Medical Humanities in Deutschland - komplementäre und kritische Beiträge zur Medizin
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Focus: Medical HuManities Originalartikel Medical Humanities in Deutschland – komplementäre und kritische Beiträge zur Medizin Walter Bruchhausena a Medizinhistorisches Institut, Bonn besteht jedoch die Frage, wie auch nichtnaturwissen- Zusammenfassung English and French abstracts see p. 141 schaftliche Gegenstandsbereiche der Medizin wissen- schaftlich erforscht oder reflektiert in Studium und Versuche, geisteswissenschaftliche Themen im deutschen Medizinstu- Praxis der Medizin eingebracht werden können, was dium zu stärken oder zu etablieren, beziehen sich auch auf das anglo- zu verschiedenen Institutionalisierungen führte. So ha- phone Konzept der Medical Humanities. Dabei darf in Deutschland die ben viele Ärzte Psychologie oder Seelenkunde als Teil an fast allen medizinischen Fakultäten vertretene Medizingeschichte als ihrer praktischen und wissenschaftlichen Tätigkeit be- wichtigster institutioneller Ausgangspunkt gelten. Von ihr aus konnte trieben, vor allem seit der Spätaufklärung und Roman- und kann für die studentische Lehre Medizin in Ethnologie und Kultur- tik. Durch die Mortalitätsforschung Ende des 19. Jahr- anthropologie, Literatur, Film und Philosophie, teilweise auch in der Re- hunderts und in der ärztlichen Sozialhygiene zwischen ligion erschlossen werden. Die so erweiterten Perspektiven auf das Feld den Weltkriegen wurden die Sozialwissenschaften in der Medizin betreffen vor allem die Arzt-Patienten-Beziehung, das Er- die Medizin einbezogen. Mit den Reformen des Medi- leben und Bewältigen von Krankheit, die gesellschaftlichen Kontexte so- zinstudiums seit den 1970er Jahren stiegen Medizini- wie die kontroversen Konzeptualisierungen von Medizin und Krankheit. sche Soziologie und Medizinische Psychologie zu Im Vergleich mit gängiger Bioethik geht es den Medical Humanities Pflichtfächern auf. Für den Kanon solcher Fächer eta- häufig eher um die Erschliessung (neuer oder zusätzlicher) humaner blierte sich, wohl auch als Folge einer Diskreditierung bzw. moralischer Ressourcen als um deren Regulierung in Form von des Begriffs Anthropologie durch die Rassenhygiene, Strukturierung und Kodifizierung. Mit einer jüngeren Orientierung hin der Oberbegriff «Humanwissenschaften». Im engli- zu empirischer Medizinethik auch in Deutschland kann es hier jedoch schen Sprachraum werden solche Fächer (als human neue Annäherungen geben. sciences) ebenfalls zunehmend zu den Humanities ge- Schlagworte: Medical Humanities; Medizinstudium; Deutschland; Me- zählt, die ursprünglich nur die Geisteswissenschaften, dizingeschichte; Bioethik vor allem Sprachen, Geschichte und Philosophie, um- fassten und aus den frühneuzeitlichen Studia humani tatis bzw. humaniora oder Litterae humaniores her- Wenn es um mögliche Defizite in der ärztlichen Ausbil- vorgegangen waren. Diese begriffliche Unschärfe von dung und der Medizin insgesamt geht, wird seit einigen Humanities schwingt auch beim Begriff der Medical Jahren auch in Deutschland der Begriff Medical Huma Humanities mit, gleichsam als engerer und weiterer nities ins Spiel gebracht [1]. Die akademische Debatte Sinn des Konzepts, und hat zu unterschiedlichen Stoss- darum, was die Medizin über ihre humanbiologischen richtungen geführt. Ihnen ist dennoch weiterhin die und klinischen Kernfächer hinaus braucht, um ihrer grundsätzliche Frage gemeinsam, wie sich im Medizin- praktischen Aufgabe gerecht zu werden, ist jedoch studium solche Themenfelder analog und komplemen- weitaus älter. Dass die Medizin nicht nur Naturwissen- tär zur naturwissenschaftlichen Ausbildung einbringen schaft sein dürfe oder könne, gehört seit über einhun- können. Angesichts der weitgehend getrennten Institu- dert Jahren zu den Allgemeinplätzen, wenn eine Besin- tionalisierung, die Humanwissenschaften einerseits nung auf die Anforderungen an den ärztlichen Beruf und Geistes- bzw. Kulturwissenschaften andererseits in erfolgt. Sogar beim renommierten Internisten Bern- der deutschen Universitätsmedizin erfahren haben, hard Naunyn, dessen Bekenntnis zum Satz «Die Medi- wird sich dieser Beitrag vorwiegend auf Letztere kon- zin wird Wissenschaft sein, oder sie wird nicht sein» zentrieren, mit der Medical Anthropology als potentiell [2] von 1905 häufig zitiert wurde und noch immer zu beiden gehörendem Feld. wird, lautete die Warnung vor einem Missverständnis der Medizin als blosser Naturwissenschaft: «Dazu steckt ihr die Humanität zu tief im Blut» [3]. Doch wo- Medical Humanities in Deutschland, her kommt diese Humanität? Bei Naunyn ergab sie Grossbritannien und den USA sich ganz einfach daraus, dass der Arzt als Mensch beim Kranken auch dort, wo die Naturwissenschaft In Deutschland haben Themen, die unter die Medical ihm keine ausreichende Entscheidungsgrundlage bie- Humanities im engeren Sinne fallen, durch die Ärztli- ten kann, handeln muss. Darüber hinaus bestand und che Approbationsordnung von 2002 mit ihrer Neu- Bioethica Forum / 2011 / Volume 4 / No. 4 135
Focus: Medical HuManities strukturierung des Medizinstudiums eine erhebliche zin, wie K. Danner Clouser an der Pennsylvania State institutionelle Aufwertung erfahren. Zuvor gab es keine University oder Loretta M. Kopelman an der East Caro- teilnahmepflichtigen Lehrveranstaltungen, lediglich lina University, beschäftigten sich schon früh promi- eine freiwillige Vorlesung in Medizingeschichte und nent mit Bioethik. In einflussreichen Konzeptionen wenige Multiple-Choice-Fragen zum entsprechenden wurden unter dem Begriff Medical Humanities die drei Gegenstandskatalog im Staatsexamen. Jetzt sieht konstituierenden Teilbereiche Humanities (im engeren schon der § 1 unter den Zielen der ärztlichen Ausbil- Sinne, aber einschliesslich Philosophie und Religion), dung ausdrücklich vor, Social sciences und Arts zusammengefasst [7], eine Unterscheidung, die das deutsche Universitätssystem – Grundkenntnisse der Einflüsse von Familie, Ge traditionell so nicht kannte. Entsprechend des damali- sellschaft und Umwelt auf die Gesundheit, die Or gen Bemühens um Einschluss auch unmittelbar nor- ganisation des Gesundheitswesens und die Bewäl mativer Disziplinen lautete der Titel der in New York tigung von Krankheitsfolgen, erscheinenden Fachzeitschrift von 1985 bis 1998 Jour nal of Medical Humanities and Bioethics, seitdem, bei – die geistigen, historischen und ethischen Grund Springer in Amsterdam angesiedelt, nur noch Journal lagen ärztlichen Verhaltens auf der Basis des ak of Medical Humanities. tuellen Forschungsstandes zu vermitteln. Der britische Begriff der Medical Humanities, der sich Neben Anteilen dieser Aufgabenstellung in verschiede- im gleichnamigen Titel einer Fachzeitschrift (einer seit nen Fächern, insbesondere den schon erwähnten Me- 2000 zweimal jährlich erscheinenden Ausgabe des dizinische Psychologie und Medizinische Soziologie, ist Journal of Medical Ethics), mehreren Universitätsein- ein eigener obligatorischer und mit Benotung abzu- richtungen und einer Fachgesellschaft niedergeschla- schliessender Querschnittsbereich «Geschichte, Theo- gen hat, versteht sich hingegen noch stärker als eine an rie, Ethik der Medizin» (GTE) eingeführt worden. breiter Bildung orientierte Ergänzung und Kritik stark Diese Zuordnung der Theorie und Ethik zur Geschichte entindividualisierender Wissenschaft, wie sie neben war durchaus konsequent, hatten doch im deutsch- Naturwissenschaft und Technik auch Teile von Sozial- sprachigen Raum an den meisten medizinischen Fa- wissenschaften und Bioethik darstellen. Alle englisch- kultäten die medizinhistorischen Institute die bis dahin sprachigen Ansätze scheinen jedoch heute darin über- freiwilligen Lehrangebote auch zu medizinethischen einzustimmen, dass sie «jenseits» blosser Bioethik Themen angeboten [4] und – neben der Psychosomatik Bildungserfahrungen für angehende und praktizie- [5] – die eher vereinzelten Versuche einer ausdrückli- rende Angehörige der Gesundheitsberufe ermöglichen chen Medizintheorie beherbergt. Doch nicht zuletzt wollen [8]. aufgrund von medizinethischen Professionalisierungs- Der Begriff der Medical Humanities bleibt damit mehr- bemühungen – und das heisst zumeist auch Abgren- deutig, nicht zuletzt auch in den Erwartungen, die er zungsversuchen – erwies sich die Konzeption dieses gerade ausserhalb des Englischen weckt. Denn dort, «Bereichs» (der Gesetzgeber hat nicht den Begriff wo Humanities nicht als eher institutionell-beschrei- «Fach» gewählt) als umstritten. So entstand neues In- bender Oberbegriff für die nichtnaturwissenschaftliche teresse am Begriff der Medical Humanities. Er sollte Erforschung des Menschen und seiner Hervorbringun- vor allem in den Augen einiger Medizinhistoriker eine gen etabliert ist, lässt er in einem normativen Sinne übergreifende Gemeinsamkeit benennen. Denn der Hoffnungen auf einen Beitrag zur immer wieder gefor- Querschnittsbereich wurde teilweise als zu divers emp- derten Humanisierung der Humanmedizin aufkom- funden, weil er empirische, systematische und norma- men. In Deutschland, wo das «humanistische Gym- tive Ansätze aus verschiedenen Fachgebieten der phi- nasium» durch den altsprachlichen bzw. antiken losophischen Fakultät umfasste. Schwerpunkt in Bildung und Erziehung lange Zeit das Bei diesem Vereinigungsversuch wurde gerne überse- Begriffsfeld Humanismus besetzte, kommt ein gewisses hen, dass sich aus der eingangs erwähnten Begriffsge- Moment an Kritik der (technischen) Moderne hinzu. Da schichte hinter dem Wort Medical Humanities mindes- es zudem im deutschen Sprachraum keine zusammen- tens zwei recht unterschiedliche Ansätze verbergen, fassende Institutionalisierung von Medical Humanities die sich zudem von deutschen Konzeptionen der betei- gibt – sei es durch eine Fachzeitschrift, durch Fachta- ligten Gebiete deutlich unterscheiden. Beide, der äl- gungen, eine Fachgesellschaft oder gar eine universi- tere, eher amerikanische, und der jüngere, zunächst täre Einrichtung – und der Begriff unübersetzbar britische Ansatz, umfassen ganz zentral auch die schö- bleibt, scheint es sinnvoller, für eine Erörterung kultur- nen Künste (Arts), die in Deutschland in der ärztlichen wissenschaftlicher Themen der Medizin nicht (nur) den Ausbildung bisher allenfalls eine untergeordnete Rolle im Deutschen derart missverständlichen Oberbegriff spielen. Der nordamerikanische Ansatz schien dabei Medical Humanities zum Ausgangspunkt zu machen, eher die Strategie eines umfassenden Gegenbegriffs sondern diejenigen akademischen Bereiche, die er ab- zur dominierenden naturwissenschaftlichen Behand- deckt, also medizinische Themen in Sprachen, Litera- lung der Medizin im Blick zu haben [6]. Viele dortige tur und Geschichte, Philosophie und Religion, Volks- Inhaber von Professuren für Humanities in der Medi- und Völkerkunde, bildender und darstellender Kunst. Bioethica Forum / 2011 / Volume 4 / No. 4 136
Focus: Medical HuManities Dabei sollen für Deutschland sowohl die einzelnen Ge- neue naturwissenschaftliche Grundlegung obsolet ge- biete, die im Englischen unter Medical Humanities ver- worden war. In diesem Zeitalter, in dem sich die Ge- standen werden, als auch ihre mögliche Einheit be- schichtswissenschaft als Lieferant für die Gründungs- trachtet werden. Die Frage ihres Beitrags zur ärztlichen mythen von Moderne und Nationalstaat etablierte, Ausbildung wird eine grössere Rolle spielen als etwa konnte auch die Medizin als zentrales Element dieser ihre Bedeutung für die ärztliche Praxis, den gesell- Moderne nicht ohne die historische Überhöhung aus- schaftlichen Umgang mit Krankheit oder gesundheits- kommen. politische Entscheidungsprozesse spielen. Inzwischen ist die Medizingeschichte zu einem auch Die Frage, ob und wie solche Bereiche in die ärztliche methodisch und theoretisch anspruchsvollen Bereich Ausbildung zu integrieren sind, hat dabei zunächst die geworden, der im engen Austausch mit verschiedenen Vorgeschichte ihres Ein- und Ausschlusses zu berück- Fächern der philosophischen Fakultäten und insbeson- sichtigen. Bis zum Ersatz des Tentamen philosophicum dere durch die Aufnahme von Ansätzen aus Cultural durch das Tentamen physicum im Deutschland des Studies und neuer Kulturgeschichte die Medizin und späten 19. Jahrhunderts, in Preussen 1861, war zu- ihre gesellschaftliche Bedeutung in vielfältiger Weise in mindest noch ein rudimentäres Bewusstsein dafür ge- den Blick nimmt. Da die Medizingeschichte auf Verän- blieben, dass der akademische Arzt ein allgemein ge- derungen und Kontexte besonderen Wert legt, ist sie in bildeter Mensch sein sollte, ursprünglich sogar vor der heutigen Situation besonders geeignet, das für eine seiner berufsbezogenen Spezialisierung auch die freien zeitgemässe Gesundheitsversorgung notwendige Be- Künste, darunter die «trivialen» sprachlichen und phi- wusstsein für die gesellschaftliche Abhängigkeit, Plura- losophischen Disziplinen sowie im «Quadrivium» zu- lität und Dynamik von Medizin in Wissenschaft wie dem Musik studiert haben sollte. Danach blieb als klas- auch Praxis zu wecken und zu schärfen. Sie erfüllt eine sisches geisteswissenschaftliches Fach der Medizin nur zentrale kritische Funktion für übliche Denkweisen in- die Geschichte der Medizin, die deshalb in Deutschland nerhalb und gegenüber der Medizin, wenn sie verbrei- auch am besten etabliert ist. Für die übrigen Geistes- tete Vorstellungen von Erwerb, Zuverlässigkeit und wissenschaften war eine Nutzung schwieriger, weil sie Dauerhaftigkeit wissenschaftlichen Wissens, von der nicht in gleicher Weise zur Verständnishilfe und Legiti- Alleingültigkeit eines Paradigmas oder der Unzweideu- mation der Medizin als Wissenschaft zu verwenden tigkeit von Fortschritt an empirisch sehr gut belegten waren. In der Literatur tauchte die Medizin vielfältig Beispielen widerlegt. gebrochen auf, einer der bis heute bedeutendsten Ro- mane zur Medizin, Thomas Manns Zauberberg, erntete seinerzeit vernichtende Kritik von ärztlicher Seite. Von Von Volks- und Völkerkunde zur Kultur- der Religion suchte sich die «rationale Medizin» wei- anthropologie der Medizin terhin strikt abzugrenzen, der Kontakt zur Philosophie blieb auf einige Grenzgebiete, vor allem die Psychiatrie Geistes- bzw. kulturwissenschaftliche Ansätze, die sich beschränkt. mit zeitgenössischer universitär gelehrter Medizin be- schäftigen, waren lange Zeit nicht gefragt. Die Völker- kunde und die Volkskunde, die das anhaltende Inter- Medizingeschichte als deutsche Mutter der esse verschiedener Ärzte erregt haben [9], bestanden Medical Humanities für die Heilkunde vor allem in umfassenden Sammlun- gen «volksmedizinischer» Ideen und Verfahren [10]; Von den unter Medical Humanities firmierenden geis- die ihnen gegenüber eingenommene, insgesamt ab- teswissenschaftlichen Fächern hatte es also die Ge- wertende Perspektive war Ausdruck eines heute nicht schichte (der Medizin) am leichtesten, im Fächerkanon mehr zeitgemässen überzogenen Deutungsanspruchs des Medizinstudiums zu bleiben. Denn sie erfüllte der akademischen Medizin. In Form der anglophonen lange Zeit, bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts, eine Medical Anthropology und der wesentlich kleineren direkt propädeutische Funktion für unterschiedliche deutschsprachigen Fachgebiete der Ethnomedizin/Me- Gebiete der späteren ärztlichen Tätigkeit. Professoren dizinethnologie und der medizinbezogenen europäi- verschiedener medizinischer Disziplinen übernahmen schen Ethnologie/Kulturanthropologie, früher eher un- die entsprechende Vorlesung im Nebenamt. Das Stu- ter dem Titel Volkskunde, haben hingegen die jüngeren dium älterer medizinischer Autoren sollte im Sinne ei- Erben dieser Gebiete nach etwa 1970 erheblich dazu nes Voranschreitens vom Einfacheren zum Komplexe- beigetragen, dass neben nichtärztlichen Heilern auch ren schrittweise an die aktuellen Lehren heranführen. das Erleben, Denken und Handeln von Patienten und Ein naives Fortschrittsdenken ist darin unübersehbar, allgemeiner Bevölkerung in Fragen von Gesundheit, Ehrfurcht vor den grossen Errungenschaften der Medi- Krankheit und Heilung angemessen wahrgenommen zin wurde so geweckt. An die letzte Funktion konnte wird [11]. Ethnographische Studien zur modernen dann die professionalisierte Medizingeschichte um High-Tech-Medizin kamen hinzu. In den USA wurde 1900 anknüpfen, als der geschilderte didaktische Nut- die Medical Anthropology, die allerdings auch viele zen einer Lektüre medizinischer Klassiker durch die Themen unserer Medizinsoziologie beinhaltet, in den Bioethica Forum / 2011 / Volume 4 / No. 4 137
Focus: Medical HuManities meisten Medical Schools ins Curriculum integriert. In mit philosophischen Fragen gesehen werden. Der Ner- Deutschland hingegen machen nur wenige medizini- venarzt Karl Jaspers verlegte sich ganz auf die Philoso- sche Fakultäten entsprechende Unterrichtsangebote, phie und wurde zu einem der bekanntesten deutschen obwohl nicht zuletzt Migration und Globalisierung Philosophen des 20. Jahrhunderts. Die seinen Namen auch hier wachsenden Bedarf für eine kultursensible tragende Professur in Heidelberg wird derzeit zu einem Herangehensweise in der ärztlichen Tätigkeit schaffen. neuen Kristallisationspunkt der Beziehungen zwischen Ausserdem zeigt die eigene Unterrichtserfahrung, dass Medizin und Philosophie. für Medizinstudierende mit nachlassender Vorbildung Einen letzten Höhepunkt philosophischen Fragens in- durch schulischen Unterricht in antiker Welt und Ge- nerhalb der Medizin bildeten in der Zwischenkriegs- schichte die heutige räumliche kulturelle Differenz oft- zeit, die auch als «Krise der Medizin» empfunden mals einen leichteren Einstieg darstellt als die histori- wurde [14], die Bemühungen um eine anthropologi- sche, um gegenüber dem naturwissenschaftlichen sche Medizin seitens der «Heidelberger Schule der Psy- Universalitätsanspruch die Kontextgebundenheit me- chosomatik», die durch Ludolf von Krehl begründet dizinischen Denkens und Entscheidens zu vermitteln. wurde. Vor allem die Schriften Viktor von Weizsäckers, Dass heute lebende Menschen in anderen Teilen der der als Vertiefung seiner anerkannten naturwissen- Gesellschaft oder der Welt manche gesundheitlichen schaftlichen und klinischen Forschung eine Erneue- Zustände und medizinischen Massnahmen ganz an- rung der Medizin aus der philosophischen Reflexion ders sehen und bewerten, ist für viele eindrucksvoller anstrebte, werden bis heute von praktizierenden Ärz- zu erfahren als im Fall von Ärzten und Patienten frühe- ten gelesen und auf aktuelle therapeutische Fragen be- rer Zeiten. zogen. Weizsäckers Werk enthält sicher viele nicht Bei der Aufgabe, für mögliche Unterschiede zwischen überholte Einsichten in die Arzt-Patienten-Beziehung Arzt und Patient in Sicht- und Handlungsweisen zu oder das Krankheitserleben. Einige seiner Anliegen sensibilisieren, können kulturanthropologische Stu- sind inzwischen in die Psychosomatik eingegangen, dien zur Medizin einen wichtigen Beitrag leisten. Das was dazu beigetragen haben mag, dass weniger Veran- gilt nicht nur für die Ergebnisse und Theorien einzel- lassung empfunden wird, die Lektüre seiner zudem oft- ner Studien, sondern vielleicht noch mehr für den eth- mals etwas sperrigen Schriften im Medizinstudium un- nographischen Ansatz der teilnehmenden Beobach- terzubringen. tung als solchen. Denn diese eher offene Haltung kann Überhaupt dürfte in den sprachlichen und gedankli- insbesondere in neuartigen Situationen eine äusserst chen Anforderungen der Philosophie, die neben ent- hilfreiche Ergänzung zur gängigen ärztlichen Heran- sprechender Begabung und Neigung doch auch einiges gehensweise an den Patienten sein, da diese durch an begrifflicher Propädeutik verlangt, einer der Haupt- ihre starke Vorstrukturierung zu einer vorzeitigen Ein- gründe dafür liegen, dass ein gemeinsames Lesen phi- engung dessen, was als relevant wahrgenommen wird, losophischer Texte nicht zum breitentauglichen Mittel führen kann. der Medical Humanities werden kann. Philosophie bleibt 150 Jahre nach Abschaffung des Tentamen phi losophicum allenfalls einzelnen Medizinstudierenden Medizin und Philosophie zugänglich, sollte diesen aber vielleicht häufiger er- möglicht werden [15]. Das «philosophische Café» ist Im Unterschied zum angloamerikanischen Raum, dem bisher kein Erfolgsmodell in der deutschsprachigen der Philosoph Robert M. Veatch einen 170-jährigen Ge- Medizin. sprächsabbruch zwischen Philosophie und Medizin bescheinigte [12], hat es im deutschen Sprachraum immer vielfältige enge Verbindungen zwischen diesen Medizin und Literatur beiden Fächern gegeben [13]. Noch Anfang des 19. Jahrhunderts waren in alter Gelehrtentradition ei- Neben den Verbindungen zu Geschichte, Volks- bzw. nige Mediziner zugleich akademische Philosophen ge- Völkerkunde und Philosophie bestanden und bestehen wesen, so etwa Joseph Görres als Gymnasial- und viele Berührungspunkte der Medizin zur fiktionalen Hochschullehrer in Koblenz und München oder Karl Literatur. Dies zeigt sich u.a. darin, dass verschiedene Hieronymus Windischmann in beiden Fakultäten der deutsche Romanschriftsteller Ärzte waren und ent- neu gegründeten preussischen Reformuniversität sprechende Themen aus Studium und Praxis verarbei- Bonn. In der nächsten Generation waren bedeutende tet haben, von Friedrich Schiller über Georg Büchner naturwissenschaftliche Ärzte wie Johannes Müller in bis zu Alfred Döblin. Umgekehrt haben die existentiel- ihrem Studium noch von den naturphilosophischen Ge- len Fragen, die in der Medizin, und nicht zuletzt der danken Schellings massgeblich inspiriert worden. Spä- Psychiatrie, auftreten, wiederholt die bedeutendsten ter griffen auch rein naturwissenschaftlich ausgebil- Literaten beschäftigt, neben dem schon erwähnten dete Ärzte z.B. die Philosophie Friedrich Nietzsches Thomas Mann auch Gerhard Hauptmann, Alexander auf. Weite Teile der deutschen Psychiatrie und der Psy- Solschenizyn und Heinrich Böll. Aus der Einsicht, wel- choanalyse können als ärztliche Auseinandersetzung ches Reflexionspotential die Dichtung für die Medizin Bioethica Forum / 2011 / Volume 4 / No. 4 138
Focus: Medical HuManities bietet, sind schon seit langem gezielte Leseanreize ken und Aufführungen machen diese Bereiche zu einer für Ärzte entstanden, so 1950 aus der Heidelberger guten, wenngleich im Vergleich mit Geschichte und Schule durch den Neurologen und Allergologen Karl Literatur seltener für den Unterricht genutzten Mög- Hansen im Lesebuch für Ärzte [16] und darauf aufbau- lichkeit, weitere Perspektiven auf die Medizin zu eröff- end 1987 «Lesevorschläge» des Internisten Felix An- nen. Denn gerade die visuelle Ausrichtung der ärztli- schütz im Rahmen seines breiten Interesses am ärzt- chen Ausbildung kann Medizinstudierende für den lichen Handeln [17]. Ausdruck von Not und Schmerz, Hilflosigkeit und Ver- Zur gleichen Zeit, als Anschütz die früheren Bemühun- fall, Konflikt und Ambivalenz, Überlegenheit und Dra- gen um eine breite ärztliche Bildung aus der psychoso- matik in Gemälden, Grafiken und Skulpturen – auch matischen Tradition wieder aufgriff, entstand in den über die unmittelbar medizinischen Sujets hinaus – USA und in Grossbritannien aus ganz anderen Quellen empfänglich machen. Theaterstücke – auch Theater- eine ähnliche Bewegung. Medizinethisch interessierte projekte unter Beteiligung von Medizinstudierenden – Hochschullehrer aus Medizin und Philosophie, darun- haben wiederholt die zerstörerischen Auswirkungen ter der spätere Chief Medical Officer von Grossbritan- von Krankheit und selbst Medizin, bis hin zu den na- nien, Kenneth Calman, begannen, interdisziplinäre tionalsozialistischen Medizinverbrechen, eindrucksvol- Kurse in Literature and Medicine für Medizinstudie- ler behandelt, als es gelesene Texte oder Bilder alleine rende anzubieten [18], und gründeten Ende der 1980er könnten. Jahre Literature and Medicine Groups für Angehörige Weit schwieriger ist eine einschlägige Behandlung des der Gesundheitsberufe, die sich alle paar Wochen zum Mediums der Musik im Medizinstudium. Trotz der in Austausch über Romane und Gedichte trafen. Auch in vielen Personen verkörperten Beziehungen zwischen GTE-Seminaren für Medizinstudierende in Deutsch- Medizin und Musik, die auch auf eine lange Geschichte land liess sich ein solcher Ansatz inzwischen erfolg- verweisen können [20], sind einschlägige Unterrichts- reich verwirklichen. Einzelne Institute für Geschichte inhalte für Medizinstudierende nicht auszumachen. der Medizin, so in Lübeck und Giessen, laden zu litera- Anders sieht die didaktische Nutzung für den Bereich turwissenschaftlichen Vorträgen, Autorenlesungen und aus, der Bild und Wort in der Aufzeichnung vereint. Die Buchbesprechungen ein. Darstellung von Ärzten, Medizin und ihren Themen im Sowohl die älteren deutschen Leselisten als auch die Film hat schon seit längerem Interesse auch innerhalb britischen Anthologien und neuerdings ein eigenes medizinischer Fakultäten gefunden [21, 22] und zu Jahrbuch Literatur und Medizin [19] geben vielfältige nicht wenigen, meist aussercurriculären Veranstaltun- Anregungen zu geeigneter Lektüre. Insbesondere für gen geführt. Im medizinethischen und auch klinischen diejenigen Medizinstudierenden, die während der Bereich (v.a. Palliativ- und Notfallmedizin) werden Schulzeit gerne gelesen, lektüre-intensive Fächer wie Filmszenen, häufig aus amerikanischen TV-Serien wie Deutsch, Englisch, Literatur und Theater bevorzugt Emergency Room, Grey’s Anatomy oder Dr. House, in- oder gar in ihrer Studienwahl entsprechend ge- zwischen sogar im Pflichtunterricht verwendet, meist schwankt haben, stellt dies einen oftmals entscheiden- jedoch eher als Aufhänger für thematisch daran an- den Anstoss zum Wiedereinstieg ins Lesen dar – ein knüpfende Diskussionen denn als Versuch, Aussagen notwendiger Ausgleich in einem häufig als zu einseitig über die Medizin im Medium Film näherzukommen. empfundenen Studium. So können erkennbar Lust und Motivation zum Medizinstudium, die manchen in der Vorbereitung auf das Physikum verlorengegangen sind, Medizin und Religion wiedergewonnen werden. Als eine der zentralen Institutionen, die vor allem in der europäischen Vergangenheit und in globaler Pers- Medizin in bildender Kunst, Musik, Theater pektive die Wahrnehmung, Deutung und Bewältigung und Film von Krankheit wesentlich bestimmt hat und noch be- stimmt, darf die Religion im Spektrum nichtnaturwis- Von allen Bereichen der Arts and Humanities dürften senschaftlicher Perspektiven auf die Medizin nicht feh- praktizierenden Ärzten die bildenden und darstellen- len. Allerdings machen verschiedene akademische und den Künste besonders entgegenkommen, nicht zuletzt gesellschaftliche Entwicklungen in stark säkularisier- weil die Beschäftigung mit ihnen – zumindest eine ten Ländern die Thematisierung dieses Bereichs be- oberflächliche – weniger Zeit und Anstrengung erfor- sonders heikel. Der preussische Kulturkampf Ende dert und damit für viele nach einem anstrengenden Be- des 19. Jahrhunderts, an dem Mediziner wie der Ber- rufsalltag willkommener ist als das Lesen. Kunst in liner Pathologe und Politiker Rudolf Virchow oder der ärztlichen Wohnhäusern und Praxen ist ein sichtbarer Bonner Pharmakologe Carl Binz führend beteiligt wa- Beweis für einschlägiges Interesse, ebenso wie ihre re- ren, führte als Nachwirkung zu einer anhaltenden gelmässige Präsenz und die von Ereignissen aus Oper Empfindlichkeit gegenüber als solchen empfundenen und Theater in ärztlichen Zeitschriften. Viele medizini- Übergriffen von Religion(svertretern) in den vermeint- sche Themen in klassischen wie aktuellen Kunstwer- lich wertfreien Raum der medizinischen Wissenschaft. Bioethica Forum / 2011 / Volume 4 / No. 4 139
Focus: Medical HuManities Konfessionalisierung und neue nichtchristliche Minder- ckelt hat, mit Prinzipien individueller, philosophisch heiten gebieten eine Ausgewogenheit, die stark kompli- reflektierter Moral könne man die zentralen Fragen zierend wirkt. Ein in der Medizin vorherrschendes der modernen Medizin in den Griff bekommen [27]. Al- positivistisches Wahrheitsverständnis lässt für andere lerdings sind gerade in Nordamerika durch die starke Arten von existentiellen Wahrheiten wenig Raum. An- Stellung der Medical Anthropology in der Universitäts- ders als Geschichte, Literatur und Kunst gehört Reli- medizin schon seit längerem Forderungen nach einer gion, insbesondere in den neuen Bundesländern mehr empirischen, d.h. sozialen und kulturellen Fun- Deutschlands, nicht mehr zum selbstverständlichen dierung der Bioethik vernehmbar [28]. In jüngster Zeit Bildungskanon, geschweige denn zur allgemeinen So- kann man auch in Deutschland, ohne den Anstoss der zialisation. hier nicht einflussreich etablierten Medical Anthropol Aufgrund dieser Rahmenbedingungen beschränkt sich ogy, Medizinethnologie oder Ethnomedizin, ähnliche die Kooperation von Vertretern theologischer Fakultä- Tendenzen beobachten, vielleicht vor allem aus einer ten mit der Medizin, insbesondere in der ärztlichen gewissen Ernüchterung über bisher verfolgte Ansätze Ausbildung, zumeist auf medizinethische Fragen, wo- und Hoffnungen in der akademischen und gesellschaft- bei ausgesprochen säkulare Argumentationen und kei- lichen Etablierung der Medizinethik. Denn inzwischen neswegs die Betonung eines christlichen Propriums sind die Erwartungen, die Bioethik könne moralische charakteristisch sind [23]. Darüber hinausgehende Fragen der modernen Medizin durch normative Ant- Fragen nach religiösen Antworten, etwa Sinn und Be- worten aus der jüngeren Moralphilosophie lösen, er- wältigung von Krankheit, Umgang mit Schuld aufseiten kennbar zurückgegangen – sofern solche Erwartungen von Arzt und Patient, seelsorgliche Begleitung und auf Expertenseite je bestanden haben. Bioethische Bei- Hoffnung in anscheinend ausweglosen Situationen, träge können die politische Auseinandersetzung infor- werden eher in ausseruniversitären Einrichtungen wie mieren, aber im Hinblick auf Entscheidungsprozesse der Klinikseelsorge, kirchlichen Akademien oder Verei- nie ersetzen. Entsprechend sind hauptberufliche Ethi- nigungen von christlichen Angehörigen der Gesund- ker in Beratungsgremien für Regierung, Gesetzgeber heitsberufe behandelt. Im Pflichtunterricht des Medi- oder Ärzteschaft in der Minderheit. Es wird selbst von zinstudiums haben religiöse Fragen über die ethischen Vertretern der Bioethik zunehmend zwischen «Diszi- Positionen hinaus allenfalls in historischer Perspektive plin und Diskurs» unterschieden [29, 30], d.h. zwi- als abendländisches Erbe und gegenwärtig als Aspekt schen der akademischen Reflexion und der Sphäre, in im Umgang mit muslimischen Patienten ihren Platz der die Wirklichkeit geprägt wird bzw. die Entschei- [24]; ferner in freiwilligen Lehrveranstaltungen z.B. für dungen fallen. die Orientierung an den eigenen Ressourcen oder den Die daraus resultierende Einsicht in die begrenzte Wir- Umgang mit Sterbenden und ihren Angehörigen. Als kung philosophischer Formulierungen von normativen Missionierungsversuch werden solche Inhalte von Me- Ansprüchen hat dazu geführt, dass die deskriptive oder dizinstudierenden erfahrungsgemäss nicht empfun- empirische Ethik einen bemerkenswerten Aufschwung den, eher als Hilfe bei der eigenen Suche angesichts erfährt [31]. Wenn sich so medizinethische Fragestel- der proklamierten weltanschaulichen Gleichgültigkeit lungen stärker den soziokulturellen Realitäten wid- und dem gleichzeitigen Markt der Angebote. men, wäre eine neue Nähe zu den schon immer empi- rischen Gebieten der Medical Humanities gegeben, nicht zuletzt zu Zeitgeschichte, Medical Anthropology, Und die Medizin- bzw. Bioethik? qualitativer Soziologie und Psychologie. Allerdings ver- stehen nicht wenige Autoren empirische Medizinethik Während im englischen Sprachraum die medizinische als eher quantifizierend im Sinne von statistisch auszu- Ethik der übliche Ausgangspunkt der Medical Humani wertenden Umfragen und damit näher an naturwis- ties war – die Fachzeitschrift Medical Humanities (BMJ senschaftlicher Methodik als am Kerngedanken der Group) wurde von der Society for the Study of Medical Medical Humanities. Wahrscheinlich wird sich deren Ethics bzw. vom Institute for Medical Ethics als Aus- mögliche Einheit daran entscheiden, inwieweit das gabe des Journal of Medical Ethics gegründet –, wird notwendige Spannungsverhältnis zwischen ideogra- der dort seit den 1990er Jahren erkannte Ergänzungs- phischem und nomothetischem Ansatz, zwischen den bedarf einer abstrahierenden Ethik durch solche diltheyschen Polen des Verstehens und des Erklärens, Gebiete, die zu moralischer Sensibilität und Persönlich- ausgehalten und produktiv gestaltet werden kann. Eine keitsbildung führen [25], durch Vertreter der Medizin- weitgehende Anpassung an den messenden Ansatz der ethik in Deutschland bisher weniger betont. Hier folgt Sciences kann für die Medical Humanities kein Weg man – bei durchaus gegebener, aber eher partieller sein. Denn dann würde sie einen wesentlichen Teil ih- Rezeption US-amerikanischer Modifikationen wie der rer kritischen und komplementären Funktion gegen- Care Ethics, der neuen Kasuistik, tugendethischer, über der «Biomedizin» verlieren. feministischer oder narrativer Ansätze [26] – zumeist weiter dem dominierenden US-Modell der Bioethik, das aus historischen Gründen den Optimismus entwi- Bioethica Forum / 2011 / Volume 4 / No. 4 140
Focus: Medical HuManities Die Rolle der Medical Humanities Abstract im Medizinstudium Medical Humanities in Germany: complementary and Die zentrale Aufgabe der Medical Humanities für die critical contribution to medicine Medizin und im Medizinstudium bleibt nämlich, die- Attempts to strengthen or to establish issues other than jenigen Themengebiete und Aspekte von ärztlicher Tä- those of scientific and clinical subjects in the German tigkeit, Krankheitserfahrung und gesellschaftlicher medical curriculum also refer to the anglophone con- Wirkung der Medizin, die einer naturwissenschaftsför- cept of medical humanities. The fact that history of migen Erforschung und Darstellung nicht (eventuell medicine had for a long time been a part of the cur- auch nur: noch nicht) zugänglich sind, immer wieder riculum at a majority of medical faculties in Germany ins Bewusstsein zu rufen, d.h., sie nicht zuletzt in ei- may be considered to be the most important institu- nem akademischen Kontext diskursfähig zu halten tional starting point. From this point of outset medical oder zu machen. Sie müssen gegen die starken Tenden- issues in social and cultural anthropology, literature, zen aller sozialen Systeme und somit auch der Medizin, film and philosophy, even in religion could and can be das, was sich nicht genügend assimilieren lässt, auszu- introduced into the teaching of students. The perspec- schliessen, die unerlässliche Funktion solcher oftmals tives that are broadened by these approaches mainly als «weich» angesehenen Faktoren in kreativer Form concern the doctor-patient-relationship, the experience deutlich machen. Das geschieht einerseits im vielfälti- of illness and coping with it, the societal context, and gen Aufweis, dass prinzipiell unabschliessbare grosse the controversial concepts of medicine and disease. Fragen wie das Leib-Seele-Problem oder Transzen- Compared to common bioethics, the medical humani- denz- und Kontingenzerfahrungen unerledigt und da- ties are more concerned with developing (new or addi- mit stets aufs Neue zu bewältigen sind. Andererseits tional) human and moral resources than with their reg- geschieht es dadurch, dass Erlebnis- und Handlungs- ulation by structuring and coding. Here the more re- weisen ausserhalb der naturwissenschaftlich gepräg- cent empirical turn in bioethics, however, might open ten Medizin als mögliche, wenngleich vielleicht auch up new areas of overlap. nur partielle Antworten auf diese Fragen zugänglich gemacht werden. Es gilt so auch dazu beizutragen, Résumé dass die Offenheit und der Idealismus junger Menschen nicht in Abstumpfung oder sogar Zynismus umschla- Sciences humaines en médecine en Allemagne gen, wenn sie durch Fachstudium und Berufseinstieg – contributions complémentaires et critiques à la allzu sehr von den bisherigen Quellen zur Bildung ihrer médecine Persönlichkeit abgeschnitten werden. Welche Zugänge Les tentatives de renforcement ou d’introduction de über die verschiedenen Sparten der Künste, Geistes- sujets relevant des sciences humaines et sociales dans und Gesellschaftswissenschaften hier gewählt werden, le cadre de la formation médicale en Allemagne peuvent hängt in hohem Masse von der (vor allem schulischen) aussi être rattachées au concept anglophone de Medi Vorbildung der Studierenden ab, so dass hier eine ge- cal Humanities. En l’occurrence, l’histoire de la méde- wisse Wahlfreiheit wünschenswert ist. Es hängt aber cine, qui est enseignée dans pratiquement toutes les auch von der (eher universitären) Vorbildung der Leh- facultés de médecine doit être considérée comme renden ab, denn nur, was Menschen selbst einmal be- l’élément de référence principal. Dans le cadre de l’en- geistert hat, was ihnen selbst einmal Möglichkeiten des seignement, c’est à partir de cette matière que peut Menschseins erschlossen hat, können sie begeisternd être – et est – abordé le sujet de la médecine à travers vermitteln. Ausschliessliches und vollständiges Abar- l’ethnologie et l’anthropologie culturelle, la littérature, beiten vorgegebener Lernzielkataloge könnte hier in l’art cinématographique et la philosophie, voire la reli- verheerender Weise kontraproduktiv sein. Vielleicht gion. Ces approches très larges du domaine de la mé- wird nirgendwo sonst im Medizinstudium der Unter- decine concernent essentiellement la relation médecin- schied derart deutlich, der zwischen der zweifellos un- patient, l’expérience de la maladie et de la lutte contre erlässlichen Ausbildung einerseits und den Bildungs- la maladie, les contextes sociaux ainsi que les concep- prozessen andererseits besteht; letztere können und tions controversées sur la médecine et la maladie. En müssen sich selbstverständlich neben den Humanities comparaison avec l’enseignement classique de la bio- auch an naturwissenschaftlichen und praktischen The- éthique, il est plus généralement question dans le cadre men vollziehen. des Medical Humanities de la mise en évidence de res- Interessenskonflikt: Der Autor ist Mitglied der deutschen Fach- sources humaines (nouvelles ou supplémentaires) voire gesellschaften für Geschichte, Ethnologie und Ethik der Medizin de ressources morales, que de leur régulation sous la und hat von dieser Seite Reisekostenerstattungen erhalten. forme de structures et de codification. En Allemagne, de nouveaux rapprochements pourraient néanmoins résulter d’une récente orientation vers l’approche em- pirique de l’éthique médicale. Bioethica Forum / 2011 / Volume 4 / No. 4 141
Focus: Medical HuManities 11. Dilger H, Hadolt B, editors. Medizin im Kontext. Krankheit und Ge- Korrespondenzadresse sundheit in einer vernetzten Welt. Frankfurt/M.: Peter Lang; 2010. Walter Bruchhausen 12. Veatch R. Disrupted dialogue. Medical ethics and the collapse of Medizinhistorisches Institut physician humanist communication (1770–1980). New York: OUP; Sigmund-Freud-Strasse 25 2005. D-53127 Bonn 13. Von Engelhardt D, Schipperges H. Die inneren Verbindungen zwi- schen Philosophie und Medizin im 20. Jahrhundert. Darmstadt: E-Mail: walter.bruchhausen[at]ukb.uni-bonn.de WBG; 1980. 14. Klasen EM. Die Diskussion über eine «Krise» der Medizin in Eingang des Manuskripts: 29.7.2011 Deutschland zwischen 1925 und 1935. Mainz: Diss; 1984. Eingang des überarbeiteten Manuskripts: 11.10.2011 15. Downie RS. Should medical students read Plato? Med J Aust. 1999;170(3):125–7. Annahme des Manuskripts: 26.10.2011 16. Hansen K, editor. Lesebuch für Ärzte. Eine Auswahl klassischer Le- sestücke aus der Lebenswelt des Arztes. Berlin: Henssel; 1950. 17. Anschütz F. Ärztliches Handeln. Grundlagen, Möglichkeiten, Gren- Referenzen zen, Widersprüche. Darmstadt: WBG; 1987. p. 260–2. 1. Schott H. Die Situation der «kleinen Fächer» am Beispiel der Ge- 18. Calman KC. Foreword. In: Downie RS, editor. The Healing Arts. An schichte, Theorie und Ethik der Medizin. Bundesgesundheitsbl. Oxford Illustrated Anthology. Oxford: Oxford University Press; 2009;52:933–9. 1994. p. vii-viii, here p. vii. 2. Naunyn B. Ärzte und Laien (Deutsche Revue 1905). In: Naunyn B. 19. Steger F, von Jagow B, editors. Jahrbuch Literatur und Medizin Gesammelte Abhandlungen vol. 2. Würzburg: Stürtz; 1909. p. vols. 1–4. Heidelberg: Winter; 2007–2010. 1327–55, here p. 1348. 20. Kümmel W. Musik und Medizin. Ihre Wechselbeziehungen in The- 3. Naunyn B. Die Entwicklung der inneren Medizin mit Hygiene und orie und Praxis von 800 bis 1800. Freibrug/Br.: Alber; 1977. Bakteriologie im 19. Jahrhundert. In: Naunyn B. Gesammelte Ab- 21. Benzenhöfer U, editor. Medizin im Spielfilm der fünfziger Jahre. handlungen vol. 2. Würzburg: Stürtz; 1909. p. 1280-92, here 1280. Pfaffenweiler: Centaurus; 1994. 4. Bruchhausen W, Schott H. Begleitung auf dem Weg zum «guten 22. Schmidt KW, Maio G, Wulff HJ, editors. Schwierige Entscheidun- Arzt». Medizinethische Themen in der Bonner Lehre. In: Bruch- gen. Krankheit, Medizin und Ethik im Film. Frankfurt/M.: Haag + hausen W, Hofer HG, editors. Ärztliches Ethos im Kontext. Histori- Herchen; 2008. sche, phänomenologische und didaktische Analysen. Göttingen: 23. Kreß H. Medizinische Ethik. Gesundheitsschutz – Selbstbestim- V&R unipress; 2010. p. 143–54. mungsrechte – heutige Wertkonflikte. 2nd edition. Stuttgart: Kohl- 5. Von Uexküll T, Wesiack W. Theorie der Humanmedizin. Grundla- hammer; 2009. gen ärztlichen Denkens und Handelns. München: Urban & Schwar- 24. Ilkilic I. Der muslimische Patient. Medizinethische Aspekte des zenberg; 1988. muslimischen Krankheitsverständnisses in einer wertpluralen Ge- 6. Kopelman L. Bioethics and Humanities: What Makes Us One Field? sellschaft. Münster: LIT; 2002. J Med Philos. 1998;23(4):365–8. 25. Downie RS, Macnaughton J. Bioethics and the Humanities. Atti- 7. Medical Humanities [homepage on the Internet]. New York: New tudes and Perceptions. Abingdon: Routledge-Cavendish; 2007. York University School of Medicine; c1993-2011 [cited 2011 July 26. Düwell M, Steigleder K, editors. Bioethik. Eine Einführung. Frank- 23] Available from: http://medhum.med.nyu.edu/ furt/M.: Suhrkamp; 2003. p. 152–210. 8. Drew. Medical Humanities. About the programme [homepage on 27. Jonsen A. American Moralism and the Origins of Bioethics in the the Internet]. Madison, NJ: Drew University; c1993-2011 [cited United States. J Med Philos. 1991; 16(1):113–30. 2011 July 23] Available from: www.drew.edu/graduate/academics/ 28. Bruchhausen W. Medizin und Moral ohne Kontext. Die ethnomedi- medical-humanities zinische Kritik an der Bioethik. Ethik Med. 2001;13:176–92. 9. Bruchhausen W. Volks- und Völkerkunde für Ärzte. Ein Rück- und 29. Ach JS, Runtenberg C. Bioethik: Disziplin und Diskurs. Zur Selbst- Ausblick auf Kultur im Medizinstudium. In: Alsheimer R, Simon M, aufklärung angewandter Ethik. Frankfurt/M.: Campus; 2002. editors. Körperlichkeit und Kultur 2003. Körperbilder. Volkskunde 30. Kopelman, LM. Bioethics as Public Discourse and Second-Order und Historische Anthropologie 2004;9:217–34. Discipline. J Med Philos. 2009;34(3):261–73. 10. Von Hovorka O, Kronfeld A, editors. Vergleichende Volksmedizin. 31. Vollmann J, Schildmann J, editors. Empirische Medizinethik. Kon- Eine Darstellung volksmedizinischer Sitten und Gebräuche, An- zepte, Methoden und Ergebnisse. Berlin: LIT; 2011. schauungen und Heilfaktoren, des Aberglaubens und der Zauber- medizin, 2 vols. Stuttgart: Strecker & Schröder; 1909. Bioethica Forum / 2011 / Volume 4 / No. 4 142
Sie können auch lesen