I a l Innen und Citizen Science für junge ForscherInnen im Bonner Raum - BUND ...
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Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland LV NRW e. V. Citizen Science für junge erial ForscherInnen im Bonner Raum Lehrmat r e r I n n e n und für Leh I n nen i k a t o r Multipl © Dr. Luciana Zedda www.bundforschtinbonn.de 1
Inhalt Grußwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 1 Neophyten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 1.1 Was sind Neophyten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 1.2 Herkunft, Einfuhrwege und Nutzung der Neophyten in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 1.3 Wo kommen Neophyten in Deutschland vor und wie breiten sie sich aus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1.4 Neophyten als Nutzpflanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.5 Welche Rolle spielen Neophyten für die biologische Vielfalt in Deutschland? . . . . . . . . . . . . . . 10 1.6 Biologische Invasionen: Definitionen und Bewertungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.7 Vielfalt der Neophyten und Auswirkungen in NRW und in Bonn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.8 Wie werden invasive Arten behandelt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 1.9 Wie kann ein bewusster Umgang mit Neophyten für uns BürgerInnen aussehen? . . . . . . . . 20 2 Das Citizen-Science Projekt „Erforsche Neophyten mit!“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 2.1 Was ist Citizen Science? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 2.2 Citizen Science in Deutschland – Initiativen und Projekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 2.3 Ziele des Projektes und die erfolgreiche Einbindung der Kinder und Jugendlichen . . . . . . . 24 2.4 Welche Neophyten werden im Projekt erforscht und warum? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2.5 Für wen sind die erhobenen Daten und Informationen relevant? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2.6 Wie sieht die Projektumsetzung aus und wie findet die Datenerhebung statt? . . . . . . . . . . . . . . 35 2.7 Vorschläge und Unterstützung für die Durchführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2.8 Wie bekommen LehrerInnen und MultiplikatorInnen Unterstützung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 Wissenschaftliche Namen und Synonyme der im Text erwähnten Pflanzenarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Fußnoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Webseiten und Informationsportale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 2
Grußwort Liebe LeserInnen, die Biodiversität – die genetische Vielfalt sowie die Vielfalt von Arten und Lebensräu- men – schwindet in Nordrhein-Westfalen nach wie vor. Fast die Hälfte der über 43.000 aus unserem Bundesland bekannten Arten ist in ihrem Bestand gefährdet oder bereits ausge- storben. Die wesentlichen Gründe hierfür sind die nach wie vor anhaltende Ausweitung und Intensivierung der menschlichen Landnutzung Während also biologische Vielfalt schwindet, sowie die Verkleinerung und Fragmentierung schwinden gleichzeitig auch die Möglichkeiten, von Landschaften. diese überhaupt zu erfassen – zwei negative Trends, die sich gegenseitig verstärken. Als eine der potenziellen Gefahren wird häufig auch der Einfluss der „Neobiota“ – der seit der Der BUND setzt hier verstärkt auf „Citizen Entdeckung Amerikas bei uns neu auftreten- Science“, auf den bürgerwissenschaftlichen den Organismen – diskutiert. Dies geschieht Ansatz. Gerade bei den Neophyten, den neuen unter dem Eindruck der Erfahrungen in Pflanzenarten, sind die Bestandsentwicklungen Insel-Lebensräumen sowie im Hinblick auf sehr dynamisch, und jedes Jahr kommen die wachsende Globalisierung und die fort- neue Arten hinzu. Deswegen sind sie ideal, schreitenden Klimaveränderungen. um bereits Kinder und Jugendliche an die Forschung heranzuführen und für die Erhe- Auch wenn NRW – im Gegensatz bspw. zu bung wissenschaftlicher Daten zu begeistern. Neuseeland – seit einigen Millionen Jahren ein Gleichzeitig werden wichtige Informationen natürliches Ein- und Wiederauswanderungs- gesammelt, mit welchen Biodiversität erst land ist und invasive Arten hier tatsächlich erkannt und geschützt werden kann. bislang keine Ursache für das Aussterben anderer Arten darstellen, ist es eine wichtige Ich wünsche Ihnen eine spannende Lektüre Aufgabe, ihre Entwicklung zu beobachten. So und wertvolle Anregungen für einen gelasse- ist das verstärkte Auftreten von so genannten nen, positiven Umgang mit unseren pflanz Problemarten – egal ob neu oder nicht – in lichen Neubürgern. aller Regel nicht Ursache für Probleme, son- dern Symptom einer Menschen gemachten Ihr Veränderung. Aber nicht nur bei der Biodiversität, sondern auch bei der universitären Ausbildung im Holger Sticht Bereich der Feldbiologie und Artenkenntnis Landesvorsitzender ist ein wachsendes Defizit zu beobachten. BUND NRW 3
Einleitung von der Stiftung Umwelt und Entwicklung NRW gefördert. Liebe LehrerInnen und MultiplikatorInnen, Mit dieser Broschüre möchten wir Ihnen unter- „Citizen Science“ oder „Bürgerwissenschaft“, stützendes Lehrmaterial und viele Informatio- bedeutet, dass HobbyforscherInnen an aktuel- nen über das Thema an die Hand geben. len wissenschaftlichen Fragestellungen mitfor- schen. Mittlerweile wird Citizen Science durch Im 1. Teil stellen wir Ihnen das Thema Neophy- Initiativen und Projekte auch zunehmend in ten vor, mit Definitionen und dem wichtigsten Deutschland umgesetzt. Die Einbindung von aktuellen Hintergrundwissen aus der Forschung jungen ForscherInnen in Citizen Science-Pro- und dem Naturschutz. Sie erfahren etwas u. a. jekte ist allerdings noch nicht weitverbreitet. über die Herkunft der Neophyten, ihre Vielfalt bis hin zur ihren Auswirkungen auf die Natur Das Projekt „Erforsche Neophyten mit! Citizen und ihre Nutzung durch den Menschen. Science für junge ForscherInnen im Bonner Raum“ wurde von der BUND Kreisgruppe Bonn Im 2. Teil geht es um das Thema „Citizen mit dem Ziel entwickelt, bereits Kinder und Science“ und darum, wie die jungen Forsche- Jugendliche an die Forschung heranzuführen rInnen mit Ihrer Begleitung aktiv werden kön- und für die Sammlung von wissenschaftlichen nen. Es wird die genaue Projektumsetzung Daten zu begeistern. Gleichzeitig soll die Wahr- beschrieben, die zu untersuchenden Neophyten nehmung von Arten und Lebensräumen sowie in Kurzportraits vorgestellt und Ideen für Akti- Kenntnisse über die Dynamik der Natur geför- onen gegeben, um das Thema aufzubereiten. dert werden. Das Projekt richtet sich an Kinder und Jugendliche (ab der Sekundarstufe I) an Wir freuen uns, dass Sie sich zum Mitforschen Schulen und außerschulischen Bildungseinrich- entschlossen haben und das Thema Neophyten tungen. und „Citizen Science“ aktiv in Ihrem Unterricht oder auch außerhalb der Schulzeit aufgreifen Neophyten sind ein aktuelles Forschungsthema, wollen. Wir bedanken uns für Ihren wertvollen das im starken Zusammenhang mit Biodiversi- Beitrag zur Wissensgewinnung über Neophyten tät, Landnutzung, Globalisierung und Klima- in Ihrer Region. wandel steht. Die gesammelten Daten und Informationen sind für die Wissenschaft, die Das Projektteam Politik, den praktischen Naturschutz und die Gesellschaft von Interesse. Das Projekt wird Dr. Nicole Nöske Dr. Luciana Zedda 4
1 Neophyten Neophyten sind ein aktuelles Thema und Neuzeit dehnte sich der Austausch von stehen in einem direkten Zusammenhang mit Menschen und Waren rasch um den gesamten Biodiversität, Globalisierung und Klimawandel. Globus aus. Pflanzen und Tiere wurden in Sie werden zunehmend international und wachsender Zahl und Menge vom Menschen national von der Wissenschaft erforscht und über alle Kontinente ausgebreitet 2, 6. in Konventionen, Richtlinien, Gesetzen und Verordnungen berücksichtigt. Politik und Ver- Fasst man die beiden Aspekte, wie eine Pflanze bände nehmen das Thema „Neophyten“ auf. in ein Gebiet gelangte und wann dies passierte, Das Thema ist eine Herausforderung für den in einer Definition zusammen, so gilt: Neophy- Naturschutz, für die ökologische Forschung ten (Neueinwanderer, aus dem Griechischen sowie für Ökonomie, Politik und Gesellschaft, „neue Pflanzen“) sind Pflanzen, die unter weil einige Arten die lokale Biodiversität direkter oder indirekter Mithilfe des Menschen beeinflussen können oder gesundheitliche nach dem Jahr 1492 in ein neues Gebiet und wirtschaftliche Schäden verursachen 1, 2, 3. gelangt sind, das sie zuvor aus eigener Kraft Auch Naturschutzverbände wie der Bund für nicht erreichen konnten 2, 3. Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), beschäftigen sich mit dem Thema und betrei- 1.2 Herkunft, Einfuhrwege und ben Öffentlichkeitsarbeit 4, 5. Nutzung der Neophyten in Deutschland 1.1 Was sind Neophyten? Die meisten Neophyten, die in Mitteleuropa Eine Art wird in einem bestimmten Gebiet vorkommen, stammen aus dem östlichen „gebietsfremd“ genannt, wenn sie durch Nordamerika, viele aber auch aus dem west direkte oder indirekte Einflüsse des Menschen lichen Nordamerika und aus Ostasien. Gebiets- dieses Gebiet erreicht hat. Zuvor konnte sie fremde Arten gelangen in neue Gebiete, unge- aufgrund natürlicher Barrieren (z. B. das Meer) wollt oder absichtlich, seitdem Menschen Gar- nicht dorthin gelangen 2, 6. Arten, die in einem tenbau und Landwirtschaft betreiben, überregi- bestimmten Gebiet den Status „gebietsfremd“ onal handeln und reisen. Die Einführung und haben, befinden sich hier außerhalb ihrer Einschleppung von Neophyten ist seit Beginn natürlichen Heimat. Weitere Begriffe, die häu- der Neuzeit deutlich mit der Zunahme von fig synonym zu „gebietsfremd“ verwendet Fernhandel und Fernreisen durch neue Trans- werden sind: „nicht einheimisch“, „exotisch“, portmittel und der Globalisierung von Verkehr „fremdländisch“, „allochthon“ oder aus dem und Handel gestiegen. Heute gehören zur Englischen: „alien“, „exotic“, „foreign“. deutschen Flora gebietsfremde Arten aus allen Kontinenten, außer der Antarktis 1, 2, 3. Bei den nicht einheimischen Pflanzen werden Ihr Vorkommen in Deutschland ist kulturell zwei Gruppen unterschieden. Als Archäophy bedingt, weil die Arten von Menschen ent ten (alte Pflanzen, Alteinwanderer) werden weder absichtlich in ein Gebiet importiert Pflanzen bezeichnet, die bereits vor der Ent oder unbeabsichtigt eingeschleppt wurden 6. deckung Amerikas im Jahr 1492 nach Europa gelangten. Pflanzen, die dagegen erst nach a) Absichtliche Einführungen dem Jahr 1492 in neue Gebiete gelangten, werden als Neophyten bezeichnet. Das Krite- Pflanzen wurden häufig von Forschungs- rium dieser Trennung ist kein biologisches, und Erkundungsreisen aus unterschiedlichen sondern die kulturhistorische Zäsur des Jahres Gebieten der Welt nach Mitteleuropa gebracht 1492. Seit der Zeitenwende vom Mittelalter zur und gehandelt, mit einem Höhepunkt im 5
18. Jahrhundert. Die meisten aus Nordamerika den Transport von Südfrüchten wurde frü- stammenden Gehölze wurden in dieser Periode her häufig Stroh zum Schutz gegen Frost eingeführt (z. B. die Roteiche), während ost verwendet, welches viele Reste anderer asiatische Einführungen überwiegend aus dem Pflanzen enthielt. Häfen, in denen solche 19. Jahrhundert stammen. In dieser Zeit wurde Waren entladen werden, sind deswegen auch sehr stark nach ökonomisch nutzbaren besonders reich an nicht einheimischen Pflanzen überall in der Welt gesucht (Epoche Arten. der „Pflanzenjäger“) und über tausend neue Arten kamen nach Europa (u. a. der Japanische HHAquakulturen: Mit der Aufzucht von Was- und der Sachalin-Staudenknöterich). Im serorganismen wurden sowohl aquatische Gegensatz dazu gelangten im 20. Jahrhundert Neophyten (Gefäßpflanzen, Algen) als auch deutlich weniger Arten nach Mitteleuropa. aquatische Neozoen (gebietsfremde Tiere) Zur Beginn der Neuzeit wurden Pflanzen per eingeschleppt. Schiff transportiert, später auch mit der Eisen- bahn und anderen Verkehrsmitteln. Mit dem HHSchiffsverkehr: Sehr viele Arten werden Garten- und Ackerbau wurden auch zahlreiche über den Schiffsverkehr eingeschleppt. neue Nahrungspflanzen eingeführt (u. a. Durch Ballastwasser, das die Schiffe in Kartoffel, Tomate, Mais, Kultur-Gerste und fernen Gewässern aufnehmen, gelangen Kürbis). Diese sind nur z. T. fähig gewesen, gebietsfremde marine Organismen jeden sich spontan in Deutschland auszubreiten oder Tag zu uns. mit einheimischen Arten zu kreuzen 7. Viele Neophyten haben sich ausgehend von forst HHKanäle: Kanäle können verschiedene, vor- lichen Pflanzungen ausgebreitet sowie von her isolierte Gewässersysteme miteinander Pflanzungen an Straßen und in Gärten durch verbinden und auf diese Weise die Ausbrei- natürliche Ausbreitungsmechanismen. Einige tung aquatischer Pflanzen und Tiere Arten wurden durch Jäger zur Wildäsung, begünstigen. Wilddeckung (Topinambur) oder als Bienen- weide eingeführt 3 (s. auch 1.4). HHFlugverkehr: Verschiedene Arten werden über den Flugverkehr transportiert, im b) Unbeabsichtigte Einschleppungen Gepäck der Passagiere oder mit der Luft- Nach dem Jahr 1500 begann die Globalisie- fracht. Kurze Reisezeiten erhöhen die Über- rung des Handels. Zahlreiche Pflanzenarten lebenschancen bei den eingeschleppten wurden unbeabsichtigt nach Mitteleuropa ein- Lebewesen, v. a. bei Tieren. geschleppt, vorwiegend im 19. Jahrhundert. Die Hauptwege der Einschleppung sind nach Es ist noch nicht klar, ob der Gipfel des Kowarik 3: Zustroms an Neophyten bereits Ende des 19. Jahrhundert überschritten wurde. Mögli- HHSaatgut von Kulturpflanzen und Futter cherweise sind mit dem Klimawandel und der mittel: Sie enthalten häufig Verunreini- Globalisierung von Verkehr und Handel noch gungen mit Saatgut anderer Arten, die mehr Neophyten zu erwarten 2. zusammen mit der Kulturpflanze (z. B. Getreide, Leinsamen) geerntet werden. Neophyten gibt es nicht nur in Nordrhein- Minderwertiges Saatgut und Futtermittel Westfalen, in Deutschland oder in Mitteleuropa. (speziell Vogelfutter) sind oftmals reich an Mitteleuropäische Pflanzen kommen auch als Beimengungen anderer Arten. gebietsfremde Arten bspw. in der Neuen Welt oder in Neuseeland vor. Der Erfolg mitteleuro- HHTransport: Transportierte Tiere, v. a. Schafe päischer Arten in außereuropäischen Ländern mit ihrer Wolle, breiten sehr effektiv ist sogar oftmals größer als umgekehrt. Ein Früchte oder Samen von Pflanzen aus. Für Grund hierfür liegt vermutlich in der älteren 6
Geschichte des Ackerbaus in Mitteleuropa. Zahlreiche Arten waren hier seit vielen Jahr- hunderten an von Menschen geschaffene Hab- itate (Äcker, Gärten, Siedlungen) angepasst und konnten sich daher in neuen Gebieten erfolg- reicher ausbreiten als umgekehrt Arten aus der Neuen Welt in Europa 2. 1.3 Wo kommen Neophyten in Deutschland vor und wie breiten sie sich aus? Nicht alle Pflanzen, die nach Mitteleuropa kommen, sind in der Lage, sich aus eigener Kraft auszubreiten. Verschiedene Faktoren wie Arteigenschaften, Klimabedingungen (u. a. Transport von Pflanzenteilen des Japanischen Staudenknöterichs im Rhein Sommer- und Wintertemperaturen, Jahresnie- derschlag), Angebot an geeigneten Standorten, Wechselwirkungen mit anderen Tier-, Pilz- gen oder zuvor vorhandene Arten lokal ver- und Pflanzenarten und menschliche Aktivitä- drängen 2. Ausbreitungen werden auch durch ten bedingen den Erfolg einer nicht einheimi- menschliche Aktivitäten gefördert 3. Wichtig schen Pflanze 2. sind v. a. sekundäre Ausbringungen, die die räumliche Isolation überwinden, wie Pflanzun- Untersuchungen über die Ökologie und Aus- gen oder Ansaaten in Gärten und Grünflächen, breitung der Arten zeigen, dass Neophyten an Verkehrswegen, in Hecken, als Forstgehölz, in Ankunftsgebieten ähnliche ökologische als Nutzpflanze in der Landwirtschaft, als Bie- Bedingungen suchen wie in ihrer natürlichen nenfutterpflanze, zur Erosionsbekämpfung, Heimat. Damit eingeschleppte und eingeführte als Wildfutter oder Deckungspflanze in halb- Arten sich erfolgreich ausbreiten können, sind natürlichen bis naturnahen Lebensräumen zwei Faktoren besonders wichtig: Es müssen (Biotopen). Nur durch wiederholte Ausbrin- geeignete Lebensräume vorhanden sein und gungen wird die Etablierung von Populationen die Arten müssen die Möglichkeit haben, sie zu gefördert und Neophyten können sogar natur- erreichen 3. Gebietsfremde Arten können sich nahe Standorte erreichen 3. Während die meis- entweder in die bestehende Vegetation einfü- ten einheimischen Arten auf gering bis mäßig gestörten Standorten vorkommen, finden sich Neophyten vorwiegend auf vom Menschen geschaffenen oder gestörten Standorten, weil dort die Konkurrenz mit einheimischen Arten niedriger ist (Tabelle 1). Neophyten sind überproportional in den großen Städten und Ballungsgebieten vertreten 8. Störungen und Standortveränderungen, die nicht einheimische Arten begünstigen, sind mechanische Störun- gen des Bodens, die Vegetationslücken schaf- fen (z. B. im Garten- und Ackerbau), chemische und physikalische Veränderungen des Bodens (Salz- oder Kalkanreicherung, Eintrag von che- mischen Substanzen gegen Pflanzenschäd- linge) und Veränderungen des klein- und groß- Ruderalfläche mit Indischem Springkraut in Bonn räumigen Klimas 3. 7
Tabelle 1: Übersicht über die Standorte, an denen in Deutschland die meisten Neophyten vorkommen (modifiziert nach Kowarik 3). Standorttyp Beschreibung Beispiele Fließgewässer Fließgewässer und Auen sind besonders reich an Neo- Topinambur, Japanischer Stauden und Auen phyten, weil fließendes Wasser die weitreichende Aus- knöterich, Indisches Springkraut, breitung von Samen, Früchten und anderen Pflanzentei- Kanadische und Riesen-Goldrute, len fördert. Zudem gibt es an Fließgewässern eine große Riesen-Bärenklau, Schwarzfrüchti- Dynamik der Umlagerung von Sedimenten (u. a. Kies- ger Zweizahn, Echte Engelwurz, und Sandbänke) mit regelmäßig neu entstehenden verschiedene aquatische Neophy- offenen Standorten 3, 9. ten Häfen Häfen sind reich an Neophyten, die dorthin zusammen Robinie, Wermutkraut, Kanadi- mit Waren (v. a. mit Saatgut und Futtermitteln) aus der sches Berufkraut, Gewöhnlicher ganzen Welt transportiert werden. Auf den in Hafenan- Grausenf, Wilde Rauke, Pappeln lagen weit verbreiteten brachliegenden Rohbodenflä- chen mit lückiger Vegetation siedeln sie sich gut an 10. Bahnhöfe und Bahnhöfe und Gleisanlagen sind klassische Pionierstand- Chinesischer Götterbaum, Gleisanlagen orte mit hohem Störungsgrad (u. a. durch Herbizidanwen- Japanischer Staudenknöterich, dungen) und einem lückigen Pflanzenbestand. Die Böden Kanadische Goldrute, Vielblättrige sind feinerdearm mit hohem Anteil an Sand, Splitt oder Lupine, Kali-Salzkraut, Purpur- Schotter. Sie trocknen schnell aus und heizen durch Storchschnabel, Sand-Wegerich, Besonnung stark auf. Hier leben zahlreiche Neophyten Virginische Kresse aus wärmeren, trockeneren Gebieten der Erde (Mittel- meergebiet, eurasiatische Steppen) 11. Brachflächen Bei der Erstbesiedlung großer und ursprünglich vegetati- Kanadische Goldrute, Japanischer (Ruderal onsfreier Flächen (z. B. Industriegelände, Baustellen und Staudenknöterich, Chinesischer fächen) aufgelassene Grün- und Ackerflächen) gibt es viele Götterbaum, Beifußblättriges Trau- Neophyten 3. benkraut, Robinie, Riesen-Bären- klau, Gewöhnliche Nachtkerze Straßen An Straßenrändern werden viele Begrünungsansaaten Chinesischer Götterbaum, Japani- ränder verwendet, die Neophyten als Beimengung enthalten scher Staudenknöterich, Schmalb- können. Die Verwendung von Streusalz fördert salz lättriges Greiskraut, Vielblättrige tolerante Arten 3. Lupine, Riesen-Bärenklau, Eschen- Ahorn, Kartoffelrose Urbane Sehr viele Neophyten wurden ursprünglich als Garten- Topinambur, Mahonie, Beifußblätt- Gärten und pflanzen oder zur Anpflanzung als Straßengrün einge- riges Traubenkraut, Goldruten, Mauern führt. Einige von diesen werden bis heute gärtnerisch Lorbeerkirsche, Riesen-Bärenklau, kultiviert. Nicht nur Kräuter und Sträucher, sondern Chinesischer Götterbaum, Eschen- auch Bäume können sich aus Gärten und ausgehend Ahorn, Kermesbeere, Mauer- von Straßenbaumpflanzungen ausbreiten 3. Zymbelkraut, März-Veilchen Landwirt In Dörfern und auf Agrarflächen spielen sowohl Neo- Riesen-Bärenklau, Japanischer schaftlich phyten als auch v. a. Archäophyten eine große Rolle. Staudenknöterich (in Dörfern); geprägte Die meisten Arten sind unproblematisch und viele sogar Kanadisches Berufkraut, Dreiteili- Lebensräume geschützt, da durch Herbizideinsatz und Überdüngung ger Zweizahn, Gänsefuß-Arten, gefährdet 3. Erdmandel (auf Äckern) Wälder In Wäldern wachsen Neophyten meisten am Waldrand, Indisches Springkraut, Kleinblüti- entlang von Waldwegen, wo der Wald lichter ist, oder im ges Springkraut, Riesen-Goldrute, Bereich von Störungen durch Wegebau und forstwirt- Robinie, Douglasie, Lorbeerkirsche, schaftliche Eingriffe. Einige Arten konnten sich ausge- Spätblühende Traubenkirsche, hend von Aufforstungen, Gärten und Parkanlagen in Eschen-Ahorn, Roteiche, Mahonie, unseren Wäldern erfolgreich ausbreiten 3. Schwarz-Kiefer, Strobe Grünland, Neophyten kommen in traditionell bewirtschafteten Grünlandansaaten (Saatmischungen Heiden Wiesen, Weiden oder Heiden bei veränderter Landnut- gebietsfremder Sorten bestimmter zung vor und beeinflussen die genetische Vielfalt sowie Arten, die die regional einheimi- die Vegetationsstruktur und die Bodeneigenschaften 3. sche genetische Vielfalt innerhalb dieser Arten verändern); Robinie auf Trockenrasen; Schmalblättriges Greiskraut (z. B. Rodderberg) 8
1.4 Neophyten als Nutzpflanzen Weinessig eine Art Balsamico-Essig. Topinam- bur ist eine alte Kulturpflanze der nordameri- Viele Neophyten sind in ihrer natürlichen kanischen Indianer. In Deutschland werden Heimat Nutzpflanzen, bspw. Nahrungs- oder v. a. die spindelförmigen Sprossknollen roh Heilpflanzen. Zahlreiche dieser Arten wurden oder gekocht verwendet, oder es kann vom als Zierpflanzen in Deutschland eingeführt. Saft der Knollen ein Getränk zubereitet wer- Der weit überwiegende Teil unserer Nahrungs- den. Die Knollen enthalten Inulin und sind pflanzen ist gebietsfremd. Sonnenblume, Mais, Kartoffel, Kürbis, Tomate und Raps gehören u. a. dazu. Es sind Arten, die sich bis jetzt aus eigener Kraft nicht dauerhaft behaupten können, da sie nur begrenzt an unser Klima angepasst sind. Am häufigsten sind Kartoffel und Tomate verwildert zu finden, wobei beide Arten wohl stets auf Nachschub ihrer Dia sporen aus Kulturen und Haus- oder Garten abfällen angewiesen sind. Verwilderungen von Mais, Kultur-Gerste und Kartoffel sind eher in anderen Teilen der Welt bekannt 7, 12. Auch andere Arten, die sich etabliert haben, können in Deutschland als Nutzpflanzen verwendet werden. Der Japanische Staudenk- nöterich kann als Wildgemüse (roh im Salat, Knollen von Topinambur gekocht oder wie Rhabarber) verspeist werden, v. a. die Sprossen, die grünem Spargel und als Viehfutter, für Diabetikermehl und als Kar- Bambus ähnlich sind. Der Japanische Stau- toffelersatz nutzbar. Die Pflanze wurde auch denknöterich kann auch zu Marmelade, Relish für das Brennen von Destillaten oder für die oder Chutney verarbeitet werden. Er enthält Fruchtzucker-Herstellung verwendet 8. Die viel Vitamin C und hat positive Wirkungen auf Amerikanische Kermesbeere wurde in der die Gesundheit. Aus der Pflanze wird sogar Volksmedizin zur Behandlung von Rheuma Seife hergestellt. Aus den Mahoniebeeren wer- und Arthritis sowie bei Entzündungen im den Fruchtsaft und Gelee hergestellt. Aus den Hals- und Rachenraum verwendet. Ihre Spros- Blüten des Indischen Springkrauts kann ein sen können als Gemüse blanchiert oder als Gelee produziert werden oder zusammen mit Brotaufstrich verarbeitet werden. In Weinge- bieten, so auch im Rheinland, wurden Extrakte der Amerikanischen Kermesbeere früher zum Dunkelfärben von Rotwein verwendet. Da es aber auch zu Vergiftungserscheinungen kam, wurde die Verwendung dieses Färbemittels im Wein später verboten 13. Aus den Beeren des Gemeinen Bocksdorns werden Fruchtsaft und ein Aufstrich hergestellt 14. Einige Arten wurden von Imkern als Bienen- futterpflanzen für die Honiggewinnung gezielt angepflanzt, wie die Robinie, die Spätblü- hende Traubenkirsche, der Riesen-Bärenklau, das Indische Springkraut, die Gewöhnliche Mahonie, Goldrutenarten und der Chinesische Ausbreitung von Topinambur aus einem Garten Götterbaum. Das Indische Springkraut ist 9
Forstwirtschaft Die Robinie wird seit Ende des 18. Jahrhun- derts als Bodenfestiger kultiviert, früher vor- wiegend in Sandlandschaften und auf Wander- dünen oder erosionsgefährdeten Hängen. Auch Trocken- und Halbtrockenrasen wurden mit Robinien aufgeforstet. Eine gewisse Bedeutung hat diese Baumart auch für die Holzproduktion in Deutschland. Weitere Arten wie die Dougla- sie, die Weymouth-Kiefer und die Roteiche wurden auch für Aufforstungen eingeführt. Douglasien haben in Deutschland erhebliche Bienenbesuch bei Indischem Springkraut ökonomische Bedeutung im Bereich der Holz- produktion erlangt. Die Spätblühende Trau- insbesondere für seine Massentracht im Hoch- benkirsche wurde in Sandgebieten Deutsch- sommer und großen Attraktivität für Honig- lands als Holzart eingesetzt. Das Holz ist bienen bei Imkern sehr beliebt 3. Das hat aller- wertvoll und in der Qualität vergleichbar mit dings auch negative Auswirkungen, denn Kirschholz. Diese Art wurde auch häufig zur einheimische Pflanzen stehen so in Konkur- Brandverhütung am Rand von Kiefernforsten renz um die Bestäuber. gepflanzt 3. Stadtgrün 1.5 Welche Rolle spielen In Deutschland werden heute allein in Bota Neophyten für die biologische nischen Gärten etwa 50.000 Pflanzenarten Vielfalt in Deutschland? kultiviert und etwa 3.150 nicht einheimische In Deutschland kommen etwa 3.900 einheimi- Gehölzarten in Gärten und Parks. Etwa zwei sche Blüten- und Farnpflanzenarten vor, inklu- Drittel davon stammen aus Nordamerika und Ostasien 3. Aus Gärten und Parks sind viele Arten in die Umgebung verwildert. Viele Neo- phyten tolerieren die besonderen ökologischen Bedingungen von Stadtgebieten: Salz, Tro- ckenheit und Herbizide sowie die Luftverunrei- nigung (z. B. der Chinesische Götterbaum). Die Spätblühende Traubenkirsche wurde früher wegen ihrer attraktiven Blüten, Früchte und Herbstfärbungen als Zierbaum in vielen euro- päischen Gärten und Parks gepflanzt. Bis heute wird sie als Feldgehölz, für Pflanzungen von Hecken, in Gärten und im Straßenbegleitgrün verwendet, weil die Art schnell wächst, ästhe- tisch ist und attraktiv für Vögel als Nahrung. Die Roteiche findet sich häufig in Grünanlagen und als Straßenbaum. Der Eschen-Ahorn wurde in Windschutzhecken, Grünanlagen und als Straßenbaum als schnell wüchsiger Pio- nierbaum angepflanzt. Mahonien sind beliebte Gartensträucher wegen ihrer dekorativen Blät- ter, gelben Blüten und blau-schwarzen Beeren. Das Indische Springkraut ist nach wie vor eine beliebte Gartenpflanze 3. Die Schachblume steht unter Naturschutz 10
sive ca. 400 fest eingebürgerte Neophyten 8. mit jeweils eigenen Bedeutungen benutzt 17, 6. Insgesamt gibt es ca. 700 gebietsfremde Arten In der Biologie und Ökologie wird als Invasion (Archäo- und Neophyten), die fest etabliert sind einerseits die großräumige Ausbreitung einer und dauerhaft aus eigener Kraft bei uns leben Art in ein neues Gebiet außerhalb der natür können 15. Außer den eingebürgerten Neophy- lichen Heimat dieser Art unter Mithilfe des ten sind in Deutschland noch mehrere hundert Menschen definiert. Solche Arten werden als unbeständige Neophyten bekannt, bei denen es adventive Arten bezeichnet. Andererseits fällt unsicher ist, ob sie sich hier dauerhaft etablie- auch die kleinräumige Besiedlung neuer ren können. Diese können kaum vollständig Standorte oder Lebensräume durch Populatio- erfasst werden 8. Das Bundesamt für Natur- nen einer adventiven Art unter die Definition schutz (BfN) ist für das Thema Neophyten von Invasion. Eine Wertung dieser Vorgänge auf nationaler Ebene zuständig und liefert als schädlich oder nützlich ist hiermit nicht Informationen über diese Arten, u. a. auf einer verbunden 17, 12. Aus dieser naturwissenschaftli- Website (www.neobiota.de). chen Sicht ist es im Prinzip irrelevant, ob eine Art in ein neues Gebiet unter Beteiligung des Menschen gelangte oder ob sie dies ausschließ- Einige gebietsfremde Arten sind in Roten lich auf natürliche Weise geschafft hat. Soll der Listen enthalten. Darunter sind in der Regel Aspekt der Mithilfe des Menschen herausge- bestimmte Archäophyten (Alteinwanderer), die stellt werden, sind manche Autoren der Auffas- als gefährdet eingestuft werden. Es gibt aller- sung bei gebietsfremden Arten besser von „ein- dings auch einige Neophyten, die heute selten geschleppt“ bzw. „eingeführt“ zu sprechen 6. und gefährdet sind. Beispielsweise die Schach- blume und die Wilde Tulpe, die im 16. und Im Falle einer naturschutzfachlichen Bewer- 17. Jahrhundert als Zierpflanzen nach Mittel- tung gebietsfremder Arten wird jedoch aus- europa gelangten und später wilde Bestände drücklich eine wertende Perspektive gewählt 16. bildeten. Beide Arten sind heute in vielen Die Bezeichnung „invasiv“ hat dann nicht Gebieten Deutschlands in der Natur sehr selten mehr einen rein beschreibenden Charakter, und stark gefährdet 9, 12. sondern verbindet die Sachebene einer Aus- breitung gebietsfremder Arten mit einer nega- 1.6 Biologische Invasionen: tiven Wertung der Wirkungen solcher Arten Definitionen und auf vorhandene Ökosysteme, Lebensräume Bewertungen oder Arten. In ähnlicher Weise können inva- sive Arten auch als schädlich gewertet werden, Mit dem Begriff „biologische Invasion“ wird die Ausbreitung gebietsfremder Tier- und Pflanzenarten (= Neobiota) bezeichnet. Dabei gibt es Definitionen, die biologische Invasion ohne Wertung als einen biologischen Prozess verstehen und andere Definitionen, die dies zwingend mit schädlichen Wirkungen verbin- den. Biologische Invasionen sind seit etwa 20 Jahren ein internationales Naturschutzthema, das häufig zu kontroversen Definitionen und Meinungen führt 16. Was bedeutet es, wenn eine Art als invasiv gilt? Die Begriffe „Invasion“ und „invasiv“ werden seit langem in ganz unterschiedlichen Zusam- menhängen und von verschiedenen Disziplinen Ambrosia-Bestände in Weinbergen bei Bonn 11
wenn ökonomische Maßstäbe zugrunde gelegt Probleme durch invasive Neophyten werden oder die Gesundheit des Menschen als Der Naturschutz beschäftigt sich mit verschie- Maßstab gewählt wird. denen Wirkungen bestimmter Neophyten auf einheimische Arten, Lebensräume und Ökosys- Es muss betont werden, dass Arten auch im teme 2. Aus globaler Perspektive sind biologi- naturschutzfachlich wertenden Sinne nicht als sche Invasionen, neben der direkten Zerstö- solche invasiv sind, sondern sich ihr invasives rung von Lebensräumen, eine der größten Verhalten stets auf ein bestimmtes Gebiet Gefahren für die biologische Vielfalt. Einige und innerhalb eines solchen Gebietes auf Pflanzen können in bestimmten Lebensräumen bestimmte Lebensräume beschränkt. Natur- durch Massenentfaltung einheimische Arten schutzfachliche Angaben zur Invasivität von lokal verdrängen und die genetische Struktur Arten müssen daher immer spezifiziert werden von Populationen sowie die Zusammensetzung in der Form, dass das Gebiet der Invasion von Lebensgemeinschaften verändern 1, 3. Der benannt wird (z. B. Deutschland oder NRW) Klimawandel und die Zunahme menschlich und insbesondere die hier betroffenen Ökosys- bedingter (anthropogener) Störungen werden teme, Lebensräume (z. B. Laubmischwälder) in Zukunft die Problematik biologischer Inva- oder Arten ausgewiesen werden 17. sionen voraussichtlich verstärken 1. Aus der Sicht des Naturschutzes gelten also Allerdings zeigt Deutschland eine lange bestimmte Neophyten als invasiv, wenn Geschichte der Besiedlung und Landnutzung, in sie sich in einem bestimmten neuen Gebiet deren Verlauf bereits ein umfangreicher Aus- nicht nur ausbreiten und vermehren können, tausch an Arten mit anderen Gebieten der Welt sondern hier andere Arten oder Genotypen vom Menschen angestoßen wurde. In den aller- in bestimmten Lebensräumen nachweislich meisten Fällen haben sich diese neu nach schädigen 17, 6. Wichtig ist es auch zu beachten, Deutschland gelangten Arten als nicht invasiv dass auch Pflanzen, die in einigen Gegenden erwiesen. Im weltweiten Vergleich hat sich Deutschlands einheimisch sind, in anderen Tei- gezeigt, dass das Gefährdungspotenzial bei len des Landes ursprünglich nicht vorkamen, bestimmten invasiven Arten in Deutschland angepflanzt wurden und sich nun invasiv aus- zwar hoch ist, insgesamt aber als weitaus gerin- breiten, z. B. der Spitz- und der Bergahorn 3, 12. ger zu bewerten ist als bspw. im Falle isolierter tropischer und subtropischer Inseln 12, 17, 19. In der Literatur gibt es recht verschiedene Definitionen von „gebietsfremden Arten“ und Bei Betrachtung der für Mitteleuropa vergan- von „invasiven Arten“. Diese können aber zu genen 7.000 Jahre, also des Zeitraumes seit unterschiedlichen Einstufungen und Bewertun- der Einführung des Ackerbaus, so können fol- gen dieser Arten führen sowie zu Unklarheiten gende Zahlen grob abgeschätzt werden: Auf bei der Einleitung geeigneter Maßnahmen zum 2.000 eingeführte und eingeschleppte Pflanze- Schutz oder zur Bekämpfung solcher Arten 6. narten (Neophyten und Archäophyten) kom- Eine der deutlichsten Definitionen stammt von men etwa 200, die sich früher oder später der CBD (Convention on Biological Diversity: spontan ausgebreitet haben. Von diesen konn- www.cbd.int/invasive), welche festlegt, dass ten sich etwa 50 dauerhaft etablieren, etwa 10 nicht alle gebietsfremden Arten aus Sicht des sogar in naturnaher Vegetation. Etwa einer Naturschutzes als problematisch anzusehen von 2.000 Neuankömmlingen wird zu einem sind, sondern nur solche, die Ökosysteme, Problemfall aus Sicht des Naturschutzes, Lebensräume oder Arten gefährden. Neben der gefährdet die menschliche Gesundheit oder Perspektive des Naturschutzes können schädli- verursacht wirtschaftliche Schäden 2. In der che Wirkungen von Neophyten auch in Hin- Tabelle 2 werden die wichtigsten Auswirkun- blick auf die Wirtschaft und die menschliche gen von invasiven Neophyten auf die Biodi- Gesundheit bewertet werden 2. versität erläutert. 12
Tabelle 2. Auswirkungen invasiver Neophyten auf die Biodiversität (nach Kowarik 3, modifiziert). Wirkungen Prozesse Auswirkungen invasiver Neophyten auf … Individuen, Aufbau der Kon- Niedrigere Häufigkeit (Abundanz), Erlöschen von Individuen Populationen kurrenz zwischen und Populationen, z. B. an Flussufern, auf Magerrasen oder in Pflanzenarten und Wäldern, verminderte Biomasseproduktion Individuen Parasitismus Ausbreitung von Krankheiten (z. B. Baumsterben bei Ulmen) Allelopathie Freisetzung von chemischen Stoffen mit hemmender Wirkung auf die Entwicklung einer anderen Pflanze (Keimung, Wachstum, Differenzierung etc.), inkl. Unterdrückung des Unterwuchses Arten Arealerwei Aufbau und Erweiterung sekundärer Areale von Neobiota terungen (z. B. Indisches Springkraut und die auf die Pflanze angewiesene neozoische Blattlaus Impatientinum asiaticum) Aussterben, Aussterben oder Rückgang einheimischer Pflanzenarten, Unterar- Rückgang ten und Varietäten durch Verdrängung, Kreuzungen (Hybridisie- rung) und Rückkreuzung; negative Wirkungen auf phytophage Insekten (Pflanzenfresser), die an bestimmten Arten und deren Inhaltsstoffe angepasst sind Bildung neuer Kreuzungen zwischen einheimischen und nicht einheimischen genetischer Pflanzen, Übertragung von Genen einer Art in den Genpool einer Formen (Sippen- anderen Art (Introgression), Veränderung des Erbgutes (Mutation); bildung) Entstehung anthropogener Formen (z. B. herbizidresistente Varietäten neophytischer Arten) Lebens Erweiterung des Förderung nitrophiler Pflanzen durch Stickstofffixierung von z. B. gemeinschaften Ressourcen Robinie, Vielblättriger Lupine angebots Einschränkung Benachteiligung von Insekten infolge der Verdrängung von des Ressourcen Nahrungspflanzen durch Neophyten oder durch veränderte angebots Eigenschaften der Pflanzen nach Hybridisierung mit Neophyten; Konkurrenz um Bestäuber; Benachteiligung annueller einheimischer Arten bei der Besiedlung von Brachflächen; Benachteiligung licht- und wärmeliebender einheimischer Arten; Unterdrückung der Verjüngung einheimischer Gehölzarten durch beschattende Neophyten Veränderungen Etablierung neuer Lebensformen (z. B. Bäume statt Sträucher, der Vegetations- Gehölze statt Stauden) in Lebensräumen, wo sie vorher nicht struktur und vorhanden waren; Ausbildung zusätzlicher Vegetationsschichten der Vegetations- (z. B. in Wäldern); dynamik Hemmung oder Beschleunigung von Vegetationsentwicklungen (Sukzessionen) durch bestimmte Neophyten Ökosysteme Veränderungen Beeinflussung der Abflussmengen von Fließgewässern an Ufern, des Wasserhaus- die stark mit Neophyten bewachsen sind; erhöhte Verdunstung in halts Mooren Veränderungen Durch die Ausbildung dichter Strauch- und Baumschichten von des Strahlungs- Neophyten in lichten Wäldern; haushalts Reduzierte Aufheizung der Bodenoberfläche mit Auswirkungen auf die Diversität von Bodenorganismen Veränderungen Förderung der Verlandung durch wuchskräftige Neophyten der Sedimentation 13
Fortsetzung Tabelle 2 Wirkungen Prozesse Auswirkungen invasiver Neophyten auf … Veränderungen Förderung der Erosion an Deichen und Ufern durch Neophyten der Bodenerosion mit geringem Unterwuchs (z. B. Japanischer Staudenknöterich, Topinambur); Festlegung offener Sande (z. B. Kartoffelrose) oder Böschungs festlegung (z. B. Robinie) Veränderungen Veränderung des Stickstoffhaushaltes durch N-fixierende Arten der Nährstoff (z. B. Robinie, Vielblättrige Lupine); Senkung des pH-Wertes durch dynamik und Nadelgehölze (z. B. Weymouth-Kiefer; Gewöhnliche Douglasie); Bodenchemie Veränderung der gesamten Lebensgemeinschaft, mit deutlichen Auswirkungen auf die Vielfalt von Mikroorganismen und Tieren Veränderungen Beschleunigung durch Pionierarten (z. B. Schmalblättriges der Bodenbildung Greiskraut, Sommerflieder); Beeinflussung der Humusbildung (z. B. durch Robinie, Gewöhnliche Douglasie) Hybridisierungen zwischen Neophyten und besondere Relevanz für die menschliche einheimischen Arten werden in Deutschland Gesundheit: der Riesen-Bärenklau (Herkules- erforscht. Derzeit sind 136 Hybriden zwischen staude) und das Beifußblättrige Traubenkraut 83 Neophyten und 111 einheimischen Arten (Ambrosie). Die Pollen des Beifußblättrigen der deutschen Flora bekannt. Die meisten Hyb- Traubenkrauts sind starke Allergieauslöser. Der riden werden von der Kanadischen Goldrute, Riesen-Bärenklau enthält Stoffe die nach der Kartoffelrose, dem Drüsigen Weidenrö- Hautkontakt in Kombination mit Sonnenlicht schen, dem Kanadischen Berufkraut und dem die Haut verbrennen können. Giftige Pflanzen- Italienischen Raygras verursacht. Hybridisie- stoffe enthalten auch die Vielblättrige Lupine, rungen können zur Homogenisierung regional die Späte Traubenkirsche, die Robinie, die differenzierter genetischer Vielfalt führen, im Schneebeere, das Schmalblättrige Greiskraut Extremfall auch zur Auslöschung regionaler sowie der Essigbaum, dessen Milchsaft Haut- Sippen und Arten. Verminderte innerartliche und Augenentzündungen hervorrufen kann 3, 21. Vielfalt durch vereinheitlichte Pflanzungen mit fremden Sorten wurde beispielweise bei Rosen- Wirtschaftliche Schäden können von einem gewächsen (Rubus, Rosa, Crataegus, Sorbus) sehr kleinen Anteil nicht einheimischer Pflan- und bei der Gemeinen Hasel festgestellt. Die zenarten verursacht werden. Diese Schäden Kartoffelrose kreuzt sich in Norddeutschland entstehen bspw. durch Minderung von Erträ- mit der einheimischen Weichen Rose (Rosa gen in der Landwirtschaft und erhöhte Kosten mollis), mit Bildung von hybriden Populatio- bei der Instandhaltung von Straßen-, Wasser- nen, die niedrigere reproduktive Fitness auf- und Schienenwegen. Auch in der Forstwirt- weisen. Die Gemeine Hasel hybridisiert nicht schaft ist der Aufwand groß, wenn Neophyten nur mit nicht lokalen kultivierten Sorten, wie die Spätblühende Traubenkirsche nach sondern auch mit der Art Corylus colurna einer Anpflanzung bekämpft werden müssen 2. (Baumhasel) aus dem Mittelmeer 5, 20, 64. Die Kosten für die Beseitigung der Schäden werden in der EU zwischen 9,6 und 12,7 Milli- Neben Naturschutzproblemen können einige arden Euro pro Jahr eingeschätzt. In Deutsch- Neophyten Gesundheitsprobleme bei Men- land lagen die Kosten für die volkswirtschaftli- schen verursachen. Zwei Neophyten besitzen chen Belastungen von 20 untersuchten gebiets- 14
fremden Arten im Jahr 2002 bei rund 167 Mil- als invasiv oder potentiell gelten, sind der lionen Euro (www.bund.net). Japanische Staudenknöterich, die Späte Trau- benkirsche, die Robinie, das Beifußblättrige 1.7 Vielfalt der Neophyten und Traubenkraut und der Riesen-Bärenklau 24, 25. Auswirkungen in NRW und in Bonn In 200 repräsentativ über die Landesfläche verteilten nordrhein-westfälischen Dörfern Die Florenliste von Nordrhein Westfalten ent- wurde eine floristische Untersuchung aus den hält 2.095 Sippen von Farn- und Blütenpflan- 1980er Jahren nach etwa 20 Jahren wieder- zen, davon sind 212 etablierte Neophyten holt. In den Jahren 2004-2005 wurden zahlrei- (10,1 %). Die Zahl der Neophyten hat in den che Neophyten nachgewiesen, die sich ausge- letzten zwei Jahrzehnten im Land NRW weiter hend von Gärten ausbreiteten (Gartenflücht- zugenommen. Grund dafür sind der zuneh- linge). Sie bilden ca. 5 % der gesamten Flora mende Handel und Verkehr sowie wahrschein- der Dörfer. Viele dieser Arten sind aufgrund lich Klimaveränderungen. In der Regel ist ihrer Ökologie und Herkunft an felsige und nur die Erfassung der etablierten Neophyten zum Teil auch trockene Standorte wie Mauern möglich 22, 23, 24. Die allermeisten Neophyten sind allerdings aus Sicht des Naturschutzes und Pflasterritzen angepasst und bevorzugen unschädlich und sind eher als Bereicherung die für Dörfer und Städte typischen warmen denn als Gefährdung der Biodiversität in NRW Bedingungen 23. zu bewerten 25. Auch die Bonner Flora besitzt einen größeren In Deutschland gelten 38 Neophyten als inva- Anteil an Neophyten mit insgesamt 188 Arten siv bzw. 42 als potentiell invasiv 5. In Nord- im Stadtgebiet (17 % aller in Bonn vorkom- rhein-Westfalen werden ca. 21 davon mehr menden Gefäßpflanzenarten). Nur wenige Neo- oder weniger als „invasiv“ eingestuft. Eine phyten kommen in den Bonner Wäldern vor. Liste dieser Arten mit Bewertung der Invasivi- Besonders viele Neophyten besiedeln dagegen tät ist auf dem Neobiota-Portal des Landesam- gestörte Lebensräume wie Weg- und Straßen- tes für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz ränder, Bahndämme oder von Natur aus hoch- Nordrhein-Westfalen (LANUV) zu finden. gradig dynamische Fluss- und Bachufer. Am Das Portal informiert über die invasiven und Bonner Rheinufer sind Neophyten häufig und potentiell invasiven Pflanzen und Tiere Nord- in großer Artenzahl vorhanden, oft sogar rhein-Westfalens. Es werden Fundortdaten aspektbestimmend (über 35 Arten, ca. 8,5 % gesammelt sowie Informationen und Verbrei- der über 400 am Rhein wachsenden Arten) 26, 27. tungskarten zu verschiedenen Arten angebo- Die starke Überformung des Rheinufers, das ten 24, 25. Beispiele von Neophyten, die in NRW Vorhandensein vegetationsfreier Flächen, das jährliche Hochwasser, das Samen, Früchte und Rhizome transportiert und Sedimente ablagert, sowie die starke Zufuhr von Nährstoffen, geben Neophyten gute Möglichkeiten zu wachsen. Die häufigsten Arten sind hier das Schmalblättrige Greiskraut, das Indische Springkraut, die Neubelgische Aster und die nordamerikanischen Goldrutenarten 27. Im Bonner Stadtgebiet werden nur wenige Arten als invasiv bewertet, wie das Indische Springkraut und der Japanische Staudenknöte- rich 27. Zwei Neophyten, die gesundheitliche Goldruten am Rheinufer in Bonn Probleme bei Menschen verursachen können, 15
Riesen-Bärenklau und Beifußblättriges Trau- benkraut, sind auch weit verbreitet. Weiterhin zählen Kanadisches Berufkraut, Strahllose Kamille sowie verschiedene Gräser zu den häufigen Neophyten in Bonn. Verschiedene neophytische Kulturbegleiter, Nutz- und Zier- pflanzen kommen ebenfalls häufig vor, vor- wiegend am Rande von Äckern und Gärten, in Kiesgruben oder auf anderen Ruderalflächen, und sind z. T. eingebürgert (Feige, Kürbisarten, Tomate, Nachtkerzen) 27. Nach wie vor bestehen jedoch noch Wissens Robinien-Bestände im Birlinghovener Wald, lücken hinsichtlich des Vorkommens, der Rhein-Sieg-Kreis Verbreitung und der ökologischen Ansprüche gebietsfremder Arten in Nordrhein-Westfalen. Diese Unterschiede in den Naturschutzzielen Die Verfügbarkeit weiterer Daten über Neophy- führen zu unterschiedlichen Bewertungen und ten ist von großer Bedeutung für die Wissen- Aktionen in der Praxis 16. Konzepte und Ziele schaft sowie für die naturschutzfachliche des Naturschutzes in Hinblick auf gebiets- Bewertung und Planung. fremde Arten können wie folgt zusammen gefasst werden (nach Kowarik 16): 1.8 Wie werden invasive Arten behandelt? Der bewahrende Naturschutz hat als Ziel, den Schutz der vorhandenen ursprünglichen sowie Invasive Arten sind ein wichtiges und aktuelles traditionell-kulturlandschaftlichen Naturele- Thema bei verschiedenen Disziplinen und mente vor jeglicher Veränderung. Deswegen Akteuren. Sie finden Berücksichtigung im bewertet der bewahrende Naturschutz alle Naturschutz, in der Forschung, in der Politik gebietsfremden Arten grundsätzlich als nega- und in der Öffentlichkeit. tiv, auch ohne konkrete Beweise über negative Auswirkungen. Beim dynamischen Natur Naturschutz schutz werden Veränderungen als Wesens- Bei invasiven gebietsfremden Arten werden merkmal der Natur angesehen, und die Natur- häufig Naturschutz- bzw. Bekämpfungsmaß- dynamik wird gefördert. Daher akzeptiert der nahmen eingeleitet 28. Diese sind von Fall zu dynamische Naturschutz alle gebietsfremden Fall sehr unterschiedlich, da die Auswirkun- Arten als unproblematischen Teil einer dyna- gen invasiver gebietsfremder Arten regional mischen Natur, bisweilen selbst in National- und in verschiedenen Lebensräumen stark parks. Der bewahrend-dynamische Natur variieren. Außerdem sind nicht immer ausrei- schutz versucht, sowohl vorhandene Naturele- chend Daten und Informationen verfügbar, um mente zu bewahren als auch die Naturdyna- die Auswirkungen einzelner Arten einzuschät- mik, einschließlich der kulturell geprägten zen und Maßnahmen sinnvoll zu planen. Pro- Dynamik, zu schützen. Bei vielen Transforma- bleme entstehen häufig auch bei der Defini- tionsprozessen der Natur und der Landschaften tion des Wertes betroffener Naturelemente entstehen neue Arten, Lebensräume oder gene- (Arten, Lebensräume, genetische Vielfalt), der tische Sorten, die bei künftiger Gefährdung sehr unterschiedlich sein kann. Beispielsweise schutzbedürftig werden. Nach dieser Ansicht werden Robinien in einigen Gebieten Berlins sind auch Arten schutzwürdig, die nach 1492 aufgrund ihrer Invasivität in Trockenrasen nach Europa gelangten oder hier entstanden beseitigt, auf anderen Flächen in der Stadt sind. Eine Transformation ist nicht in allen werden sie aber sogar als Bestandteil von Fällen als negativ zu sehen, da sie eine Anpas- dynamischen urbanen Wäldern geschützt. sungsleistung an kulturelle sowie natürliche 16
Umweltveränderungen darstellt. Differenzierte gebietsfremder Arten, sollten potentiell gefähr- Bewertungen der gebietsfremden Arten neh- liche Arten nicht in der freien Landschaft aus- men heute an Bedeutung zu, nur gegen prob- gebracht werden, um Ausbreitungen vorzubeu- lematische Arten werden Maßnahmen einge- gen. Auch wenn eine Art aktuell als nicht leitet. Etablierte wild lebende gebietsfremde invasiv gilt, könnte sie in Zukunft problema- Arten können ebenso wie einheimische Arten tisch werden. Ausbreitungsprozesse können schutzwürdig sein, wenn sie selten oder mehrere Jahrzehnte dauern oder auch mit lan- gefährdet sind 16. ger zeitlicher Verzögerung überhaupt beginnen. In Lebensräumen, in denen diese Pflanzen Gegen gebietsfremde Arten sollen nur dann schädlich wirken können, sollten sie kontrol- Maßnahmen ergriffen werden, wenn sie sich liert oder in besonders schweren Fällen ggf. invasiv verhalten und die Biodiversität gefähr- lokal beseitigt werden 16. Allerdings ist das den. Dabei sind die Einzelfälle genau zu analy- schwer umzusetzen, da das Bundesnaturschutz- sieren, und es ist eine Kosten-Nutzen-Abwä- gesetz (BNatSchG 30) alle Neophyten von einem gung zu treffen. Der Aufwand und die tatsäch- vorbeugenden Ausbringungsverbot ausnimmt, lichen Vorteile von Naturschutzmaßnahmen die in der Land- und Forstwirtschaft angebaut und Bekämpfungen sollten gegeneinander werden (kein Erfordernis einer behördlichen abgewogen werden. Sowohl Risiken als auch Genehmigung). Um das Risikopotential ver- der Wert der gefährdeten Naturelemente spielen bindlich und methodisch einheitlich einschät- eine Rolle bei dieser Einschätzung. Das Gefähr- zen zu können und rechtzeitig präventive Maß- dungspotential ist differenziert nach Regionen nahmen zu planen, können Listen invasiver und betroffenen Biotopen zu analysieren. und potentiell invasiver Arten ein hilfreiches Gegenmaßnahmen sollen nur in solchen Informationsinstrument sein 16, 31. Für eine Regionen und Biotopen ergriffen werden, in erfolgreiche Prävention sind nicht nur Gesetze denen eine naturschutzfachlich begründete und deren konsequente Anwendung, sondern Handlungsnotwendigkeit festgestellt wurde. auch Informationen über invasive und potenti- Aufwand und Kosten der Maßnahmen müssen ell invasive Arten (z. B. mittels Datenbanken, in Hinblick auf den erwarteten Nutzen verhält- Webseiten und Veröffentlichungen) sowie Auf- nismäßig sein. Außerdem sollten die Maßnah- klärung über Risiken durch Öffentlichkeitsar- men nachhaltig sein und nicht nur kurzfristig beit besonders wichtig. Auch Selbstverpflich- Erfolge anstreben. Bei Robinien kann z. B. tungen spielen eine Rolle. In Deutschland eine Entfernung älterer Bestände in den meis- haben z. B. der Gartenbau und die botanischen ten Fällen kurz- und mittelfristig nicht zum Gärten freiwillige Verhaltensregeln zu invasi- gewünschten Erfolg führen, da sich Stick- ven Arten erarbeitet. Es handelt sich hier um stoffanreicherungen im Boden langfristig aus- unverbindliche Richtlinien zum Umgang mit wirken. Großflächige Bekämpfungen sind sehr invasiven Arten 32. schwierig und zumeist nicht realisierbar 16. Sind Bekämpfungsmaßnahmen schwierig, mit gro- Forschung ßem Aufwand verbunden und wenig erfolgver- Forschung zu Neophyten und invasiven Arten sprechend, werden sie abgelehnt 12, 16, 24, 29. Die wird an vielen Forschungseinrichtungen in Methoden der Bekämpfung sind sehr unter- Deutschland durchgeführt 4. Bearbeitet werden schiedlich (chemisch, mechanisch, biologisch) Fragen nach den Ursachen und Mechanismen je nach Art und Ausbreitungs- bzw. Vermeh- der Ausbreitung gebietsfremder Arten, nach rungsstrategie. Da Bekämpfungen nicht das den Verbreitungsmustern und Auswirkungen Ziel dieses Projektes sind, werden ihre Metho- dieser Arten auf Biodiversität und Ökosystem- den in der Broschüre nicht behandelt. funktionen. Außerdem werden standardisierte Bewertungsverfahren der Invasivität von Neo- Präventive Maßnahmen sind in der Regel phyten und Empfehlungen für deren Manage- viel effektiver als Bekämpfungsmaßnahmen 12. ment entwickelt. Von zunehmendem Interesse Trotz einer generellen Tendenz zur Akzeptanz sind auch Untersuchungen über Hybridisierun- 17
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