Medical Humanities in Deutschland - komplementäre und kritische Beiträge zur Medizin

 
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Focus: Medical HuManities

Originalartikel

Medical Humanities in Deutschland – komplementäre
und kritische Beiträge zur Medizin
Walter Bruchhausena
a Medizinhistorisches Institut, Bonn

                                                                             besteht jedoch die Frage, wie auch nichtnaturwissen-
Zusammenfassung English and French abstracts see p. 141                      schaftliche Gegenstandsbereiche der Medizin wissen-
                                                                             schaftlich erforscht oder reflektiert in Studium und
Versuche, geisteswissenschaftliche Themen im deutschen Medizinstu-           Praxis der Medizin eingebracht werden können, was
dium zu stärken oder zu etablieren, beziehen sich auch auf das anglo-        zu verschiedenen Institutionalisierungen führte. So ha-
phone Konzept der Medical Humanities. Dabei darf in Deutschland die          ben viele Ärzte Psychologie oder Seelenkunde als Teil
an fast allen medizinischen Fakultäten vertretene Medizingeschichte als      ihrer praktischen und wissenschaftlichen Tätigkeit be-
wichtigster institutioneller Ausgangspunkt gelten. Von ihr aus konnte        trieben, vor allem seit der Spätaufklärung und Roman-
und kann für die studentische Lehre Medizin in Ethnologie und Kultur-        tik. Durch die Mortalitätsforschung Ende des 19. Jahr-
anthropologie, Literatur, Film und Philosophie, teilweise auch in der Re-    hunderts und in der ärztlichen Sozialhygiene zwischen
ligion erschlossen werden. Die so erweiterten Perspektiven auf das Feld      den Weltkriegen wurden die Sozialwissenschaften in
der Medizin betreffen vor allem die Arzt-Patienten-Beziehung, das Er-        die Medizin einbezogen. Mit den Reformen des Medi-
leben und Bewältigen von Krankheit, die gesellschaftlichen Kontexte so-      zinstudiums seit den 1970er Jahren stiegen Medizini-
wie die kontroversen Konzeptualisierungen von Medizin und Krankheit.         sche Soziologie und Medizinische Psychologie zu
Im Vergleich mit gängiger Bioethik geht es den Medical Humanities            Pflichtfächern auf. Für den Kanon solcher Fächer eta-
häufig eher um die Erschliessung (neuer oder zusätzlicher) humaner           blierte sich, wohl auch als Folge einer Diskreditierung
bzw. moralischer Ressourcen als um deren Regulierung in Form von             des Begriffs Anthropologie durch die Rassenhygiene,
Strukturierung und Kodifizierung. Mit einer jüngeren Orientierung hin        der Oberbegriff «Humanwissenschaften». Im engli-
zu empirischer Medizinethik auch in Deutschland kann es hier jedoch          schen Sprachraum werden solche Fächer (als human
neue Annäherungen geben.                                                     sciences) ebenfalls zunehmend zu den Humanities ge-
Schlagworte: Medical Humanities; Medizinstudium; Deutschland; Me-            zählt, die ursprünglich nur die Geisteswissenschaften,
dizingeschichte; Bioethik                                                    vor allem Sprachen, Geschichte und Philosophie, um-
                                                                             fassten und aus den frühneuzeitlichen Studia humani­
                                                                             tatis bzw. humaniora oder Litterae humaniores her-
                   Wenn es um mögliche Defizite in der ärztlichen Ausbil-    vorgegangen waren. Diese begriffliche Unschärfe von
                   dung und der Medizin insgesamt geht, wird seit einigen    Humanities schwingt auch beim Begriff der Medical
                   Jahren auch in Deutschland der Begriff Medical Huma­      Humanities mit, gleichsam als engerer und weiterer
                   nities ins Spiel gebracht [1]. Die akademische Debatte    Sinn des Konzepts, und hat zu unterschiedlichen Stoss-
                   darum, was die Medizin über ihre humanbiologischen        richtungen geführt. Ihnen ist dennoch weiterhin die
                   und klinischen Kernfächer hinaus braucht, um ihrer        grundsätzliche Frage gemeinsam, wie sich im Medizin-
                   praktischen Aufgabe gerecht zu werden, ist jedoch         studium solche Themenfelder analog und komplemen-
                   weitaus älter. Dass die Medizin nicht nur Naturwissen-    tär zur naturwissenschaftlichen Ausbildung einbringen
                   schaft sein dürfe oder könne, gehört seit über einhun-    können. Angesichts der weitgehend getrennten Institu-
                   dert Jahren zu den Allgemeinplätzen, wenn eine Besin-     tionalisierung, die Humanwissenschaften einerseits
                   nung auf die Anforderungen an den ärztlichen Beruf        und Geistes- bzw. Kulturwissenschaften andererseits in
                   erfolgt. Sogar beim renommierten Internisten Bern-        der deutschen Universitätsmedizin erfahren haben,
                   hard Naunyn, dessen Bekenntnis zum Satz «Die Medi-        wird sich dieser Beitrag vorwiegend auf Letztere kon-
                   zin wird Wissenschaft sein, oder sie wird nicht sein»     zentrieren, mit der Medical Anthropology als potentiell
                   [2] von 1905 häufig zitiert wurde und noch immer          zu beiden gehörendem Feld.
                   wird, lautete die Warnung vor einem Missverständnis
                   der Medizin als blosser Naturwissenschaft: «Dazu
                   steckt ihr die Humanität zu tief im Blut» [3]. Doch wo-   Medical Humanities in Deutschland,
                   her kommt diese Humanität? Bei Naunyn ergab sie           Grossbritannien und den USA
                   sich ganz einfach daraus, dass der Arzt als Mensch
                   beim Kranken auch dort, wo die Naturwissenschaft          In Deutschland haben Themen, die unter die Medical
                   ihm keine ausreichende Entscheidungsgrundlage bie-        Humanities im engeren Sinne fallen, durch die Ärztli-
                   ten kann, handeln muss. Darüber hinaus bestand und        che Approbationsordnung von 2002 mit ihrer Neu-

                                                                                          Bioethica Forum / 2011 / Volume 4 / No. 4   135
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strukturierung des Medizinstudiums eine erhebliche         zin, wie K. Danner Clouser an der Pennsylvania State
institutionelle Aufwertung erfahren. Zuvor gab es keine    University oder Loretta M. Kopelman an der East Caro-
teilnahmepflichtigen Lehrveranstaltungen, lediglich        lina University, beschäftigten sich schon früh promi-
eine freiwillige Vorlesung in Medizingeschichte und        nent mit Bioethik. In einflussreichen Konzeptionen
wenige Multiple-Choice-Fragen zum entsprechenden           wurden unter dem Begriff Medical Humanities die drei
Gegenstandskatalog im Staatsexamen. Jetzt sieht            konstituierenden Teilbereiche Humanities (im engeren
schon der § 1 unter den Zielen der ärztlichen Ausbil-      Sinne, aber einschliesslich Philosophie und Religion),
dung ausdrücklich vor,                                     Social sciences und Arts zusammengefasst [7], eine
                                                           Unterscheidung, die das deutsche Universitätssystem
    – Grundkenntnisse der Einflüsse von Familie, Ge­
                                                           traditionell so nicht kannte. Entsprechend des damali-
    sellschaft und Umwelt auf die Gesundheit, die Or­
                                                           gen Bemühens um Einschluss auch unmittelbar nor-
    ganisation des Gesundheitswesens und die Bewäl­
                                                           mativer Disziplinen lautete der Titel der in New York
    tigung von Krankheitsfolgen,
                                                           erscheinenden Fachzeitschrift von 1985 bis 1998 Jour­
                                                           nal of Medical Humanities and Bioethics, seitdem, bei
    – die geistigen, historischen und ethischen Grund­
                                                           Springer in Amsterdam angesiedelt, nur noch Journal
    lagen ärztlichen Verhaltens auf der Basis des ak­
                                                           of Medical Humanities.
    tuellen Forschungsstandes zu vermitteln.
                                                           Der britische Begriff der Medical Humanities, der sich
Neben Anteilen dieser Aufgabenstellung in verschiede-      im gleichnamigen Titel einer Fachzeitschrift (einer seit
nen Fächern, insbesondere den schon erwähnten Me-          2000 zweimal jährlich erscheinenden Ausgabe des
dizinische Psychologie und Medizinische Soziologie, ist    Journal of Medical Ethics), mehreren Universitätsein-
ein eigener obligatorischer und mit Benotung abzu-         richtungen und einer Fachgesellschaft niedergeschla-
schliessender Querschnittsbereich «Geschichte, Theo-       gen hat, versteht sich hingegen noch stärker als eine an
rie, Ethik der Medizin» (GTE) eingeführt worden.           breiter Bildung orientierte Ergänzung und Kritik stark
Diese Zuordnung der Theorie und Ethik zur Geschichte       entindividualisierender Wissenschaft, wie sie neben
war durchaus konsequent, hatten doch im deutsch-           Naturwissenschaft und Technik auch Teile von Sozial-
sprachigen Raum an den meisten medizinischen Fa-           wissenschaften und Bioethik darstellen. Alle englisch-
kultäten die medizinhistorischen Institute die bis dahin   sprachigen Ansätze scheinen jedoch heute darin über-
freiwilligen Lehrangebote auch zu medizinethischen         einzustimmen, dass sie «jenseits» blosser Bioethik
Themen angeboten [4] und – neben der Psychosomatik         Bildungserfahrungen für angehende und praktizie-
[5] – die eher vereinzelten Versuche einer ausdrückli-     rende Angehörige der Gesundheitsberufe ermöglichen
chen Medizintheorie beherbergt. Doch nicht zuletzt         wollen [8].
aufgrund von medizinethischen Professionalisierungs-       Der Begriff der Medical Humanities bleibt damit mehr-
bemühungen – und das heisst zumeist auch Abgren-           deutig, nicht zuletzt auch in den Erwartungen, die er
zungsversuchen – erwies sich die Konzeption dieses         gerade ausserhalb des Englischen weckt. Denn dort,
«Bereichs» (der Gesetzgeber hat nicht den Begriff          wo Humanities nicht als eher institutionell-beschrei-
«Fach» gewählt) als umstritten. So entstand neues In-      bender Oberbegriff für die nichtnaturwissenschaftliche
teresse am Begriff der Medical Humanities. Er sollte       Erforschung des Menschen und seiner Hervorbringun-
vor allem in den Augen einiger Medizinhistoriker eine      gen etabliert ist, lässt er in einem normativen Sinne
übergreifende Gemeinsamkeit benennen. Denn der             Hoffnungen auf einen Beitrag zur immer wieder gefor-
Querschnittsbereich wurde teilweise als zu divers emp-     derten Humanisierung der Humanmedizin aufkom-
funden, weil er empirische, systematische und norma-       men. In Deutschland, wo das «humanistische Gym-
tive Ansätze aus verschiedenen Fachgebieten der phi-       nasium» durch den altsprachlichen bzw. antiken
losophischen Fakultät umfasste.                            Schwerpunkt in Bildung und Erziehung lange Zeit das
Bei diesem Vereinigungsversuch wurde gerne überse-         Begriffsfeld Humanismus besetzte, kommt ein gewisses
hen, dass sich aus der eingangs erwähnten Begriffsge-      Moment an Kritik der (technischen) Moderne hinzu. Da
schichte hinter dem Wort Medical Humanities mindes-        es zudem im deutschen Sprachraum keine zusammen-
tens zwei recht unterschiedliche Ansätze verbergen,        fassende Institutionalisierung von Medical Humanities
die sich zudem von deutschen Konzeptionen der betei-       gibt – sei es durch eine Fachzeitschrift, durch Fachta-
ligten Gebiete deutlich unterscheiden. Beide, der äl-      gungen, eine Fachgesellschaft oder gar eine universi-
tere, eher amerikanische, und der jüngere, zunächst        täre Einrichtung – und der Begriff unübersetzbar
britische Ansatz, umfassen ganz zentral auch die schö-     bleibt, scheint es sinnvoller, für eine Erörterung kultur-
nen Künste (Arts), die in Deutschland in der ärztlichen    wissenschaftlicher Themen der Medizin nicht (nur) den
Ausbildung bisher allenfalls eine untergeordnete Rolle     im Deutschen derart missverständlichen Oberbegriff
spielen. Der nordamerikanische Ansatz schien dabei         Medical Humanities zum Ausgangspunkt zu machen,
eher die Strategie eines umfassenden Gegenbegriffs         sondern diejenigen akademischen Bereiche, die er ab-
zur dominierenden naturwissenschaftlichen Behand-          deckt, also medizinische Themen in Sprachen, Litera-
lung der Medizin im Blick zu haben [6]. Viele dortige      tur und Geschichte, Philosophie und Religion, Volks-
Inhaber von Professuren für Humanities in der Medi-        und Völkerkunde, bildender und darstellender Kunst.

                                                                         Bioethica Forum / 2011 / Volume 4 / No. 4   136
Focus: Medical HuManities

Dabei sollen für Deutschland sowohl die einzelnen Ge-      neue naturwissenschaftliche Grundlegung obsolet ge-
biete, die im Englischen unter Medical Humanities ver-     worden war. In diesem Zeitalter, in dem sich die Ge-
standen werden, als auch ihre mögliche Einheit be-         schichtswissenschaft als Lieferant für die Gründungs-
trachtet werden. Die Frage ihres Beitrags zur ärztlichen   mythen von Moderne und Nationalstaat etablierte,
Ausbildung wird eine grössere Rolle spielen als etwa       konnte auch die Medizin als zentrales Element dieser
ihre Bedeutung für die ärztliche Praxis, den gesell-       Moderne nicht ohne die historische Überhöhung aus-
schaftlichen Umgang mit Krankheit oder gesundheits-        kommen.
politische Entscheidungsprozesse spielen.                  Inzwischen ist die Medizingeschichte zu einem auch
Die Frage, ob und wie solche Bereiche in die ärztliche     methodisch und theoretisch anspruchsvollen Bereich
Ausbildung zu integrieren sind, hat dabei zunächst die     geworden, der im engen Austausch mit verschiedenen
Vorgeschichte ihres Ein- und Ausschlusses zu berück-       Fächern der philosophischen Fakultäten und insbeson-
sichtigen. Bis zum Ersatz des Tentamen philosophicum       dere durch die Aufnahme von Ansätzen aus Cultural
durch das Tentamen physicum im Deutschland des             Studies und neuer Kulturgeschichte die Medizin und
späten 19. Jahrhunderts, in Preussen 1861, war zu-         ihre gesellschaftliche Bedeutung in vielfältiger Weise in
mindest noch ein rudimentäres Bewusstsein dafür ge-        den Blick nimmt. Da die Medizingeschichte auf Verän-
blieben, dass der akademische Arzt ein allgemein ge-       derungen und Kontexte besonderen Wert legt, ist sie in
bildeter Mensch sein sollte, ursprünglich sogar vor        der heutigen Situation besonders geeignet, das für eine
seiner berufsbezogenen Spezialisierung auch die freien     zeitgemässe Gesundheitsversorgung notwendige Be-
Künste, darunter die «trivialen» sprachlichen und phi-     wusstsein für die gesellschaftliche Abhängigkeit, Plura-
losophischen Disziplinen sowie im «Quadrivium» zu-         lität und Dynamik von Medizin in Wissenschaft wie
dem Musik studiert haben sollte. Danach blieb als klas-    auch Praxis zu wecken und zu schärfen. Sie erfüllt eine
sisches geisteswissenschaftliches Fach der Medizin nur     zentrale kritische Funktion für übliche Denkweisen in-
die Geschichte der Medizin, die deshalb in Deutschland     nerhalb und gegenüber der Medizin, wenn sie verbrei-
auch am besten etabliert ist. Für die übrigen Geistes-     tete Vorstellungen von Erwerb, Zuverlässigkeit und
wissenschaften war eine Nutzung schwieriger, weil sie      Dauerhaftigkeit wissenschaftlichen Wissens, von der
nicht in gleicher Weise zur Verständnishilfe und Legiti-   Alleingültigkeit eines Paradigmas oder der Unzweideu-
mation der Medizin als Wissenschaft zu verwenden           tigkeit von Fortschritt an empirisch sehr gut belegten
waren. In der Literatur tauchte die Medizin vielfältig     Beispielen widerlegt.
gebrochen auf, einer der bis heute bedeutendsten Ro-
mane zur Medizin, Thomas Manns Zauberberg, erntete
seinerzeit vernichtende Kritik von ärztlicher Seite. Von   Von Volks- und Völkerkunde zur Kultur-
der Religion suchte sich die «rationale Medizin» wei-      anthropologie der Medizin
terhin strikt abzugrenzen, der Kontakt zur Philosophie
blieb auf einige Grenzgebiete, vor allem die Psychiatrie   Geistes- bzw. kulturwissenschaftliche Ansätze, die sich
beschränkt.                                                mit zeitgenössischer universitär gelehrter Medizin be-
                                                           schäftigen, waren lange Zeit nicht gefragt. Die Völker-
                                                           kunde und die Volkskunde, die das anhaltende Inter-
Medizingeschichte als deutsche Mutter der                  esse verschiedener Ärzte erregt haben [9], bestanden
Medical Humanities                                         für die Heilkunde vor allem in umfassenden Sammlun-
                                                           gen «volksmedizinischer» Ideen und Verfahren [10];
Von den unter Medical Humanities firmierenden geis-        die ihnen gegenüber eingenommene, insgesamt ab-
teswissenschaftlichen Fächern hatte es also die Ge-        wertende Perspektive war Ausdruck eines heute nicht
schichte (der Medizin) am leichtesten, im Fächerkanon      mehr zeitgemässen überzogenen Deutungsanspruchs
des Medizinstudiums zu bleiben. Denn sie erfüllte          der akademischen Medizin. In Form der anglophonen
lange Zeit, bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts, eine    Medical Anthropology und der wesentlich kleineren
direkt propädeutische Funktion für unterschiedliche        deutschsprachigen Fachgebiete der Ethnomedizin/Me-
Gebiete der späteren ärztlichen Tätigkeit. Professoren     dizinethnologie und der medizinbezogenen europäi-
verschiedener medizinischer Disziplinen übernahmen         schen Ethnologie/Kulturanthropologie, früher eher un-
die entsprechende Vorlesung im Nebenamt. Das Stu-          ter dem Titel Volkskunde, haben hingegen die jüngeren
dium älterer medizinischer Autoren sollte im Sinne ei-     Erben dieser Gebiete nach etwa 1970 erheblich dazu
nes Voranschreitens vom Einfacheren zum Komplexe-          beigetragen, dass neben nichtärztlichen Heilern auch
ren schrittweise an die aktuellen Lehren heranführen.      das Erleben, Denken und Handeln von Patienten und
Ein naives Fortschrittsdenken ist darin unübersehbar,      allgemeiner Bevölkerung in Fragen von Gesundheit,
Ehrfurcht vor den grossen Errungenschaften der Medi-       Krankheit und Heilung angemessen wahrgenommen
zin wurde so geweckt. An die letzte Funktion konnte        wird [11]. Ethnographische Studien zur modernen
dann die professionalisierte Medizingeschichte um          High-Tech-Medizin kamen hinzu. In den USA wurde
1900 anknüpfen, als der geschilderte didaktische Nut-      die Medical Anthropology, die allerdings auch viele
zen einer Lektüre medizinischer Klassiker durch die        Themen unserer Medizinsoziologie beinhaltet, in den

                                                                        Bioethica Forum / 2011 / Volume 4 / No. 4   137
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meisten Medical Schools ins Curriculum integriert. In       mit philosophischen Fragen gesehen werden. Der Ner-
Deutschland hingegen machen nur wenige medizini-            venarzt Karl Jaspers verlegte sich ganz auf die Philoso-
sche Fakultäten entsprechende Unterrichtsangebote,          phie und wurde zu einem der bekanntesten deutschen
obwohl nicht zuletzt Migration und Globalisierung           Philosophen des 20. Jahrhunderts. Die seinen Namen
auch hier wachsenden Bedarf für eine kultursensible         tragende Professur in Heidelberg wird derzeit zu einem
Herangehensweise in der ärztlichen Tätigkeit schaffen.      neuen Kristallisationspunkt der Beziehungen zwischen
Ausserdem zeigt die eigene Unterrichtserfahrung, dass       Medizin und Philosophie.
für Medizinstudierende mit nachlassender Vorbildung         Einen letzten Höhepunkt philosophischen Fragens in-
durch schulischen Unterricht in antiker Welt und Ge-        nerhalb der Medizin bildeten in der Zwischenkriegs-
schichte die heutige räumliche kulturelle Differenz oft-    zeit, die auch als «Krise der Medizin» empfunden
mals einen leichteren Einstieg darstellt als die histori-   wurde [14], die Bemühungen um eine anthropologi-
sche, um gegenüber dem naturwissenschaftlichen              sche Medizin seitens der «Heidelberger Schule der Psy-
Universalitätsanspruch die Kontextgebundenheit me-          chosomatik», die durch Ludolf von Krehl begründet
dizinischen Denkens und Entscheidens zu vermitteln.         wurde. Vor allem die Schriften Viktor von Weizsäckers,
Dass heute lebende Menschen in anderen Teilen der           der als Vertiefung seiner anerkannten naturwissen-
Gesellschaft oder der Welt manche gesundheitlichen          schaftlichen und klinischen Forschung eine Erneue-
Zustände und medizinischen Massnahmen ganz an-              rung der Medizin aus der philosophischen Reflexion
ders sehen und bewerten, ist für viele eindrucksvoller      anstrebte, werden bis heute von praktizierenden Ärz-
zu erfahren als im Fall von Ärzten und Patienten frühe-     ten gelesen und auf aktuelle therapeutische Fragen be-
rer Zeiten.                                                 zogen. Weizsäckers Werk enthält sicher viele nicht
Bei der Aufgabe, für mögliche Unterschiede zwischen         überholte Einsichten in die Arzt-Patienten-Beziehung
Arzt und Patient in Sicht- und Handlungsweisen zu           oder das Krankheitserleben. Einige seiner Anliegen
sensibilisieren, können kulturanthropologische Stu-         sind inzwischen in die Psychosomatik eingegangen,
dien zur Medizin einen wichtigen Beitrag leisten. Das       was dazu beigetragen haben mag, dass weniger Veran-
gilt nicht nur für die Ergebnisse und Theorien einzel-      lassung empfunden wird, die Lektüre seiner zudem oft-
ner Studien, sondern vielleicht noch mehr für den eth-      mals etwas sperrigen Schriften im Medizinstudium un-
nographischen Ansatz der teilnehmenden Beobach-             terzubringen.
tung als solchen. Denn diese eher offene Haltung kann       Überhaupt dürfte in den sprachlichen und gedankli-
insbesondere in neuartigen Situationen eine äusserst        chen Anforderungen der Philosophie, die neben ent-
hilfreiche Ergänzung zur gängigen ärztlichen Heran-         sprechender Begabung und Neigung doch auch einiges
gehensweise an den Patienten sein, da diese durch           an begrifflicher Propädeutik verlangt, einer der Haupt-
ihre starke Vorstrukturierung zu einer vorzeitigen Ein-     gründe dafür liegen, dass ein gemeinsames Lesen phi-
engung dessen, was als relevant wahrgenommen wird,          losophischer Texte nicht zum breitentauglichen Mittel
führen kann.                                                der Medical Humanities werden kann. Philosophie
                                                            bleibt 150 Jahre nach Abschaffung des Tentamen phi­
                                                            losophicum allenfalls einzelnen Medizinstudierenden
Medizin und Philosophie                                     zugänglich, sollte diesen aber vielleicht häufiger er-
                                                            möglicht werden [15]. Das «philosophische Café» ist
Im Unterschied zum angloamerikanischen Raum, dem            bisher kein Erfolgsmodell in der deutschsprachigen
der Philosoph Robert M. Veatch einen 170-jährigen Ge-       Medizin.
sprächsabbruch zwischen Philosophie und Medizin
bescheinigte [12], hat es im deutschen Sprachraum
immer vielfältige enge Verbindungen zwischen diesen         Medizin und Literatur
beiden Fächern gegeben [13]. Noch Anfang des
19. Jahrhunderts waren in alter Gelehrtentradition ei-      Neben den Verbindungen zu Geschichte, Volks- bzw.
nige Mediziner zugleich akademische Philosophen ge-         Völkerkunde und Philosophie bestanden und bestehen
wesen, so etwa Joseph Görres als Gymnasial- und             viele Berührungspunkte der Medizin zur fiktionalen
Hochschullehrer in Koblenz und München oder Karl            Literatur. Dies zeigt sich u.a. darin, dass verschiedene
Hieronymus Windischmann in beiden Fakultäten der            deutsche Romanschriftsteller Ärzte waren und ent-
neu gegründeten preussischen Reformuniversität              sprechende Themen aus Studium und Praxis verarbei-
Bonn. In der nächsten Generation waren bedeutende           tet haben, von Friedrich Schiller über Georg Büchner
naturwissenschaftliche Ärzte wie Johannes Müller in         bis zu Alfred Döblin. Umgekehrt haben die existentiel-
ihrem Studium noch von den naturphilosophischen Ge-         len Fragen, die in der Medizin, und nicht zuletzt der
danken Schellings massgeblich inspiriert worden. Spä-       Psychiatrie, auftreten, wiederholt die bedeutendsten
ter griffen auch rein naturwissenschaftlich ausgebil-       Literaten beschäftigt, neben dem schon erwähnten
dete Ärzte z.B. die Philosophie Friedrich Nietzsches        Thomas Mann auch Gerhard Hauptmann, Alexander
auf. Weite Teile der deutschen Psychiatrie und der Psy-     Solschenizyn und Heinrich Böll. Aus der Einsicht, wel-
choanalyse können als ärztliche Auseinandersetzung          ches Reflexionspotential die Dichtung für die Medizin

                                                                         Bioethica Forum / 2011 / Volume 4 / No. 4   138
Focus: Medical HuManities

bietet, sind schon seit langem gezielte Leseanreize        ken und Aufführungen machen diese Bereiche zu einer
für Ärzte entstanden, so 1950 aus der Heidelberger         guten, wenngleich im Vergleich mit Geschichte und
Schule durch den Neurologen und Allergologen Karl          Literatur seltener für den Unterricht genutzten Mög-
Hansen im Lesebuch für Ärzte [16] und darauf aufbau-       lichkeit, weitere Perspektiven auf die Medizin zu eröff-
end 1987 «Lesevorschläge» des Internisten Felix An-        nen. Denn gerade die visuelle Ausrichtung der ärztli-
schütz im Rahmen seines breiten Interesses am ärzt-        chen Ausbildung kann Medizinstudierende für den
lichen Handeln [17].                                       Ausdruck von Not und Schmerz, Hilflosigkeit und Ver-
Zur gleichen Zeit, als Anschütz die früheren Bemühun-      fall, Konflikt und Ambivalenz, Überlegenheit und Dra-
gen um eine breite ärztliche Bildung aus der psychoso-     matik in Gemälden, Grafiken und Skulpturen – auch
matischen Tradition wieder aufgriff, entstand in den       über die unmittelbar medizinischen Sujets hinaus –
USA und in Grossbritannien aus ganz anderen Quellen        empfänglich machen. Theaterstücke – auch Theater-
eine ähnliche Bewegung. Medizinethisch interessierte       projekte unter Beteiligung von Medizinstudierenden –
Hochschullehrer aus Medizin und Philosophie, darun-        haben wiederholt die zerstörerischen Auswirkungen
ter der spätere Chief Medical Officer von Grossbritan-     von Krankheit und selbst Medizin, bis hin zu den na-
nien, Kenneth Calman, begannen, interdisziplinäre          tionalsozialistischen Medizinverbrechen, eindrucksvol-
Kurse in Literature and Medicine für Medizinstudie-        ler behandelt, als es gelesene Texte oder Bilder alleine
rende anzubieten [18], und gründeten Ende der 1980er       könnten.
Jahre Literature and Medicine Groups für Angehörige        Weit schwieriger ist eine einschlägige Behandlung des
der Gesundheitsberufe, die sich alle paar Wochen zum       Mediums der Musik im Medizinstudium. Trotz der in
Austausch über Romane und Gedichte trafen. Auch in         vielen Personen verkörperten Beziehungen zwischen
GTE-Seminaren für Medizinstudierende in Deutsch-           Medizin und Musik, die auch auf eine lange Geschichte
land liess sich ein solcher Ansatz inzwischen erfolg-      verweisen können [20], sind einschlägige Unterrichts-
reich verwirklichen. Einzelne Institute für Geschichte     inhalte für Medizinstudierende nicht auszumachen.
der Medizin, so in Lübeck und Giessen, laden zu litera-    Anders sieht die didaktische Nutzung für den Bereich
turwissenschaftlichen Vorträgen, Autorenlesungen und       aus, der Bild und Wort in der Aufzeichnung vereint. Die
Buchbesprechungen ein.                                     Darstellung von Ärzten, Medizin und ihren Themen im
Sowohl die älteren deutschen Leselisten als auch die       Film hat schon seit längerem Interesse auch innerhalb
britischen Anthologien und neuerdings ein eigenes          medizinischer Fakultäten gefunden [21, 22] und zu
Jahrbuch Literatur und Medizin [19] geben vielfältige      nicht wenigen, meist aussercurriculären Veranstaltun-
Anregungen zu geeigneter Lektüre. Insbesondere für         gen geführt. Im medizinethischen und auch klinischen
diejenigen Medizinstudierenden, die während der            Bereich (v.a. Palliativ- und Notfallmedizin) werden
Schulzeit gerne gelesen, lektüre-intensive Fächer wie      Filmszenen, häufig aus amerikanischen TV-Serien wie
Deutsch, Englisch, Literatur und Theater bevorzugt         Emergency Room, Grey’s Anatomy oder Dr. House, in-
oder gar in ihrer Studienwahl entsprechend ge-             zwischen sogar im Pflichtunterricht verwendet, meist
schwankt haben, stellt dies einen oftmals entscheiden-     jedoch eher als Aufhänger für thematisch daran an-
den Anstoss zum Wiedereinstieg ins Lesen dar – ein         knüpfende Diskussionen denn als Versuch, Aussagen
notwendiger Ausgleich in einem häufig als zu einseitig     über die Medizin im Medium Film näherzukommen.
empfundenen Studium. So können erkennbar Lust und
Motivation zum Medizinstudium, die manchen in der
Vorbereitung auf das Physikum verlorengegangen sind,       Medizin und Religion
wiedergewonnen werden.
                                                           Als eine der zentralen Institutionen, die vor allem in
                                                           der europäischen Vergangenheit und in globaler Pers-
Medizin in bildender Kunst, Musik, Theater                 pektive die Wahrnehmung, Deutung und Bewältigung
und Film                                                   von Krankheit wesentlich bestimmt hat und noch be-
                                                           stimmt, darf die Religion im Spektrum nichtnaturwis-
Von allen Bereichen der Arts and Humanities dürften        senschaftlicher Perspektiven auf die Medizin nicht feh-
praktizierenden Ärzten die bildenden und darstellen-       len. Allerdings machen verschiedene akademische und
den Künste besonders entgegenkommen, nicht zuletzt         gesellschaftliche Entwicklungen in stark säkularisier-
weil die Beschäftigung mit ihnen – zumindest eine          ten Ländern die Thematisierung dieses Bereichs be-
oberflächliche – weniger Zeit und Anstrengung erfor-       sonders heikel. Der preussische Kulturkampf Ende
dert und damit für viele nach einem anstrengenden Be-      des 19. Jahrhunderts, an dem Mediziner wie der Ber-
rufsalltag willkommener ist als das Lesen. Kunst in        liner Pathologe und Politiker Rudolf Virchow oder der
ärztlichen Wohnhäusern und Praxen ist ein sichtbarer       Bonner Pharmakologe Carl Binz führend beteiligt wa-
Beweis für einschlägiges Interesse, ebenso wie ihre re-    ren, führte als Nachwirkung zu einer anhaltenden
gelmässige Präsenz und die von Ereignissen aus Oper        Empfindlichkeit gegenüber als solchen empfundenen
und Theater in ärztlichen Zeitschriften. Viele medizini-   Übergriffen von Religion(svertretern) in den vermeint-
sche Themen in klassischen wie aktuellen Kunstwer-         lich wertfreien Raum der medizinischen Wissenschaft.

                                                                        Bioethica Forum / 2011 / Volume 4 / No. 4   139
Focus: Medical HuManities

Konfessionalisierung und neue nichtchristliche Minder-      ckelt hat, mit Prinzipien individueller, philosophisch
heiten gebieten eine Ausgewogenheit, die stark kompli-      reflektierter Moral könne man die zentralen Fragen
zierend wirkt. Ein in der Medizin vorherrschendes           der modernen Medizin in den Griff bekommen [27]. Al-
positivistisches Wahrheitsverständnis lässt für andere      lerdings sind gerade in Nordamerika durch die starke
Arten von existentiellen Wahrheiten wenig Raum. An-         Stellung der Medical Anthropology in der Universitäts-
ders als Geschichte, Literatur und Kunst gehört Reli-       medizin schon seit längerem Forderungen nach einer
gion, insbesondere in den neuen Bundesländern               mehr empirischen, d.h. sozialen und kulturellen Fun-
Deutschlands, nicht mehr zum selbstverständlichen           dierung der Bioethik vernehmbar [28]. In jüngster Zeit
Bildungskanon, geschweige denn zur allgemeinen So-          kann man auch in Deutschland, ohne den Anstoss der
zialisation.                                                hier nicht einflussreich etablierten Medical Anthropol­
Aufgrund dieser Rahmenbedingungen beschränkt sich           ogy, Medizinethnologie oder Ethnomedizin, ähnliche
die Kooperation von Vertretern theologischer Fakultä-       Tendenzen beobachten, vielleicht vor allem aus einer
ten mit der Medizin, insbesondere in der ärztlichen         gewissen Ernüchterung über bisher verfolgte Ansätze
Ausbildung, zumeist auf medizinethische Fragen, wo-         und Hoffnungen in der akademischen und gesellschaft-
bei ausgesprochen säkulare Argumentationen und kei-         lichen Etablierung der Medizinethik. Denn inzwischen
neswegs die Betonung eines christlichen Propriums           sind die Erwartungen, die Bioethik könne moralische
charakteristisch sind [23]. Darüber hinausgehende           Fragen der modernen Medizin durch normative Ant-
Fragen nach religiösen Antworten, etwa Sinn und Be-         worten aus der jüngeren Moralphilosophie lösen, er-
wältigung von Krankheit, Umgang mit Schuld aufseiten        kennbar zurückgegangen – sofern solche Erwartungen
von Arzt und Patient, seelsorgliche Begleitung und          auf Expertenseite je bestanden haben. Bioethische Bei-
Hoffnung in anscheinend ausweglosen Situationen,            träge können die politische Auseinandersetzung infor-
werden eher in ausseruniversitären Einrichtungen wie        mieren, aber im Hinblick auf Entscheidungsprozesse
der Klinikseelsorge, kirchlichen Akademien oder Verei-      nie ersetzen. Entsprechend sind hauptberufliche Ethi-
nigungen von christlichen Angehörigen der Gesund-           ker in Beratungsgremien für Regierung, Gesetzgeber
heitsberufe behandelt. Im Pflichtunterricht des Medi-       oder Ärzteschaft in der Minderheit. Es wird selbst von
zinstudiums haben religiöse Fragen über die ethischen       Vertretern der Bioethik zunehmend zwischen «Diszi-
Positionen hinaus allenfalls in historischer Perspektive    plin und Diskurs» unterschieden [29, 30], d.h. zwi-
als abendländisches Erbe und gegenwärtig als Aspekt         schen der akademischen Reflexion und der Sphäre, in
im Umgang mit muslimischen Patienten ihren Platz            der die Wirklichkeit geprägt wird bzw. die Entschei-
[24]; ferner in freiwilligen Lehrveranstaltungen z.B. für   dungen fallen.
die Orientierung an den eigenen Ressourcen oder den         Die daraus resultierende Einsicht in die begrenzte Wir-
Umgang mit Sterbenden und ihren Angehörigen. Als            kung philosophischer Formulierungen von normativen
Missionierungsversuch werden solche Inhalte von Me-         Ansprüchen hat dazu geführt, dass die deskriptive oder
dizinstudierenden erfahrungsgemäss nicht empfun-            empirische Ethik einen bemerkenswerten Aufschwung
den, eher als Hilfe bei der eigenen Suche angesichts        erfährt [31]. Wenn sich so medizinethische Fragestel-
der proklamierten weltanschaulichen Gleichgültigkeit        lungen stärker den soziokulturellen Realitäten wid-
und dem gleichzeitigen Markt der Angebote.                  men, wäre eine neue Nähe zu den schon immer empi-
                                                            rischen Gebieten der Medical Humanities gegeben,
                                                            nicht zuletzt zu Zeitgeschichte, Medical Anthropology,
Und die Medizin- bzw. Bioethik?                             qualitativer Soziologie und Psychologie. Allerdings ver-
                                                            stehen nicht wenige Autoren empirische Medizinethik
Während im englischen Sprachraum die medizinische           als eher quantifizierend im Sinne von statistisch auszu-
Ethik der übliche Ausgangspunkt der Medical Humani­         wertenden Umfragen und damit näher an naturwis-
ties war – die Fachzeitschrift Medical Humanities (BMJ      senschaftlicher Methodik als am Kerngedanken der
Group) wurde von der Society for the Study of Medical       Medical Humanities. Wahrscheinlich wird sich deren
Ethics bzw. vom Institute for Medical Ethics als Aus-       mögliche Einheit daran entscheiden, inwieweit das
gabe des Journal of Medical Ethics gegründet –, wird        notwendige Spannungsverhältnis zwischen ideogra-
der dort seit den 1990er Jahren erkannte Ergänzungs-        phischem und nomothetischem Ansatz, zwischen den
bedarf einer abstrahierenden Ethik durch solche             diltheyschen Polen des Verstehens und des Erklärens,
Gebiete, die zu moralischer Sensibilität und Persönlich-    ausgehalten und produktiv gestaltet werden kann. Eine
keitsbildung führen [25], durch Vertreter der Medizin-      weitgehende Anpassung an den messenden Ansatz der
ethik in Deutschland bisher weniger betont. Hier folgt      Sciences kann für die Medical Humanities kein Weg
man – bei durchaus gegebener, aber eher partieller          sein. Denn dann würde sie einen wesentlichen Teil ih-
Rezeption US-amerikanischer Modifikationen wie der          rer kritischen und komplementären Funktion gegen-
Care Ethics, der neuen Kasuistik, tugendethischer,          über der «Biomedizin» verlieren.
feministischer oder narrativer Ansätze [26] – zumeist
weiter dem dominierenden US-Modell der Bioethik,
das aus historischen Gründen den Optimismus entwi-

                                                                         Bioethica Forum / 2011 / Volume 4 / No. 4   140
Focus: Medical HuManities

Die Rolle der Medical Humanities                                  Abstract
im Medizinstudium
                                                                  Medical Humanities in Germany: complementary and
Die zentrale Aufgabe der Medical Humanities für die               critical contribution to medicine
Medizin und im Medizinstudium bleibt nämlich, die-                Attempts to strengthen or to establish issues other than
jenigen Themengebiete und Aspekte von ärztlicher Tä-              those of scientific and clinical subjects in the German
tigkeit, Krankheitserfahrung und gesellschaftlicher               medical curriculum also refer to the anglophone con-
Wirkung der Medizin, die einer naturwissenschaftsför-             cept of medical humanities. The fact that history of
migen Erforschung und Darstellung nicht (eventuell                medicine had for a long time been a part of the cur-
auch nur: noch nicht) zugänglich sind, immer wieder               riculum at a majority of medical faculties in Germany
ins Bewusstsein zu rufen, d.h., sie nicht zuletzt in ei-          may be considered to be the most important institu-
nem akademischen Kontext diskursfähig zu halten                   tional starting point. From this point of outset medical
oder zu machen. Sie müssen gegen die starken Tenden-              issues in social and cultural anthropology, literature,
zen aller sozialen Systeme und somit auch der Medizin,            film and philosophy, even in religion could and can be
das, was sich nicht genügend assimilieren lässt, auszu-           introduced into the teaching of students. The perspec-
schliessen, die unerlässliche Funktion solcher oftmals            tives that are broadened by these approaches mainly
als «weich» angesehenen Faktoren in kreativer Form                concern the doctor-patient-relationship, the experience
deutlich machen. Das geschieht einerseits im vielfälti-           of illness and coping with it, the societal context, and
gen Aufweis, dass prinzipiell unabschliessbare grosse             the controversial concepts of medicine and disease.
Fragen wie das Leib-Seele-Problem oder Transzen-                  Compared to common bioethics, the medical humani-
denz- und Kontingenzerfahrungen unerledigt und da-                ties are more concerned with developing (new or addi-
mit stets aufs Neue zu bewältigen sind. Andererseits              tional) human and moral resources than with their reg-
geschieht es dadurch, dass Erlebnis- und Handlungs-               ulation by structuring and coding. Here the more re-
weisen ausserhalb der naturwissenschaftlich gepräg-               cent empirical turn in bioethics, however, might open
ten Medizin als mögliche, wenngleich vielleicht auch              up new areas of overlap.
nur partielle Antworten auf diese Fragen zugänglich
gemacht werden. Es gilt so auch dazu beizutragen,
                                                                  Résumé
dass die Offenheit und der Idealismus junger Menschen
nicht in Abstumpfung oder sogar Zynismus umschla-
                                                                  Sciences humaines en médecine en Allemagne
gen, wenn sie durch Fachstudium und Berufseinstieg
                                                                  – contributions complémentaires et critiques à la
allzu sehr von den bisherigen Quellen zur Bildung ihrer
                                                                  médecine
Persönlichkeit abgeschnitten werden. Welche Zugänge
                                                                  Les tentatives de renforcement ou d’introduction de
über die verschiedenen Sparten der Künste, Geistes-
                                                                  sujets relevant des sciences humaines et sociales dans
und Gesellschaftswissenschaften hier gewählt werden,
                                                                  le cadre de la formation médicale en Allemagne peuvent
hängt in hohem Masse von der (vor allem schulischen)
                                                                  aussi être rattachées au concept anglophone de Medi­
Vorbildung der Studierenden ab, so dass hier eine ge-
                                                                  cal Humanities. En l’occurrence, l’histoire de la méde-
wisse Wahlfreiheit wünschenswert ist. Es hängt aber
                                                                  cine, qui est enseignée dans pratiquement toutes les
auch von der (eher universitären) Vorbildung der Leh-
                                                                  facultés de médecine doit être considérée comme
renden ab, denn nur, was Menschen selbst einmal be-
                                                                  l’élément de référence principal. Dans le cadre de l’en-
geistert hat, was ihnen selbst einmal Möglichkeiten des
                                                                  seignement, c’est à partir de cette matière que peut
Menschseins erschlossen hat, können sie begeisternd
                                                                  être – et est – abordé le sujet de la médecine à travers
vermitteln. Ausschliessliches und vollständiges Abar-
                                                                  l’ethnologie et l’anthropologie culturelle, la littérature,
beiten vorgegebener Lernzielkataloge könnte hier in
                                                                  l’art cinématographique et la philosophie, voire la reli-
verheerender Weise kontraproduktiv sein. Vielleicht
                                                                  gion. Ces approches très larges du domaine de la mé-
wird nirgendwo sonst im Medizinstudium der Unter-
                                                                  decine concernent essentiellement la relation médecin-
schied derart deutlich, der zwischen der zweifellos un-
                                                                  patient, l’expérience de la maladie et de la lutte contre
erlässlichen Ausbildung einerseits und den Bildungs-
                                                                  la maladie, les contextes sociaux ainsi que les concep-
prozessen andererseits besteht; letztere können und
                                                                  tions controversées sur la médecine et la maladie. En
müssen sich selbstverständlich neben den Humanities
                                                                  comparaison avec l’enseignement classique de la bio-
auch an naturwissenschaftlichen und praktischen The-
                                                                  éthique, il est plus généralement question dans le cadre
men vollziehen.
                                                                  des Medical Humanities de la mise en évidence de res-
Interessenskonflikt: Der Autor ist Mitglied der deutschen Fach-
                                                                  sources humaines (nouvelles ou supplémentaires) voire
gesellschaften für Geschichte, Ethnologie und Ethik der Medizin   de ressources morales, que de leur régulation sous la
und hat von dieser Seite Reisekostenerstattungen erhalten.        forme de structures et de codification. En Allemagne,
                                                                  de nouveaux rapprochements pourraient néanmoins
                                                                  résulter d’une récente orientation vers l’approche em-
                                                                  pirique de l’éthique médicale.

                                                                                Bioethica Forum / 2011 / Volume 4 / No. 4   141
Focus: Medical HuManities

                                                                         11. Dilger H, Hadolt B, editors. Medizin im Kontext. Krankheit und Ge-
Korrespondenzadresse                                                         sundheit in einer vernetzten Welt. Frankfurt/M.: Peter Lang; 2010.
Walter Bruchhausen                                                       12. Veatch R. Disrupted dialogue. Medical ethics and the collapse of
Medizinhistorisches Institut                                                 physician humanist communication (1770–1980). New York: OUP;
Sigmund-Freud-Strasse 25                                                     2005.
D-53127 Bonn                                                             13. Von Engelhardt D, Schipperges H. Die inneren Verbindungen zwi-
                                                                             schen Philosophie und Medizin im 20. Jahrhundert. Darmstadt:
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                                                                         14. Klasen EM. Die Diskussion über eine «Krise» der Medizin in
Eingang des Manuskripts: 29.7.2011                                           Deutschland zwischen 1925 und 1935. Mainz: Diss; 1984.
Eingang des überarbeiteten Manuskripts: 11.10.2011                       15. Downie RS. Should medical students read Plato? Med J Aust.
                                                                             1999;170(3):125–7.
Annahme des Manuskripts: 26.10.2011
                                                                         16. Hansen K, editor. Lesebuch für Ärzte. Eine Auswahl klassischer Le-
                                                                             sestücke aus der Lebenswelt des Arztes. Berlin: Henssel; 1950.
                                                                         17. Anschütz F. Ärztliches Handeln. Grundlagen, Möglichkeiten, Gren-
Referenzen                                                                   zen, Widersprüche. Darmstadt: WBG; 1987. p. 260–2.
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 3. Naunyn B. Die Entwicklung der inneren Medizin mit Hygiene und            orie und Praxis von 800 bis 1800. Freibrug/Br.: Alber; 1977.
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    sche, phänomenologische und didaktische Analysen. Göttingen:         23. Kreß H. Medizinische Ethik. Gesundheitsschutz – Selbstbestim-
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                                                                                          Bioethica Forum / 2011 / Volume 4 / No. 4      142
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