Mauern als Lebensraum für Pflanzen
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1 | Asplenium trichomanes – Braunstieliger Streifenfarn, Schloss Burgk, 2012, Thüringen Mauern als Lebensraum und steuert damit die Artenzusammen- setzung der Mauerfugen. Stützmauern oder gar Ufer(stütz)mauern weisen we- für Pflanzen sentlich günstigere Feuchtigkeitsverhält- nisse als frei stehende Mauern auf. In Dietmar Brandes Mitteleuropa sind die Mauern bewohn- ter Gebäude im Allgemeinen wegen der Raumheizung zu trocken, als dass sie eine Fugenvegetation ermöglichten. Aus- Mauern stellen ein interessantes artifizi- che Felshabitate definiert werden. Wie nahmen hiervon stellen nur mächtige elles Habitat für Organismen dar, das es unterscheiden sich Mauern als Habita- Burgmauern, der Sockelbereich alter Kir- erst seit einigen Jahrtausenden gibt und te für Pflanzen von „normalen“ Standor- chen oder die Wände vernachlässigter das somit aus evolutionsgeschichtlicher ten? Grundsätzlich sind Mauerstandorte Wohngebäude in unmittelbarer Umge- Sicht sehr jung ist. Der Fokus dieser Über- ressourcenlimitiert: Sowohl Wasser als bung undichter Fallrohre dar. sicht liegt auf den unterschiedlichen Mik- auch pflanzenverfügbare Nährstoffe ste- rohabitaten und ihrer Ökologie, auf ihrer hen nur in begrenztem Ausmaß zur Ver- Besiedlung durch Blütenpflanzen sowie fügung. Der Wurzelraum in den Mauer- Geschichte der Erforschung der Mauer auf kulturgeschichtlichen Aspekten. Aus fugen bzw. in den Substratauflagen der vegetation | Flora und Vegetation der Platzgründen erfolgt eine Beschränkung Mauerkronen ist ebenfalls sehr begrenzt, Mauern sind untrennbar mit der Kultur- auf Mitteleuropa. die Wurzelkonkurrenz ist sehr hoch, wäh- geschichte unserer Städte verbunden. rend die oberirdische Konkurrenz zu- Frühe Beobachtungen von Pflanzen auf meist gering ist. Mauern fanden ihren Niederschlag in Mauertypen | Natursteinmauern kön- Die Bauweise der Mauer hat bestimmen- der Benennung der Arten. So wurde das nen aus ökologischer Sicht als künstli- den Einfluss auf deren Wasserkapazität Epitheton „muralis“ häufiger vergeben, | 96
Beispiele hierfür sind Chenopodium mu- Heute konkurrieren insbesondere zwei den Mauerstandort wissen wir nur rela- rale, Cymbalaria muralis, Draba mura- Konzepte: die Zusammenfassung fast al- tiv wenig, wobei Oberflächenentwicklung lis, Mycelis muralis oder Tortula mura- ler Pflanzengesellschaften von Felsspal- der Blätter und Austrocknungsexperi- lis. Auch der deutsche Gattungsname ten und Mauerfugen zur Klasse Asplenie- mente von ganzen Pflanzen bzw. Spros- „Mauerpfeffer“ (Sedum) lässt einen ein- tea sowie konkurrierend die Trennung in sen durchaus Einblicke ermöglichen.6 Die deutigen Bezug auf den Standort Mauer eine Klasse der Pflanzengesellschaften Oberflächenentwicklung der Blätter lie- erkennen. Die ersten Angaben zum Vor- nährstoffreicher Mauerfugen (Parietarie- fert einen Anhaltspunkt für die Blattana- kommen von Pflanzen auf Mauern fin- tea) und eine Klasse der nährstofflimitier- tomie, gewissermaßen für die „Zartheit“ den sich bereits in den Kräuterbüchern ten Felsspaltenvegetation (Asplenietea s. der Blätter. Sie ist definiert als Quotient des 16. Jahrhunderts.1 Wenn auch damals str.), zu der auch die Kleinfarnbestände aus beiderseitiger Blattfläche (in 10–2m2) die Heilpflanzen im Vordergrund des In- der Mauern gestellt werden. Beide Kon- und ihrem Sättigungsgewicht (in g). Die teresses standen, sollten wir doch diesen zepte haben ihre Vor- und Nachteile, die Werte für Schattenkräuter sowie für die Aspekt nicht gering schätzen, gehörten hier aus Platzmangel jedoch nicht weiter meisten mitteleuropäischen Mauerpflan- doch immerhin mehr als zehn Arten der diskutiert werden können. Auffällig ist, zen liegen bei Werten größer oder gleich typischen Mauerpflanzen zum Sortiment dass in den letzten Jahren unabhängig 1,0. Sonnenkräuter erreichen ebenso wie der Heilpflanzen. Bei manchen Bekämp- von diesen vegetationssystematischen die meisten Mauerpflanzen mit derben fungsaktionen aus übertriebener Sorge Arbeiten zahlreiche Veröffentlichungen oder gar sukkulenten Blättern aus dem sollte auch diese kulturgeschichtliche Be- zur Flora der Mauervegetation aus dem Mediterrangebiet Werte zwischen 1,0 und deutung mitberücksichtigt werden. östlichen Mitteleuropa, aus den Balkan- 0,5 oder sogar noch geringer. Besonders Die älteste uns bekannte Untersuchung ländern sowie aus Südostasien publiziert interessant in diesem Zusammenhang wurde 1643 publiziert: ein Katalog der wurden. ist, dass das Mauer-Glaskraut (Parietaria Pflanzen, die sich in Mauerritzen sowie judaica), die häufigste Mauerpflanze Süd- auf Trümmern des Amphitheaters in Rom europas, eine sehr große Oberflächenent- fanden.2 Seit dieser Zeit ist das Amphi Anpassungen von Pflanzen an den Mau- wicklung der Blätter (1,56 bis 2,03) hat theater die älteste Dauerbeobachtungs- erstandort | Evolutionsgeschichtlich be- und damit während der sommerlichen fläche in unseren Städten und vermutlich trachtet ist die Zeit, in der Mauern als Dürrezeit stark vertrocknungsgefährdet eine der ältesten überhaupt. Die Beob- Habitat zur Verfügung stehen, für eine ak- ist. Im Austrocknungsexperiment wer- achtungen und Untersuchungen reichen tive Anpassung an diesen Standort viel zu den zunächst große Blätter abgeworfen bis in die Gegenwart3 und sind für die Do- kurz. Wir können deswegen davon ausge- und durch kleinere ersetzt. Längere Dür- kumentation von Global Change und Kli- hen, dass es sich um Präadaptionen han- rezeiten werden schließlich ohne Blätter maerwärmung auf lokalem Level unver- delt. Arten von Felsfluren und -spalten, die bzw. sogar nur als Samen überstanden. zichtbar. Die Flora alter Mauern erregte an temporären Wassermangel angepasst Nach ersten Niederschlägen können die dann zur Mitte des 19. Jahrhunderts grö- sind, konnten leicht den Übergang auf in den meisten Mauerfugen vorhande- ßeres Interesse bei einigen Botanikern, das neuartige „technogene“ Mauersub- nen Samen sehr rasch keimen und so mit ihrem Studium begann übrigens die strat vollziehen. Für die Verbreitung der die besetzbaren Nischen behaupten bzw. wissenschaftliche Erforschung des Le- Mauerfarne ist das ökologische Verhalten schnell wieder erobern. bensraumes Stadt und damit die Stadt- ihrer Prothallien besonders wichtig, da Die Vegetationsverhältnisse ändern sich ökologie überhaupt. Die frühen Arbeiten diese den Wuchsort der aus ihnen hervor- deutlich, sobald eine Mauer nicht (mehr) beschäftigten sich (in chronologischer gehenden Sporophyten bestimmen. So ist lotrecht steht: Schon bei einer Neigung Folge) mit Rom, mit den algerischen die Austrocknungsresistenz der Prothalli- der Mauerfläche von 80 Grad verbessert Städten Tlemcen und Algier, mit Paris, en der Fels- und Mauerfarne Asplenium sich die Wasserversorgung der Pflanzen Neapel, Padua und Siena. Etwa zeitgleich ruta-muraria (Mauerraute), Asplenium signifikant, was daran zu erkennen ist, begann das Interesse an der Flora von trichomanes (Braunstieliger Streifenfarn) dass Kleinfarne der Gattung Asplenium Burgen; mit ihr beschäftigte sich Kirschle- oder Polypodium vulgare (Gewöhnlicher der Konkurrenz von Blütenpflanzen kaum ger4 wohl als Erster. Tüpfelfarn) höher als diejenige der Pro- mehr gewachsen sind. Je geringer der In Europa wurden die ersten Mauer- thallien der Waldfarne Athyrium filix-femi- Neigungswinkel einer Mauer zur Hori- pflanzengesellschaften zwar bereits in na (Gewöhnlicher Frauenfarn), Dryopteris zontalen wird, desto kleiner wird die Ähn- der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dilatata (Breitblättriger Wurmfarn) oder lichkeit mit der Felsspaltenvegetation. beschrieben, ihre große Diversität wur- Pteridium aquilinum (Adlerfarn).5 Über Schräge, zur Hangsicherung gemauerte de jedoch erst Jahrzehnte später erfasst. die Anpassung der Blütenpflanzen an Burgmauern (Talus) oder abgeschrägte 97 |
Ufermauern beherbergen jeweils eigene Moosen, Farnen und Samenpflanzen be- Artenkombinationen. siedelt. Während die Vertreter der ersten Eine wichtige Rolle spielen auch Bau vier Gruppen auch senkrechte Mauerflä- stoffe und Mörtel der Mauer: Kalkfliehen- chen besiedeln, wachsen die Farn- und de Pflanzenarten der Ordnung Androsa- Samenpflanzen in der Regel nur in Mau- cetalia vandelii finden sich in der Regel erfugen, auf Vorsprüngen oder Simsen nur in unvermörtelten Mauern aus kalkar- sowie auf Mauerkronen. Wegen der enor- men Gesteinen. Vermörtelte Mauerfugen men Artenvielfalt und der unterschiedli- selektieren basiphile Arten, die im Wur- chen Lebensbedingungen werden wir uns zelbereich relativ hohe pH-Werte tolerie- hier weitgehend auf Moose, Farne und ren müssen. Samenpflanzen beschränken. Von großer Bedeutung ist ebenso das Al- Epilithische Flechten der Gattungen Calo- ter einer Mauer oder, genauer gesagt, ihr placa (Schönflechte), Candelariella (Dot- Alterungszustand, da mit fortschreitender terflechte), Lecanora (Kuchenflechte) Verwitterung des Mörtels sein pH-Wert oder Xanthoria (Gelbflechte) wachsen in sinkt und die Besiedlungsbedingungen Städten vor allem auf neutralem bzw. ba- für Pflanzen in den Fugen besser werden. sischem Untergrund, wobei oft nitrophile Außerdem ist bei gegebener Auffangflä- Arten begünstigt werden. 2 | Chelidonium majus – Schöllkraut: die häufigste Mauerpflanze in Deutschland, Göttingen 2009 che einer Mauer der Diasporeneintrag Häufige und weit verbreitete Moose auf eine Funktion der Zeit, unabhängig da- Mauern in unseren Städten sind ins- von, ob sich aus den Sporen Prothallien besondere die folgenden, wobei Tortu- land nachgewiesenen Gefäßpflanzen. Die und aus diesen letztendlich Sporophyten la muralis das vermutlich verbreitetste Häufigkeitsverteilung der Mauerpflanzen entwickeln und sich in den Mauerfugen Moos in unseren Innenstädten ist: wurde bei mehr als 5.500 Stichproben er- etablieren können. Wir gehen heute da- • Barbula unguiculata (Bespitztblättriges mittelt, wobei die häufigsten Arten in ab- von aus, dass alle Vorkommen der Mau- Bärtchenmoos) nehmender Reihenfolge sind: erraute im nördlichen Tiefland Mitteleu- • Brachythecium rutabulum (Krückenför- • Chelidonium majus (Schöllkraut) ropas erst durch Mauerbauten ermöglicht miges Kurzbüchsenmoos) • Asplenium ruta-muraria (Mauerraute) wurden. In Gebieten, in denen natürliche • Bryum argenteum (Silbermoos) • Taraxacum officinale s. l. (Löwenzahn) Wuchsmöglichkeiten an Felsen fehlen, • Bryum capillare (Haarblättriges Birn- • Hedera helix (Gewöhnlicher Efeu) ist die Mauerraute zu einem Kulturfolger moos) • Poa compressa (Platthalm-Rispengras) und Siedlungszeiger geworden. Obwohl • Ceratodon purpureus (Purpurstieliges • Sambucus nigra (Schwarzer Holunder) die Art heute sicher generell im Rück- Hornzahnmoos) juv. gang begriffen ist, wurden allein im nie- • Grimmia pulvinata (Polster-Kissen- • Geranium robertianum (Gewöhnlicher dersächsischen Flachland bei einer sorg- moos) Stink-Storchschnabel) fältigen Bestandserhebung noch mehr als • Hypnum cupressiforme (Zypressenför- • Cymbalaria muralis (Mauer-Zimbel- 160.000 Individuen an alten Mauern ge- miges Schlafmoos) kraut) zählt.7 Bezüglich des Einwanderungszeit- • Orthotrichum anomalum (Stein-Gold- • Poa nemoralis (Hain-Rispengras) raums dürfte sie zum größten Teil als Ar- haarmoos) • Urtica dioica (Große Brennnessel) chäophyt einzustufen sein, wobei es auch • Orthotrichum diaphanum (Haartragen- • Betula pendula (Hänge-Birke) juv. zusätzlich rezente Ausbreitungen geben des Goldhaarmoos) • Sedum acre (Scharfer Mauerpfeffer) mag. Ebenso werden gelegentlich sponta- • Rhynchostegium murale (Mauer-Schna- • Bromus sterilis (Taube Trespe) ne Vorkommen der Kleinfarne Asplenium beldeckelmoos) • Dryopteris filix-mas (Gewöhnlicher ceterach (Milzfarn), Asplenium septentri- • Schistidium apocarpum (Verstecktkap- Wurmfarn) onale (Nördlicher Streifenfarn) und Asple- seliges Spalthütchen) • Ribes uva-crispa (Stachelbeere) nium trichomanes (Braunstieliger Strei- • Tortula muralis (Mauer-Drehzahnmoos) • Lactuca serriola (Kompass-Lattich) fenfarn) neu beobachtet. • Artemisia vulgaris (Gewöhnlicher Bei- Bisher wurden 772 Taxa (fast ausschließ- fuß) lich im Artenrang) auf Mauerstandorten in • Syringa vulgaris (Gewöhnlicher Flieder) Biodiversität der Mauern | Mauern wer- Deutschland aufgefunden. Dies sind im- • Fraxinus excelsior (Gewöhnliche Esche) den von Cyanobakterien, Algen, Flechten, merhin ca. 18,2 Prozent aller in Deutsch- juv. | 98
3 | Asplenium ruta-muraria – Mauerraute und Aspleni- 4 | Cystopteris fragilis – Zerbrechlicher Blasenfarn, 5 | Asplenium septentrionale – Nördlicher Streifenfarn, um scolopendrium – Hirschzunge, Salzburg 2009 Schloss Oelber a. weißen Wege, 2011, Niedersachsen Wiesenstützmauer in Trockenbauweise im Virgental, 2011, Osttirol •B allota nigra (Schwarznessel) vor allem von Wind (z. B. Mauerrau- metische Selbstbefruchtung entstanden •D actylis glomerata (Wiesen-Knäuelgras) te, Löwenzahn, Hänge-Birke), Ameisen ist, alle genetisch einheitlich sind, ent- •E chium vulgare (Gewöhnlicher Nat- (z. B. Schöllkraut, Gelber Lerchensporn, steht eine genetisch einheitliche Nach- ternkopf) März-Veilchen) und Vögeln (z. B. Euro- kommenschaft. Am natürlichen Fels- • Geum urbanum (Stadt-Nelkenwurz) päische Eibe, Schwarzer Holunder). Von standort, aber auch bei sehr alten (und • Acer platanoides (Spitz-Ahorn) juv. Bäumen oder Sträuchern, deren Zwei- großen) Mauern ist die genetische Vari- • Conyza canadensis (Kanadisches Beruf- ge sich direkt über der Mauer befinden, abilität innerhalb von Mauerrauten-Po- kraut) können die Früchte bzw. Samen schließ- pulationen wesentlich größer, da mit der • Cystopteris fragilis (Zerbrechlicher Bla- lich auch auf die Mauer fallen und auf ihr Zeit auch Sporen anderer Herkunft an senfarn) auskeimen, so z. B. von einer Buche. Die den Wuchsort gelangt sein dürften. Hier • Galium aparine (Kletten-Labkraut) Besiedlung einer jeden Mauer stellt also ergibt sich ein faszinierendes Untersu- • Sonchus oleraceus (Kohl-Gänsedistel) ein Experiment dar, das wir nur auswerten chungsfeld, auch und gerade für moder- • Stellaria media (Vogel-Miere) müssen. Natürlich eignen sich als Dauer- ne Fingerprintingmethoden. • Acer pseudoplatanus (Berg-Ahorn) juv. beobachtungsflächen letztlich nur wenige Von höheren Pflanzen können nur Fugen • Mycelis muralis (Mauerlattich) Mauern wirklich. An diesen können wir und Kronen sowie Mauervorsprünge bzw. • Clematis vitalba (Gewöhnliche Waldre- aber interessante Einblicke in die Vegeta- Simse besiedelt werden, nicht aber die be) tionsentwicklung bekommen: Wie schnell senkrechten Mauerflächen alleine, d. h. • Hieracium murorum (Wald-Habichts- erfolgt die Besiedlung mit höheren Pflan- ohne dass die Pflanze an anderer Stelle kraut) zen, verläuft sie immer nach erkennbaren wurzelt, was etwa bei Efeu (Hedera he- • Taxus baccata (Europäische Eibe) juv. Gesetzmäßigkeiten, gibt es auch bei ihr lix) oder Waldrebe (Clematis vitalba) der Woher stammen diese Pflanzenarten? Abhängigkeiten von Klima und geografi- Fall ist. Aufgrund der starken Ressourcen- Wie gelangen die Pflanzen auf die Mau- scher Lage? limitierung haben nur kleinwüchsige Ar- ern? Diese zunächst trivial erscheinenden Schneller konnte mithilfe von Isozym- ten eine Chance, ihren gesamten Vegeta- Fragen sind selbst bei einem so einfachen musteranalysen die Besiedlungsstrate- tionszyklus zu durchlaufen, sodass sich System, wie es Mauer und der zugehöri- gie der Mauerraute (Asplenium ruta-mu- im günstigen Fall ihre Population auf ei- ge Pflanzenaufwuchs darstellen, nicht so raria), unseres häufigsten Kleinfarns in ner gegebenen Mauer etablieren kann. einfach zu beantworten. Führen wir fol- Mauerspalten, aufklären.8 An jüngeren Die meisten Gehölze kommen über ihr Ju- gendes Gedankenexperiment durch: Es Mauern in der Schweiz fanden sich nur gendstadium nicht hinaus. Verfolgt man wird eine Umfassungsmauer aus frisch genetisch einheitliche Populationen der die Vegetationsentwicklung auf Mauern, gebrochenen Kalksteinen aufgebaut, wo- Mauerraute, denn trotz großer Sporen- so stellt man fest, dass der Artenwandel bei die Fugen zwischen den Steinen sorg- produktion ist die Wahrscheinlichkeit ge- (species turn over) relativ groß ist, neben sam gemörtelt werden. Mit den Bauma- ring, dass ein so kleiner Wuchsort wie einigen etablierten Arten gibt es relativ vie- terialien Kalkstein, Zement und Sand eine bestimmte Mauer gleichzeitig von le unbeständige und „zufällige“ Pflanzen. dürften nur sehr wenige Samen von Pflan- mehreren, genetisch verschiedenen Spo- Es fällt auf, dass unter den Pflanzenarten zen verschleppt worden sein. Alle Diaspo- ren erreicht wird. Da nun die Sporen des der Mauern nur wenige Nadelhölzer ver- ren werden also erst später eingetragen, Gründer-Sporophyten, der durch intraga- treten sind. Häufiger ist lediglich die Eibe 99 |
(Taxus baccata), deren Diasporen von Vö- • Erysimum cheiri (Goldlack) stammenden Neubürger, die ganz offen- geln wegen des fleischigen Samenman- • Parietaria judaica (Mauer-Glaskraut) sichtlich weniger Probleme mit der Win- tels verzehrt werden, wobei die relativ • Pseudofumaria lutea (Gelber Lerchen- terkälte als die Arten mediterran-atlanti- kleinen Samen in keimfähigem Zustand sporn) scher Herkunft haben: wieder ausgeschieden werden. Außer- Diese ästhetisch sehr ansprechende Mau- • Alyssum saxatile [= Aurinia saxatilis] dem erfolgt Versteckausbreitung: Kleiber ervegetation war bis vor wenigen Jahr- (Felsen-Steinkraut) verstecken die Samen in Mauerfugen.9 In zehnten in Deutschland auf die großen • Arabis caucasica (Garten-Gänsekresse) alten Mauern mit entsprechend großem warmen Flusstäler (Rhein, Main, Mosel, • Aubrietea deltoidea (Griechisches Volumen kommen Eiben sogar zur Blüte Neckar sowie auch kleinere Abschnitte an Blaukissen) und zur Samenreife. Während Eiben eben- Donau und Elbe), also praktisch auf Wein- • Campanula alliariifolia (Knoblauchrau- so wie Abendländischer Lebensbaum baugebiete beschränkt. Wie gelangten die kenblättrige Glockenblume) (Thuja occidentalis) oder Scheinzypres- ursprünglich gebietsfremden Arten an die • Campanula portenschlagiana (Dalmati- se (Chamaecyparis lawsoniana) meist Mauern? Es sind zumeist verwilderte Zier- ner-Glockenblume) in Mauerfugen siedeln, wachsen Fichte pflanzen, in wenigen Fällen auch Nutz- • Campanula poscharskyana (Po- (Picea abies), Wald-Kiefer (Pinus sylves- oder Heilpflanzen. So wurde gelegentlich scharsky-Glockenblume) tris) und Schwarz-Kiefer (Pinus nigra) in auch die Verbreitung von Parietaria judai- der Regel auf Mauerkronen, zumeist an ca in Deutschland mit dem römischen schwer zugänglichen Stellen. Auch für Besatzungsgebiet bzw. der Einführung Stützmauern in der Kulturlandschaft | Nadelhölzer gilt, dass Mauern die Flora des Weinbaus durch die Römer korreliert. Steil geneigte Hänge sind nur nach Ter- der Umgebung widerspiegeln, so finden Das Vorkommen dieser submediterranen rassierung ackerbaulich nutzbar. Eine sich auf Mauerkronen von Burgruinen in Mauervegetation wird offensichtlich weni- Anlage von Terrassen mithilfe von Stütz- den Zentralalpen häufiger Lärchen (La- ger von der Sommerwärme als vielmehr mauern erfolgte in der Regel nur in sol- rix decidua). Im Mittelmeergebiet ist die über ausreichend milde Winter gesteu- chen Landschaften, in denen nicht genü- Zypresse häufig auf dem Mauerwerk von ert. Hiervon kann man sich in wintermil- gend ackerfähiges Land vorhanden war. Ruinen und Bastionen anzutreffen; dies den atlantischen Regionen überzeugen: Da der Weinbau in den meisten Regionen gilt schon für die mediterrane Exklave am In küstennahen Regionen der Normandie, Deutschlands nur an Steilhängen sinnvoll Gardasee. der Bretagne und Cornwalls sind Touris- war, entwickelten sich in den klimatisch Unter den wärmeliebenden Arten der ten immer wieder fasziniert von der Üp- begünstigten (Durchbruchs-)Tälern von Mauern in unseren Städten finden sich pigkeit des Mauerbewuchses, der an man- Rhein, Mosel, Main, Unstrut oder Donau Arten des Gesteinsschutts sowie der Fels- chen Stellen allerdings auch eine gezielte (Wachau) Weinberglandschaften, die ihre spalten in niedrigen Lagen des südlichen gärtnerische Förderung vermuten lässt. spezifische Prägung gerade auch durch Europa: Auch am Alpensüdrand fällt dem Reisen- die Terrassierung erhalten. In den oft in • Antirrhinum majus (Großes Löwen- den der üppige Bewuchs alter Mauern auf, Trockenbauweise ausgeführten Stütz- mäulchen) seien es Stadtmauern, Bastionen oder mauern hatten Pflanzen aus der Umge- • Centranthus ruber (Rote Spornblume) ganz einfach nur Stützmauern in der Kul- bung viel bessere Startchancen in bzw. auf • Cymbalaria muralis (Mauer-Zimbel- turlandschaft. der Mauer, da ihre Diasporen bereits mit kraut) Inzwischen wird über Baumärkte und dem verwendeten Erdreich in die Mau- Gartencenter ein großes Sortiment von erfugen gelangten. Alte Weinbergsmau- „Steingartenpflanzen“ sehr engmaschig ern waren/sind sehr artenreich, wobei vertrieben, sodass „pflegeleichte“ und die Vegetation aus kleinräumigen Mosai- konkurrenzkräftige Arten gute Startposi- ken von Felsgrusfluren (Sedo-Scleranthe- tionen für eine Ausbreitung in die Um- tea), Mauerglaskrautfluren (Parietarieta- welt haben. Manche sind in collin-sub- lia), Wärmeliebenden Saumgesellschaften montanen Lagen Mitteleuropas bereits (Trifolio-Geranietea) sowie Wärmelieben- auf Mauern gelangt. Unter den Arten, die den Gebüschen (Berberidion) besteht. sich aus eigener Kraft auf benachbarten Kleinfarne spielen insbesondere bei senk- Mauern etablieren und diese sogar als rechten Mauerflächen und gemörtelten Sprungbrett für eine weitere Ausbreitung Mauern eine Rolle. Die großen Flurberei- 6 | Pseudofumaria lutea – Gelber Lerchensporn, nutzen können, gehören die folgenden, nigungen in den Weinbaulandschaften ha- Braunschweig, 2009 aus Südosteuropa und dem Kaukasus ben vor wenigen Jahrzehnten zu einem er- | 100
7 | Alyssum saxatile – Felsen-Steinkraut, Stadtmauer Oebisfelde, 1991, Sachsen-Anhalt heblichen Verlust an Mauerhabitaten und kleinen Felsflächen mit Steppenrasen, ckend und wissenschaftlich hochinteres- kleinräumig verzahnten Vegetationskom- Mähwiesen und kleinen Äckern bedingt. sant, können hier jedoch nicht weiter dar- plexen geführt. Dieser Lebensraumverlust Die lokale Klimagunst ausnutzend konn- gestellt werden. hatte natürlich unmittelbare Auswirkun- ten sich an den Ufern des Gardasees gen auf die Biodiversität der Tierwelt. Aus mithilfe von Stützmauern sogar Öl- Kostengründen werden verfallende Stütz- baumkulturen etablieren, die ein sehr Ufermauern | Bislang wurden in Deutsch- mauern zunehmend durch Gabionen er- hochwertiges Olivenöl liefern. Im Schutz land nach eigenen Stichproben, die durch setzt, was wiederum zu einer Reduktion von Mauern der sog. Limonaie können Literaturauswertungen ergänzt wurden, der Habitatvielfalt bei weitgehendem Ver- lokal sogar Zitronen bzw. Zedratzitronen insgesamt 214 Arten in den Fugen von lust mauertypischer Habitate führt. kultiviert werden. Flora und Vegetation Ufermauern nachgewiesen, einige Arten Die Kulturlandschaften der inneralpinen dieser unbedingt erhaltenswerten Stütz- hiervon auch auf den Mauerkronen. Die Trockentäler werden von (ehemaligen) mauern sind immer wieder Gegenstand Anzahl der in Ufermauern wachsenden Ackerbauterrassen geprägt. Mit dem fast von Studien. In weit größerem Ausmaße Arten hängt stark von Art und Erhaltungs- völligen Rückgang des Ackerbaus ist die von landschaftsbestimmender Wirkung zustand der Mauer ab, wobei Mauerab- Unterhaltung der Terrassenstützmauern sind schließlich Stützmauern in Teilen schnitte mit Bauschäden sowie der bes- ebenso wie die Offenhaltung der Land- des Mittelmeergebietes wie der liguri- ser mit Wasser versorgte Mauerbereich schaft stark gefährdet. Auch in den in- schen Küste, der amalfitanischen Küste unmittelbar oberhalb der Wasserkante neralpinen Kulturlandschaften wird der oder den Inseln Malta und Gozo. Arten- bevorzugt besiedelt werden. Außerdem Artenreichtum wiederum durch die Mo- vielfalt und Üppigkeit dieser Mauerflora scheint die Artenzahl mit der unmittelba- saike aus Stützmauern, Flurgehölzen und in wintermilden Gebieten sind beeindru- ren Einbindung des Baches oder Flusses 101 |
in die Siedlungsstruktur korreliert zu sein. Aufgrund der generell besseren Wasser- deutlich von den Mauerfugen, wobei die Feuchtezeiger10 sind mit 44 Arten versorgung ist der Anteil von Gehölzarten jeweilige Vegetation von Art und Mächtig- (20,56 Prozent) unter den in den Fugen mit 42 (19,63 Prozent des Arteninventars) keit des Substrats gesteuert wird. Die Ge- von Ufermauern wachsenden Pflanzen erstaunlich hoch. Es sind jedoch nur drei fahr des Austrocknens ist für Pflanzen in vertreten, rechnet man noch die Arten von ihnen als „mauertypisch“ im weiten diesem Mikrohabitat zumeist größer als mit F = 6, die intermediär zwischen Fri- Sinne einzustufen, nämlich Hedera he- in Mauerfugen. Deswegen häufen sich sche- und Feuchtezeigern stehen, hinzu, lix (Efeu), Syringa vulgaris (Gewöhnlicher auf Mauerkronen Arten mit Merkmalen so weisen 62 Arten (28,97 Prozent) auf Flieder) und Taxus baccata (Eibe). Bezüg- zur Austrocknungsvermeidung. Beson- überdurchschnittlich gute Wasserversor- lich der Individuenzahl dominieren jedoch ders auffällig ist die Häufung von blatt- gung hin. Daher unterscheidet sich die Arten der Auenvegetation wie Alnus glu- sukkulenten Arten, die zur Abmilderung Flora der Ufermauern von derjenigen an- tinosa (Schwarz-Erle), Fraxinus excelsior der Trockenheitsbelastung Depotwas- derer Mauern durch das häufige Vorkom- (Gewöhnliche Esche), Prunus padus (Ge- ser speichern. Die Vegetationstypen der men von bestimmten Arten der Flussufer. wöhnliche Trauben-Kirsche), Salix alba (Sil- Mauerkronen gehören hauptsächlich zur Insbesondere sind dies Arten der ber-Weide), Salix triandra (Gewöhnliche Klasse Sedo-Scleranthetea und zur Ord- • Zweizahnuferfluren (Bidentetea) wie Mandel-Weide), Ulmus glabra (Berg-Ul- nung Agropyretalia. Häufige Arten sind: Bidens frondosa (Schwarzfrüchtiger me) und Ulmus minor (Feld-Ulme). • Arenaria serpyllifolia (Quendelblättriges Zweizahn), Persicaria hydropiper (Was- Die Anzahl der Neophyten – von gebiets- Sandkraut) serpfeffer), Persicaria lapathifolia (Amp- fremden Arten, die erst nach der Entde- • Artemisia campestris (Feld-Beifuß) fer-Knöterich), Ranunculus sceleratus ckung Amerikas in Deutschland wildwa- • Centaurea stoebe (Rispen-Flockenblu- (Gift-Hahnenfuß)und Rorippa palustris chsend oder verwildert beobachtet wurden me) (Gewöhnliche Sumpfkresse); – beträgt mit 54 immerhin ein Viertel des • Cerastium arvense (Acker-Hornkraut) • Flussufersaumgesellschaften (Galio-Arteninventars der Ufermauern. Die Neo- • Cynoglossum officinale (Echte Hunds- Urticenea, insbes. Convolvulion) wie phyten widerspiegeln zumeist die Vegeta- zunge) Epilobium hirsutum (Zottiges Wei- tion der unmittelbaren Umgebung, wobei • Diplotaxis muralis (Mauer-Doppelsa- denröschen), Epilobium palustre Gärten und Anpflanzungen die wichtigs- me) (Sumpf-Weidenröschen), Epilobium ten Diasporenquellen darstellen. • Diplotaxis tenuifolia (Schmalblättriger parviflorum (Kleinblütiges Weidenrö- Gemauerte Brunnenschächte stellen ein Doppelsame) schen), Fallopia japonica (Japanischer vergleichbares Habitat dar, soweit noch • Echium vulgare (Gewöhnlicher Nat- Flügelknöterich), Impatiens glandulifera Licht von oben einfällt. In zahlreichen ternkopf) (Drüsiges Springkraut), Petasites hybri- Burgen sind die Mauern alter Brunnen- • Festuca ovina agg. (Sammelart dus (Gewöhnliche Pestwurz), Solidago schächte wichtige Wuchsorte von Farnen Schaf-Schwingel) gigantea (Späte Goldrute) und Urtica wie Asplenium scolopendrium (Hirsch- • Hieracium pilosella (Kleines Habichts- dioica (Große Brennnessel); zunge), Asplenium trichomanes (Braun- kraut) • Röhrichte und Großseggenrieder (Phrag- stieliger Streifenfarn), Athyrium filix-femi- • Poa angustifolia (Schmalblättriges miti-Magnocaricetea) wie Lysimachia na (Wald-Frauenfarn), Cystopteris fragilis Rispengras) vulgaris (Gewöhnlicher Gilbweiderich), (Zerbrechlicher Blasenfarn) oder Dryop- • Poa compressa (Platthalm-Rispengras) Phalaris arundinacea (Rohr-Glanzgras) teris filix-mas (Gewöhnlicher Wurmfarn). • Saxifraga tridactylites (Dreifinger-Stein- und Poa palustris (Sumpf-Rispengras); Für mitteleuropäische Verhältnisse opu brech) • Flutrasen und des Feuchtgrünlan- lent mit Farnen bewachsene Mauern fin- • Sedum acre (Scharfer Mauerpfeffer) des wie Agrostis stolonifera (Weißes det man gerade in Brunnenschächten, • Sedum album (Weißer Mauerpfeffer) Straußgras), Bistorta officinalis (Schlan- aber auch gelegentlich an alten Brücken- • Syringa vulgaris (Gewöhnlicher Flieder) gen-Wiesenknöterich), Filipendula ul- fundamenten oder Stauwehren. Auffal- Mauerkronen von Burgruinen und Bas- maria (Echtes Mädesüß), Inula britan- lenden Farnbewuchs zeigen gelegentlich tionen können wichtige Refugien für nica (Wiesen-Alant), Rorippa sylvestris auch Hauswände, wenn sie etwa lokal seltene und konkurrenzschwache Tro- (Wilde Sumpfkresse), Rumex conglome- durch undichte Fallrohre von Dachrinnen ckenrasenpflanzen sowie für bedrohte ratus (Knäuelblütiger Ampfer), Rumex beeinträchtigt werden. Archäophyten darstellen,11 so im mittel- obtusifolius (Stumpfblättriger Ampfer); deutschen Trockengebiet z. B. für Artemi- • Nasswälder wie Alnus glutinosa sia maritima (Strand-Beifuß), Camelina (Schwarz-Erle) oder Humulus lupulus Mauerkronen | Die Lebensbedingungen sativa (Saat-Leindotter), Eryngium cam- (Gewöhnlicher Hopfen). auf Mauerkronen unterscheiden sich pestre (Feld-Mannstreu), Lappula squar- | 102
8 | Echium vulgare – Gewöhnlicher Natternkopf, Burg 9 | Centaurea stoebe – Rispen-Flockenblume, Mauer- 10 | Sedum album – Weißer Mauerpfeffer, Mauerkrone Arnstein, 2009, Sachsen-Anhalt krone in Staßfurt, 2008, Sachsen-Anhalt einer Wiesenstützmauer, Virgental, 2009, Osttirol rosa (Kletten-Igelsame), Stipa capillata (um 800) ihre Anpflanzung auf den Dä- bei nordexponierten und/oder für länge- (Haar-Pfriemengras) oder Veronica pro- chern zur Abwehr von Blitzschlägen. Im re Zeit im Verlaufe des Tages beschatte- strata (Niederliegender Ehrenpreis). Sehr mitteldeutschen und fränkischen Raum ten Mauern, eine ausgesprochene Nähr- auffällig sind die Vorkommen von Syrin- wurde diese alte Zierpflanze bis vor we- stoffanreicherung (insbesondere P und ga vulgaris, dem Gewöhnlichen Flieder, nigen Jahrzehnten aus demselben Grund N) durch Staub, Abfall, Urin und Kot so- einer Art der (Kalk-)Trockenwälder des auf die Mauerkrone der Hofeinfahrten ge- wie ein im Verhältnis zur Umgebung er- Balkans, auf den Mauerkronen von Bur- pflanzt. Weitere, heute auf Mauerkronen höhter pH-Wert und Kalkgehalt des Sub- gen, auf denen sich diese alte Zierpflan- gepflanzte Arten sind: strats durch herabgefallenen Mörtel und ze ebenso etablieren kann wie an offenen • Jovibarba globifera (Fransenhauswurz) Mauerschutt. Von großer Bedeutung für Felshängen der Umgebung. • Orostachys spinosus (Dorn-Sternwurz) das Pflanzenwachstum ist schließlich ein Auf Mauerkronen konnte eine positive • Sedum cauticola (Japanische Fetthen- „indirekter“ mechanischer Schutz, da die Korrelation zwischen Anzahl der Neophy- ne) Flächen unmittelbar vor den Mauern vor tenarten und der Gesamtartenzahl festge- • Sedum hispanicum (Spanischer Mauer- Tritt und Befahren geschützt sind. stellt werden, was so interpretiert werden pfeffer) Zumeist sind die Flächen unmittelbar vor kann, dass mit größerer Anzahl besetz- • Sedum ewersii (Ewers-Fetthenne) den Mauern mit Pflaster oder Asphalt ver- barer Nischen die Anzahl der Pflanzenar- • Sempervivum arachnoideum (Spinnwe- siegelt, sodass Pflanzen sich (zunächst) ten insgesamt ansteigt, unabhängig vom ben-Hauswurz) nur in den Fugen etablieren können. Einbürgerungszeitraum. Negative Effekte • Sempervivum marmoreum (Balkan- In der Regel handelt es sich um konkur- durch gebietsfremde Arten konnten nicht Hauswurz) renzarme Wuchsorte, die stellenweise festgestellt werden. Offensichtlich be- • Sempervivum grandiflorum (Großblüti- durchaus „safe sites“ im Sinne der Popula- steht jedoch keine Korrelation zwischen ge Hauswurz) tionsbiologie von Pflanzen sind. Die Analo- den Artenzahlen von Mauerfugen und de- • Sempervivum montanum (Berg-Haus- gien und Unterschiede zwischen vertikalen nen von Mauerkronen. Für das nördliche wurz) Mauerflächen und horizontalen Pflasterflä- Harzvorland konnte gezeigt werden, dass • Sempervivum tectorum (Dach-Haus- chen sind seit mehr als 100 Jahren immer Dörfer mit artenreicher Mauerfugenvege- wurz) wieder Gegenstand interessanter Studi- tation keine reiche Mauerkronenvegetati- • Sempervivum wulfenii (Wulfen-Haus- en.13 Beide Habitate werden in der aktuel- on aufweisen müssen und umgekehrt.12 wurz) len Stadtökologie mit dem Betriff „urban Die Mauerkronen insbesondere von Tro- hard surfaces“ zusammengefasst.14 ckenmauern werden auf Privatgrundstü- Die Artenzusammensetzung der Bestän- cken in klimatisch begünstigten Gebieten Mauerfüße | Der horizontale Bereich un- de ist oft sehr unüblich, weswegen sie Deutschlands mit verschiedenen mehr mittelbar vor einer Mauer wird in der kaum beachtet wird, zumal es sich in oder minder gebietsfremden Dickblatt- vegetationsökologischen Literatur oft un- pflanzensoziologischer Sicht zumeist nur gewächsen (Crassulaceae) bepflanzt. Die scharf als „Mauerfuß“ bezeichnet. Wichti- um Fragmente handelt. Diese stellen in längste Tradition hat Sempervivum tec- ge Standortfaktoren dieses Mikrohabitats dicht bebauten und weitgehend versiegel- torum (Dach-Hauswurz). Bereits im „Ca- sind die Wärmebegünstigung (Spalieref- ten Altstädten jedoch oft den häufigsten pitulare de villis“, einer Verordnung über fekt) vor südexponierten Mauern, aber linearen Vegetationstyp dar. Auch wenn die Reichsgüter, verfügte Karl der Große eine erhöhte Boden- und Luftfeuchtigkeit häufig nur eine Art dominiert, kann das 103 |
go procumbens (Scharfkraut), Chenopo- dium murale (Mauer-Gänsefuß), Cheno- podium vulvaria (Stinkender Gänsefuß), Lappula squarrosa (Kletten-Igelsame), Malva neglecta (Weg-Malve) in dem Sinne charakteristisch, dass sie fast auf dieses Mikrohabitat beschränkt sind. Gleichwohl sind sie sehr selten, sodass ihre Vorkom- men schutzwürdig sind. In Innenstädten gehören Stellaria media (Vogel-Miere), Sonchus oleraceus (Kohl-Gänsedistel), Chenopodium album (Weißer Gänsefuß) und Galinsoga parviflora (Kleinblütiges Knopfkraut) zu den häufigsten Pflanzen entlang von Mauerfüßen und Hauswän- den. Ausdauernde Ruderalpflanzen haben bei höherem Pflegegrad eine deutlich schlechtere Reproduktionschance als die oben genannten Therophyten. In In- 11 | Anthemis tinctoria – Färber-Hundskamille, Burg Hanstein, 2011, Thüringen nenstädten bzw. geschlossener Wohnbe- bauung können ausdauernde Ruderal- pflanzen meist als Indikator für geringe Nutzung und/oder Pflege der entspre- chenden Grundstücke gelten. Besonders häufig sind folgende Arten: Artemisia vulgaris (Gewöhnlicher Beifuß), Cheli- donium majus (Schöllkraut) und Myce- lis muralis (Mauerlattich), an Mauerfü- ßen auf Burgen und alten Siedlungen in Mitteldeutschland auch Ballota nig- ra (Schwarznessel), Nepeta cataria (Ge- wöhnliche Katzenminze) und Parietaria officinalis (Aufrechtes Glaskraut). Bei stärkerer Trittbelastung lockern die Bestände auf, wobei gleichzeitig der An- teil ein- und mehrjähriger Trittpflanzen zunimmt. Grenzt Pflaster, insbesondere Kleinpflaster, an eine Mauer, so können sich zahlreiche Trittpflanzen im mecha- nischen Schutz der Mauer besser entwi- ckeln als in den stark betretenen Berei- chen der Pflasterfugen. Besonders häufig 12 | Sisymbrium austriacum – Österreichische Rauke, Burg Saaleck, 2012, Sachsen-Anhalt sind die allgegenwärtigen Arten Poa an- nua (Einjähriges Rispengras), Sagina pro- Mikrohabitat insgesamt überraschend (insbesondere in Dörfern, vor Stadtmau- cumbens (Niederliegendes Mastkraut), artenreich sein (sofern eine Unkrautbe- ern oder an Burgen) zumeist von stark Polygonum aviculare agg. (Vogelknöte- kämpfung nur gelegentlich erfolgt). nitrophilen Sisymbrion-Fragmenten be- rich) und Taraxacum officinale agg. (Ge- Stickstoffreiche, meist südexponierte siedelt. Für Mauerfüße von Burgen und wöhnlicher Löwenzahn). In den letzten Mauerfüße werden in alten Siedlungen alten Siedlungsstandorten sind Asperu- Jahren konnten sich in vielen Städten ge- | 104
Pflanzenarten als Folge dieses Ursachen- Flora gibt es nun? Patentlösungen existie- komplexes ist jedenfalls überraschend ren sicher nicht; die folgenden Punkte er- groß. Sie trägt in nicht unerheblichem scheinen uns jedoch wichtig:15 Maß zur Phytodiversität unserer Städte 1. Vor einer Restaurierung eines Bau- bei. denkmals (Burg, Kirche mit Kirchhof, Stadtmauer o. ä.) muss auch eine biologi- sche Bestandsaufnahme durch Experten Spannungsfeld Denkmalpflege versus erfolgen. Wenn diese ergibt, dass schüt- Artenschutz | Aufgabe des Artenschutzes zenswerte Arten vorhanden sind, muss ist die Erhaltung der derzeit vorhandenen die jetzt noch vorhandene Artenvielfalt er- Artenvielfalt, folgerichtig fordert das Na- halten werden. turschutzgesetz denn auch den Schutz 2. Mauerfugen sollten nicht überall der Siedlungsvegetation. Dies gilt insbe- mit verwitterungsbeständigem Mörtel sondere für die Erhaltung von Pflanzen- verputzt werden. Sofern es die Funktion sippen, die infolge Nutzungsintensivie- der Mauer erlaubt, sind Bereiche mit Be- rung unserer Kulturlandschaften ihre oft wuchs nur vorsichtig zu verputzen. Ist nährstofflimitierten Wuchsorte verloren dies nicht möglich, sollte das Fugenmate- haben und kaum mehr andere Lebens- rial in eine für diesen Zweck neu zu bau- möglichkeiten außer auf oder an Natur- ende Mauer umgesetzt werden. Zumin- steinmauern haben. dest die Schaffung eines Ersatzstandortes 13 | Lappula squarrosa – Kletten-Igelsame, Schloss Mauern bzw. Bauwerke stellen in unserer ist unerlässlich, da bisherige Mauern erst Neuenburg bei Freyburg/Unstrut, Sachsen-Anhalt sich rasch verändernden Umwelt Habita- nach einigen 100 Jahren (!) ihren optima- te mit langer Persistenz dar, was aus Sicht len Bewuchs aufweisen und ansonsten rade thermophile Arten wie Amaranthus der Naturschutzbiologie schon ein Wert mit dem Erlöschen der Mauervegetation deflexus (Niederliegender Amarant), Di- an sich ist. Mauern können für konkur- überhaupt zu rechnen ist. gitaria ischaemum (Faden-Fingerhirse), renzschwache und wenig ausbreitungs- 3. Die Mauerkrone sollte zumindest Digitaria sanguinalis (Blutrote Finger- freudige Arten als „stepping stones“ nicht lückenlos mit Dachziegeln, Beton hirse), Eragrostis minor (Kleines Liebes- fungieren. Da heute kaum noch Umfas- oder ähnlichen Materialien versiegelt wer- gras), Oxalis corniculata (Hornfrüchtiger sungsmauern oder Uferstützmauern aus den. Eine Alternative kann das Einziehen Sauerklee), Portulaca oleracea (Europäi- Natursteinen (oder Backsteinen) gebaut einer wasserundurchlässigen Schicht im scher Portulak) und Setaria viridis (Grüne werden, ist längerfristig mit einem Rück- oberen Drittel der Mauer bei gleichzei- Borstenhirse) an stark besonnten Mau- gang von Mauern und damit der Mau- tiger Schonung des Kronenbewuchses erfüßen etablieren. Es sind dies zumeist erflora aus unserer Kulturlandschaft zu sein, wobei Gehölze entfernt werden kön- C4-Pflanzen mit submediterraner Verbrei- rechnen, zumal Stützmauern zunehmend nen. tung; sie vertragen Tritt nur mäßig gut. durch Betonwände oder auch durch Ga- 4. Mauerfüße dürfen nicht mit Asphalt Kaum beachtet wurde bislang, dass vie- bionen ersetzt werden. o. ä. versiegelt werden; bei Pflasterungen le Zierpflanzen im Verlauf ihres Verwil- Man sollte den Ensemble-Begriff richtig ist an genügend Abstand von der Mauer derungsprozesses die ersten „stepping verstehen bzw. erweitern: Die Vegetati- zu denken. Kratzen oder vorsichtiges Auf- stones“ an Mauerfüßen und entlang on gehört mit zum Ensemble, sie spie- reißen der oberen Bodenschicht vor der von Gebäuden finden. Möglicherwei- gelt die regionale Kulturgeschichte wider Mauer kann die Samenbank aktivieren se wird die Ausbreitung von zahlreichen und macht einen Teil des Erlebnisinhal- und zu interessanten Ergebnissen führen. krautigen Zierpflanzen durch die folgen- tes aus. Baudenkmal und vom Menschen 5. Grundsätzlich sollte altes Baumate- de Kombination von Faktoren erleich- genutzte bzw. umgestaltete „Natur“ soll- rial wegen der in ihm enthaltenen Dia tert: größeres Zierpflanzensortiment (in ten daher als Einheit gesehen werden. sporen nicht auf Bauschuttdeponien ver- vielen Gartencentern und Baumärkten So könnte eine neue und angemessene bracht werden, sondern zur Gestaltung werden zeitgleich dieselben Sippen an- Sichtweise die Interessengegensätze zwi- von Ersatzbiotopen wie z. B. (Trocken-) geboten), wärmere Sommer sowie die ge- schen Denkmalpflege und Naturschutz Mauern verwendet werden. ringere Neigung, ungewollte Pflanzen vor zumindest teilweise ausgleichen. 6. Bereiche mit interessanter Sied- Mauern und Hauswänden zu bekämpfen. Welche Möglichkeiten zur Erhaltung von lungsvegetation sollten keineswegs mit Die Anzahl der an Mauern verwildernden Baudenkmälern und ihrer spezifischen sog. „Mutterboden“ abgedeckt und in 105 |
Rasenflächen oder Rabatten verwandelt 12 Brandes, S.; Brandes, D.: Mauerflora in Dör- werden. fern des nördlichen Harzvorlandes (Sachsen-An- halt). Elektronische Publikation, PDF, 2010, 13 S. 7. Wegen ihrer Refugialfunktion sehr in- http://www.digibib.tu-bs.de/?docid=0003236. teressant sind Burgen, Stadtmauern und 13 Segal, S.: Ecological notes on wall vegetation, dörfliche Kirchhöfe. Sie sind deshalb be- Den Haag 1969, 325 S. 14 Niemelä, J. (Hrsg.): Urban ecology: patterns, sonders behutsam zu behandeln. Bei processes, and applications, Oxford, 2012, XIII, Kirchhöfen bietet sich u. U. eine Übernah- 374 S. me von Patenschaften durch die Kirchen- 15 Brandes, D.: Naturschutzaspekte bei der gemeinden bzw. durch Naturschutzverei- Denkmalpflege unter besonderer Berücksichtigung der Mauervegetation, Berichte der ANL 20, 1996, nigungen an. Klostergüter bzw. aus ihnen S. 145–149. hervorgegangene Domänen spielen eine wichtige Rolle für die Erhaltung der Dorf- vegetation, was bei allen Maßnahmen be- Bildnachweis rücksichtigt werden sollte. Dietmar Brandes [Autor]: 1–13 Anmerkungen 1 Matthiolus, P. A.: Kreutterbuch, [8], 460, [37] Bl., Frankfurt a. M. 1586. 2 Panaroli, D.: Jatrologismi sive Medicae Obser- vationes quibus additus est in fine Plantarum Am- phitheatralium Catalogus, [5], 37, [6], [1] Bl., Roma 1643. 3 Caneva, G.: Amphitheatrum naturae, Roma 2004, 146 S. 4 Kirschleger, F.: Sur les plantes des vieux château, dans la region alsato-vosgienne. Bull. Soc. Bot. France 9, 1862, S. 15.18. 5 Kappen, L.: Untersuchungen über den Jahres- verlauf der Frost-, Hitze- und Austrocknungsresis- tenz von Sporophyten einheimischer Polypodia- ceen (Filicinae). Flora 155, 1965, S. 123–166. 6 Brandes, D.: Asplenietea-Gesellschaften an se- kundären Standorten in Mitteleuropa. Mitteilungen der Reinhold-Tüxen-Gesellschaft 4, Hannover 1992, S. 73–93. 7 Feder, J.: Die Mauerraute Asplenium ruta-mura- ria L. im Tiefland von Niedersachsen (mit Bremen – Nordwestdeutschland), Braunschweiger Geobo- tanische Arbeiten 9, 2008, S. 139–165. 8 Schneller, J. J.: Besiedlungsstrategie und Popu- lationsentwicklung am Beispiel des Farns Aspleni- um ruta-muraria. In: Schmid, B.; J. Stöcklin (Hrsg.): Populationsbiologie der Pflanzen, Basel 1991, S. 53–61. 9 Düll, R.; H. Kutzelnigg: Taschenlexikon der Pflanzen Deutschlands und angrenzender Länder, 7. erw. u. korr. Aufl., Wiebelheim 2011, 932 S. 10 Ellenberg, H.; Weber, H. E.; Düll, R.; Wirth, V.; Werner, W.; Paulißen, D.: Zeigerwerte von Pflanzen in Mitteleuropa. 3., durchges. Aufl., Scripta Geobo- tanica 18, 2001, 262 S. 11 Brandes, D.: Burgruinen als Habitatinseln: ihre Flora und Vegetation sowie die Bedeutung für Sukzessionsforschung und Naturschutz dargestellt unter besonderer Berücksichtigung der Burgruinen u | Die Teufelsmauer bei Neinstedt besteht aus des Harzgebietes. Braunschweiger Naturkundliche verkieselten Kreidesandsteinen und ist ein weithin Schriften 5, 1996, S. 125–163. sichtbares Naturdenkmal | 106
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