Außenpolitische Think-Tanks in Krisenzeiten - Einleitung
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NR. 1 FEBRUAR 2021 Einleitung Außenpolitische Think-Tanks in Krisenzeiten Zu Selbstverständnis und Relevanz von Denkfabriken: Debattenbeiträge seit 2017 Nicolas Lux Die Risse in der internationalen Ordnung, mit denen sich Politik und wissenschaft- liche Politikberatung seit einigen Jahren konfrontiert sehen, werden durch die Corona-Pandemie und ihre Folgen vertieft. Schon der Ausgang des Brexit-Referen- dums 2016 und die erratische Amtsführung von US-Präsident Donald Trump zwischen 2017 und 2021 haben langgehegte außenpolitische Annahmen über eine immer weiter fortschreitende Globalisierung und einen regelbasierten Multilateralismus in Frage gestellt. Verunsichert durch diese Entwicklungen, die einhergehen mit wachsendem Populismus und der Ausbreitung von »Fake truths«, hat die Szene der außenpoliti- schen Think-Tanks darüber zu diskutieren begonnen, welche Auswirkungen auf die wissenschaftliche Politikberatung erkennbar sind. Im Folgenden werden einschlägige Debattenbeiträge der letzten Jahre vorgestellt, die um Leitfragen wie diese kreisen: Welche Herausforderungen sehen Think-Tanks angesichts eines zunehmend polari- sierten politischen Umfelds für ihre Beratungsarbeit, und wie sollten sie sich gegen- über Öffentlichkeit und Politik positionieren? Und wie können Think-Tanks in diesen ungewissen Zeiten ihre Unabhängigkeit und wissenschaftliche Integrität bewahren? Schon 2016 ließ der britische Politiker Bezug auf die Covid-19-Pandemie: »There’s Michael Gove im Zuge der Brexit-Kampagne no such thing as just ›following the provozierend verlauten: »People in this science‹ – coronavirus advice is political« country have had enough of experts!« Eine (The Guardian, 2020). Auswahl an Schlagzeilen der internatio- Think-Tanks (im Deutschen auch: Denk- nalen Presse mag ebenfalls illustrieren, fabriken), die auf dem Feld der Außenpoli- welche Richtung die Debatte um Wissen- tik unabhängige und wissenschaftliche Ex- schaft, Expertise und Think-Tanks in den pertise anbieten, wirken darauf hin, Regie- letzten Jahren eingeschlagen hat: »Die irri- rungen und Parlamente bzw. politische tierten Experten« (Süddeutsche Zeitung, Führungskräfte mittels relevanter, multi- 2017); »Are think tanks doomed?« (Politico, disziplinärer, anwendungsorientierter und 2017); »Can think tanks survive a post-fact faktensicherer Analysen zu beraten, sei es world?« (The Economist, 2019) – und mit über Publikationen, Briefings oder andere
Formate. Durch die Arbeit solcher Think- lichen Zeitschriften sowie Meinungsstücke, Tanks soll die Politik ein besseres Verständ- etwa im Blogformat, beginnend 2017 – nis der internationalen Beziehungen gewin- also im Nachgang zum Brexit-Referendum nen und dabei unterstützt werden, infor- und zur Amtseinführung von US-Präsident mierte Entscheidungen in außen- und Trump. Die Beiträge unterscheiden sich in sicherheitspolitischen Fragen zu fällen (für Format und Länge, spiegeln insgesamt aber weiterführende Definitionen vgl. Lars Brozus die facettenreich geführte Diskussion in und Hanns Maull 2017, siehe empfohlene und zwischen außenpolitischen Denkfabri- Literatur). Auf beiden Seiten des Atlantiks ken wider. haben Außenpolitik-Think-Tanks eine größere Bedeutung in öffentlichen Debat- ten erlangt, wofür es mehrere Gründe gibt. Aktuelle Herausforderungen Treiber der Entwicklung sind zuvorderst der Think-Tank-Arbeit eine wachsende politische Polarisierung in westlichen Demokratien, das Aufkommen Anfang 2021 waren im Transparenzregister von Verschwörungsmythen und »postfakti- des Europäischen Parlaments und der Euro- schen« Wahrheiten in politischen Diskur- päischen Kommission 571 Einrichtungen sen sowie eine wachsende Skepsis in Teilen gelistet, die sich selbst der Kategorie »Denk- der Bevölkerung gegenüber Eliten über- fabriken und Forschungseinrichtungen« haupt. Damit einhergehend ist auch das zuordnen (Stand 4.2.2021). Der Wissens- Verhältnis zwischen Politik und Politik- markt, auf dem Politikberatungsangebote beratung Veränderungen unterworfen und an Regierungen und Parlamente herange- zusehends von Misstrauen geprägt. Weitere tragen werden, wird dabei nicht nur durch Faktoren kommen hinzu, wie ein zuneh- Think-Tanks geprägt, sondern auch durch mend kompetitiver »Wissensmarkt«, auf viele nichtwissenschaftliche Akteure wie den vermehrt nichtwissenschaftliche An- etwa Banken und Beratungsagenturen. bieter drängen, und die Corona-Pandemie Einen grundlegenden Wandel auf die- seit 2020, die einen Schock für Politik und sem »Marktplatz der Ideen« konstatierte Gesellschaften weltweit darstellt. Betroffen 2019 Thomas Gomart in einer Sonderpublika- von diesen Entwicklungen sind auch etab- tion zum 40-jährigen Jubiläum des Pariser lierte Institute, darunter Denkfabriken Institut français des relations internationa- angelsächsischer Prägung, von denen die les (Ifri). Als Triebfeder für die Veränderung wissenschaftliche Politikberatung in den der Arbeit von Think-Tanks sieht er weniger internationalen Beziehungen nach dem technologische Innovationen wie Big Data, Ersten Weltkrieg maßgeblich begründet sondern eine gewandelte Beziehung von wurde, so etwa Chatham House in Groß- Denkfabriken zu ihren traditionellen Haupt- britannien und der Council on Foreign Re- kontaktgruppen – Politik, Wirtschaft, lations in den USA. Die Szene der Foreign- Medien und akademische Wissenschaft. Policy-Think-Tanks erlebte so während der Begünstigt werde dieser in der westlichen letzten Jahre einen Diskussionsprozess, der Welt zunehmende Trend durch einen Ver- angesichts einer Vielzahl von Unsicherhei- trauensverlust der Öffentlichkeit gegenüber ten in der internationalen Politik um die Autoritäten und Expertise, durch eine Pola- eigene Relevanz, das eigene Selbstverständ- risierung der politischen Landschaft und nis und die eigene Zukunft kreiste. durch wachsende sozio-ökonomische Un- Im Folgenden werden einschlägige Bei- gleichheit, so Gomart unter Berufung auf träge europäischer und angelsächsischer Daniel Drezner und Tom Nichols, zwei Außenpolitik-Think-Tanks aufgegriffen, die amerikanische Professoren im Bereich der jeweils einen Teil dieser Debatte abbilden. internationalen Beziehungen. Die Folge sei, Die Auswahl umfasst Redebeiträge auf dass Think-Tanks auf demselben Markt mit Konferenzen (zugänglich als Audio- oder anderen »opinion leaders« konkurrierten, Textdatei), Publikationen in wissenschaft- wie politischen Bewegungen, Beratungs- SWP-Zeitschriftenschau 1 Februar 2021 2
firmen und Medien. Diesem Umfeld ist laut wachsendem Misstrauen gegenüber einer Gomart ein Relativismus zu eigen, der Globalisierung, die von ihnen in den letz- »Wahrheit« nurmehr als soziales Konstrukt ten Jahrzehnten nur selten kritisch hinter- gelten lasse, was die Verbreitung von Ver- fragt worden sei. Als Symptome dieser schwörungstheorien und die Manipulation Eliten-Skepsis wertet Niblett unter anderem von Informationen (»fake news«) begüns- das Brexit-Referendum und Trumps Wahl- tige. Weiter polarisiert werde der Ideen- sieg von 2016. Diese Ereignisse seien kon- Marktplatz durch wirtschaftliche Faktoren, trär zu etablierten »internationalistischen« da finanzielle Ressourcen ungleich verteilt Experten-Meinungen eingetreten. In den würden, wovon eher etablierte Think-Tanks USA und Großbritannien ergaben sich poli- mit internationalem Einfluss profitierten. tische Mehrheiten, die den jahrzehntealten Zur Polarisierung trage außerdem bei, dass Konsens über die Grundzüge der westlich autoritäre Regime gezielt eigene Denkfabri- geprägten liberalen und regelbasierten ken gründeten und förderten, während Weltordnung in Frage stellten – also die deren Pendants in Demokratien allzu oft bisherige Arbeitsgrundlage westlicher weniger finanzielle Unterstützung seitens Außenpolitik-Think-Tanks. Laut Niblett »ihrer« Regierung erhielten. In diesem Zu- sehen sich Denkfabriken nun viel stärker sammenhang sieht der Autor auch den auch im eigenen Land mit den gesellschaft- Aufstieg Chinas als große Herausforderung lichen Auswirkungen einer globalisierten für außenpolitische Think-Tanks. Peking Politik konfrontiert; dabei gehe es um habe in den letzten Jahren enorme Sum- soziale Teilhabe, kulturelle Identität und men in die Schaffung solcher Institute ge- die tatsächlichen Vorteile der Globalisie- steckt und dafür unter anderem auch aus- rung. Drittens weist Niblett auf die Repu- wärtige Expertinnen und Experten rekru- tationsrisiken für Think-Tanks hin, die von tiert. Diese Einrichtungen sollen demnach ihren jeweiligen Finanzierungsmodellen in die Lage versetzt werden, international ausgehen. Dabei unterscheidet er nicht vor allem mit amerikanischen Think-Tanks zwingend zwischen öffentlichen und priva- zu konkurrieren. Dem Anspruch einer ten Geldgebern. Vielmehr bestehe die Internationalisierung stehe jedoch das Gefahr darin, dass Denkfabriken weniger wachsende Bestreben der chinesischen Füh- kritisch und innovativ arbeiteten, wenn rung gegenüber, angesichts »gefährlicher« ihre Geldgeber Institutionen (und damit westlicher Werte und Ideen die eigene deren Werte) repräsentierten, die für den ideologische Kontrolle weiter zu festigen. Status quo der internationalen Beziehun- Robin Niblett, Direktor von Chatham gen einträten. Darüber hinaus könnten House, benannte 2018 in der Zeitschrift Think-Tanks in den Verdacht geraten, in- »International Affairs« drei zentrale Heraus- haltlich beeinflussbar zu sein. Denn gene- forderungen, denen sich Think-Tanks heute rell sei der Trend wahrzunehmen, dass stellen müssten. Erstens veränderten neue neben privaten Unternehmen und Stiftun- Kommunikationstechnologien die Art und gen zunehmend auch ausländische Regie- Weise, wie Politik gemacht und legitimiert rungen in Think-Tanks investierten – vor werde. In einer Welt des Überflusses an allem solche mit Sitz in Washington, Brüs- Nachrichten und Meinungen komme Ana- sel und London –, um auf diese Weise die lysen von Think-Tanks mitunter weniger eigene »soft power« zu stärken. Beachtung zu, wenn sie nicht tagesaktuelle Auf einer Paneldiskussion 2019 zum Entwicklungen im Fokus hätten. Die Stärke 100-jährigen Bestehen des Council on eines Think-Tanks, durch umfangreiche Foreign Relations (CFR) sprach dessen Präsi- Forschung größere Zusammenhänge auf- dent Richard N. Haass über die Herausforde- zubereiten, sei nicht mehr hinreichend rungen, denen sich Think-Tanks auf dem relevant für die Zielgruppe. Zweitens sähen Feld der internationalen Beziehungen an- sich Think-Tanks mit einem öffentlichen gesichts ihrer veränderten Rollenfunktion Klima konfrontiert, das geprägt sei von stellen müssten. Demnach ist es für Think- SWP-Zeitschriftenschau 1 Februar 2021 3
Tanks heutzutage schwierig, bei den außen- höhte Konkurrenz auf dem »market for politischen Eliten weiterhin Gehör zu fin- ideas«, wo sich zunehmend auch universi- den und gleichzeitig den eigenen Wirkungs- täre Denkfabriken um die Aufmerksamkeit kreis im Rahmen einer zu beobachtenden des politischen Kundenkreises bemühten. »Popularisierung« der außenpolitischen Vor allem seien es jedoch nichtwissen- Debatten auszuweiten. Bei vielen Think- schaftliche Mitbewerber, die davon profi- Tanks sei problematisch, dass sie durch tierten, dass die Legitimität des »Establish- vorherrschende Grundannahmen zur inter- ments« in Politik und Wissenschaft erodie- nationalen Ordnung die eigene Forschungs- re. So entstehe ein Umfeld, in dem bewusst arbeit ebenso eingrenzten wie die Rekrutie- Argumente eingesetzt würden, die nicht rung neuer Wissenschaftlerinnen und auf Fakten beruhen müssten. Da Think- Wissenschaftler. Bevor bestimmte Empfeh- Tanks laut Balfour keine eigene politisch- lungen erarbeitet und nach außen hin gesellschaftliche »constituency« besitzen, vertreten werden könnten, müssten Think- die ihnen eine grundlegende Legitimität Tankerinnen und Think-Tanker ihre außen- verleihen könnte, liefen sie Gefahr, schutz- politischen Prämissen – etwa dass die Nato los zu sein gegenüber der Kritik von popu- oder der freie Handel »etwas Gutes« seien listischer Seite. Dort würden Think-Tanks – hinterfragen und stets neu begründen, als geschlossene Echokammern dargestellt, um mehr Akzeptanz beim Adressatenkreis die dazu beitrügen, dass Politik eine reine zu erlangen. Forscherinnen und Forscher in Elitenangelegenheit bleibe. Think-Tanks sind Haass zufolge allzu oft intellektuell voreingenommen. Sie müssten bestimmten vorgegebenen Linien folgen, Vorwärtsstrategien für Think- um publizieren zu können, was eine wei- Tanks in Krisenzeiten tere Politisierung der Debatte über die internationalen Beziehungen befördere. In der Debatte über die Herausforderungen, Dadurch kämen Think-Tanks in eine Posi- denen sich Think-Tanks dieser Tage stellen tion, in der sie bei einem unregulierten müssen, spielen auch Erwägungen über Meinungswettbewerb, wie er vor allem im die längerfristige Zukunft der Branche eine Internet stattfinde, weniger gut bestehen Rolle. Dazu gehören vor allem Vorschläge, könnten. wie sich das angespannte Verhältnis zu Rosa Balfour befasste sich 2017 – als Öffentlichkeit und Politik verbessern ließe, Senior Transatlantic Fellow beim German in welcher Weise sich Think-Tanks intern Marshall Fund of the United States – eben- verändern sollten und wie sie ihre (wissen- falls mit den Reputationsrisiken, die Think- schaftliche) Unabhängigkeit und Integrität Tanks durch ihre Finanzierungsmodelle wahren könnten. erwachsen können. Wie sie in einem »Stra- In einem Beitrag für die Zeitschrift tegic Update« für den IDEAS-Think-Tank »Internationale Politik« von 2017 stellen der London School of Economics (LSE) aus- Sarah Brockmeier (vom Berliner Global führte, sei das Feld der Außenpolitik kein Public Policy Institute) und Heiko Nitzschke »elite’s business« mehr, das sich getrennt (Forschungsbeauftragter des Planungsstabs von innenpolitischen Erwägungen betrei- im Auswärtigen Amt, mit privater Mei- ben ließe. Dies zeige sich etwa an migra- nung) eine verbesserte Kommunikation und tionsbezogenen Themen. Angesichts aktu- Außenwirkung der Politikberatung in den eller Trends wie Fake News und Populismus Mittelpunkt möglicher Lösungsstrategien. sei die Frage brisanter geworden, woher Demnach kann der Kontakt mit Bürgerin- einzelne Denkfabriken ihre Mittel bezie- nen und Bürgern den Think-Tanks grund- hen. Als intransparent empfundene Finan- sätzlich dabei helfen, sich zielorientierter zierungswege könnten die Integrität eines in einem schwierigen politisch-gesellschaft- Think-Tanks rasch in Zweifel ziehen. Des lichen Umfeld zu positionieren und sich Weiteren sieht Balfour ebenfalls eine er- aus den als geschlossen wahrgenommenen SWP-Zeitschriftenschau 1 Februar 2021 4
»Experten-Echokammern« hinauszubewe- Ein Mehr an Innovationen sowie ethni- gen. In dem Aufsatz wird dafür plädiert, die scher, geschlechtlicher und sozialer Diver- allgemeine Bürgerschaft, deren außenpoli- sität im Forschungsbereich von Think- tisches Interesse laut Umfragen zunehme, Tanks fordert auch Rosa Balfour in dem stärker als eigene Zielgruppe von Think- bereits erwähnten Beitrag für die LSE. Des Tank-Arbeit zu betrachten. Für die wissen- Weiteren wirbt sie für bessere Aufstiegs- schaftliche Politikberatung könne sich ein chancen junger Kolleginnen und Kollegen. Mehrwert ergeben, wenn in Bürgergesprä- Gleichzeitig müssten Forschungsmethoden chen über reale außenpolitische Zielkon- durch kollaborative und interdisziplinäre flikte und normativen Dissens zu interna- Ansätze weiterentwickelt werden. Think- tionalen Fragen debattiert würde. Am Ende Tanks sollten ferner ihre bisherigen Ziel- stünden möglicherweise andere Ergebnisse gruppen erweitern, um gesellschaftlich als beim Austausch in etablierten Außen- relevante Entwicklungen besser erfassen politik-Kreisen. Neben dem Gebrauch von und in die eigene Arbeit einbeziehen zu einfacherer und klarer Sprache wird auch können. vorgeschlagen, außenpolitische Diskussions- Andere Autoren rücken den Austausch formate vermehrt aus den Hauptstädten zwischen Think-Tanks und Politik in den hinauszuverlagern und neuartige Verbrei- Fokus ihrer Überlegungen. Angesichts der tungswege für Forschungsergebnisse zu Corona-Krise müssten Denkfabriken ihr erproben. Wäre die Rolle von Think-Tanks Verhältnis zur Politik verbessern, schreibt nicht mehr nur die eines »Meinungsgebers«, Oliver Thränert, Leiter des Think-Tanks am sondern verstärkt auch jene eines »Facilita- Center for Security Studies der ETH Zürich, tors« notwendiger gesellschaftlicher Debat- in einem Beitrag für die Reihe »Policy ten, müssten sie intensiver über ihr eigenes Perspectives« von April 2020. Zwar seien Aufgabenprofil nachdenken, wie Brock- Think-Tanks selbst nicht demokratisch meier und Nitzschke schlussfolgern. Eine legitimiert, doch bedürften demokratisch solche Entwicklung könne Denkfabriken legitimierte Entscheidungsprozesse in der eine höhere gesellschaftliche Akzeptanz Politik einer wissenschaftsbasierten, inter- verschaffen. disziplinären Beratung. Damit Denkfabri- Andere Beiträge konzentrieren sich auf ken dieser Verantwortung während der die Frage, wie Think-Tanks sich personell, Pandemie und darüber hinaus gerecht wer- organisatorisch und in ihrer Außenkom- den können, ist laut Thränert eine stärkere munikation neu aufstellen können. Shada Vermischung von Regierungs- und Think- Islam, damals Direktorin für Europa und Tank-Personal notwendig, wie es sie in den Geopolitik bei Friends of Europe in Brüssel, USA traditionell gegeben habe (»Drehtür- verlangte 2018 auf einer Veranstaltung des Kultur«). Expertinnen und Experten könn- ebenfalls in Brüssel ansässigen Think-Tanks ten so auf beiden Seiten mehr Erfahrung Bruegel, dass Denkfabriken vor allem in sammeln, Think-Tanks wiederum ihr Wis- kommunikativer Hinsicht ihre wissen- sen zielgerichteter in die ministerielle schaftliche Expertise verständlicher und mit Verwaltung einspeisen. Thränert plädiert mehr Überzeugungskraft transportieren dafür, die wissenschaftliche Politikberatung müssten, um im Aufmerksamkeitswett- durch eine Reihe von Elementen relevanter bewerb mit anderen Akteuren bestehen zu zu machen: durch mehr Berührung mit können. Das Feld der sozialen Medien dürfe politischen Prozessen, durch eine praxis- nicht denjenigen überlassen werden, die nähere Ausbildung von Think-Tank-For- mit unwahren Behauptungen und illibera- scherinnen und -Forschern, politikaffinere len Diskursen die Öffentlichkeit und Politik Beratungsformate und eine Stärkung der zu beeinflussen suchten. Personell müssten Interdisziplinarität zwischen Natur-, Sozial- sich Think-Tanks diverser aufstellen, um und Politikwissenschaften. So sei aktuell responsiver gegenüber ihrer Umwelt wer- der Anteil an politikberatenden Natur- den zu können. wissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern SWP-Zeitschriftenschau 1 Februar 2021 5
noch zu gering. Vor allem während der angelegt sei. Regierungsgeschäfte sind laut Pandemie hätten Think-Tanks deshalb das Haass zu sehr von tagesaktuellen Entwick- Bild vermittelt, nur eingeschränkt reaktions- lungen bestimmt, als dass Analysen von fähig und somit für die Politik begrenzt Denkfabriken dort adäquat in Entschei- hilfreich zu sein. dungsprozesse einbezogen werden könn- Lars Brozus, Senior Fellow an der Berliner ten. Think-Tanks sollten in langfristigen Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Bahnen denken, um die nächste Generation warnt in einem Meinungsbeitrag von Sep- an politischen Führungskräften zu errei- tember 2020 vor den möglichen Nachteilen chen. Auf diese Weise könnten sie größeren einer Lösungsstrategie, die in der Haupt- Einfluss auf die Zukunft der außenpoliti- sache auf einen intensivierten Austausch schen Debatten nehmen. von Think-Tanks mit der Gesellschaft und Einen ethischen Rahmen für Think- politischen Führungskräften setzt. Vor- Tanks fordert Fabian Zuleeg, Chief Executive schläge wie jene, den Bürgerkontakt zu am Brüsseler European Policy Centre (EPC), verstärken oder eine europäische »Drehtür- in einem Diskussionspapier von September Kultur« zu etablieren, erscheinen ihm an- 2020. Wenn Think-Tanks demokratisch gesichts der gegenwärtigen Polarisierung legitimierte Entscheidungsprozesse weiter- wie aus der Zeit gefallen. So habe auch die hin direkt beeinflussen wollten, müssten Corona-Krise die Akzeptanz einer wissen- sie den Anspruch entwickeln, klar definier- schaftlichen Politikberatung nicht erhöht. ten ethischen Grundsätzen zu folgen. Un- Brozus verweist auf die Lage in den USA, ethisch handelnde Denkfabriken, die ihre wo die Unabhängigkeit wissenschaftlicher Arbeit manipulativ für politische Zwecke Expertise in politischen Auseinanderset- einsetzten, betrachtet Zuleeg als Gefahr für zungen angezweifelt werde und wissen- demokratische Prozesse im Allgemeinen. schaftliche Positionen im Meinungskampf Da missbräuchliches bzw. unethisches gezielt vereinnahmt würden (»weaponizing Verhalten eines Mitbewerbers bislang nur science«). Vor diesem Hintergrund müssten schwer erfasst und nicht geahndet werden sich Denkfabriken vor allem über ihre könne, sei es geboten, einen ethischen eigene politische Rolle im Klaren sein. Sie Handlungs- und Orientierungsrahmen für hätten einerseits Transparenz zu gewähren, Think-Tanks zu schaffen. Anders als bei auch bei der eigenen Finanzierung, rigide der traditionellen akademischen Forschung Standards der Qualitätssicherung einzuhal- existierten in der Politikberatung keine ten und Multiperspektivität in Forschungs- einheitliche Definition und keine Standards fragen zu schaffen. Andererseits sollten sie für ethische Regeln, denen eine normative sich auch ihrer eigenen Unzulänglichkeiten Kraft innewohnt. Dem Autor zufolge müss- bewusst sein; dazu zählten »(scheinbare) ten ethisch handelnde Think-Tanks die Fehlschläge« ebenso wie »tatsächliche Irr- Prinzipien der Unabhängigkeit, des Multi- tümer«, mit denen offen umzugehen sei. Stakeholder-Ansatzes, der Transparenz und Der Autor schließt mit der Feststellung, der eigenen Good Governance erfüllen. Ein dass durch eine angemessene Distanz zur entsprechender Rahmen wäre laut Zuleeg Politik und durch Selbstaufklärung eine gemeinschaftlich und »bottom-up« zu ent- politische Vereinnahmung verhindert wer- wickeln; unterstützen ließe er sich durch de und die eigene Unabhängigkeit, Glaub- finanzielle Anreize einer möglichen »Allianz würdigkeit und Relevanz gewahrt bleiben europäischer Think-Tanks«. Unethisches könne. Verhalten könnte dadurch sanktioniert Für Distanz zu politischen Prozessen werden, dass man von dem Verbund aus- plädierte auch Richard N. Haass auf der er- geschlossen bliebe. Negative finanzielle wähnten Diskussionsveranstaltung des CFR Auswirkungen der Corona-Pandemie auf im Jahr 2019. Think-Tanks sollten mehr Think-Tanks könnten einen solchen Zu- konzeptionelle Forschungs- und Beratungs- sammenschluss umso dringlicher machen. arbeit leisten, die nicht bloß »day-to-day« SWP-Zeitschriftenschau 1 Februar 2021 6
Auswege & Ausblick die Rahmenbedingungen in den interna- tionalen Beziehungen weiter verändern Alle hier behandelten Stellungnahmen – werden. Übungen in »strategischer Voraus- ob kürzere Rede- und Meinungsbeiträge schau« (SWP-Aktuell 42/2020) können oder umfassendere Zeitschriftenaufsätze – ihnen wie auch der Politik dabei helfen, auf thematisieren die Polarisierung und Politi- »denkbare Überraschungen« besser gefasst sierung des wissenschaftlich-politischen zu sein. Grundsätzlich sollten Denkfabriken Diskurses und das Misstrauen von Teilen auf dem schwierigen Feld der Außenpolitik der Gesellschaft gegenüber Eliten in Wis- nicht nur im Blick haben, wie auf die nächste senschaft und Politik. In der Frage, welche Krise zu reagieren ist, sondern auch was die Auswege sich Think-Tanks bieten, um mit wissenschaftliche Politikberatung während dieser schwierigen Gesamtlage umzugehen, solcher Phasen und darüber hinaus über- werden sehr unterschiedliche Lösungs- haupt leisten soll und kann. Soll sie sich ansätze sichtbar. Sie reichen von der Emp- in erster Linie an den Kreis der politischen fehlung, den Austausch mit gesellschaft- Entscheidungsträgerinnen und Entschei- lichen und politischen Akteuren zu inten- dungsträger richten? Soll Außenpolitik also sivieren, bis hin zu Appellen, die wissen- weiterhin eher ein »elite’s business« blei- schaftliche Politikberatung solle hier eher ben? Oder sollen Think-Tanks vielmehr zu eine gewisse Distanz wahren. Allerdings ist einer »Popularisierung« des außenpoliti- sämtlichen Beiträgen das Bestreben gemein, schen Diskurses beitragen, indem sie ihren Ansätze zu finden, mit denen sich Glaub- Adressatenkreis erweitern? Werden sie auf würdigkeit und Relevanz der Politikbera- einem ohnehin gedrängten Wissensmarkt tung in Zeiten der Polarisierung auf ein dann noch als relevante Akteure wahr- solides bzw. breiteres Fundament stellen genommen? Einheitliche Antworten lassen lassen. Als zentral gilt dabei vor allem, die sich hierzu ob der Heterogenität der außen- wissenschaftliche Unabhängigkeit zu wah- politischen Think-Tank-Landschaft und der ren, Transparenz zu pflegen, unter ande- Vielzahl an verschiedenen Organisations- rem bei den eigenen Finanzen, und offen und Finanzierungsmodellen nicht einfach zu sein gegenüber Diversität und innova- geben. Die Debatten innerhalb politikbera- tiver Forschung. tender Institute und zwischen ihnen sollten Erwähnenswert ist jedoch auch, was die jedoch Fragen nach der eigenen Legitimität behandelten Beiträge unerwähnt lassen. Sie und wissenschaftlichen Integrität im Fokus gehen alle davon aus, dass die Think-Tank- behalten. Branche heute mit einem schwierigen bzw. Fundierte Bestandsaufnahmen zur sich verschlechternden (außen-)politischen Think-Tank-Szene können dazu beitragen, Umfeld konfrontiert sei. Welche Maßstäbe die genannten Fragen zu beantworten. dabei jedoch an den Zustand der interna- In diese Richtung zielt eine Studie, die tionalen Beziehungen angelegt werden, wie Christoph Bertram, früherer Direktor der sich auf dieser Basis der Schwierigkeitsgrad SWP, und Christiane Hoffmann vom Magazin für die Think-Tank-Arbeit ermitteln lässt »Spiegel« im September 2020 zur deutschen und wo eine tiefergehende Diskussion über Think-Tank-Landschaft in der Außen- und die aktuellen Herausforderungen beginnen Sicherheitspolitik herausgegeben haben. könnte, wird in den Stellungnahmen nicht Auch Ansätze, die Arbeit der wissenschaft- näher beleuchtet. Grund dafür könnte lichen Politikberatung etwa durch neue unter anderem sein, dass ein Unbehagen Theoriemodelle zu bereichern (z.B. um die besteht, die eigenen weltanschaulichen Science and Technology Studies, wie Felix Grundsätze und Erwartungen (persönlicher Schenuit in einem SWP-Arbeitspapier von oder institutioneller Art) offenlegen und 2017 darlegt), können die Debatte in außen- zur Diskussion stellen zu müssen. politischen Think-Tanks sinnvoll ergänzen. Dessen ungeachtet müssen außenpoliti- sche Think-Tanks davon ausgehen, dass sich SWP-Zeitschriftenschau 1 Februar 2021 7
Besprochene Publikationen Empfohlene Literatur Balfour, Rosa, What Are Think Tanks for? Bertram, Christoph/Christine Hoffmann, Policy Research in the Age of Anti-expertise. Forschen und Beraten in der Außen- und What Role Can and Should Think Tanks Play Sicherheitspolitik. Eine Analyse der deutschen in a ›Post-truth‹ World?, London: London Think-Tank-Landschaft, Berlin: Robert School of Economics and Political Science Bosch Stiftung und Stiftung Mercator, (LSE), Dezember 2017 (Strategic Update, 2020 Nr. 17.7) Brozus, Lars/Hanns W. Maull, »Think Brockmeier, Sarah/Heiko Nitzschke, Tanks and Foreign Policy«, in: Oxford © Stiftung Wissenschaft »Mehr Marktplatz, weniger Papier. Think Research Encyclopedia of Politics, Oxford: und Politik, 2021 Tanks sollten stärker den Dialog mit der Oxford University Press, 2017 Alle Rechte vorbehalten breiteren Öffentlichkeit suchen«, in: Perthes, Volker, »Scientific Policy Advice Internationale Politik, (2017) 6, S. 30–35 and Foreign Policymaking – Stiftung Die Zeitschriftenschau gibt Brozus, Lars, Politikberatung: nicht unpolitisch, Wissenschaft und Politik (SWP), the die Auffassung des Autors wieder. aber distanziert, Berlin: Stiftung Wissen- German Institute for International and schaft und Politik, 7.9.2020 (Kurz gesagt) Security Affairs«, in: Justus Lentsch/Peter In der Online-Version dieser Gomart, Thomas, »Changes in the Think Weingart (Hg.), The Politics of Scientific Publikation sind Verweise Tank Industry«, in: Thierry de Mont- Advice. Institutional Design for Quality Assur- auf SWP-Schriften und brial/Thomas Gomart, What Is a Think ance, Cambridge: Cambridge University wichtige Quellen anklickbar. Tank? A French Perspective, Paris: French Press, 2011, S. 286–294 SWP-Zeitschriftenschauen Institute of International Relations (Ifri), Schenuit, Felix, Modelle wissenschaftlicher werden intern einem Begut- November 2019, S. 55–61 Politikberatung auf dem Prüfstand. Impulse achtungsverfahren, einem Haass, Richard N., A Century of Think Tanks, für die Politikwissenschaft aus den Science and Faktencheck und einem New York: Council on Foreign Relations Technology Studies, Berlin: Stiftung Wissen- Lektorat unterzogen. Weitere (CFR), 6.5.2019 schaft und Politik, 2017 (Arbeitspapier Informationen zur Qualitäts- sicherung der SWP finden Islam, Shada, Why Think Tanks Matter in the FG EU/Europa, Nr. 03) Sie auf der SWP-Website Era of Digital and Political Disruptions, unter https://www.swp- Brüssel: Bruegel, 30.01.2018 berlin.org/ueber-uns/ Niblett, Robin, »Rediscovering a Sense of qualitaetssicherung/ Purpose. The Challenge for Western SWP Think-Tanks«, in: International Affairs, Stiftung Wissenschaft und 94 (2018) 6, S. 1409–1429 Politik Thränert, Oliver, Politikberatung in Corona- Deutsches Institut für Zeiten, Zürich: CSS ETH, April 2020 Internationale Politik und (Policy Perspectives, Bd. 8/2) Sicherheit Zuleeg, Fabian, An Ethical Framework for Ludwigkirchplatz 3–4 Think Tanks: Easier Drafted Than Done?, 10719 Berlin Brüssel: European Policy Centre, Telefon +49 30 880 07-0 21.9.2020 (Discussion Paper, Europe’s Fax +49 30 880 07-100 Political Economy Programme) www.swp-berlin.org swp@swp-berlin.org ISSN 1611-6380 doi: 10.18449/2021ZS01 Nicolas Lux ist Programm-Manager im Brüsseler Büro der SWP. SWP-Zeitschriftenschau 1 Februar 2021 8
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