden beispielsweise Monumen-
te identifiziert, die als Marker und Quelle der nationalen Identität
dienten. Ein frühes dieser Projekte, so Geary, waren die Monumenta
Germaniae Historica.54 Auf diese Weise entstand ein Kanon, der als
lineare, teleologische Kette das Wesen und den „Fortschritt“ der
Nation abbilden sollte.

                             IV. Nationalismus und Zeit

Auf die Abhängigkeit der Museumsgründungen von der Ideologie
des Nationalismus ist vielfach hingewiesen worden.55 Die großen
Museen Deutschlands und Frankreichs sind mit der erklärten Ab-
sicht entstanden, die Entwicklung nationaler Kunst und deren an-
gebliche Überlegenheit gegenüber anderen Nationen erfahrbar zu
machen.56 Eines der ersten Museen, der Pariser Louvre, hatte zum
Ziel, in diachroner Weise die Entwicklung der französischen Kunst
in Abgrenzung zur italienischen Kunst bis in die Gegenwart nachzu-
zeichnen.57 Dieser Ansatz war schon, bevor der Louvre 1793 eröffne-
te, im Musée de Luxembourg vorgeprägt. Die Werke wurden ihren

                                              52
                          Geary, The Myth of Nations, 21–40, Zitat 32.

                                                 53
    „The solution, obviously, was to imitate the German model, not only in creating university
    chairs of philology and history, of which some 250 were founded between 1876 and 1879,
    but also by absorbing the philological method of the German tradition.“ (Geary, The Myth
                                          of Nations, 30.)

                                               54
                                           Ebd., 26–29.

                                               55
    Bspw. Anderson, Imagined Communities, 178–185; Andrew McClellan, Nationalism and
    the Origins of the Museum in France, in: Studies in the History of Art 47, 1996, 28–39; Hans
    Belting, Das Ende der Kunstgeschichte. Eine Revision nach zehn Jahren, München 1995, 22
                                             und 87.

                                             56
               Siehe hierzu bspw. Shaw, Museums and Narratives of Display, 254f.

                                              57
                         McClellan, Nationalism and the Origins, 31–38.

                                                86
Linien und Umwege

geo­graphischen, zeitlichen und gegenwärtigen Kontexten entzogen
und wie an einem Faden in eine gesetzmäßig fortschreitende Kunst-
geschichte eingeordnet.58 Hans Belting formuliert:

    Die Gründung des Museums wurde zu einem unwiderrufli-
    chen Einschnitt, an dem der Blick auf die Kunst zum Rück-
    blick auf die Kunstgeschichte wurde. Aber wozu diente die
    Kunst, wenn sie im Museum alle Funktionen verlor? Die
    Antwort auf diese Frage lag in dem neuen Verständnis von
    Geschichte. [...] Die Kunst, in der die positive Bilanz aus der
    Geschichte vorlag, lieferte die Garantie für den Fortschritt
    im Leben der Menschen.59

Dass einer solchen Konstruktion von Geschichte vieles zum Opfer
fällt, veranschaulicht eine Episode aus der Zeit der Gründung des
Pergamonmuseums in Berlin: Museumsspezialisten und Archäo-
logen diskutierten den geeigneten Rahmen für das neu erworbene
Markttor von Milet (2. Jh. n. Chr.). Sollte es in einem Raum mit dem
Pergamonaltar (2. Jh. v. Chr.) gezeigt werden, da beide aus der West-
türkei stammen? Man entschied sich in Absprache mit dem Kaiser,
die Objekte getrennt voneinander zu installieren, um den Verlauf
der Kunstgeschichte und die Trennung von Epochen und geographi-
schen Räumen nachvollziehbar zu machen. Der Archäologe Theodor
Wiegand hielt in seinen Tagebüchern folgende Äußerung Kaiser Wil-
helms II. fest: „Ja, aber wir bauen ja keine Schwimmanstalt, sondern
ein Museum, und ich will nicht, dass Sie Sachen zusammenbringen,
die mehrere hundert Jahre voneinander verschieden sind.“60 Einige
Jahre später bekräftigte Wiegand diese Position selbst und bestand
auf der Trennung unterschiedlicher Zeithorizonte und geographi-
scher Räume, um nicht die Reinheit der kanonischen Stile zu zer-
stören: „Jeder monumentale und historische Zusammenhang [sei
sonst] getötet, die kunstgeschichtliche Abfolge der antiken Baukunst
ruiniert.“61 Doch die Biographien der Objekte aus Pergamon und Mi-
let hatten nicht nur antike Phasen, sondern auch byzantinische und
osmanische Lebensabschnitte. Die archäologischen Spuren späterer
Epochen, die durchaus Einfluss auf das Aussehen, die Erhaltung und

                                              58
    So formuliert es bspw. Franz Kugler, Kleine Schriften und Studien zur Kunstgeschichte III,
                                   Stuttgart 1854, 476–487.

                                                59
    Hans Belting, Das unsichtbare Meisterwerk. Die modernen Mythen der Kunst, München 1998,
                                               72f.

                                                 60
    Theodor Wiegands Tagebuch (17. Februar 1911), zitiert in: Auf den Spuren der Antike. The-
    odor Wiegand, ein deutscher Archäologe (Ausst.-Kat. Bendorf am Rhein, Städtisches Muse-
    um), hg. von Silke Wenk und Jochen Mücke, Bendorf a. R. 1985, 18. Zum Markttor siehe
    Martin Maischberger, Zwischen Sachzwang und Utopie. Zur Technik von Architektur-
    rekonstruktionen im Museum. Das Markttor von Milet im Berliner Pergamonmuseum,
    in: Astrid Dostert und Franziska Lang (Hg.), Mittel und Wege. Bedeutung von Material und
                       Technik in der Archäologie, Möhnesee 2006, 275–296.

                                             61
    Theodor Wiegands Tagebuch (20. April 1926), zitiert in: Wenk und Mücke, Auf den Spuren
                                     der Antike, 28.

                                               87
Armin F. Bergmeier

Bedeutung der Objekte hatten, wurden zerstört, um die Objekte auf
einen Moment innerhalb der geradlinigen Geschichte der Kunst zu
reduzieren. Im Gegenzug wurde beim Gang durchs Museum die Illu-
sion der linear ablaufenden Zeit anhand stilistischer Veränderungen
physisch erfahrbar.
     In seinen Ausführungen zum Nationalismus deutet Anderson
die Verbindung dieser Ideologie zu teleologischen Zeitkonzepten
lediglich an einer Stelle an: „The medieval mind had no conception
of history as an endless chain of cause and effect or of a radical se-
paration between past and present.“62 Bereits 1966 hatte Siegfried
Kracauer darauf hingewiesen, dass die Vorstellung linearer Zeit und
Geschichte, die teleologisch von der Vergangenheit in die Gegen-
wart voranschreiten und sich mittels der Prognostik weiter in die Zu-
kunft entwickeln, eine Konstruktion ist.63 Er führte dieses Zeit- und
Geschichtsverständnis des 18. und 19. Jahrhunderts auf den Aufstieg
der Naturwissenschaften zurück.64 Ähnlich hat Reinhart Koselleck in
Vergangene Zukunft gezeigt, dass sich diese Vorstellung einer Kette
von Ereignissen, die sich mittels Ursache und Wirkung kausal be-
dingen, im Zeitalter der Aufklärung vollends Bahn brach.65 Zachary
Sayre Schiffman hat die Ursache für dieses lineare und bis dahin
nicht dagewesene Zeitverständnis in der Trennung zwischen Gegen-
wart und Vergangenheit gesehen.66 Die Ursprünge dieser „Geburt der
Vergangenheit“ verortet er in der frühen Neuzeit. Die sich durch die
Separierung von der Gegenwart herausbildende Vorstellung einer
vertikalen Vergangenheit, die in übereinander gestaffelten Schich-
ten ausgegraben werden kann, wird oft auch als „geologische“ Zeit
beschrieben.67 Mit der Idee von Nationen teilt dieses moderne Zeit-
verständnis den fiktiven Charakter. Denn wie Constantin Fasolt es
treffend beschrieb: „No one that I have heard of has ever found a line
between the present and the past. And a moment’s reflection shows
that none is likely to be found.”68

                                             62
                             Anderson, Imagined Communities, 23.

                                             63
          Siegfried Kracauer, Time and History, in: History and Theory 6, 1966, 65–78.

                                                 64
            Ders., Geschichte – Vor den letzten Dingen, Bd. 4, Frankfurt a. M. 1971, 133.

                                             65
    Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt
                                        a. M. 1979.

                                                66
    Zachary Sayre Schiffman, The Birth of the Past, Baltimore 2011, 255f.; François Hartog,
           Regimes of Historicity. Presentism and Experiences of Time, New York 2017.

                                                67
       Cristián Simonetti, The Stratification of Time, in: Time & Society 24, 2015, 139–162.

                                                68
                                 Fasolt, The Limits of History, 10.

                                                88
Linien und Umwege

     Dieses gewandelte Zeitverständnis bildete die Blaupause für das
Denken in geradlinigen, linearen Nationalgeschichten.69 Die natio-
nalen Geschichtsschreibungen setzten ein Verständnis von Vergan-
genheit voraus, das mit fixen Ursprüngen und einem hohen Maß an
teleologischer Linearität operierte. Dieses Modell duldete per De-
finition keine Umwege.70 Daher musste man sich von vermeintlich
Fremdem abschotten, um nach innen die Illusion eines einheitlichen
„Wir“ gegenüber den Anderen zu generieren. Antonios Liakos fasste
es folgendermaßen zusammen:

    National identity, having a temporal structure, imposes a
    restructuring of the perception of time. This perception is
    articulated as narrative; it is formulated in the shape of na-
    tional history using the organic category of the nation. The
    national narrative identifies subjects with the national col-
    lectivity; it influences, clarifies, and unifies different tradi-
    tions, thus constructing a national culture. The construction
    of the national narrative restructures the experience of time.
    National historiography constitutes a codified past which is
    revived through present action aimed at an expected future.
    […] A national narrative should have internal coherence and
    no temporal discontinuities. The question of continuity has
    acquired crucial importance in the construction of national
    identity, particularly for Mediterranean nations.71

Liakos setzt somit Zeit- und Vergangenheitskonzepte in ein Abhän-
gigkeitsverhältnis zueinander. Auch Chakrabarty hat angemerkt: „all
our pasts are [...] futural in orientation“.72 Im Unterschied zu Liakos
soll hier jedoch die Überzeugung vertreten werden, dass nicht die
Nationalgeschichtsschreibung eine eigene Zeitlichkeit hervorbrach-
te, sondern dass umgekehrt die Auffassung von Zeit das Denken in
imaginären linearen Nationalgeschichten ermöglichte.

                                                69
    Antonis Liakos, The Construction of National Time. The Making of the Modern Greek
    Historical Imagination, in: Mediterranean Historical Review 16, 2001, 27–42; Schiffman,
              The Birth of the Past, 255f.; Hartog, Regimes of Historicity, 131–138.

                                                  70
    Das nationale Geschichtsverständnis Griechenlands bildet eine Ausnahme. Die Ge­
    schichtsschreibung bemühte sich zwar zunächst unter dem Eindruck des Philhellenismus
    um die Konstruktion nationaler Ursprünge in der griechischen Antike, entdeckte jedoch
    nach anfänglichem Zögern auch die byzantinische Vergangenheit wieder (vor allem unter
    dem Eindruck der Geschichte der griechischen Nation (1860–1874) des Konstantinos Papar-
    rigopoulos). Dies führte zur Konstruktion einer doppelten historischen Identität als Hel-
    lenen und Byzantiner. Siehe hierzu Cyril Mango, Byzantinism and Romantic Hellenism,
    in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 28, 1965, 29–43, hier 32; Michael Herz­
    feld, Towards an Ethnographic Phenomenology of the Greek Spirit, in: Mediterranean
    Historical Review 16, 2001, 13–26; Liakos, The Construction of National Time, 30–33. Zur
    Instrumentalisierung von Byzanz in der Geschichtswissenschaft des 19. und 20. Jahrhun-
    derts und zur Frage der Kontinuität von Byzanz in den modernen Nationalstaaten siehe
    Demetrios A. Stamatopoulos, Το Βυζάντιο μετά το έθνος. Το πρόβλημα της συνέχειας στις
    βαλκανικές ιστοριογραφίες, Athen 2009; ders., Byzantium after the Nation. The Problem of
                        Continuity in Balkan Historiographies, Budapest 2021.

                                             71
                    Antonis Liakos, The Construction of National Time, 28.

                                              72
                           Chakrabarty, Provincializing Europe, 250.

                                               89
Armin F. Bergmeier

                 V. Nationalismus, Zeit und Byzanz

Die Ergebnisse der Zeitforschung sind bereits insofern in die kunst-
historische und archäologische Praxis eingeflossen, als Modelle line-
arer Stilabfolgen schon seit Längerem kritisiert werden. Forscher wie
Willibald Sauerländer und Hans Belting entlarvten die Vorstellung
einer linearen Kunstgeschichte, die sich als zielgerichtete Stil-Ent-
wicklung von der Antike bis in die Gegenwart zieht, als Konstruktion.
Sauerländer stellte in Bezug auf die Erfindung von Kunststilen im
19. Jahrhundert fest: „The panorama of styles was now unfolded not
only in books and lectures, but also in museums and exhibitions and
above all in contemporary architecture.“73 In Das Ende der Kunstges-
chichte zeichnete Belting die Herausbildung der Kunstgeschichte
als chronologisch geordnete Stil- oder Werkgeschichte Schritt für
Schritt nach:74 Seit Vasari wurden Kunstwerke als Teil einer inner-
künstlerischen quasi-biologischen Stilentwicklung von Aufblühen,
Klassik und Niedergang begriffen; Hegel lenkte dieses Entwick-
lungsmodell weg von den Kunstwerken, die nun zum Spiegelbild his-
torischer, geistesgeschichtlicher Entwicklungen wurden.75
     Weniger häufig wurde diskutiert, dass nationale Geschichtsmo-
delle und die ihnen zugrundeliegenden Zeitvorstellungen auch dazu
führten, dass Kulturen wie die oströmische nicht in den Kanon der
jeweiligen Nation integriert werden konnten. Dies mag im Hinblick
auf die meisten außereuropäischen Kulturen nicht überraschen, bei
denen das Ausmaß des Austauschs mit dem europäischen Westen
geringer ausfällt als bei Byzanz, das zu Europa gehörte. Häufig ist
ja gar nicht zu differenzieren, was byzantinisch und was romanisch
ist. Und die anhaltende Diskussion um die „Byzantinische Frage“
hat zumindest zum Wissen darum geführt, welch große Zahl an For-
men und Objekten im Westen im Austausch mit Byzanz entstanden
sind. Warum konnte dieses mittelalterliche Reich, das politisch und
künstlerisch über Jahrhunderte hinweg aufs Engste mit dem Westen
verbunden war, dann aber nicht in den kunsthistorischen Kanon ein-
gegliedert werden? Stattdessen kam es, wenn überhaupt, in Handbü-
chern nur eingezwängt zwischen Spätantike und Frühmittelalter vor,
wie es Robert Nelson darlegte.76 Auch die Ablehnung der maniera gre-
ca, die Spieser betonte, kann die anhaltende Marginalisierung nicht
umfassend erklären.77 Die Struktur der Handbücher und der implizi-
te und explizite Orientalismus können lediglich als Symptom eines
weitreichenderen Phänomens gelten.

                                        73
                       Sauerländer, From Stilus to Style, 262.

                                          74
                   Belting, Das Ende der Kunstgeschichte, 121–199.

                                         75
                            Ebd., bspw. 121, 133 und 146.

                                         76
               Nelson, Living on the Byzantine Borders of Western Art.

                                          77
                       Vgl. Spieser, Art Byzantin et influence.

                                         90
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