Mehr als nur Arbeit am Wort. Vom Zugegensein und den Aufgaben des Übersetzers1
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Gießener Universitätsblätter 53 | 2020 Bernhard Hartmann Mehr als nur Arbeit am Wort. Vom Zugegensein und den Aufgaben des Übersetzers1 1. möglichst wenig auffallen. Manifest wird diese Vorstellung, wenn Rezensenten die Sprach- Der ungarische Literaturnobelpreisträger Imre kunst fremdsprachiger Autoren loben, als hät- Kertész schildert in einem Essay eine Begeg- ten diese die deutschsprachigen Ausgaben ih- nung zwischen dem russischen Regisseur Juri rer Werke selbst verfasst, wenn in Bestenlisten Ljubimow und dem deutschen Dramatiker Tan- Übersetzernamen unterschlagen werden oder kred Dorst in Budapest. Kertész, seinerzeit als wenn kurz vor Beginn eines mehrsprachigen Autor noch völlig unbekannt, fungiert dabei als Podiumsgesprächs hektisches Stühlerücken Dolmetscher (ungarisch-deutsch) für Dorst, für einsetzt, damit auch der Dolmetscher noch ir- Ljubimow dolmetscht eine „Dame“ (rus- gendwie an den Tisch passt. Immerhin ist es in- sisch-ungarisch). Als Dorst eine Ljubimow-In- zwischen selbstverständlich und Vertragspflicht szenierung rühmt, die auch Kertész gefallen der Verlage, dass die Namen der Übersetzer li- hat, überkommt es den Übersetzer: „Während terarischer oder wissenschaftlicher Werke auf ich übersetzte, hatte ich plötzlich die Wahnvor- dem Haupttitel erwähnt werden und nicht stellung, auch ich sei zugegen, und fügte also mehr wie vor noch gar nicht allzu langer Zeit hinzu: ‚Bitte sagen Sie Herrn Ljubimow, daß versteckt im Impressum oder überhaupt nicht. auch ich ihm gratuliere.‘ Darauf die Dame mit Wenn man genauer hinschaut, so stellt man vernichtendem Blick: ‚Sie sollen nicht gratulie- fest, dass in Geschichte und Theorie der Über- ren, sondern übersetzen.‘“2 Zwar geht es setzung die Figur der Ausblendung oder Ver- Kertész an dieser Stelle nicht vorrangig um das drängung des Übersetzungsprozesses und sei- Übersetzen, die Episode soll vielmehr sein Le- ner Akteure früh präsent ist. So heißt es in der bensgefühl zu einer bestimmten Zeit illustrie- Entstehungslegende der Septuaginta, sie sei ren. Doch berührt seine „Wahnvorstellung“ von 70 getrennt arbeitenden Übersetzern auch einen neuralgischen Punkt des Überset- gleichlautend ins Altgriechische übertragen zerdaseins, im Fremd- ebenso wie im Selbstver- worden, was ihren Status als „Werk göttlicher ständnis: Wie „zugegen“ darf, soll oder muss Inspiration“3 untermauern soll und die Über- der Übersetzer sein? Eine pauschale Antwort setzer zu bloßen Medien herabstuft. Auch Hie- darauf gibt es nicht, zu verschieden sind die ronymus, der Schutzheilige der Zunft, spielt Kontexte, in denen übersetzt oder gedol- den für seine Bibelübersetzung den Aspekt des metscht wird, zu unterschiedlich auch die Tem- Schöpferischen und der Interpretation herun- peramente und Prägungen von Dolmetschern ter, wenn er schreibt, er habe „bei der Überset- und Übersetzern. Gleichwohl hängt, was man zung griechischer Texte – abgesehen von den als Aufgaben des Übersetzers (und natürlich Heiligen Schriften, wo auch die Wortfolge ein auch: der Übersetzerin) ansieht, wesentlich von Mysterium ist – nicht ein Wort durch das ande- der Antwort auf diese Frage ab. re, sondern einen Sinn durch den anderen“4 Die landläufig verbreitete Vorstellung vom Zu- ausgedrückt. Diese im christlichen Kontext the- gegensein des Übersetzers ist die einer der Vor- ologisch motivierte Denkfigur – das Wort stellung der Dolmetscherkollegin aus Kertész‘ Gottes soll auch in der Übersetzung seine Au- Anekdote entsprechenden absentia in praesen- torität als göttliche Offenbarung bewahren – tia: Der Übersetzer soll einen Text von einer hält sich in der Reflexion über das Übersetzen Sprache in die andere bringen und ansonsten bis ins 20. Jahrhundert. So endet Walter Benja- 113
Kein Übersetzername. Nirgends: Erzählungen von Best practice oder Übersetzernennung auf dem Buchco- Marek Hłasko in einer Ausgabe von 1958. ver: Gedichte von Adam Zagajewski in einer Ausgabe (Quelle: Autor) von 2012. (Quelle: Autor) mins sprachmetaphysische Schrift Die Aufgabe vergütet wird), mit letzterem das Odium der des Übersetzers mit der Feststellung: „Die In- Manipulation an einem wenn nicht heiligen, terlinearversion des heiligen Textes ist das Ur- so doch ästhetisch als hochautoritativ angese- bild oder Ideal aller Übersetzung.“5 Für die Er- henen Original. Vor allem mit diesem zweiten stellung einer Interlinearversion freilich braucht Aspekt ist wohl zu erklären, warum bis heute es keinen Übersetzer – es genügt jemand, der in bestimmten Kontexten die Namen litera- mit Hilfe von Wörterbuch und Grammatik die rischer Übersetzer nur am Rande erwähnt Bedeutungen und Wortformen bestimmt und oder komplett unterschlagen werden. Ihre so die Struktur des Originals möglichst exakt Nennung macht nämlich schmerzlich be- nachvollziehbar macht (inzwischen täte es wusst, dass, wer eine Übersetzung liest, nicht vermutlich auch eine entsprechend program- das Original liest, sondern ein sekundäres Ori- mierte Maschine). ginal. Wer Witold Gombrowicz auf Deutsch In der Wahrnehmung der Übersetzungsarten liest, liest nicht Gombrowicz, sondern Gom- ist das literarische Übersetzen, von dem hier browicz via Walter Tiel oder Olaf Kühl. Wer vor allem die Rede sein wird, irgendwo zwi- Olga Tokarczuk auf Deutsch liest, liest nicht schen dem Dolmetschen und der Übertragung Tokarczuk, sondern Tokarczuk via Esther Kin- „heiliger Texte“ angesiedelt. Mit ersterem ver- sky oder Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein. bindet es der Charakter der Dienstleistung Wer Ziemowit Szczerek auf Deutsch liest, liest (die aber meist nicht wie eine solche, das heißt nicht Szczerek, sondern Szczerek via Thomas nach tatsächlichem Zeit- und Arbeitsaufwand, Weiler. 114
2. institutionelle Basis für den akademischen und kulturellen Austausch und die Beschäftigung Die visuelle Entsprechung der Verdrängung des mit Polen, von der Wissenschaftler und Über- Übersetzers ist das Bild des einsamen Überset- setzer bis heute profitieren. Wie groß die Wi- zers in der Schreibstube, etwa in ikonischen derstände waren, die es dabei zunächst zu Darstellungen des hl. Hieronymus in seiner Stu- überwinden galt, zeigt eine in vielerlei Hinsicht dierstube, Klause oder Zelle (hier verweist bemerkenswerte Äußerung von Peter Suhr- schon der Doppelsinn des Worts auf den As- kamp, der Dedecius im Jahr 1953 mit den Wor- pekt der Ein- bzw. Aussperrung). Dieses Bild ist ten abwies: „Nach diesem Krieg wird sich in nicht ganz falsch, denn den Kern dieser Tätig- Deutschland niemand mehr für slawische Lite- keit bildet tatsächlich die Arbeit am Text, die oft ratur interessieren.“7 Dass viele seiner Überset- etwas Kontemplatives, Weltabgewandtes hat. zungen und Anthologien polnischer Literatur Es ist aber unvollständig, schon allein deshalb, dennoch im Suhrkamp Verlag erschienen, be- weil die wenigsten Übersetzer ausschließlich legt die Beharrlichkeit und Überzeugungskraft, vom Übersetzen leben (können). Manche ar- mit der Dedecius für seine Sache eintrat. Dem- beiten – zum Broterwerb oder zum Ausgleich – entsprechend würdigt der nach ihm benannte in den unterschiedlichsten Berufen, doch auch Preis explizit auch „herausragende Leistungen Kolleginnen und Kollegen, die das Übersetzen als Übersetzer und Mittler im deutsch-pol- mit Leidenschaft als Hauptberuf und in Vollzeit nischen Kulturdialog“ (so steht es auf der Ur- betreiben, verlassen gelegentlich ihre Schreib- kunde). stube, um mit „ihren“ Autoren auf Lesereise zu Nicht wenige Übersetzer verstehen sich minde- gehen, um auf Buchmessen Verlagsklinken zu stens ebenso sehr als Kulturmittler wie als putzen, für Bücher zu werben und Kontakte zu Sprachkünstler. Ein herausragendes Beispiel ist pflegen oder um Fortbildungen zu absolvieren der zu früh verstorbene Albrecht Lempp, ein oder zu leiten. langjähriger Mitarbeiter von Karl Dedecius, der Für den bis heute bei allen Fortschritten nicht im Jahr 2000 den Auftritt Polens als Gastland spannungsfreien deutsch-polnischen Kontext der Frankfurter Buchmesse organisierte und gilt darüber hinaus in besonderem Maße, dass damit wesentlich zur Neuentdeckung der pol- Übersetzen nicht nur Sprachkunst, sondern an- nischen Literatur in Deutschland beitrug. Aus gesichts von noch immer breitem Unwissen der Arbeitsgruppe entstand anschließend unter und Überheblichkeit auf deutscher sowie teils Lempps Leitung in Krakau das Instytut Ksia˛żki historisch begründeten Vorbehalten auf pol- (Buchinstitut), das seither unter anderem durch nischer Seite immer auch Kulturvermittlung ist. Übersetzungsprogramme für Verlage und Dieser Aspekt bildete einen wichtigen Impuls Übersetzer die Vermittlung polnischer Literatur im Wirken von Karl Dedecius, der am Beginn ins Ausland fördert. Andere können diesem As- der Ausstellung zu dem nach ihm benannten pekt der übersetzerischen Tätigkeit wenig ab- Preis als „Brückenbauer zwischen Polen und gewinnen. So schreibt Esther Kinsky, die sich Deutschland“ gewürdigt wird.5a Auf Dedecius inzwischen mit Gedichten und Romanen als trifft die oft strapazierte Metapher tatsächlich Autorin einen Namen gemacht hat: „Ich halte zu. Er selbst sagte: „Übersetzungen sind die nicht viel von der Betonung der Rolle des Über- Antwort auf den verwirrenden und entzwei- setzers als ‚Brückenbauer‘ und Kulturvermittler. enden Turmbau von Babel. Sie sind der Brü- Der Übersetzer ist kein Fremdenführer, auch ckenbau, der die voneinander getrennten Ufer, wenn die Fremde sein Gegenstand ist. Ein- Landzungen und Menschengruppen wieder blicke in andere Kulturen und Gepflogenheiten zusammenführt.“6 Als Übersetzer und Heraus- mögen ein Nebenprodukt der Veröffentli- geber ebnete Dedecius vielen polnischen Auto- chungen und Verfügbarkeit übersetzter litera- ren den Weg in die deutsche Sprache und nicht rischer Texte sein, aber nicht ihr Zweck und Ziel. selten darüber hinaus. Als Gründer des Deut- Jede Übersetzung ist in erster Linie das Ergeb- schen Polen-Instituts in Darmstadt schuf er eine nis eines Gestaltungsprozesses von Sprache als 115
Der hl. Hieronymus in seiner Studierstube, Werkstatt Pieter Coecke van Aelst (um 1530). (Quelle: Walters Art Museum, Baltimore/Maryland; gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=18783800) Material, der nicht aus der Beschäftigung mit Materie“ vor, weil seiner Auffassung nach einem Gegenstand erwächst, sondern aus der durch Auslassungen im Text und durch das Beschäftigung mit der Spannung zwischen Nachwort der Übersetzerin Shoah und Antise- zwei Arten der Behandlung eines Gegen- mitismus im Vergleich zum Original verzerrt standes.“8 Das Wesentliche an der Überset- dargestellt werden.10 zung sieht Kinsky in der „Art und Weise, wie sie Zeugnis ablegt von der Auseinandersetzung 3. mit den beiden Gegebenheiten des Mensch- seins: Sprache und Fremde“.9 Nicht von unge- Der literarische Übersetzer agiert mithin nie in fähr zitiert sie Benjamins Aufgabe des Überset- einem luftleeren Raum zwischen den Spra- zers, auch wenn sie dessen Sprachmetaphysik chen, sondern in konkreten literarischen, kultu- gleichsam erdet und ins Existenzielle wendet. rellen und zeitgeschichtlichen Zusammenhän- Gleichwohl schützt die Fokussierung auf die gen. Er steht im Austausch mit anderen In- Sprache nicht unbedingt vor Verstrickung in die stanzen und Akteuren der literarischen Kom- deutsch-polnisch(-jüdisch)e Problematik: So munikation, die wiederum selbst miteinander wirft der polnische Germanist und Übersetzer in Beziehung treten können. All das wirkt auf Andrzej Kopacki der von Kinsky übersetzten, den Übersetzer und den Übersetzungsprozess im Vergleich zum Original gekürzten deutsch- ein. Daher hängt die Beziehung zwischen Aus- sprachigen Ausgabe von Joanna Bators Roman gangs- und Zieltext über rein linguistische As- Sandberg eine „Verfälschung der literarischen pekte hinaus potenziell von vielen Faktoren ab 116
– neben dem vom Ausgangstext (dem Original) abgedeckten Spektrum möglicher Überset- zungen unter anderem auch vom Zweck der Übersetzung, den Bedürfnissen der Adres- satengruppe, den Interessen der Auftraggeber oder den Intentionen der Autoren. Angesichts dessen lässt sich mit Umberto Eco das Überset- zen als Tätigkeit bezeichnen, die nicht zuletzt „auf einer Reihe von Verhandlungsprozessen beruht – ist doch Verhandlung genau ein Pro- zess, bei dem man, um etwas zu erreichen, auf etwas anderes verzichtet, und aus dem die Par- teien am Ende mit einem Gefühl von vernünf- tiger wechselseitiger Befriedigung herauskom- men sollten, geleitet vom goldenen Prinzip, dass man nicht alles haben kann“.11 Aus die- sem Prozess kann sich der Übersetzer natürlich weitgehend zurückziehen, häufig ist er aber schon wegen seiner Sprachkenntnis bei derar- tigen Verhandlungen intensiv zugegen und bil- det die Schnittstelle in der Kommunikation vor allem, wenngleich nicht nur zwischen Verlag und Autor (andere Verhandlungspartner kön- nen Veranstalter, Journalisten oder Besucher von Lesungen sein). Im Mittelpunkt stehen da- bei meist praktische Fragen im Zusammenhang Eine umstrittene Neuübersetzung: „Vom Wind verweht“ mit der zielsprachigen Textgestalt, wozu auch von Margaret Mitchell in der 2020 erschienenen Über- setzung von Andreas Nohl und Liat Himmelheber. die Frage von Kürzungen gehört, die immer (Quelle: Buchcover-Download aus dem Internet) heikel sind (Kopacki spricht im angeführten Fall über die konkrete Kritik hinaus ganz grund- sätzlich von „Kastration“), nicht selten als zen. Anstelle von Knut Hamsuns Victoria figu- nachgeholtes Lektorat dem Text aber sehr gut rierte in der Übersetzung John Steinbecks Of tun. Noch interessanter wird es meistens dann, Mice and Men, der norwegische National- wenn Übersetzer sich zu weiterreichenden Ein- dichter Henrik Wergeland wurde durch Lord griffen in den Ausgangstext entscheiden und Byron ersetzt. Die Kritik richtete sich gegen die- damit in der Arbeit am Text ein Zugegensein se „unnötigen Eingriffe von Übersetzerseite“ in beanspruchen, das über den Rahmen des ge- einer ansonsten „gründlichen und avancierten meinhin Akzeptierten hinausgeht. Das führt Übersetzung“.12 Im Feuilleton der FAZ wurde gelegentlich dazu, dass zumindest ansatzweise daraus der Vorwurf, Übersetzerin und Verlag auch im Literaturfeuilleton über das Überset- hätten „das Werk, das die kulturstiftende Kraft zen als solches und die Aufgaben des Überset- des Fragens explizierte, […] stromlinienförmig zers nachgedacht wird. zusammengestrichen, damit es keine Fragen Ende der 1990er Jahre sorgte Paulette Møllers mehr gibt“.13 Unter funktionalem Aspekt lässt Übersetzung von Jostein Gaarders Jugendbuch sich das Vorgehen der Übersetzerin aber durch- Sofies Welt ins Englische für eine Kontroverse. aus rechtfertigen: Im Original sollen die Zitate Auslöser war die Entscheidung der Übersetze- aus norwegischen Schullektüren die philoso- rin, die im Text vorkommenden Zitate aus Wer- phischen Fragen der jugendlichen Hauptfigur ken der norwegischen Literatur durch Zitate motivieren. In der Übersetzung könnten sie aus der englischsprachigen Literatur zu erset- diese Funktion kaum erfüllen, weil Hamsun 117
und Wergeland anders als Steinbeck und Byron Die Neuübersetzung ergänzt in der Erstfassung den wenigsten englischen oder amerikanischen ausgelassene Stellen und erhebt den Anspruch, Mittelschülern bekannt sein dürften. Insofern stärker als diese „dem Originaltext und den sti- kann ein solcher Austausch legitim sein, zumal listischen Intentionen Margaret Mitchells ge- er trotz einer zunächst anderslautenden Erklä- recht zu werden“,14 das heißt einen nüch- rung Gaarders wohl mit dem Autor abgespro- terneren Ton zu finden. Dieser Aspekt der Neu- chen war. übersetzung wird in den Rezensionen durch- Ein neueres Beispiel für kontroverse übersetze- gängig gelobt. Umstritten ist hingegen das von rische Entscheidungen liefert Liat Himmelhebers Nohl formulierte Anliegen einer „möglichst und Andreas Nohls 2020 erschienene Neuüber- strikten Vermeidung von sprachlichen Rassis- setzung von Margaret Mitchells Südstaaten-Epos men bzw. rassistisch anmutenden Beschrei- Gone with the Wind, deren Titel Vom Wind ver- bungsstereotypen“.15 Unter anderem moniert weht (ohne „e“) schon die Distanz zur alten Tobias Döring in der FAZ: „Eine fürsorgliche Übersetzung von Martin Beheim-Schwarzbach Reinigung von anstößigen Wörtern […] tilgt aus dem Jahr 1937 markiert. […] die historische Distanz und nimmt der auf- geklärten Leserschaft Ge- legenheit, den eigenen Verstand zu gebrau- chen.“16 Und Rainer Mo- ritz stellt in der NZZ eine Frage, die im vorliegenden Kontext zentral ist: „,Ne- ger‘ oder ;Nigger‘ tauchen somit nur in wörtlicher Re- de oder dort auf, wo Cha- raktere sich selbst so be- zeichnen; andernorts wer- den sie konsequent durch ,Schwarze‘ und ,Sklaven‘ ersetzt. […] Dennoch stellt sich in diesem Punkt als- bald ein Unbehagen ein, denn was gibt letztlich Übersetzern das Recht, das Original en passant ideolo- gisch zu ,verbessern‘, auf den heutigen, natürlich überlegenen Bewusst- seinsstand zu heben? […] Still und heimlich bleibt so vom ‘unerring African in- stinct’ der Schwarzen nur ein ,unfehlbarer Instinkt‘ übrig.“17 Im Sinne von Ecos Verhandlungskon- zept könnte man auf Mo- ritz‘ Frage antworten: Die- Arbeit am Wort: Julia Hartwigs Gedicht „Słowo“ und die erste Fassung der deut- ses und andere Rechte ge- schen Übersetzung. (Quelle: Autor) ben sich zunächst die 118
Übersetzer selbst und die Verlegerin, die ihre Kulturmittlern, weil wir von der offiziellen Kul- Übersetzung veröffentlicht. Ob die Neuinter- turpolitik heute kaum mehr als Partner in einer pretation – des Textes und in gewisser Hinsicht gemeinsamen Sache, sondern vor allem als po- auch der Übersetzerrolle – akzeptiert wird und tenzielle Gehilfen bei der Erfüllung der jewei- vielleicht gar Maßstäbe setzt, entscheidet sich ligen „Mission“ angesprochen werden (ent- in den daran anschließenden Verhandlungen sprechende Anfragen hatte ich in den letzten mit Publikum und Kritik. Jahren sowohl vom Buch- als auch vom Litera- turinstitut). Aus dem deutsch-polnischen Kul- 4. turdialog ist auf offizieller Ebene großenteils ein polnischer Monolog geworden, womit sich Zurück zum deutsch-polnischen Kontext: Im die Rahmenbedingungen auch unserer Tätig- Zuge des politischen Wandels, der sich seit ei- keit grundlegend verändert haben. nigen Jahren in Polen vollzieht, stellt sich für die Zugleich ist auch die polnische Kultur- und Lite- auch im weiteren Sinne als deutsch-polnische raturszene polarisiert – Gegner und Befürwor- Kulturmittler aktiven Übersetzer die Frage des ter einer Kooperation mit PiS-nahen Instituti- Zugegenseins auf eine ganz neue Art. Nach onen wie dem Literaturinstitut stehen sich teils dem Regierungsantritt von Prawo i Sprawiedli- unversöhnlich gegenüber. Die Frontenbildung wość (Recht und Gerechtigkeit, PiS) im Jahr erinnert fast schon an kommunistische Zeiten, 2015 ist die offizielle Kulturpolitik von einer zu- was bedeutet, dass jede Handlung politisch in- nehmenden Ideologisierung gekennzeichnet, terpretiert wird. Ich kenne Autoren und Kolle- die auch die Arbeit der für den internationalen gen, die angegriffen wurden, weil sie mit den Kulturaustausch zuständigen Institutionen be- vermeintlich falschen Zeitschriften oder Institu- trifft. Die Stoßrichtung beschreibt der polnische tionen zusammengearbeitet haben, und habe Historiker Krzysztof Ruchniewicz kritisch wie selbst schon in skeptische Gesichter geschaut, folgt: „Der Stolz auf die eigene Vergangenheit wenn ich von Gesprächen mit den „neuen“ [soll] Vorrang haben vor der kritischen, (selbst-) Leuten im Buchinstitut oder dem Literaturinsti- aufklärerischen Reflexion der Geschichte.“18 Im tut erzählte. Umgekehrt prüfe auch ich inzwi- Sinne der Parteilinie wurden 2016 auch der Di- schen bei jeder Anfrage vonseiten polnischer rektor und der Vize-Direktor des Krakauer Kulturinstitutionen genau, worum es geht und Buchinstituts ausgetauscht, ebenso wie die mit wem ich es im Zweifelsfall zu tun bekom- meisten Direktoren Polnischer Institute, die im men würde. Häufiger als früher lehne ich An- Ausland polnische Kultur präsentieren und fragen ab, was in einem Fall (einer Ge- wichtige Ansprechpartner bei der Organisation sprächsrunde zur Flugzeugkatastrophe von von Veranstaltungen sind. Anfang 2019 rief Smolensk, an der nur PiS-treue Journalisten Kulturminister Piotr Gliński dann mit dem Ins- und ein mutmaßlicher Verschwörungstheoreti- tytut Literatury (Literaturinstitut) in Krakau eine ker teilnehmen sollten) zu der bezeichnenden weitere Institution zur Literaturförderung ins Rückfrage führte, ob ich denn keinen „rechten“ Leben, deren Ziel explizit die „Umsetzung der Übersetzer bzw. Dolmetscher kenne, der die- staatlichen Kulturpolitik auf dem Gebiet der sen Auftrag übernehmen würde. Gegenwartsliteratur“19 darstellt. Vor diesem Hintergrund stellt sich für mich die Die Ideologisierung der Kulturpolitik betrifft Frage nach dem Zugegensein des Übersetzers nicht nur die Arbeit von liberalen und im von in einer ganz neuen Hinsicht. Einerseits ver- Ruchniewicz angesprochenen Sinne „(selbst-) steht es sich von selbst, dass ich mich mit pol- aufklärerischen“ Künstler, Wissenschaftler, In- nischen Autoren, Übersetzerkollegen oder den stitutionen oder Publikationen in Polen, die verbliebenen integeren, um echten Kulturaus- nun der Nestbeschmutzung oder des mangeln- tausch bemühten Mitarbeitern in den pol- den Patriotismus verdächtigt und von staatli- nischen Kulturinstitutionen solidarisch zeige, cher Förderung ausgeschlossen werden. Sie selbst wenn es nur Gesten sind wie die Protest- betrifft auch die Arbeit von Übersetzern und briefe internationaler und deutschsprachiger 119
Übersetzer gegen kulturpolitische Maßnahmen benes Buch über das Übersetzen21a eröffnete. Es der PiS-Regierung.20 Andererseits halte ich es ging mir darum, exemplarisch einige Fälle und für falsch, sich von außen zu stark in die pol- Kontexte darzustellen, in denen das Zugegen- nischen Debatten einzumischen – gerade im sein des Übersetzers jenseits der Arbeit an der Hinblick auf geschichtspolitische Debatten wä- Sprache und damit letztlich der soziale Aspekt re es anmaßend, wollte man als Deutscher den des Übersetzens manifest wird. Das Übertragen Polen Ratschläge erteilen. Drittens rückt plötz- von Texten kann nämlich einerseits durchaus lich ein Aspekt neu in den Vordergrund, den ich auch als Selbstzweck befriedigend sein, sei es aus den Zeiten meiner ersten Polenfahrten En- als intensivste Form der Lektüre, sei es als kon- de der 1980er, Anfang der 1990er Jahre ken- templative Übung. Andererseits sind es gerade ne: Polen erklären. In dem Maße, in dem sich die sprachlichen Operationen, die heute in noch Deutschland und Polen nach einer Phase der begrenztem, künftig aber vielleicht in umfang- vermeintlich selbstverständlichen Zugehörig- reicherem Rahmen maschinell vollzogen wer- keit zu einem gemeinsamen Europa wieder den können. Anders als einst selbst Pioniere der fremd werden, kommen die angesprochene einschlägigen Forschung glaubten, ist die „voll- deutsche Ignoranz und Überheblichkeit wieder automatische Übertragung von Texten durch auf, andererseits greifen jenseits der Oder Vor- elektronische Rechengeräte“ heute keine Uto- behalte gegen den werte- und identitätsver- pie mehr.22 Doch Übersetzen ist eben nicht nur gessenen westlichen Nachbarn Raum. In dieser Arbeit am Text, sondern auch Arbeit mit dem Situation erhält die Tätigkeit des Übersetzers Text in einem sozialen Umfeld. Solange sich da- heute erneut eine dezidiert politische Dimensi- ran nichts ändert, werden den Übersetzern die on (analog dem „Brückenbau“ der Nachkriegs- Aufgaben nicht ausgehen. zeit): So sehr sie vom Text ausgeht und an ihn gebunden ist, so sehr vermag sie Räume zu schaffen, die einen Blick über den Tellerrand Anmerkungen: 1 des Eigenen hinaus und damit die Möglichkeit Dieser Text basiert auf einem Vortrag, den ich am 29. Januar 2020 auf Einladung von Prof. Hans-Jürgen Bö- zum Austausch und zur Verständigung ermög- melburg anlässlich der Eröffnung der Ausstellung zum lichen. Diese Aufgabe scheint aktuell so wich- Karl-Dedecius-Preis in der Bibliothek der Justus-Lie- tig wie lange nicht mehr. big-Universität gehalten habe. 2 Imre Kertész, „Budapest, Wien, Budapest. 15 Bagatel- len“ (aus dem Ungarischen von Ernö Zeltner), in: ders., 5. Die exilierte Sprache. Essays und Reden, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2003, S. 17–41, hier S. 24. 3 Damit komme ich zum Schluss meines Streif- Ernst Würthwein, Der Text des Alten Testaments, Stutt- gart: Württembergische Bibelanstalt 1966, S. 52; hier zi- zugs durch das Terrain der Aufgaben des Über- tiert nach Radegundis Stolze, Übersetzungstheorien. Ei- setzers. Ich wollte keinen Katalog aufstellen, ne Einführung, 5., überarbeitete und erweiterte Auflage, sondern Felder benennen, auf denen sich das Tübingen: Narr 2008, S. 17, Anm. 16. 4 Hieronymus, „Über die beste Art des Übersetzens. Brief Zugegensein des Übersetzers (und natürlich der an Pammachius“ (aus dem Lateinischen von Wolfgang Übersetzerin) manifestieren kann. Auf welche Buchwald), in: H.-J. Störig, Das Problem des Überset- dieser Felder sich ein Übersetzer begibt und wie zens, 2., durchgesehene und veränderte Auflage, Darm- er sich auf ihnen bewegt, ist eine Frage der in- stadt: WBG 1969, S. 1–13, hier S. 1. 5 Walter Benjamin, Die Aufgabe des Übersetzers, in: dividuellen Disposition und Entscheidung, ein ders., Illuminationen. Ausgewählte Schriften 1, hrsg. v. Patentrezept gibt es nicht und braucht es auch Theodor W. Adorno u. Gretel Adorno, Bd. 1, Frankfurt/ nicht. Bewusst ausgeklammert habe ich Über- Main: Suhrkamp 1977, S. 50–62, hier S. 62. 5a siehe Anmerkung 1. setzungsfragen im engeren Sinne. Die Literatur 6 Karl Dedecius, Vom Übersetzen, Frankfurt/Main: Suhr- zu Fragen der „Treue“, „Äquivalenz“ oder „Lo- kamp 1986, S. 19. 7 yalität“ von Übersetzungen füllt Bibliotheken,21 Karl Dedecius, Ein Europäer aus Lodz. Erinnerungen, verdeckt aber oft die Sicht auf die Akteure, die Frankfurt/Main: Suhrkamp 2006, S. 190. 8 Esther Kinsky, Fremdsprechen. Gedanken zum Überset- mir seinerzeit Umberto Ecos aus Sicht des Theo- zen, Berlin: Matthes & Seitz 2013, S. 8. retikers, Praktikers und Betroffenen geschrie- 9 ebd., S. 25. 120
10 18 Andrzej Kopacki, „Ogień na jeziorku“ [Feuer auf dem Krzysztof Ruchniewicz, „Historische Debatten in Polen Teich], in: Literatura na Świecie 9–10/2018, S. 421–428. – historischer Populismus?“, 15. 11. 2019, https://erin- 11 Umberto Eco, Quasi dasselbe mit anderen Worten. nerung.hypotheses.org/7473 (Zugriff: 3. 5. 2020). 19 Über das Übersetzen, aus dem Italienischen von Burk- So die Beschreibung der „Mission“ („Misja“) des Ins- hart Kroeber, München: Hanser 2003, S. 20. tytut Literatury auf der Institutshomepage: „Celem istni- 12 Gülay Kutal, „Hva er galt med Sophie’s World?“ [Was enia IL jest realizacja polityki kulturalnej państwa w za- ist falsch in Sophie’s World?], in: Samtiden, Tidsskrift for kresie polskiej literatury współczesnej“, https://instytutli- politikk, litteratur og samfundssporgsmål 2/1997, S. 53– teratury.eu/misja/ (Zugriff: 3. 5. 2020). 20 58, hier S. 58. Konkret: Das von Anders Bodegârd initiierte Schreiben 13 Dirk Schümer, „Das Transplantat. Streit um Sofies klit- zur Entlassung von Grzegorz Gauden als Direktor des zekleine Welt“, in: FAZ, 17. 6. 1997. Vgl. dazu ausführ- Buchinstituts (https://wyborcza.pl/1,95891,19998525,- licher meinen Text „Zwischen heiligem Original und au- list-otwarty-tlumaczy-literatury-polskiej-do-ministra-kul- tonomem Translatat. Zum Problem der ‚Treue‘ in Theorie tury.html, Zugriff: 3. 5. 2020) im April 2016 sowie der und Praxis des literarischen und wissenschaftlichen Protest der deutschsprachigen Übersetzer und Literatur- Übersetzens“, in: OderÜbersetzen 1/2010, S. 132–148, vermittler gegen kulturpolitische Maßnahmen der PiS- hier S. 136–138. Regierung im Februar 2018 (https://literaturuebersetzer. 14 „Sprachliche Rassismen vermeiden – Andreas Nohl zur de/aktuelles/es-reicht-protestnote-deutschspra- Neuübersetzung von ‚Vom Wind verweht‘“, https:// chiger-uebersetzer-und-vermittler-polnischer-literatur/, uepo.de/2020/01/07/sprachliche-rassismen-vermei- Zugriff: 3. 5. 2020). 21 den-andreas-nohl-zur-neuuebersetzung-von-vom-wind- Empfehlenswert zur ersten Orientierung nicht zuletzt verweht/ (Zugriff: 3. 5. 2020). – Nohls Text entspricht auch zur Entwicklung der Disziplin sind die unterschied- dem Abschnitt „Zur Übersetzung“ im Anhang der im lichen, kontinuierlich überarbeiteten Auflagen von Rade- Verlag Antje Kunstmann erschienenen Neuübersetzung. gundis Stolze, Übersetzungstheorien. Eine Einführung, 15 ebd. Tübingen: Narr 1994 (die 8. Auflage erschien 2018). 16 21a Tobias Döring, „In flotter Kutsche ohne Anstandswau- siehe Anmerkung 11. 22 wau“, in: FAZ, 4. 1. 2020, https://www.faz.net/aktuell/ Vgl. dazu Thomas v. Randow, „Übersetzungsmaschine feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/ – kostspielige Illusion“, in: Die Zeit 35/1962, https:// vom-wind-verweht-margaret-mitchells-suedstaaten- www.zeit.de/1962/35/uebersetzungsmaschine-kost- epos-in-neuuebersetzung-16564239.html?printPage- spielige-illusion/komplettansicht (Zugriff: 3. 5. 2020). dArticle=true#pageIndex_2 (Zugriff: 3. 5. 2020). Das Zitat stammt von Yehoshua Bar-Hillel. 17 Rainer Moritz, „‘Gone with the Wind’ ist endlich neu übersetzt. Und wird dabei fast zu brav“, in: NZZ, 14. 1. 2020, https://www.nzz.ch/feuilleton/vom-wind-verweht- Kontakt: neu-uebersetzt-und-gruendlich-durchgeputzt-ld. 1532969 (Zugriff: 3. 5. 2020). bernhard.hartmann@web.de 121
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