LINIEN UND UMWEGE BYZANZ, NATION UND DER KANON DER KUNST GESCHICHTE IM DEUTSCHSPRACHIGEN RAUM - Armin F. Bergmeier
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LINIEN UND UMWEGE BYZANZ, NATION UND DER KANON DER KUNSTGESCHICHTE IM DEUTSCHSPRACHIGEN RAUM Armin F. Bergmeier 21: INQUIRIES INTO ART, HISTORY, AND THE VISUAL #2–2021 , pp. 73–95 https://doi.org/10.11588/xxi.2021.2.82007 73
Armin F. Bergmeier ABSTRACT: LINES AND DETOURS. BYZANTIUM, NATION, AND THE CANON OF ART HISTORY IN THE GERMAN-SPEAKING WORLD The article explores the marginalization of Byzantium within the canon of art history, focusing on the German-speaking tradition. This peripheral role is particularly striking because art history’s at- tempts to integrate the Roman East into the canon (the “Byzantine question”) can be traced back to the beginnings of art history as an academic discipline. From very early on, art historians and archaeol- ogists have been interested in global art histories beyond the confines of the West, a disposition that has increased exponentially in recent decades. By investigating the historiography of Byzantine art history, the ideology of nationalism, and modern concepts of time and histo- ry, this article demonstrates that both the canon and the nation-state were born of concepts of the linear, teleological flow of time during the Enlightenment. The article argues that the “Byzantine question”, the integration of the Eastern Roman Empire into the canon, had al- ways been doomed to fail. The reason for this is the linear, teleological structure both of modern temporality and of the canon – one that does not allow detours, only branches. Byzantium, with its close con- nections to the Western traditions, has long troubled this narrative and therefore serves as a lens through which to address questions of decentering and the position of other non-Western cultures in rela- tion to the Western canon. KEYWORDS Zeit; Nationalismus; Global Studies; Geschichtsphilosophie; Kanon; Museen; Fachgeschichte. 74
Linien und Umwege Seit vielen Jahren schon beschäftigen sich die Geisteswissenschaften unter dem Oberbegriff der Transkulturalität mit dem Zusammen- wirken und den Verflechtungen zwischen den Kulturen Europas, denen des Mittelmeerraums und jenseits davon.1 Byzanz, das Ost- römische Reich, erscheint hierfür als tausendjährige, transnationale, multiethnische Brücke zwischen den Kulturen des Westens und des Ostens prädestiniert. Jedoch hat die byzantinische Kunstgeschich- te und Archäologie vom transcultural turn bisher erstaunlich wenig profitieren können. Byzanz ist nach wie vor kein Bestandteil des kunsthistorischen Kanons – der linearen Kette als wichtig erachte- ter Artefakte von der Vergangenheit bis in die Gegenwart. Obwohl die oströmische Kunst ein integraler Bestandteil der mittelalter- lichen europäischen Kunstgeschichte war, wurde ihr lediglich eine periphere Rolle zugewiesen. Die Exklusion von Byzanz ist umso er- staunlicher, als es parallel zur Etablierung der Kunstgeschichte als akademische Disziplin durchaus den energischen Versuch gegeben hat, den Platz des Oströmischen Reichs innerhalb des kunsthisto- rischen Kanons zu bestimmen. Dieser Versuch, der etwa einhun- dert Jahre währte und der seit Mitte des 20. Jahrhunderts vorerst als gescheitert gelten muss, ist als „Byzantinische Frage“ in die Fach- geschichte eingegangen. Byzanz, wie der griechischsprachige Osten des Römischen Reichs seit dem 19. Jahrhundert vermehrt genannt wird,2 spielte über einen Zeitraum von tausend Jahren eine politische und kulturelle Schlüsselrolle für die Länder Westeuropas. Konstantinopel war die größte Stadt des Mittelalters, Hauptstadt des Römischen Reichs, wichtigste Mittlerin zwischen Ost und West und Taktgeberin für die Kunstproduktion des gesamten europäischen Mittelalters. In diesem Staatsgebilde fand das Römische Reich des Altertums eine bruchlose Kontinuität bis in die frühe Neuzeit hinein, denn das „byzantinische“ Reich ist nach allen bekannten historischen Fakten identisch mit dem Römischen Reich – auch wenn Karl der Große die Thronbesteigung einer Frau, Kaiserin Eirene, zum Anlass nahm, sich selbst ebenfalls zu einem römischen Kaiser krönen zu lassen. Selbst nach der Etab- lierung des Heiligen Römischen Reichs im Westen blieb im histori- schen Bewusstsein der Menschen die Tatsache verankert, dass der Kaiser in Konstantinopel in einer bruchlosen Kontinuität mit Kai- ser Augustus stand. Noch 1493 schrieb der venezianische Chronist Marin Sanudo, die Bauten Venedigs seien denen Roms ebenbürtig. 1 Dieser Beitrag ist aus dem Workshop „De-marginalizing Byzantium“ am 7./8.12.2019 am Deutschen Studienzentrum in Venedig hervorgegangen. Für ihre Unterstützung dabei danke ich Marita Liebermann. Außerdem danke ich Heidrun Stein-Kecks für die Möglichkeit, die Thesen im Rahmen der Tagungssektion „Maniera bizantina – Verdikt und Vorbild“ des Italienforums in Erlangen am 22.2.2021 vorzustellen. 2 Zwar gehen die Begriffe „Byzanz“ und „Byzantinisches Reich“ auf das 16. Jahrhundert zurück, doch erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden sie in großem Umfang ge braucht: Jean-Michel Spieser, Art Byzantin et influence. Pour l’histoire d’une construc- tion, in: Michel Balard, Élisabeth Malamut und Jean-Michel Spieser (Hg.), Byzance et le Monde extérieur, Contacts, relations, échanges, Paris 2005, 271–288, bes. 276; Anthony Kaldellis, Romanland. Ethnicity and Empire in Byzantium, Cambridge 2019, 15 und passim. 75
Armin F. Bergmeier Aus dem Kontext geht hervor, dass er mit Rom Konstantinopel, das Neue Rom, meinte.3 Im Folgenden soll untersucht werden, warum Byzanz trotz sei- ner herausragenden Bedeutung für die Geschichte der europäischen Kunst, für transkulturelle Prozesse im Mittelalter und für die histo- rischen Verflechtungen, die bis in die Gegenwart nachwirken, eine vergleichsweise untergeordnete Rolle innerhalb des Kanons spielt. Der Artikel wird zeigen, dass dieser Umstand der teleologischen Er- zählung von Geschichte und der Linearität des kunsthistorischen Ka- nons geschuldet ist. Die „Byzantinische Frage“ ist dabei gleichzeitig Symptom und Beleg dafür, dass der Versuch der Integration von By- zanz in den Kanon von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Um dies nachzuweisen, geht der Artikel nicht auf einzelne byzantinische Bilder, Bauten oder Objekte und deren ästhetische Wirkmacht ein. Denn natürlich sind die byzantinische Kultur und ihre eindrucksvol- le Kunstproduktion auch im Westen zu vielen Zeiten hochgeschätzt worden; dies hat jedoch nicht zu einer dauerhaften und systemati- schen Inklusion in den Kanon geführt. Ebenso wenig soll negiert werden, dass es seit dem 19. Jahrhundert in vielen Sprachen wichtige und vielfältige Forschung zu Byzanz gegeben hat. Doch gerade der Fülle an Forschung steht die Ausprägung des Kanons entgegen, der weitgehend ohne Byzanz auskommt. Dies spiegelt sich nicht zuletzt in der Besetzung von Lehrstühlen. Der Fokus des Artikels liegt auf dem deutschen Sprachraum, in dem man früh begonnen hatte, sich wissenschaftlich mit dem Osten auseinanderzusetzen. Die Ausfüh- rungen können aber teilweise auch auf andere westeuropäische Län- der und die USA übertragen werden, in denen die Herausbildung des kunsthistorischen Kanons ähnlichen Prinzipien folgte. In den USA hat schon seit Langem ein Umdenken eingesetzt. Doch die Kritik, die Robert Nelson 1996 und 1997 in zwei wegwei- senden Artikeln zur Rolle von Byzanz in kunsthistorischen Hand büchern äußerte, ist in Teilen noch immer aktuell: Darin hat er die Exklusion von Byzanz aus dem Kanon beschrieben und dahingehend untersucht, wie diese sich in kunsthistorischen Handbüchern und im Katalogisierungssystem der Library of Congress manifestiert. Deren Struktur führt Nelson auf die Tradition deutscher Handbücher des 19. Jahrhunderts zurück. Wann immer Byzanz und das östliche Mit- telmeer in Handbüchern Platz finden, dann stets in anachronistischer Weise, eingezwängt zwischen Antike und dem Beginn des Frühmit- telalters, nicht aber synchron mit dem westlichen Mittelalter und der frühen Neuzeit.4 Dieses Schicksal teilt es mit der Islamischen und an- deren Kunstgeschichten, die alle zu unterschiedlichen Zeitpunkten in 3 Marin Sanudo, Laus urbis Venetae. Eine englische Übersetzung findet sich in David S. Chambers, Brian S. Pullan und Jennifer Fletcher (Hg.), Venice. A Documentary History, 1450–1630, Oxford 1992, 16f. 4 Robert S. Nelson, Living on the Byzantine Borders of Western Art, in: Gesta 35, 1996, 3–11; ders., The Map of Art History, in: Art Bulletin 79, 1997, 28–40. Siehe auch Hannah Baader und Gerhard Wolf, Kunstgeschichte, in: Mihran Dabag, Nikolas Jaspert, Achim Lichtenberger und Dieter Haller (Hg.), Handbuch der Mediterranistik. Systematische Mittel- meerforschung und disziplinäre Zugänge, Paderborn 2019, 253–290, bes. 254–258. 76
Linien und Umwege der Neuzeit enden und dort abbrechen; lediglich die westliche Kunst setzt sich in verschiedenen „Ismen“ bis in die Gegenwart fort.5 Zwar sind in den USA in den vergangenen zweieinhalb Jahr- zehnten viele neue Lehrstühle für Byzanz und für außereuropäische und präkolumbianische Kunst entstanden. Doch die von Nelson be- schriebene Grundstruktur des Kanons ist in seinem Kern unver- ändert. Die sechste Auflage von Marilyn Stokstads Überblickswerk zur Geschichte der Kunst ist zwar gegenüber der ersten Auflage um viele Kulturen außerhalb des westlichen Kanons erweitert worden, doch diese bilden zumeist parallel verlaufende Sub-Kanons.6 Béatri- ce Joyeux-Prunel hat daher auf den Widerspruch hingewiesen, dass innerhalb der Kunstgeschichte zwar schon im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert ein großes Augenmerk auf außereuropäische Kultu- ren gelegt worden sei; dem stehe jedoch der Mangel globaler Anteile am kunsthistorischen Kanon gegenüber.7 Unter dem Begriff der Welt- kunstgeschichte hatte es besonders im deutschsprachigen Raum ein überaus großes Interesse an außereuropäischen Kulturen und an an- tiken Kulturen jenseits der griechisch-römischen Tradition gegeben.8 Auch in den USA gab es seit den 1930er Jahren verstärkte Tendenzen, präkolumbianische, afrikanische und andere Kunst einzubeziehen. Präkolumbianische und lateinamerikanische Kunst werden seit 1938 in Yale gelehrt. Zur gleichen Zeit begann man auch, islamische Kunst- geschichte zu unterrichten.9 Daher fragt Joyeux-Prunel, warum diese transkulturellen, globalen Bestrebungen nicht dazu geführt haben, dass auch außereuropäische Artefakte zu integralen Bestandteilen des Kanons wurden. Sie erklärt dies einerseits damit, dass viele der frühen Kunsthistoriker rassistische und nationalistische Tendenzen aufwiesen und andererseits mit der sich seit den 1980er Jahren durch- setzenden Erkenntnis, dass Nation ein imaginäres Konstrukt sei.10 Dies sind sicherlich wichtige Aspekte. Ich verfolge hier allerdings die These, dass es umgekehrt bestimmte historistische Denkmuster und Vorstellungen von linearer Zeit waren, die in der Aufklärung dazu führten, dass sich das Erzählen von Geschichte als kausale Kette von Ereignissen durchsetzte. Diese geradlinige Erzählung duldet keine Umwege und liefert bis heute die Grundstruktur für den Kanon. Im Folgenden wird daher die Randstellung von Byzanz als Fallbeispiel genommen um zu zeigen, dass der Kanon – das normative Narrativ 5 Nelson, The Map of Art History, Abb. 4 und 5. 6 Marilyn Stokstad, Art History, Upper Saddle River, NJ 62018. 7 Béatrice Joyeux-Prunel, Art History and the Global. Deconstructing the Latest Canonical Narrative, in: Journal of Global History 14, 2019, 413–435. 8 Ebd., 417f. und passim. 9 Ebd. 423f. 10 Ebd. 420f. Auch Nelson deutete die Marginalisierung von Byzanz in Handbüchern und Bibliotheksklassifizierungen als Resultat aus dem Nationalismus (Nelson, The Map of Art History, 32). 77
Armin F. Bergmeier von Objekten und Debatten – das Resultat der modernen Vorstellung einer linear, teleologisch voranschreitenden Zeit ist. Denn dieses Zeitkonzept ist nicht das Ergebnis des Nationalismus, sondern viel- mehr dessen Vorbedingung. I. Byzanz und der Westen bis zur Aufklärung Am Beginn kunsthistorischen Schreibens steht Giorgio Vasari, der schon im 16. Jahrhundert die Kunst des griechischsprachigen Ostens als eine der westlichen Kunst unterlegene darstellte.11 Er behauptete, dass Byzanz einerseits die antike Kunstfertigkeit über das Mittelal- ter hinweg rettete, andererseits aber nur plumpe und schlechte Kunst hervorbrachte. In Anlehnung an das Vasari’sche Geschmacksurteil schätzten die meisten Autoren Byzanz gering und stellten das Reich und seine Kultur als schwächelnd, effeminiert und dekadent dar.12 Das von Vasari erdachte Narrativ vermarktete vor allem die toskani- schen Künstler als direkte Erben der Antike. Dies funktionierte nur, indem dem Oströmischen Reich, das tausend Jahre lang das antike Erbe gehütet hatte, genau dieses Erbe abgesprochen wurde. Zu die- sem Zweck verfolgte Vasari einen widersprüchlichen Ansatz: Einer- seits behauptete er, dass die italienische Kunstproduktion durch aus dem griechischsprachigen Osten herbeigeholte Künstler gelehrt und am Leben erhalten wurde.13 Andererseits verunglimpfte er die öst- liche Kunst als schlecht und plump und vertrat die Meinung, dass die Innovationskraft der toskanischen Kunst internalistisch aus sich selbst heraus entstanden sei.14 Dass dieses von Vasari konstruier- te Narrativ in seiner Absolutheit den frühneuzeitlichen Konventio- nen widersprach, belegen beispielsweise zeitgenössische Künstler 11 Siehe hierzu Ernst Kitzinger, The Byzantine Contribution to Western Art of the Twelfth and Thirteenth Centuries, in: Dumbarton Oaks Papers 20, 1966, 27–47, hier 27–29. Vor Vasari hatte bereits Lorenzo Ghiberti in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts einen ähnlichen Ansatz verfolgt, siehe bspw. Lorenzo Ghiberti, Commentario II, in: Julius von Schlosser (Hg.), Lorenzo Ghibertis Denkwürdigkeiten (I Commentarii), Berlin 1912, 35. 12 Holger A. Klein, Byzanz, der Westen und das ,wahre‘ Kreuz. Die Geschichte einer Reliquie und ihrer künstlerischen Fassung in Byzanz und im Abendland, Wiesbaden 2004, 1–14. 13 Siehe bspw. Giorgio Vasari, La vita di Cimabue, in: ders., Das Leben des Cimabue, des Giotto und des Pietro Cavallini, hg. von Alessandro Nova, Berlin 2015, 19–37, bes. 19. 14 In der Vorrede zum zweiten Teil der Viten spricht Vasari bspw. vom „plumpen griech- ischen Stil [...], der in seiner Rohheit mehr von den Spuren des Steinbruchs als vom Talent der Künstler geprägt war“ (zitiert nach Giorgio Vasari, Kunsttheorie und Kunstgeschichte. Eine Einführung in die Lebensbeschreibungen berühmter Künstler anhand der Proemien, hg. von Sabine Feser and Matteo Burioni, Berlin 2004). Die irrige Annahme, Byzanz habe es an Innovationskraft gefehlt, hat Ernst Kitzinger bereits 1966 widerlegt (The Byzantine Con- tribution to Western Art of the Twelfth and Thirteenth Centuries, 27–29). Zur „maniera greca“ siehe auch Patricia Lee Rubin, Giorgio Vasari. Art and History, New Haven 1995, 249–250 und 287–320; Ennio Concina, Giorgio Vasari, Francesco Sansovino e la maniera greca, in: ders., Giordana Trovabene und Michela Agazzi (Hg.), Hadriatica. Attorno a Venezia e al Medioevo tra arti, storia e storiografia, Padua 2002, 89–96; Gabriele Blickendorf, ‚Maniera greca‘. Wahrnehmung und Verdrängung der byzantinischen Kunst in der italie- nischen Kunstliteratur seit Vasari, in: Semra Ögel und Gregor Wedekind (Hg.), Okzident und Orient, Istanbul 2002, 113–125; Grazyna Jurkowlaniec, West and East Perspectives on the ‚Greek Manner‘ in the Early Modern Period, in: Ikonotheka 22, 2009, 71–91. 78
Linien und Umwege verträge, die eine Wertschätzung für die östliche Manier bis weit ins 15. Jahrhundert hinein erkennen lassen.15 Vasari konnte für seine Ablehnung der maniera greca auf eine lan- ge Tradition der Polemik gegen das östliche Römische Reich zurück- greifen. Die Beziehung zwischen dem „Heiligen Römischen Reich“ im Westen und dem Römischen Reich im Osten war schon seit den Zei- ten Karls des Großen angespannt. Der Westen sprach gern von einem Reich der Griechen, um deren Verbindung mit dem römischen Kai- sertum zu kappen.16 Viele Quellen zeugen von der Praxis, die Genea- logie der antiken römischen Kaiser nicht zu den oströmischen Kaisern fortzusetzen, sondern den Weg über die westlichen Kaiser und Köni- ge zu beschreiten. Deutsche Kaiserchroniken des Mittelalters beru- fen sich oftmals auf eine Tradition, die von der Gründung Roms bis zu den deutschen Kaisern des 12. Jahrhunderts verlief.17 Constantin Fasolt untersuchte die im 16. Jahrhundert geführte Debatte über die Ursprünge der deutschen Kaiser und der Päpste, die man genea logisch auf das Imperium Romanum zurückzuführen bestrebt war.18 Doch diese genealogische Sichtweise verdrängte die Kenntnis der oströmischen Geschichte und ihr Identifikationspotential nie völlig.19 Viele Beispiele zeugen davon, dass die westliche Genealogie nicht die einzige Möglichkeit darstellte, Geschichte zu konstruie- ren. Venezianische Quellen wie das Chronicon Altinate enthalten im 12. und 13. Jahrhundert erstellte Kaiserlisten, die die Kontinuität der römischen Kaiser von Julius Caesar bis zu Alexios Komnenos abbil- den.20 Vereinzelte Episoden zeigen, dass auch nach 1453 das Oströmi- sche Reich ein Bezugspunkt für den Westen blieb. Der französische König Charles VIII. (1483–1498) hatte 1494 von Andreas Palaiologos, 15 Aus dem Vertrag mit Leonardo da Vinci für den Marienaltar in San Francesco in Mailand geht dies bspw. hervor: „Ebenso in allen jenen Teilen, wo unsere Jungfrau erscheint, sei sie geschmückt wie auf der Mitteltafel, und die anderen Figuren in griechischer Art, ge schmückt mit verschiedenen Farben, nach griechischer oder moderner Art.“ („Item in tucto li altri capitolli dove sia la nostra dona sia ornata come quella de mezo, et li altre figure grege hornati de diversi colori ala fogia grega o moderna.“) Siehe Frank Zöllner, Leonardo da Vinci 1452–1519. Complete Paintings and Drawings, Köln 42019, 85–86, 253. 16 Siehe bspw. Einhard, Einhardi vita Karoli Magni, MGH 25, Hannover 61911, 18 und 24. Li- udprand von Cremona schrieb über die Romaioi: „Dormiebat, ut puto, tunc potestas tua, immo decessorum tuorum, qui nominee solo, non autem re ipsa imperatores Romano- rum.“ (Liudprand von Cremona, Legatio, in: Josef Becker (Hg.), Die Werke Liudprands von Cremona (Liudprandi opera), MGH 41, Hannover 41915, 178.) 17 Siehe bspw. Hans-Werner Goetz, Der Umgang mit der Geschichte in der lateinischen Weltchronistik des hohen Mittelalters, in: Martin Wallraff (Hg.), Julius Africanus und die christliche Weltchronik, Berlin 2006, 179–205, bes. 187; Claudia Wittig, Political Didacti- cism in the Twelfth Century. The Middle-High German Kaiserchronik, in: Michele Cam- popiano und Henry Bainton (Hg.),Universal Chronicles in the High Middle Ages. Writing History in the Middle Ages, York 2017, 95–119. 18 Constantin Fasolt, The Limits of History, Chicago 2004, 92–154. 19 Spieser, Art Byzantin et influence, 274. 20 Diese Liste im Chronicon Altinate führt die frühen römischen Kaiser kursorisch auf. Ab der Herrschaft Konstantins werden die Einträge umfangreicher (Roberto Cessi, Origo civitatum Italie seu Venetiarum (Chronicon Altinate et Chronicon Gradense), volume unico, Roma 1933, 102–114). 79
Armin F. Bergmeier dem Neffen des letzten römischen Kaisers, den kaiserlichen Titel und den Anspruch auf den Thron erworben.21 Noch als der Habsbur- ger Leopold I. 1705 starb, wurde seine Büste in eine Reihe mit der- jenigen Karls des Großen und mit denen der byzantinischen Kaiser Konstantin I. und Theodosius I. gesetzt.22 In Preußen führte das Stre- ben nach Legitimierung des jungen Königtums womöglich dazu, dass die preußischen Herrscher der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach Byzanz blickten.23 Die veneto-byzantinischen Monumente im Schlosspark Glienicke und in der Friedenskirche in Potsdam zeugen bis heute davon. Doch in der Zeit der Aufklärung nahm die Negativität und Schär- fe des Urteils über Byzanz bei Autoren wie Montesquieu und Voltaire merklich zu. Voltaire schrieb über die römische Geschichte: „Davon gibt es noch eine lächerlichere, die byzantinische Geschichte. Diese unwürdige Sammlung enthält nichts anderes als wertloses Gerede und Wunder: Sie ist die Schande des menschlichen Geistes, wie das griechische Reich die Schande der Erde war.“24 Ähnlich charakteri- siert noch Hegel die Geschichte des Oströmischen Reichs in seinen Berliner Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte in den 1820er Jahren als „ununterbrochene Linie von tausend Jahren Verbrechen, Schwächen, Schmach und Charakterlosigkeit“.25 Séroux d’Agincourt betitelte sein Werk zur mittelalterlichen Kunst 1823 entsprechend als Geschichte der Kunst „von ihrem Niedergang im vierten Jahrhundert bis zu ihrer Erneuerung im 16. Jahrhundert“.26 Parallel dazu entdeckten besonders deutschsprachige Intellek- tuelle im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert unter dem Eindruck der Schriften Johann Joachim Winckelmanns die griechische Antike als Wurzel der eigenen Kultur und Gesellschaft.27 Wollte man also an diese verehrten Ursprünge ansetzen, mussten Hindernisse aus dem 21 Philip Mansel, The French Renaissance in Search of the Ottoman Empire, in: Gerald M. MacLean und William Dalrymple (Hg.), Re-Orienting the Renaissance. Cultural Exchanges with the East, Basingstoke 2005, 96–107, bes. 96. 22 Jean-Michel Spieser, Das Byzanzbild in der Zeit der Aufklärung, in: Benjamin Fourlas (Hg.), Wege nach Byzanz, Mainz 2011, 112–121, bes. 114. Siehe auch Spieser, Art Byzantin et in- fluence, 275. 23 Christian Ottersbach, Geheiligtes Königtum. Neubyzantinismus als Mittel zur monar- chischen Repräsentation im 19. Jh., in: Benjamin Fourlas (Hg.), Wege nach Byzanz, Mainz 2011, 122–135; Nicolas Bock, Art and the Origins of Authority. Prussia, from Ravenna to Byzantium and the Romanesque, in: Ivan Foletti, Manuela Gianandrea, Serena Romano und Elisabetta Scirocco (Hg.), Re-Thinking, Re-Making, Re-Living Christian Origins, Rom 2018, 191–208. 24 Zitiert nach Spieser, Das Byzanzbild in der Zeit der Aufklärung, 112. 25 Zitiert in Klein, Byzanz, der Westen und das ,wahre‘ Kreuz, 5. 26 Séroux d’Agincourt, Histoire de l’art par les monuments depuis sa décadence au IVe siècle jusqu’à son renouvellement au XVIe siècle, Paris 1823. Siehe hierzu Daniela Mondini, Séroux d’Agincourt e la storia dell’arte intorno al 1800, Rom 2019. 27 Hierzu Suzanne L. Marchand, German Orientalism in the Age of Empire. Religion, Race, and Scholarship, Cambridge 2009. 80
Linien und Umwege Weg geräumt werden, die der Illusion einer direkten, linearen Genea- logie im Wege standen. Anlässlich der Einweihung der Akropolis als archäologische Stätte am 28. August 1834 charakterisierte Leo von Klenze die Zeit zwischen der Antike und der damaligen Gegenwart als barbarisch; erst der neu eingesetzte König von Griechenland setz- te angeblich die Zivilisation fort.28 Einen Sonderweg beschritt das österreichisch-ungarische Habs burgerreich. Anstelle einer linearen Entwicklung aus einem einzigen Ursprung wählte man im Vielvölkerreich ein Narrativ, das sich aus mehreren Zentren speiste.29 Anders als in Deutschland spielte der sich an der griechischen Klassik orientierende Philhellenismus in Öster- reich-Ungarn zwischen der Mitte des 18. und der Mitte des 19. Jahr- hunderts eine geringe Rolle. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahr- hunderts ist eine Hinwendung zur Antike zu bemerken. Aber selbst dann war diese Fokusverschiebung dadurch motiviert, im multieth- nischen Römischen Reich eine Analogie zu dem zerfallenden moder- nen Vielvölkerstaat zu sehen.30 Diese Entfernung vom klassischen Ideal zugunsten eines Bewusstseins der Vielfalt ermöglichte es nicht zuletzt Alois Riegl, die Spätantike als Forschungsfeld zu etablieren.31 II. Die „Byzantinische Frage“ nach der Aufklärung Um die Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Kunst des Oströmi- schen Reichs in den ersten Handbüchern der Kunstgeschichte den- noch prominent diskutiert.32 Wissenschaftler wie Franz Kugler und Carl Schnaase besprachen die Kunst des östlichen Mittelmeers und ihre Auswirkungen auf den Westen erstmals in kunsthistorischen 28 James Cuno, Who Owns Antiquity?, Princeton 2011, xi. 29 Walter Pohl, National Origin Narratives in the Austro-Hungarian Monarchy, in: Joseph Patrick Geary und Gábor Klaniczay (Hg.), Manufacturing Middle Ages. Entangled History of Medievalism in Nineteenth-century Europe, Leiden 2013, 13–50, bes. 43 und 49. 30 Siehe hierzu Georg Vasold, Der Blick in den tragischen Spiegel. Zur Kunsthistorischen Erforschung der Spätantike in Wien um 1900, in: Ernő Marosi und Gábor Klaniczay (Hg.), The Nineteenth-Century Process of „Musealization“ in Hungary and Europe, Budapest 2006, 91–112, bes. 100–104. 31 Alois Riegl, Die spätrömische Kunstindustrie nach den Funden in Österreich-Ungarn, Wien 1901. Siehe auch Willibald Sauerländer, From Stilus to Style. Reflections on the Fate of a Notion, in: Art History 6, 1983, 253–270, hier 264; Jaś Elsner, The Birth of Late Antiquity. Riegl and Strzygowski in 1901, in: Art History 25, 2002, 358–379, hier 360. 32 Eine komplette Historiographie der byzantinischen Kunstgeschichte existiert nicht. Es liegen lediglich einige Spezialuntersuchungen vor. Charles Diehl, Les Etudes byzantines en France, in: Byzantinische Zeitschrift 9, 1900, 1–13; Robin Cormack und Elizabeth Jef- freys (Hg.), Through the Looking Glass. Byzantium through British Eyes, Aldershot 2000; Jean-Michel Spieser, En guise d’introduction. Byzance et l’Europe, in: ders. (Hg.), Présence de Byzance, Gollion 2007, 7–29; Ivan Foletti, Da Bisanzio alla Santa Russia. Nikodim Kon- dakov (1844–1925) e la nascita della storia dell’arte in Russia, Rom 2011; Giovanni Gasbarri, Riscoprire Bisanzio. Lo studio dell’arte bizantina a Roma e in Italia tra Ottocento e Novecento, Rom 2015; Stamatios T. Chondrogiannis (Hg.), Byzantium in the World. Artistic, Cultural, and Ideological Legacy from the 19th to the 21st Century, Thessaloniki 2017. Bislang existie- ren keine Untersuchungen, die einen Überblick über die museale Sammlungsgeschichte byzantinischer Objekte geben. 81
Armin F. Bergmeier Lehrbüchern.33 Das Anliegen dieser Überblickswerke war die Her- ausbildung eines kunsthistorischen Kanons, einer Entwicklung der Geschichte der Kunst. Die Position von Byzanz innerhalb dieses Ge- rüsts und das Verhältnis zum Westen wurden ausgehend von diesen ersten Studien über einen Zeitraum von mehr als hundert Jahren diskutiert. Die Debatte ist gemeinhin als „Byzantinische Frage“ be- kannt.34 Im Zuge der Gründung der ersten kunsthistorischen Institu- te in Bonn (1860), Straßburg (1871), Leipzig (1873), Wien (1874), Prag (1874) und Berlin (1875) wurde der Diskurs über Byzanz fundierter. Anton Springer, der erste Lehrstuhlinhaber in Leipzig (der auch in Prag, Bonn und Straßburg lehrte), präsentierte nun eine nuancierte Sicht auf Byzanz in seinem Aufsatz Die byzantinische Kunst und ihr Einfluss im Abendlande.35 Er würdigte Byzanz’ große künstlerische Leistungen, lehnte jedoch immer noch einen anhaltenden Einfluss des Ostens auf die westliche Kunstproduktion ab. In den folgenden Jahrzehnten beschäftigten sich viele deutsche Wissenschaftler ausschließlich mit der Spätantike (Franz Xaver Kraus und andere), einem weniger verminten Feld, da für die Spätantike die Frage nach der Überlegenheit des Ostens gegenüber dem Westen nicht in der Weise bestand wie für das Mittelalter. Die künstlerische Produktion im Westen war bis zur Mitte des sechsten Jahrhunderts derjenigen im Osten noch annähernd vergleichbar. Forscher wie Ni- kodim Kondakov, Gabriel Millet und später Josef Strzygowski trieben derweil das Studium des östlichen Mittelmeers voran.36 In der Folge ebbte die Beschäftigung mit der mittelalterlichen Phase des Römi- schen Reichs in Europa ab. Um die Mitte des 20. Jahrhunderts erlebte die Auseinanderset- zung mit Byzanz eine weitere Blüte und verlagerte sich in den anglo- phonen Raum. Sie wurde hier vor allem durch aus Deutschland und Österreich geflohene Kunsthistoriker wie Richard Krautheimer, Ernst Kitzinger, Kurt Weitzmann, Hugo Buchthal, Otto Demus und andere angetrieben. Bereits in den 1940er Jahren stellte Wilhelm Koehler, der erste Studienleiter am neu gegründeten Forschungszentrum für Byzantinische Studien in Dumbarton Oaks (Washington DC), er- neut die Frage nach dem Platz der byzantinischen Kunstgeschichte innerhalb des Fachs. Er betonte die Rolle der byzantinischen Kunst für die Bildung der „romanischen“ Bildsprache. Am Beispiel des 33 Franz Kugler, Handbuch der Kunstgeschichte, Stuttgart 1842; Carl Schnaase, Geschichte der bildenden Künste im Mittelalter, Bd. 1, 2. verb. Aufl., Düsseldorf 1869 [1844]. 34 Zur „Byzantinischen Frage“ fehlt bis heute eine systematische, kritische Bestandsauf- nahme. Kurze Überblicke finden sich bei Klein, Byzanz, der Westen und das ,wahre‘ Kreuz, 1–14; und Gasbarri, Riscoprire Bisanzio, 79f. 35 Anton Springer, Die byzantinische Kunst und ihr Einfluss im Abendlande, in: ders., Bilder aus der neueren Kunstgeschichte, Bd. 1, Bonn 1886, 79–112. 36 Siehe hierzu Foletti, Da Bisanzio alla Santa Russia; Jean-Michel Spieser, Die Rezeption von Strzygowski (und Riegl) bei den französischen Byzantinisten zwischen 1900 und 1940, in: Falko Daim, Dominik Heher und Claudia Rapp (Hg.), Menschen, Bilder, Sprache, Dinge. Wege der Kommunikation zwischen Byzanz und dem Westen, Bd. 2, Mainz 2018, 383– 424. 82
Linien und Umwege Freskenzyklus in Berzé-la-Ville schrieb Koehler: „Byzantine art of the eleventh century is the source from which the international style which so profoundly influenced European Romanesque painting was derived.”37 Einer der Nachfolger Koehlers in Dumbarton Oaks, Ernst Kitzinger, setzte diese Untersuchung fort und konzentrierte sich auf das Überleben klassischer Traditionen in der byzantinischen Kunst in Süditalien und die Auswirkungen der byzantinischen auf die west- liche Kunstproduktion. Wegweisend war hier insbesondere sein Arti- kel über den byzantinischen Beitrag zur westlichen Kunst des 12. und 13. Jahrhunderts.38 In diesem Text argumentiert Kitzinger energisch gegen alte Vasari’sche Missverständnisse über die byzantinische Kunst, der es weder an Dynamik noch an Erfindungsreichtum mangele. Einen Endpunkt der intensiven wissenschaftlichen Auseinan- dersetzung über die „Byzantinische Frage“ stellt in gewisser Weise Otto Demus’ Buch Byzantine Art and the West dar.39 Demus, der seine Karriere der Markusbasilika in Venedig widmete, einem Hauptmo- nument der Ost-West-Interaktion, sammelte in diesem Band zahl- reiche Beispiele, die das lebhafte Interesse des Westens an byzanti- nischen Stilen und Ikonographien belegen. Die Beziehung zwischen West und Ost charakterisierte Demus weniger als ein von passivem Einfluss geprägtes, sondern eher als ein Schüler-Lehrer-Verhältnis.40 In den vergangenen 50 Jahren ist hingegen kaum noch versucht worden, das Verhältnis zwischen Byzanz und dem Westen als Gan- zes in den Blick zu nehmen. Byzantinische Themen sind vor allem in unabhängigen Einzelstudien untersucht worden. Einen neuen Ansatz definierte Hans Beltings Bild und Kult.41 Belting verzichtete darauf, quantifizierbaren Einfluss zu bestimmen und Entwicklungen zu verfolgen. Stattdessen versuchte er, den Status von Bildern in der jeweiligen Periode und in der jeweiligen Region zu untersuchen, aber dabei den größeren europäischen Kontext nicht aus den Augen zu verlieren. Holger Klein stellte in einer Publikation zu byzantinischen Kreuzreliquiaren die Tätigkeit westlicher Künstler als aktive und kreative Übernahme aus dem byzantinischen Formenkanon dar.42 Generell muss jedoch festgestellt werden, dass es der intensiven Be- schäftigung mit der „Byzantinischen Frage“ über mehr als hundert Jahre nicht gelungen ist, der Kunst des östlichen Mittelmeers, obwohl 37 Wilhelm Koehler, Byzantine Art in the West, in: Dumbarton Oaks Papers 1, 1941, 63–87, Zitat 76. 38 Kitzinger, The Byzantine Contribution to Western Art of the Twelfth and Thirteenth Cen- turies. 39 Otto Demus, Byzantine Art and the West, London 1970. 40 Ebd., vii. 41 Hans Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990. 42 Klein, Byzanz, der Westen und das ,wahre‘ Kreuz, 14. 83
Armin F. Bergmeier diese sogar Teil der westlichen Tradition ist, einen Platz innerhalb des Kanons zuzuweisen. Die Situation in den Museen ist vergleichbar mit derjenigen der Wissenschaft. Museen oder spezielle Abteilungen für Byzanz exis- tieren in Europa außerhalb Griechenlands und der Türkei kaum. Objekte aus dem Oströmischen Reich finden sich vereinzelt in Kir- chenschätzen und Diözesanmuseen (beispielsweise in Limburg und Halberstadt), als Anhängsel archäologischer Sammlungen und Kunstkammer-Sammlungen (im Fall des Kunsthistorischen Muse- ums Wien) oder verteilt über die verschiedenen Abteilungen größe- rer Museen (beispielsweise im Louvre). Sie teilen häufig das Schick- sal außereuropäischer Objekte, deren Status als Kunstwerk innerhalb europäischer Kategorien unsicher ist.43 Das Museum für Byzantini- sche Kunst in Berlin – das einzige allein auf Byzanz spezialisierte Museum westlich von Griechenland und östlich der USA – ist eine Anomalie unter den westlichen Museumsgründungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Seine Existenz ist der Weitsichtigkeit Wilhelm von Bodes zu verdanken, der die Skulpturensammlung um Werke außer- halb des westeuropäischen Kanons erweitern wollte.44 Es eröffnete jedoch erst 1904, mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Alten und dem Neuen Museum. III. Nationalismus Den beachtlichen Bemühungen um eine wissenschaftliche Würdi- gung der kulturellen Verflechtungen zwischen Ost und West über mehr als ein Jahrhundert hinweg steht die ausgebliebene Eingliede- rung von Byzanz in den Kanon gegenüber. Vielerorts sind Byzanz und der östliche Mittelmeerraum kaum mehr sichtbar in Forschung und Lehre. Das kann nicht nur mit dem Wegfall von Lehrstühlen für die Mittelalterkunstgeschichte erklärt werden. Daher wird hier die These diskutiert, dass diese in sich widersprüchliche Situation na- hezu alternativlos aus der Konstruktion nationaler Geschichts- und Kunstgeschichtserzählungen im 19. Jahrhundert herrührt. Mehr als zweihundert Jahre nach Vasari, der die eigenen toskanischen Kultur- leistungen als Innovationen aus sich selbst heraus erklärte, dominiert seit dem Aufkommen des Nationalismus eine ähnlich internalisti- sche Auffassung von Kultur das westliche Fortschrittsdenken. In Imagined Communities definiert Benedict Anderson den Nati- onalismus als horizontale Kameradschaft, die die Herrschaft über ei- nen großen, jedoch schlussendlich begrenzten Personenkreis ausübt 43 Wendy Shaw, Museums and Narratives of Display from the Late Ottoman Empire to the Turkish Republic, in: Muqarnas 24, 2007, 253–279, bes. 255. 44 Außer von Theodor Wiegand bekam Bode hierfür vor allem Unterstützung durch Josef Strzygowski. Siehe hierzu Gabriele Mietke, Josef Strzygowski und die Berliner Museen, Wiesbaden 2012; Gabriele Mietke, Theodor Wiegand und die byzantinische Kunst, Wies- baden 2014. 84
Linien und Umwege und die vor allem imaginiert ist.45 Vermittelt durch die Herstellung von Uhren, die Entstehung von Schriftsprachen, der Druckerpres- se und der Geschichtsdisziplin ersetzte der Nationalismus im Zuge der Aufklärung teilweise die integrative Rolle der Religion.46 Patrick Geary hat darauf hingewiesen, dass der imaginäre Charakter dieser Ideologie nicht dazu verleiten sollte, den Nationalismus als zahnlos misszuverstehen.47 Obwohl die Zugehörigkeit zu einer nationalen Gemeinschaft nach innen das Potential hat, Menschen zusammen- zubringen, darf nicht außer Acht gelassen werden, dass der Natio- nalismus in der Menschheitsgeschichte so viele Leben gekostet hat wie sonst nur die Pest. Einer der ersten Kriege, der von der proble- matischen Annahme der Existenz einer in sich geschlossenen Na- tion ausgelöst wurde, war der Unabhängigkeitskrieg der Christen im Osmanischen Reich gegen die Muslime im Osmanischen Reich zu Beginn des 19. Jahrhunderts (1821–1829).48 Das rassistische Attentat von Hanau am 19. Februar 2020 auf deutsche Menschen mit Migra- tionsgeschichte zeigt schmerzhaft, dass der Nationalismus auch im 21. Jahrhundert noch nicht überwunden ist.49 Während Anderson den Nationalismus vor allem in seiner ho- rizontalen Breitenwirkung untersuchte, haben andere nach ihm die Konstruktion von Geschichte, die vertikale Dimension des Na- tionalismus und dessen Geschichtlichkeit vermehrt in den Blick ge- nommen. Dipesh Chakrabarty hat angemahnt, das eurozentristische Modell, das seine Ursprünge seit der Aufklärung in der griechischen Antike verortet, zu dezentrieren.50 Maria Todorova zeichnete die Konstruktion des Mythos von „dem“ Balkan von der Aufklärung bis in die 1990er Jahre nach.51 45 Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origins and Spread of Nation- alism, London 42016, 5–7. 46 Ebd., 194. 47 Patrick J. Geary, The Myth of Nations. The Medieval Origins of Europe, Princeton 2002, 17. 48 Zum Import westeuropäischer nationalistischer Ideologie und zur Entstehung des Mythos der Nation unter den Christen im Osmanischen Reich siehe bspw. Konstantina Zanou, Transnational Patriotism in the Mediterranean, 1800–1850. Stammering the Nation, Oxford 2018. Stamatopoulos hat darauf hingewiesen, dass sich die Aufstände auf der Peloponnes im Jahr 1808 gegen die korrupte osmanische Verwaltung unter den Söhnen Ali Paşas richteten. Anders als 1821 zielten diese nicht auf die Etablierung einer eigenen Nation. Als gemeinsame Flagge wurde eine mit Kreuz und Halbmond vorgeschlagen (Demetrios A. Stamatopoulos, The Eastern Question or Balkan Nationalism(s). Balkan His- tory Reconsidered, Göttingen 2018, 13). 49 Die Namen der Opfer sind Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Gökhan Gültekin, Kaloyan Velkov, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar, Hamza Kurtović und Said Nesar Hashemi. 50 Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton 2000, 5 und passim. 51 Maria Todorova, Imagining the Balkans, Oxford 2009 (erw. Aufl.), passim, bes. 140–160. 85
Armin F. Bergmeier Patrick Geary zeigte auf, wie die Philologie, Geschichtsfor- schung und die Archäologie seit der Aufklärung Nationen über Spra- che, Territorium, Ethnie und Kulturstile konstruierten. Er diskutiert die Herausbildung der Geisteswissenschaften nach deutschem Vor- bild als Modell, das das Denken in nationalstaatlichen Entwicklun- gen vorzeichnete. In Bezug auf die Herausbildung der Philologie, die ferne Kulturen und deren Sprache in eine Entwicklungslinie mit den modernen Sprachen Europas stellte, bemerkt Geary: „It made possi- ble the creation of a national, ‚scientific‘ history that projected both national language and national ideology into a distant past.“52 Andere Wissenschaftszweige folgten und das deutsche Modell wurde rasch in andere Länder exportiert.53 In Bezug auf Deutschland bestand eine Schwierigkeit darin, dass aus der multiethnischen, multisprach- lichen und multikulturellen Vergangenheit des Heiligen Römischen Reichs eine ausschließlich deutsche Vergangenheit konstruiert wer- den musste. Zu diesem Zweck wurden beispielsweise Monumen- te identifiziert, die als Marker und Quelle der nationalen Identität dienten. Ein frühes dieser Projekte, so Geary, waren die Monumenta Germaniae Historica.54 Auf diese Weise entstand ein Kanon, der als lineare, teleologische Kette das Wesen und den „Fortschritt“ der Nation abbilden sollte. IV. Nationalismus und Zeit Auf die Abhängigkeit der Museumsgründungen von der Ideologie des Nationalismus ist vielfach hingewiesen worden.55 Die großen Museen Deutschlands und Frankreichs sind mit der erklärten Ab- sicht entstanden, die Entwicklung nationaler Kunst und deren an- gebliche Überlegenheit gegenüber anderen Nationen erfahrbar zu machen.56 Eines der ersten Museen, der Pariser Louvre, hatte zum Ziel, in diachroner Weise die Entwicklung der französischen Kunst in Abgrenzung zur italienischen Kunst bis in die Gegenwart nachzu- zeichnen.57 Dieser Ansatz war schon, bevor der Louvre 1793 eröffne- te, im Musée de Luxembourg vorgeprägt. Die Werke wurden ihren 52 Geary, The Myth of Nations, 21–40, Zitat 32. 53 „The solution, obviously, was to imitate the German model, not only in creating university chairs of philology and history, of which some 250 were founded between 1876 and 1879, but also by absorbing the philological method of the German tradition.“ (Geary, The Myth of Nations, 30.) 54 Ebd., 26–29. 55 Bspw. Anderson, Imagined Communities, 178–185; Andrew McClellan, Nationalism and the Origins of the Museum in France, in: Studies in the History of Art 47, 1996, 28–39; Hans Belting, Das Ende der Kunstgeschichte. Eine Revision nach zehn Jahren, München 1995, 22 und 87. 56 Siehe hierzu bspw. Shaw, Museums and Narratives of Display, 254f. 57 McClellan, Nationalism and the Origins, 31–38. 86
Linien und Umwege geographischen, zeitlichen und gegenwärtigen Kontexten entzogen und wie an einem Faden in eine gesetzmäßig fortschreitende Kunst- geschichte eingeordnet.58 Hans Belting formuliert: Die Gründung des Museums wurde zu einem unwiderrufli- chen Einschnitt, an dem der Blick auf die Kunst zum Rück- blick auf die Kunstgeschichte wurde. Aber wozu diente die Kunst, wenn sie im Museum alle Funktionen verlor? Die Antwort auf diese Frage lag in dem neuen Verständnis von Geschichte. [...] Die Kunst, in der die positive Bilanz aus der Geschichte vorlag, lieferte die Garantie für den Fortschritt im Leben der Menschen.59 Dass einer solchen Konstruktion von Geschichte vieles zum Opfer fällt, veranschaulicht eine Episode aus der Zeit der Gründung des Pergamonmuseums in Berlin: Museumsspezialisten und Archäo- logen diskutierten den geeigneten Rahmen für das neu erworbene Markttor von Milet (2. Jh. n. Chr.). Sollte es in einem Raum mit dem Pergamonaltar (2. Jh. v. Chr.) gezeigt werden, da beide aus der West- türkei stammen? Man entschied sich in Absprache mit dem Kaiser, die Objekte getrennt voneinander zu installieren, um den Verlauf der Kunstgeschichte und die Trennung von Epochen und geographi- schen Räumen nachvollziehbar zu machen. Der Archäologe Theodor Wiegand hielt in seinen Tagebüchern folgende Äußerung Kaiser Wil- helms II. fest: „Ja, aber wir bauen ja keine Schwimmanstalt, sondern ein Museum, und ich will nicht, dass Sie Sachen zusammenbringen, die mehrere hundert Jahre voneinander verschieden sind.“60 Einige Jahre später bekräftigte Wiegand diese Position selbst und bestand auf der Trennung unterschiedlicher Zeithorizonte und geographi- scher Räume, um nicht die Reinheit der kanonischen Stile zu zer- stören: „Jeder monumentale und historische Zusammenhang [sei sonst] getötet, die kunstgeschichtliche Abfolge der antiken Baukunst ruiniert.“61 Doch die Biographien der Objekte aus Pergamon und Mi- let hatten nicht nur antike Phasen, sondern auch byzantinische und osmanische Lebensabschnitte. Die archäologischen Spuren späterer Epochen, die durchaus Einfluss auf das Aussehen, die Erhaltung und 58 So formuliert es bspw. Franz Kugler, Kleine Schriften und Studien zur Kunstgeschichte III, Stuttgart 1854, 476–487. 59 Hans Belting, Das unsichtbare Meisterwerk. Die modernen Mythen der Kunst, München 1998, 72f. 60 Theodor Wiegands Tagebuch (17. Februar 1911), zitiert in: Auf den Spuren der Antike. The- odor Wiegand, ein deutscher Archäologe (Ausst.-Kat. Bendorf am Rhein, Städtisches Muse- um), hg. von Silke Wenk und Jochen Mücke, Bendorf a. R. 1985, 18. Zum Markttor siehe Martin Maischberger, Zwischen Sachzwang und Utopie. Zur Technik von Architektur- rekonstruktionen im Museum. Das Markttor von Milet im Berliner Pergamonmuseum, in: Astrid Dostert und Franziska Lang (Hg.), Mittel und Wege. Bedeutung von Material und Technik in der Archäologie, Möhnesee 2006, 275–296. 61 Theodor Wiegands Tagebuch (20. April 1926), zitiert in: Wenk und Mücke, Auf den Spuren der Antike, 28. 87
Armin F. Bergmeier Bedeutung der Objekte hatten, wurden zerstört, um die Objekte auf einen Moment innerhalb der geradlinigen Geschichte der Kunst zu reduzieren. Im Gegenzug wurde beim Gang durchs Museum die Illu- sion der linear ablaufenden Zeit anhand stilistischer Veränderungen physisch erfahrbar. In seinen Ausführungen zum Nationalismus deutet Anderson die Verbindung dieser Ideologie zu teleologischen Zeitkonzepten lediglich an einer Stelle an: „The medieval mind had no conception of history as an endless chain of cause and effect or of a radical se- paration between past and present.“62 Bereits 1966 hatte Siegfried Kracauer darauf hingewiesen, dass die Vorstellung linearer Zeit und Geschichte, die teleologisch von der Vergangenheit in die Gegen- wart voranschreiten und sich mittels der Prognostik weiter in die Zu- kunft entwickeln, eine Konstruktion ist.63 Er führte dieses Zeit- und Geschichtsverständnis des 18. und 19. Jahrhunderts auf den Aufstieg der Naturwissenschaften zurück.64 Ähnlich hat Reinhart Koselleck in Vergangene Zukunft gezeigt, dass sich diese Vorstellung einer Kette von Ereignissen, die sich mittels Ursache und Wirkung kausal be- dingen, im Zeitalter der Aufklärung vollends Bahn brach.65 Zachary Sayre Schiffman hat die Ursache für dieses lineare und bis dahin nicht dagewesene Zeitverständnis in der Trennung zwischen Gegen- wart und Vergangenheit gesehen.66 Die Ursprünge dieser „Geburt der Vergangenheit“ verortet er in der frühen Neuzeit. Die sich durch die Separierung von der Gegenwart herausbildende Vorstellung einer vertikalen Vergangenheit, die in übereinander gestaffelten Schich- ten ausgegraben werden kann, wird oft auch als „geologische“ Zeit beschrieben.67 Mit der Idee von Nationen teilt dieses moderne Zeit- verständnis den fiktiven Charakter. Denn wie Constantin Fasolt es treffend beschrieb: „No one that I have heard of has ever found a line between the present and the past. And a moment’s reflection shows that none is likely to be found.”68 62 Anderson, Imagined Communities, 23. 63 Siegfried Kracauer, Time and History, in: History and Theory 6, 1966, 65–78. 64 Ders., Geschichte – Vor den letzten Dingen, Bd. 4, Frankfurt a. M. 1971, 133. 65 Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979. 66 Zachary Sayre Schiffman, The Birth of the Past, Baltimore 2011, 255f.; François Hartog, Regimes of Historicity. Presentism and Experiences of Time, New York 2017. 67 Cristián Simonetti, The Stratification of Time, in: Time & Society 24, 2015, 139–162. 68 Fasolt, The Limits of History, 10. 88
Linien und Umwege Dieses gewandelte Zeitverständnis bildete die Blaupause für das Denken in geradlinigen, linearen Nationalgeschichten.69 Die natio- nalen Geschichtsschreibungen setzten ein Verständnis von Vergan- genheit voraus, das mit fixen Ursprüngen und einem hohen Maß an teleologischer Linearität operierte. Dieses Modell duldete per De- finition keine Umwege.70 Daher musste man sich von vermeintlich Fremdem abschotten, um nach innen die Illusion eines einheitlichen „Wir“ gegenüber den Anderen zu generieren. Antonios Liakos fasste es folgendermaßen zusammen: National identity, having a temporal structure, imposes a restructuring of the perception of time. This perception is articulated as narrative; it is formulated in the shape of na- tional history using the organic category of the nation. The national narrative identifies subjects with the national col- lectivity; it influences, clarifies, and unifies different tradi- tions, thus constructing a national culture. The construction of the national narrative restructures the experience of time. National historiography constitutes a codified past which is revived through present action aimed at an expected future. […] A national narrative should have internal coherence and no temporal discontinuities. The question of continuity has acquired crucial importance in the construction of national identity, particularly for Mediterranean nations.71 Liakos setzt somit Zeit- und Vergangenheitskonzepte in ein Abhän- gigkeitsverhältnis zueinander. Auch Chakrabarty hat angemerkt: „all our pasts are [...] futural in orientation“.72 Im Unterschied zu Liakos soll hier jedoch die Überzeugung vertreten werden, dass nicht die Nationalgeschichtsschreibung eine eigene Zeitlichkeit hervorbrach- te, sondern dass umgekehrt die Auffassung von Zeit das Denken in imaginären linearen Nationalgeschichten ermöglichte. 69 Antonis Liakos, The Construction of National Time. The Making of the Modern Greek Historical Imagination, in: Mediterranean Historical Review 16, 2001, 27–42; Schiffman, The Birth of the Past, 255f.; Hartog, Regimes of Historicity, 131–138. 70 Das nationale Geschichtsverständnis Griechenlands bildet eine Ausnahme. Die Ge schichtsschreibung bemühte sich zwar zunächst unter dem Eindruck des Philhellenismus um die Konstruktion nationaler Ursprünge in der griechischen Antike, entdeckte jedoch nach anfänglichem Zögern auch die byzantinische Vergangenheit wieder (vor allem unter dem Eindruck der Geschichte der griechischen Nation (1860–1874) des Konstantinos Papar- rigopoulos). Dies führte zur Konstruktion einer doppelten historischen Identität als Hel- lenen und Byzantiner. Siehe hierzu Cyril Mango, Byzantinism and Romantic Hellenism, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 28, 1965, 29–43, hier 32; Michael Herz feld, Towards an Ethnographic Phenomenology of the Greek Spirit, in: Mediterranean Historical Review 16, 2001, 13–26; Liakos, The Construction of National Time, 30–33. Zur Instrumentalisierung von Byzanz in der Geschichtswissenschaft des 19. und 20. Jahrhun- derts und zur Frage der Kontinuität von Byzanz in den modernen Nationalstaaten siehe Demetrios A. Stamatopoulos, Το Βυζάντιο μετά το έθνος. Το πρόβλημα της συνέχειας στις βαλκανικές ιστοριογραφίες, Athen 2009; ders., Byzantium after the Nation. The Problem of Continuity in Balkan Historiographies, Budapest 2021. 71 Antonis Liakos, The Construction of National Time, 28. 72 Chakrabarty, Provincializing Europe, 250. 89
Armin F. Bergmeier V. Nationalismus, Zeit und Byzanz Die Ergebnisse der Zeitforschung sind bereits insofern in die kunst- historische und archäologische Praxis eingeflossen, als Modelle line- arer Stilabfolgen schon seit Längerem kritisiert werden. Forscher wie Willibald Sauerländer und Hans Belting entlarvten die Vorstellung einer linearen Kunstgeschichte, die sich als zielgerichtete Stil-Ent- wicklung von der Antike bis in die Gegenwart zieht, als Konstruktion. Sauerländer stellte in Bezug auf die Erfindung von Kunststilen im 19. Jahrhundert fest: „The panorama of styles was now unfolded not only in books and lectures, but also in museums and exhibitions and above all in contemporary architecture.“73 In Das Ende der Kunstges- chichte zeichnete Belting die Herausbildung der Kunstgeschichte als chronologisch geordnete Stil- oder Werkgeschichte Schritt für Schritt nach:74 Seit Vasari wurden Kunstwerke als Teil einer inner- künstlerischen quasi-biologischen Stilentwicklung von Aufblühen, Klassik und Niedergang begriffen; Hegel lenkte dieses Entwick- lungsmodell weg von den Kunstwerken, die nun zum Spiegelbild his- torischer, geistesgeschichtlicher Entwicklungen wurden.75 Weniger häufig wurde diskutiert, dass nationale Geschichtsmo- delle und die ihnen zugrundeliegenden Zeitvorstellungen auch dazu führten, dass Kulturen wie die oströmische nicht in den Kanon der jeweiligen Nation integriert werden konnten. Dies mag im Hinblick auf die meisten außereuropäischen Kulturen nicht überraschen, bei denen das Ausmaß des Austauschs mit dem europäischen Westen geringer ausfällt als bei Byzanz, das zu Europa gehörte. Häufig ist ja gar nicht zu differenzieren, was byzantinisch und was romanisch ist. Und die anhaltende Diskussion um die „Byzantinische Frage“ hat zumindest zum Wissen darum geführt, welch große Zahl an For- men und Objekten im Westen im Austausch mit Byzanz entstanden sind. Warum konnte dieses mittelalterliche Reich, das politisch und künstlerisch über Jahrhunderte hinweg aufs Engste mit dem Westen verbunden war, dann aber nicht in den kunsthistorischen Kanon ein- gegliedert werden? Stattdessen kam es, wenn überhaupt, in Handbü- chern nur eingezwängt zwischen Spätantike und Frühmittelalter vor, wie es Robert Nelson darlegte.76 Auch die Ablehnung der maniera gre- ca, die Spieser betonte, kann die anhaltende Marginalisierung nicht umfassend erklären.77 Die Struktur der Handbücher und der implizi- te und explizite Orientalismus können lediglich als Symptom eines weitreichenderen Phänomens gelten. 73 Sauerländer, From Stilus to Style, 262. 74 Belting, Das Ende der Kunstgeschichte, 121–199. 75 Ebd., bspw. 121, 133 und 146. 76 Nelson, Living on the Byzantine Borders of Western Art. 77 Vgl. Spieser, Art Byzantin et influence. 90
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