Melting Pot statt Stammesverband? - Lukas Sarvari - De Gruyter

 
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Lukas Sarvari
Melting Pot statt Stammesverband?
Wolfgang Pohrts Kritik des Multikulturalismus der 1980er Jahre
und ihre Grenzen
„Der Ansatz für Multikulti ist gescheitert, absolut gescheitert“, erklärte Angela
Merkel 2010 auf dem Deutschlandtag der Jungen Union in Potsdam.¹ Was zu-
nächst als spätes Bekenntnis zur „deutschen Leitkultur“ und als Aufruf zu stär-
keren Integrationsbemühungen gewertet wurde, entpuppte sich schon damals bei
näherem Hinsehen als Abgesang auf eine vermeintliche laissez-faire-Haltung
gegenüber Migranten und als Appell zu einer aktiveren Regulierung der soge-
nannten interkulturellen Beziehungen. In der Folge begannen etwa die Bemü-
hungen um die staatliche Aus- und Fortbildung von religiösem Personal in der
Deutschen Islamkonferenz, von der zugleich fast alle liberalen Teilnehmer suk-
zessive ausgeschlossen wurden. Die institutionelle Repräsentation von Migranten
aus islamisch dominierten Herkunftsländern und deren Nachfahren obliegt in-
zwischen fast ausschließlich konservativ-orthodoxen und islamistischen Ver-
bänden. Zwischenzeitlich hat sich die Kanzlerin den Ausspruch „Der Islam gehört
inzwischen auch zu Deutschland“, den der damalige Bundespräsident Christian
Wulff 2010 geäußert hatte, zu eigen gemacht. Mittlerweile sind zahllose staatliche
und semi-staatliche Organisationen mit Antirassismus- und Antidiskriminie-
rungsarbeit betraut. „Vielfalt“ ist zu einer Leitvokabel der Berliner Republik
avanciert, ohne die kein Wahlkampf mehr zu gewinnen ist. Identitätspolitische
Auseinandersetzungen um die Frauenverschleierung im öffentlichen Dienst, um
die Speisepläne von Kantinen, um die Freistellung moslemischer Mädchen vom
Schwimmunterricht, um die Gewährung von Gebeten während der Schul- oder
Arbeitszeit, um die „Beschneidung“ moslemischer Mädchen und Knaben, um die
Anerkennung im Ausland geschlossener Mehrehen und dergleichen mehr gehö-
ren heute wie selbstverständlich zur gesellschaftlichen Debatte, obwohl derglei-
chen bis in die jüngere Zeit hinein noch undenkbar erschienen wäre. Es scheint,
als sei der Multikulturalismus in Deutschland, nachdem Merkel ihn für „ge-
scheitert“ erklärt hat, erst richtig zu sich selbst gekommen. Mit einer bemer-
kenswerten Wortwahl hat Wolfgang Schäuble 2016 im Zuge der Flüchtlingskrise
dieses Credo unterstrichen: „Die Abschottung ist doch das, was uns kaputt ma-

 Zit. nach o.A., „Merkel erklärt Multikulti für gescheitert“, Spiegel Online, 16.10. 2010, https://
www.spiegel.de/politik/deutschland/integration-merkel-erklaert-multikulti-fuer-gescheitert-a-
723532.html (Stand: 17.07. 2021).

   Open Access. © 2023 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von De Gruyter.           Dieses
Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
https://doi.org/10.1515/9783110702729-012
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chen würde, was uns in Inzucht degenerieren ließe. Für uns sind Muslime in
Deutschland eine Bereicherung unserer Offenheit und unserer Vielfalt. Schauen
Sie sich doch mal die dritte Generation der Türken an, gerade auch die Frauen!
Das ist doch ein enormes innovatorisches Potenzial!“²

I
Die Regierungspolitik der 2010er Jahre lässt leicht in Vergessenheit geraten, dass
die Unionsparteien noch vor wenigen Jahrzehnten eine Ausländer- und Immi-
grationspolitik vertreten haben, die so manche heutige Entgleisung der AfD locker
in den Schatten stellt. Nachdem sich während der 1980er Jahre insbesondere
durch den Familiennachzug der Gastarbeiter und steigende Asylbewerberzahlen
aus den Ostblockstaaten und Dritte-Welt-Ländern der Ausländeranteil in der
Bundesrepublik auf circa fünf Prozent verdoppelt hatte und die Christdemokraten
durch die Rechtsabspaltung der Republikaner Konkurrenz bekommen hatten,
wetterte die Union lauthals gegen „Wirtschaftsflüchtlinge“ und „Scheinasylan-
ten“. Auf dem Bundesparteitag der CDU 1989 sprach man sich für eine Zuzugs-
begrenzung aus³ und fasste einen Beschluss gegen den „Mißbrauch des Asyl-
rechts“.⁴ Zugleich warnte der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble
davor, „daß Aussiedler und Übersiedler und Ausländer und Asylbewerber mit-
einander vermischt und miteinander vermengt werden.“⁵ Die sogenannten
„Volksdeutschen“, die vor allem aus Polen und Rumänien, später aus den Län-
dern der ehemaligen Sowjetunion, in die Bundesrepublik einwanderten, sollten
weiterhin als ‚Blutsdeutsche‘ privilegiert werden. Wegen des am Abstammungs-
prinzip, ergo: der „Volkszugehörigkeit“, orientierten Staatsbürgerrechts hatte die
Bundesrepublik Ende der 1980er Jahre die niedrigste Einbürgerungsquote unter
allen vergleichbaren europäischen Nationen.
     Einen scheinbaren Widerpart stellte innerhalb der Union der bis 1989 am-
tierende Generalsekretär Heiner Geißler dar, der offensiv darauf pochte, die
Realität Westdeutschlands als Einwanderungsland anzuerkennen, und der seine
Plädoyers für die Arbeitserlaubnis von Asylbewerbern oder das kommunale

 Zit. nach o.A., „Afrika wird unser Problem sein“, in: Zeit Online, 08.06. 2016, https://www.zeit.
de/politik/deutschland/2016-06/wolfgang-schaeuble-aussenpolitik-wandel-afrika-arabische-
welt (Stand: 21.03. 2021).
 Vgl. Christlich Demokratische Union Deutschlands, 37. Bundesparteitag der Christlich Demo-
kratischen Union Deutschlands. Niederschrift, Bonn 1989, S. 471.
 Christlich Demokratische Union, 37. Bundesparteitag, S. 473.
 Christlich Demokratische Union, 37. Bundesparteitag, S. 355.
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Ausländerwahlrecht mit einem offenen Bekenntnis zum Multikulturalismus ver-
band. Tatsächlich zielten seine ausländerfreundlichen Interventionen eher auf
eine Frischekur für die bundesrepublikanische Bevölkerung. In seinem 1990 er-
schienenen Buch Zugluft, das sich mit Politik in stürmischer Zeit befasste und eine
Zusammenfassung seiner Positionen in den unterschiedlichen Parteikämpfen
darbot, widmete er der multikulturellen Gesellschaft ein eigenes Kapitel, in dem er
die Notwendigkeit der Einwanderung unentwegt mit dem durch den sogenannten
„Pillenknick“ verursachten Geburtendefizit, mit der drohenden „Altenlast“⁶,
„Vergreisung“⁷ und gar „Alterssklerose“⁸ der Deutschen begründete. Ohne Ein-
wanderung, so warnte er, würde aus den Deutschen „innerhalb weniger Jahr-
zehnte ein vergreisendes und sterbendes Volk.“⁹ Den Pragmatismus, mit dem die
Ausländer für den Arbeitskräftenachschub und die Bewältigung eines anste-
henden Pflegekollapses eingespannt werden sollten, verband Geißler mit einem
schwärmerischen Kulturverständnis. Obzwar er seine Vision des Multikulturalis-
mus als Antidot zum völkisch-nationalen Denken innerhalb der Union verstand –
das er etwa an einem umstrittenen Edmund-Stoiber-Zitat exemplifizierte, wonach
der damalige bayerische Innenminister vor einer „durchrassten und durch-
mischten Gesellschaft“ gewarnt habe¹⁰ – entpuppte sich sein Projekt eines bun-
desrepublikanischen Vielvölkerstaats seinerseits als Konglomerat kulturell zer-
gliederter Abstammungsgemeinschaften, in denen eine ‚Durchmischung‘ gerade
nicht drohe:

     Natürlich ist jeder Mensch, ob Deutscher oder Türke, in seiner Heimat verwurzelt. Nicht nur
     die Sprache, auch Erfahrungen der Eltern und Großeltern werden vererbt [sic] und weiter-
     gegeben. Jeder ist in der Geschichte seines Volkes verhaftet. […] Multikulturelle Gesellschaft
     bedeutet die Bereitschaft, mit Menschen aus anderen Ländern und Kulturen zusammenzu-
     leben, ihre Eigenart zu respektieren, ohne sie germanisieren oder assimilieren zu wollen.¹¹

Dass Geißler als gemeinsames Dach der vielfältigen Volkskulturen die univer-
sellen Menschenrechte, die Philosophie der Aufklärung oder auch die Kunst
vorschwebten, unterschied ihn zwar von noch hermetischeren Kulturschützern,
drückte sich aber wiederum in rassebiologisch konnotierten Formeln aus, etwa

 Heiner Geißler, Zugluft. Politik in stürmischer Zeit, 2. Auflage, München 1990, S. 185.
 Geißler, Zugluft, S. 186.
 Geißler, Zugluft, S. 186.
 Geißler, Zugluft, S. 182.
 Vgl. Geißler, Zugluft, S. 181.
 Geißler, Zugluft, S. 193.
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wenn er die klassische Musik als „rassenübergreifend“ lobte oder von der
„Kreuzung der Kulturen“ schwärmte.¹²
     Einen Mitstreiter fand Heiner Geißler in dem Grünenpolitiker und Ex-Sponti
Daniel Cohn-Bendit, mit dem zusammen er 1991 den Sammelband Einwander-
bares Deutschland oder Vertreibung aus dem Wohlstands-Paradies? herausgab, in
dem Geißler sein bevölkerungspolitisch begründetes Plädoyer für den Multikul-
turalismus erneuerte.¹³ Cohn-Bendit war im Juli 1989 zum ehrenamtlichen
Stadtrat und ersten Dezernenten des neu gegründeten Amts für Multikulturelle
Angelegenheiten (AMKA) in Frankfurt am Main ernannt worden. Als „interna-
tionalste“ Stadt der Bundesrepublik bot sich Frankfurt seinerzeit für dieses ein-
malige Modellvorhaben an. Für Cohn-Bendit war die multikulturelle Gesellschaft
anders als für Geißler kein politisches Ziel, sondern eine soziale Tatsache, die es
anzuerkennen und ‚gestalterisch‘ zu verwalten gelte. In seiner ersten Rede vor der
Frankfurter Stadtverordnetenversammlung erklärte er die Aufgabe seines Amts
damit, anderen Behörden „Anregungen und Hilfestellungen“ im Umgang mit
anderen Kulturen zu geben, die „Einbeziehung [der Ausländer] in den demokra-
tischen Prozeß“ vorzubereiten und im Falle von Konflikten zwischen „Mehrheit
und Minderheiten“ zu vermitteln.¹⁴ In seinem mit Thomas Schmid verfassten
Buch Heimat Babylon über Das Wagnis der multikulturellen Demokratie wird das
Amt als „Vermittlungsstelle zwischen Deutschen und Migranten, aber auch zwi-
schen Migranten“ beschrieben: „Es versteht sich dagegen nicht als Klagemauer
gegen Deutsche. […] Das Amt will beide Seiten ins Gespräch bringen; Vermittlung,
nicht Konfrontation ist sein Weg.“¹⁵ Damit grenzte sich Cohn-Bendit gegen den
Fundi-Flügel seiner Partei ab, dem er eine Verklärung der Ausländer vorwarf.
Keinesfalls sollte das Amt als „Ausländer-Lobby“¹⁶ wahrgenommen werden. Ge-
genüber dem Spiegel beteuerte Cohn-Bendit: „Multikulturell heißt ja nicht das
Eigenständige verlieren“,¹⁷ er wolle „keinem seine deutsche Kultur wegneh-

 Geißler, Zugluft, S. 197.
 Heiner Geißler, Deutschland – ein Einwanderungsland?, in: Daniel Cohn-Bendit u. a. (Hrsg.),
Einwanderbares Deutschland oder Vertreibung aus dem Wohlstandsparadies?, Frankfurt am
Main 1991, S. 9 – 23.
 Daniel Cohn-Bendit, Ein kommunales Experiment. Einige Antworten auf die Frage: Was soll
das Ganze – ein Dezernat für Multikulturelle Angelegenheiten?, in: Cohn-Bendit u. a. (Hrsg.),
Einwanderbares Deutschland, S. 44– 52, hier S. 45.
 Daniel Cohn-Bendit/Thomas Schmid, Heimat Babylon. Das Wagnis der multikulturellen De-
mokratie, Hamburg 1992, S. 287.
 Cohn-Bendit, Ein kommunales Experiment, S. 45.
 o.A., „Bank und Gras, das paßt zusammen“ – SPIEGEL-Interview mit dem Grünen Daniel
Cohn-Bendit über Frankfurter Stadtpolitik, in: Der Spiegel, 19.03.1989, www.spiegel.de/politik/
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men“.¹⁸ Die Amtsleiterin Rosi Wolf-Almanasreh forderte die „Gewährleistung des
kulturellen Pluralismus“.¹⁹ Dass es sich bei der bundesrepublikanischen Gesell-
schaft um ein je nach kulturellen Eigenarten segregiertes Bevölkerungsgemisch
handele, stand für Cohn-Bendit und sein Amt nicht nur außer Frage, sondern
sollte obendrein unter behördlichen Schutz gestellt werden. Das amerikanische
Ideal des melting pot galt als „gescheitertes Modell“, das Zuwanderer zu „Op-
fer[n]“ mache, die „umgemodelt“ würden.²⁰
     Aus Sicht einer Politik der Differenz sei „Assimilation“, so der kanadische
Theoretiker des Multikulturalismus Charles Taylor, „die Todsünde gegen das Ideal
der Authentizität.“²¹ Authentizität hat Taylor als Treue zu sich selbst verstanden
und – den „Volksgeist“-Gedanken Johann Gottfried Herders paraphrasierend –
hinzugesetzt: „Wie das Individuum, so sollte auch das ‚Volk‘ sich selbst, das heißt
seiner Kultur treu sein.“²² Die Anerkennung des Einzelnen müsse die Anerken-
nung seiner kulturellen Identität einschließen. Daraus erwachse ein Recht auf
kulturelle Selbsterhaltung, das den ‚differenz-blinden‘ universalistischen Libe-
ralismus beschränke, der seinerseits bloß noch als partikulare Kulturausprägung
des imperialistischen Europas zu gelten hätte. Die geforderte Verrechtlichung des
Kulturerhalts setzt voraus, Kultur als etwas zu verstehen, das über das Verhalten
leibhaftiger Individuen hinausgeht und diese vielmehr als Glieder eines organi-
schen Kollektivs ansieht: Wenn Zuwanderer sich assimilieren, sie „umgemodelt“
werden, verlieren sie nach dieser Logik ihre authentische Kultur, bei der es sich
um etwas Originäres, Überliefertes und Angestammtes handeln muss. Wer zu
welcher Kultur gehört – und für wen demnach mögliche Gruppenrechte gelten
sollten –, kann sich demnach nur über die Herkunft bestimmen, so wie es bei-
spielsweise in Kanada, wo der Multikulturalismus seit den 1980er Jahren Ver-
fassungsrang hat, die Herkunft der Eltern ist, die darüber entscheidet, ob man
eine englischsprachige oder frankophone Schule besuchen darf bzw. muss. „Wir
müssten demnach glauben“, so der britische Philosoph Kenan Malik, „dass das,

bank-und-gras-das-passt-zusammen-a-7f900849-0002-0001-0000-000013494471 (Stand: 21.03.
2021).
 Thomas Darnstädt, „Die Grünen verklären die Asylbewerber“ – Frankfurts designierter De-
zernent für Multikulturelles, Daniel Cohn-Bendit, über die Ausländerpolitik seiner Partei, in: Der
Spiegel,     28.05.1989,     www.spiegel.de/politik/die-gruenen-verklaeren-die-asylbewerber-a-
c492bb5a-0002-0001-0000-000013496169 (Stand: 21.03. 2021).
 Zitiert nach Laura Mestre Vives, Wer wie über wen? Eine Untersuchung über das Amt für
multikulturelle Angelegenheiten, Pfaffenweiler 1998, S. 31.
 Cohn-Bendit/Schmid, Heimat Babylon, S. 316 – 317.
 Charles Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt am Main 1993,
S. 29.
 Taylor, Multikulturalismus, S. 20.
328            Lukas Sarvari

was ein Mensch tun sollte, durch das vorgegeben wird, was seine Vorfahren taten.
Kultur wird auf diese Weise über biologische Abstammung bestimmt. Und ‚bio-
logische Abstammung‘ ist nur eine vornehme Art, ‚Rasse‘ zu sagen.“²³
     Das Ziel des Frankfurter Amts für Multikulturelle Angelegenheiten, den
„kulturellen Pluralismus“ zu gewährleisten, verfolgte dieses unter anderem mit
der Unterstützung von Folkloreveranstaltungen mit orientalischer Musik, der
Ausrichtung eines festlichen „Tags der deutschen Vielfalt“ oder der Hilfestellung
bei der Gründung und Betätigung von migrantischen Kulturvereinen.²⁴ Sowie
soziale Gruppen auf vermeintliche kulturelle Identitäten festgenagelt werden,
werden jedoch zugleich soziale Konflikte kulturalisiert. Mit dem Erhalt kultureller
Vielfalt wird somit auch die Brisanz kultureller Konflikte konserviert, die der
Lebenssaft einer Institution ist, die sich vornehmlich der interkulturellen Ver-
mittlung, Verständigung und Versöhnung verschrieben hat. Dass die Sortierung
der Stadtgesellschaft in kulturell definierte Konfliktparteien nicht bei allen Be-
troffenen auf Begeisterung stieß, zeigte sich, als das AMKA sich anschickte, als
eine seiner ersten Amtshandlungen eine als empirische Untersuchung angelegte
„Bestandsaufnahme“ der Frankfurter Sinti und Roma anzufertigen, woraufhin der
Landesverband deutscher Sinti und Roma das Amt bezichtigte, eine „Sonderer-
fassung der Sinti und Roma in Karteien und Dateien oder sonstigen Unterlagen“²⁵
zu planen. Cohn-Bendit musste sich vor der Stadtverordnetenversammlung ent-
schuldigen, schrieb jedoch im Nachgang der Affäre:

      Wo Sinti und Roma auftauchen, werden sie in aller Regel schnell zu troublemakers, die fast
      ausschließlich als Last und Zumutung erscheinen und die in der Tat insofern asozial, oder
      genauer: nicht-sozial sind, als sie nicht erkennen lassen, daß sie zu der Gesellschaft, in der
      sie leben, Zugang finden wollen.²⁶

Wohlwollende Töne hat Cohn-Bendit hingegen gegenüber den islamischen Ge-
meinden angeschlagen. Der „Umgang der Deutschen mit der moslemischen
Minderheit“ werde die „Nagelprobe für die multikulturelle Gesellschaft sein“.²⁷
Sechzehn verschiedene islamische Religionsgemeinschaften gab es seinerzeit in
Frankfurt. Bereits vor der Einrichtung des Amts hatte Cohn-Bendit angekündigt,
„eine Moschee zu bauen, damit die Türken nicht immer im Keller beten müs-

 Kenan Malik, Das Unbehagen in den Kulturen. Eine Kritik des Multikulturalismus und seiner
Gegner, Frankfurt am Main 2017, S. 54.
 Vgl. Amt für Multikulturelle Angelegenheiten, Zweieinhalb Jahre Amt für Multikulturelle
Angelegenheiten, Frankfurt am Main 1993, S. 86 – 94.
 Zitiert nach Mestre Vives, Wer wie über wen?, S. 39.
 Cohn-Bendit/Schmid, Heimat Babylon, S. 289.
 Cohn-Bendit/Schmid, Heimat Babylon, S. 306.
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sen.“²⁸ Ein repräsentativer Moscheebau sollte „verhindern, daß sich fundamen-
talistische Kräfte zusammenschließen, um ihrem Anliegen mehr Geltung zu ver-
schaffen.“²⁹ Es stellte sich jedoch heraus, „daß die verschiedenen islamischen
Gemeinden nicht veranlaßt werden können und sollten, sich nun auf ein einziges
Gotteshaus zu ‚einigen‘.“³⁰ Ausgerechnet die Tatsache, dass saudische Wahabiten
und – zum Missfallen vieler Kurden – das türkische Diyanet in Frankfurt um
Einfluss rangen, wurde zugleich als Beispiel dafür angeführt, „daß die Unter-
schiedlichkeit der verschiedenen Glaubensrichtungen unsererseits unbedingt
respektiert werden muß.“³¹ Die Kompromisslösung, die jedoch nie verwirklicht
wurde, sah den Bau eines „Islamischen Kulturzentrums“ vor, in dem neben
mannigfachen Gebetsräumen und einer Bibliothek auch ein „türkisches Bad“
Platz finden sollte, „das auch muslimischen Frauen in einem geschützten Raum
die Gelegenheit zum Baden und Schwimmen gibt“³² – als sei ihnen in der Bun-
desrepublik in irgendeinem öffentlichen Bad jemals der Zutritt oder Schutz ver-
wehrt worden.
     Die Fokussierung auf den Islam – in den Arbeitsberichten des Amts wurden
unter dem Stichwort „interreligiöser Dialog“ andere Religionen nicht einmal er-
wähnt³³ – hing auch damit zusammen, dass in den 1980er Jahren Moslems nicht
nur im Rahmen des Familiennachzugs der türkischen Gastarbeiter, sondern zu-
nehmend auch als Asylbewerber aus Bürgerkriegsgebieten wie dem Libanon zu-
gezogen waren. Gerade die Flüchtlinge hatten es Cohn-Bendit angetan, denen er
eine besondere Leistungsfähigkeit und ein außerordentliches Bereicherungspo-
tential attestierte: „Die meisten Asylbewerber sind Menschen, die eine irrsinnige
Energie haben“, erklärte er im Spiegel-Interview: „Die haben es geschafft, aus
ganz kaputten Zusammenhängen zu fliehen. Und diese Energie würden sie un-
heimlich produktiv einsetzen hier in dieser Gesellschaft. Sie würden viele Ar-
beiten machen.“³⁴ Dem Ruf seiner Partei nach einem Bleiberecht für alle wollte er
sich dennoch nicht anschließen: „Akzeptieren wir also die Menschen, die es ge-
schafft haben, hierherzukommen; aber seien wir vorsichtig in den Signalen, die

 Darnstädt, „Die Grünen verklären die Asylbewerber“.
 Amt für Multikulturelle Angelegenheiten, Zweieinhalb Jahre, S. 97.
 Amt für Multikulturelle Angelegenheiten, Zweieinhalb Jahre, S. 97.
 Amt für Multikulturelle Angelegenheiten, Zweieinhalb Jahre, S. 97.
 Amt für Multikulturelle Angelegenheiten, Zweieinhalb Jahre, S. 98.
 Vgl. Amt für Multikulturelle Angelegenheiten, Zweieinhalb Jahre, S. 97– 98, sowie Amt für
Multikulturelle Angelegenheiten, Fünf Jahre Amt für Multikulturelle Angelegenheiten. Bericht
über Aufgaben und Maßnahmen der Stadt Frankfurt am Main im Bereich Integration und inter-
kulturelle Entwicklung, Frankfurt am Main 1996, S. 142– 144.
 Darnstädt, „Die Grünen verklären die Asylbewerber“.
330            Lukas Sarvari

wir setzen nach außen.“³⁵ Das Verständnis von Asylrecht und Grenzschutz als
Selektionsmechanismen, denen nur die Durchsetzungsstärksten und Belast-
barsten standhalten, ist hier bereits vorgezeichnet. Einen zeitgemäßen Ausdruck
fand es 2018 in der Kampagne des „Integrationsdienstleisters“ Social-Bee, der die
Vermittlung arbeitssuchender Flüchtlinge mit Slogans bewirbt wie „Ich bin
stressresistent – Auf der Flucht wurde ich verhaftet und mehrere Tage verhört“.³⁶
Cohn-Bendits Tenor, wonach Flüchtlinge und Einwanderer zu „akzeptieren“ sei-
en, sofern sie eine besondere Produktivität vorweisen können und eine Berei-
cherung der kulturellen Vielfalt darstellen, konnte sich schon 1989 die CDU an-
schließen, die mit ihrer Einwanderungspolitik nicht nur der Überalterung der
Bevölkerung vorbeugen wollte, sondern auch auf ihrem Bundesparteitag festge-
halten hatte: „Durch ihre Lebensweise und Lebensauffassung haben die Aus-
länder vielen Deutschen Anstöße zur Bereicherung von kulturellem Leben und
Freizeitverhalten gegeben.“³⁷

II
„Kein Wunder“, befand der Sozialforscher und Ideologiekritiker Wolfgang Pohrt
in einem 1989 gehaltenen Vortrag,

      daß Cohn-Bendit, der frischgebackene Frankfurter Dezernent für Multikulturelles, einerseits
      den Einheimischen ihre Heimatliebe und den Türken ihre Moschee gönnt, und daß er an-
      dererseits volles Verständnis dafür zeigt, daß die bundesrepublikanischen Grenzen ge-
      schlossen bleiben. Es stellt nämlich – folgt man Cohn-Bendit – einen Verstoß gegen die
      Menschenwürde dar, wenn gläubige Moslems in Frankfurt kein Gebetshaus haben. Es stellt
      keinen Verstoß gegen die Menschenwürde dar, wenn die Grenzpolizei sich den armen Teufel
      aus Anatolien greift, um das Bündel Elend postwendend wieder dorthin zu schicken, wo es
      in Armut verkommen wird.
            Cohn-Bendits Empfindsamkeit in kulturellen und religiösen Angelegenheiten einer-
      seits, andererseits sein Einverständnis mit der Verteidigung bundesrepublikanischer Gren-
      zen gegen anrückende Habenichtse, zeigt nun in einem exemplarischen Fall, welche
      Funktion das Konzept der multikulturellen Gesellschaft erfüllt. Es erfüllt den Zweck, sich für
      schmutzige Arbeit das gute Gewissen zu sichern[.]³⁸

 Darnstädt, „Die Grünen verklären die Asylbewerber“.
 http://www.employ-refugees.de/#soft-skills (Stand: 21.03. 2021).
 Christlich Demokratische Union, 37. Bundesparteitag, S. 470.
 Wolfgang Pohrt, Multikulturelle Gesellschaft. Kultur im Zehnerpack, in: Wolfgang Pohrt,
Multikulturelle Gesellschaft. Rassismus für den gehobenen Bedarf. Zwei Vorträge, Berlin 2021,
S. 45 – 80, hier: S. 50 – 51.
Melting Pot statt Stammesverband?         331

Für Pohrt, der zu dieser Zeit bereits den Unmut zahlloser Linker und Grüner auf
sich gezogen hatte, weil er in den Friedens- und Umweltbewegungen der 1980er
Jahre eine wiederaufflammende Begeisterung für Heimatschutz und nationalen
Schollenkult erkannt hatte, war ebenso der Multikulturalismus nur ein leidlicher
Umweg, um dem völkischen Gemeinsinn der Deutschen Bahn zu brechen. Aus der
Forderung „multikulturelle Gesellschaft“ gelinge es, so Pohrt, „logisch ganz
konsequent die Forderung ‚Ausländer raus‘ abzuleiten.“³⁹

      Wenn nämlich jedwede regelhafte Form des Daseins zu erhaltenswerten Nationalkultur er-
      klärt und deshalb den Einwanderern in der Bundesrepublik nicht nur das Recht zugestanden
      wird, sondern man von ihnen förmlich erwartet, daß sie homogene und separate Gruppen
      bilden, deren vornehmste Aufgabe und deren legitimes Ziel es ist, die mitgebrachten Sitten
      und Bräuche gegen neue Einflüsse zu verteidigen, dann ist es nicht länger einzusehen,
      warum eigentlich den Deutschen dies Recht, ihre eigene Nationalkultur zu bewahren, sogar
      im eigenen Land vorenthalten werden soll.⁴⁰

Pohrt musste nicht hellsehen können, um Formationen wie die Identitäre Bewe-
gung vorherzusagen, die heute im Jargon linker Identitätspolitik die kulturelle
Autonomie weißer Europäer verteidigen. Der neurechte Ethnopluralismus hatte
sich schon zu seiner Zeit als Schwesterideologie des Multikulturalismus be-
merkbar gemacht. Das Loblied auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das in
den Nachkriegsjahrzehnten vor allem von der Linken angestimmt worden war,
ertönte nun auch von rechts. Das multikulturelle Paradigma der Neuen Linken,
wonach die Völker schützenswerte kulturelle Kollektive bildeten, konnte es daher
auch den Deutschen erlauben, „sich selbst das Recht auf die erbitterte Verteidi-
gung des eigenen Stallgeruchs unter dem Vorwand zu nehmen, es den Ausländern
geben zu wollen.“⁴¹ Auch ohne dass es den Fürsprechern des Multikulturalismus
notwendigerweise als „ausgeklügelte Strategie“⁴² bewusst gewesen sei, hätten sie
sich doch als Zuarbeiter der Fremdenfeinde betätigt. Schließlich teilten multi-
kulturelle Grüne und ausländerfeindliche Republikaner die gemeinsame Über-
zeugung, „daß Einwanderer nicht als ganz normale Bürger zu betrachten sind,
sondern daß sie eine ethnische oder kulturelle Fremdgruppe bilden, deren
Fremdheit dann wiederum je nach Geschmack als eine Bereicherung oder als eine
Bedrohung der hiesigen Kultur empfunden wird, wobei beide Parteien die Exis-
tenz dieser Kultur grundlos unterstellen.“⁴³

   Pohrt, Multikulturelle Gesellschaft, S. 52.
   Pohrt, Multikulturelle Gesellschaft, S. 52.
   Pohrt, Multikulturelle Gesellschaft, S. 52– 53.
   Pohrt, Multikulturelle Gesellschaft, S. 61.
   Pohrt, Multikulturelle Gesellschaft, S. 48 – 49.
332             Lukas Sarvari

     Dass überhaupt Einwanderer vor allem als Angehörige einer fremden Kultur
in den Blick genommen wurden, war für Pohrt keineswegs selbstverständlich und
nur dadurch zu erklären, dass zum einen der Kulturbegriff längst einer maßlosen
Verwässerung anheimgefallen war und zum anderen die Betonung der Kultur
dazu dienen konnte, alle sozialen und ökonomischen Umstände in den Hinter-
grund treten zu lassen. Der Kultur, die sich längst zu „Eßkultur, Wohnkultur,
Körperkultur“ und so weiter vervielfältigt und banalisiert habe, haftet stets noch
etwas Weihevolles und Respektables an, insofern sie sich mit dem Schönen,
Geschmackvollen und Künstlerischen in Verbindung bringen lässt. Die simple
Begeisterung für exotische kulinarische oder musikalische Spezialitäten lässt
jedoch vergessen, dass es sich bei ihnen um Ausdrucksformen von kulturellen
Verhältnissen handelt, die nicht erst im Umgang mit bestimmten Gewürzen oder
Tonleitern bestehen, sondern diesen Umgang dadurch bedingen, dass ihm be-
stimmte Formen der materiellen Produktion und Reproduktion der Lebensbe-
dingungen zugrunde liegen. Der Respekt für regionale oder nationale „Sitten und
Bräuche“ war für Pohrt daher „unmittelbar schon ein Ausdruck brutalen Desin-
teresses an den lebendigen Menschen. Sie sollen festhalten an Lebensformen,
welche vor allem kümmerliche Produktionsverhältnisse widerspiegeln, die
Rückständigkeit, die Armut und Unterdrückung, der sie entsprungen sind“ und
deren „verdientes Schicksal […] ihre revolutionäre Umwälzung wäre.“⁴⁴
     Emigranten verließen ihre Heimat oft auch deshalb, um den Ortswechsel als
„Chance zur Emanzipation von Lebensformen zu nutzen, die auch in den Her-
kunftsländern längst nicht mehr unumstritten sind, weil sie zu Fesseln der ge-
sellschaftlichen Entwicklung wurden.“⁴⁵ Häufig handelte es sich bei ihnen um
Deklassierte, gesellschaftlich Überflüssige, die mit ihrer durch Kapitalisierung
und Modernisierung ohnehin fragwürdig gewordenen Nationalkultur in eben
keiner unmittelbaren Verbindung mehr stehen und die schon deshalb mit der
ihnen aufgenötigten Rolle als Kulturbotschafter ebenso überfordert sein mussten,
„wie dies ein deutscher Arbeitsloser aus Bottrop wäre, der in Melbourne/Aus-
tralien einen Schuhplattler aufs Parkett legen oder Beethovens späte Streich-
quartette interpretieren soll.“⁴⁶ Trotzdem bestärkten die Multikulturalisten eine
„Fiktion vom Emigranten, der im Herkunftsland nicht etwa ein Opfer sozialer
Umbrüche geworden, sondern dort vielmehr in einer unbefragt gültigen Tradition
fest verankert war, welcher er auch in der neuen Umgebung unverbrüchliche
Treue hält.“⁴⁷

   Pohrt, Multikulturelle Gesellschaft, S. 49 – 50.
   Pohrt, Multikulturelle Gesellschaft, S. 59.
   Pohrt, Multikulturelle Gesellschaft, S. 59.
   Pohrt, Multikulturelle Gesellschaft, S. 59.
Melting Pot statt Stammesverband?   333

     Einwanderer als Exemplare volkstümlicher Kulturkollektive zu betrachten,
heißt demnach, sie nicht als Individuen in ihrer sozialen Lage zu begreifen und
die gesellschaftliche und ökonomische Realität zu negieren. Traditionen erhalten
sich ungebrochen nur dort, wo der gesellschaftliche Entwicklungsgrad noch nicht
an die gesellschaftlichen Verkehrsformen, die die Warenproduktion diktiert,
aufgeschlossen hat. Solchen Traditionserhalt in der Bundesrepublik zu fordern,
verkenne, dass die Bundesrepublik „faktisch kein durch gemeinsame Riten zu-
sammengehaltener, homogener Stammesverband“ sei. Es handele sich vielmehr
um „eine spätkapitalistische, nach Einkommens-, Macht- und Statusgruppen
segmentierte Industriegesellschaft, auch wenn das Wort von der multikulturellen
Gesellschaft den Eindruck erweckt, für den einzelnen würde statt seines Ranges
auf der Lohnskala hauptsächlich die Frage von Bedeutung sein, ob seine Eltern
Kartoffeln oder Paprika aßen.“⁴⁸ In der „arbeitsteiligen Industriegesellschaft“
kämen kulturelle Eigenarten höchstens als zeitweiliger Vorsprung in der Ent-
wicklung neuer Konsummöglichkeiten zum Zug (Pizza, Döner, etc.), würden über
kurz oder lang aber einer „alle regionalen und lokalen Unterschiede nivellie-
rende[n] Dynamik“⁴⁹ unterworfen, die die Einzelnen aus allen hergebrachten
Beziehungen losreiße und nur noch auf ihre Stellung im Produktionsprozess
zurückwerfe. Unter diesen Bedingungen haben ein Arbeiter aus Anatolien und ein
Arbeiter aus dem Ruhrgebiet, die im selben Werk malochen, fraglos mehr ge-
meinsam als ein norddeutscher Obdachloser mit einem norddeutschen Auf-
sichtsratsvorsitzenden, obwohl sie beide vorgeblich dem gleichen „Kulturkreis“
entstammen. „Fremdheit“, so Pohrt, ist in modernen Gesellschaften „kaum noch
Naturkategorie, sondern vorrangig eine soziale“;⁵⁰ die Differenzierung einer Ge-
sellschaft nach ethnischen Kriterien – nichts anderes meint Multikulturalität, die
auf die Vielzahl ethnographisch definierter Gruppen abzielt – sei demnach schon
allein sachlich falsch. Falsch sei es überdies, den Einwanderern zur Pflege ihrer
„ursprünglichen“ Identität oder Kultur zu raten: „Umgekehrt kommt es im In-
teresse der Integration vielmehr gerade auf die Profanisierung der herkömmlichen
Lebensgewohnheiten an, darauf, die mitgebrachten Fertigkeiten aus dem natio-
nalen oder kultischen Zusammenhang zu lösen.“⁵¹ Wie die Pizza vom italieni-
schen Arme-Leute-Essen zum internationalen Fast-Food-Verkaufsschlager werden
konnte, so könnten auch überkommene traditionelle Lebensformen sich in einer
tauschvermittelten Gesellschaft auflösen, sofern der gemeinsame Zugang zu ei-
nem Markt der Güter – industrieller und kulturindustrieller Art – garantiert werde:

   Pohrt, Multikulturelle Gesellschaft, S. 54.
   Pohrt, Multikulturelle Gesellschaft, S. 55.
   Pohrt, Multikulturelle Gesellschaft, S. 56.
   Pohrt, Multikulturelle Gesellschaft., S. 64.
334            Lukas Sarvari

      Wie der Konsum einen wichtigen Beitrag zur Resozialisierung der Deutschen geleistet hat, zu
      ihrer Reintegration in die Gruppe der zivilisierten Nationen, aus welcher sie sich in ihrer
      Eigenschaft als Anhänger des Rasse-, Blut- und Schollenkultes für eine ganze Weile verab-
      schiedet hatten, so hilft der Konsum auch den Einwanderern dabei, mit obsolet gewordenen,
      traditionsverhafteten Lebensformen ihrer Herkunftsländer zu brechen. […] Während dem
      Konsum in der Bundesrepublik zunächst die besonders schwierige Aufgabe zufiel, eine
      Bevölkerung von ausgesprochen abseitigen Wahnvorstellungen zu heilen und sie bei-
      spielsweise davon zu überzeugen, daß die Urlaubsreise im eigenen Auto doch mehr Spaß
      macht als ein Fronteinsatz und der Heldentod fürs Vaterland, kommt es bei den Einwan-
      derern lediglich darauf an, im herkömmlichen Sinn traditionelle Lebensformen aufzulö-
      sen.⁵²

Eine solche Integrationsstrategie, die auf die Profanisierung des Hergebrachten
abzielt und schlussendlich alle sogenannten Kulturgüter in Güter im banalen
Sinne verwandeln würde, in deren Produktion und Austausch die Individuen als
formal Gleiche gegenüberträten und ihre Ungleichheit als gesellschaftlich be-
dingte erkennen könnten, würde voraussetzen, kulturelle Unterschiede nicht zu
verhärten, sondern ihrer allmählichen Auflösung zu überlassen. Formale Bedin-
gungen einer solchen Vergleichung der Menschen wären die Einbürgerung, die
erst aus sogenannten „ausländischen Mitbürgern“ tatsächliche Bürger mit allen
Rechten macht, sowie Hilfestellungen zum Beispiel beim Spracherwerb. Eine
solche Strategie habe man vonseiten der Grünen, so Pohrt, „abwertend und in
Anspielung auf das Dritte Reich als ‚Germanisierung‘ bezeichnet, obgleich von
den Nazis zu Juden erklärte Menschen nicht eingedeutscht, sondern ausge-
deutscht, ihrer Staatsbürgerschaft beraubt und dann ermordet worden sind.“⁵³
Demgegenüber hielt Pohrt das Beispiel der USA hoch, wo Bürger verschiedenster
Herkunft einem niemals konfliktfreien, aber zwanglosen Assimilationsprozess
unterworfen worden sind: Westdeutschland müsse sich entscheiden, ob man den
multikulturellen Weg der Balkanisierung beschreiten wolle „oder ob man sich
eher an den USA orientieren möchte, wo jene ‚Durchrassung‘ und ‚Durchmi-
schung‘, d. h. vollständige Integration der Einwanderer zum Erfolg geführt hat, vor
welcher es den Teilen der CSU graut, die sich Illusionen über die Reinrassigkeit
eines Volkes machen, welches Ernst Bloch zu Recht als das an seinen eigenen
Ansprüchen gemessen bastardisierteste Europas bezeichnet hat.“⁵⁴
     Pohrts Plädoyer für eine Anerkennung der Ausländer als Einwanderer – und
demnach der Anerkennung Deutschland als Einwanderungsland – zielte in der
Konsequenz auf den Verzicht jedweder Andersbehandlung, womit rechtliche

 Pohrt, Multikulturelle Gesellschaft, S. 67– 68.
 Pohrt, Multikulturelle Gesellschaft, S. 58.
 Pohrt, Multikulturelle Gesellschaft, S. 76.
Melting Pot statt Stammesverband?              335

Benachteiligungen ebenso ausgeschlossen sein mussten wie die partielle Be-
günstigung kultureller Gruppen durch den Staat:

      Einwohner der Bundesrepublik werden demnach unabhängig von ihrer nationalen Herkunft
      als Personen mit gleichen Rechten und Pflichten betrachtet, und es steht ihnen völlig frei, als
      Privatpersonen die Erinnerungen an die alte Heimat zu pflegen. Andererseits dürfen sie nicht
      erwarten, daß der Staat auf ihre Herkunft Rücksicht nimmt, daß beispielsweise öffentliche
      Schulen die Kinder in der Muttersprache der Eltern unterrichten, oder daß die Behörden sich
      auf den Publikumsverkehr mit Personen einstellen, die der deutschen Umgangssprache
      nicht mächtig sind. Prinzipiell muß die faktische Benachteiligung, welche durch die formelle
      Gleichheit entsteht, von den Einwanderern ertragen werden, was freilich nicht das Bemühen
      ausschließt, Hilfe zu geben und unnötige Härten zu vermeiden.⁵⁵

Ein Staat, der dem Allgemeininteresse verpflichtet ist, könne schlechterdings
nicht zugunsten irgendwelcher Partikularinteressen intervenieren. Schließlich sei
es, so Pohrt, nicht nachzuvollziehen, weswegen sich beispielsweise die Zeugen
Jehovas „in der Regel selbst um einen Versammlungsraum kümmern müssen“,
während zugleich eine Kommune bereit sei, „türkischen Einwanderern bei der
Suche nach Räumlichkeiten für eine Moschee zu helfen, obgleich der Islam in der
Bundesrepublik faktisch eine Sekte ist, um deren Gedeihen sich ihre Anhänger
schon selber sorgen müßten“⁵⁶, oder weswegen eine Kommune sich dazu ent-
scheide, „ein türkisches Vereinsheim [zu] fördern, statt Zuschüsse gerade um-
gekehrt mit der Auflage zu verbinden, der Verein oder der Versammlungsort
müsse grundsätzlich allen Bürgern offenstehen, unbeschadet ihrer nationalen
Herkunft oder ihrer Religionszugehörigkeit.“⁵⁷
     Eine sogenannte Integrationsstrategie aber, die auf die Förderung segregier-
ter Volkstumsgruppen hinausläuft und eine Multikulturalität zum Ziel hat, zu
deren Gedeihen die Verwässerung oder Vermischung von „Kulturen“ gerade
verhindert werden müsste, laufe Pohrt zufolge darauf hinaus, von Einwanderern
zu erwarten, ihre Herkunftskultur abgeschnitten von ihrer Herkunftsgesellschaft
zu pflegen, was unter anderem die bekannte Folge haben kann, dass Einwanderer
weder die Landessprache noch die Muttersprache richtig beherrschen. „Es be-
deutet“, so Pohrt, „Inseln konzentrierter Asozialität schaffen zu wollen, auf die
man wiederum bei Bedarf verweisen kann, dann nämlich, wenn man nach
Rechtfertigungsgründen für eine Diskriminierung der Einwanderer sucht.“⁵⁸ Dass
sich die Forderung der multikulturellen Gesellschaft mit der Duldung und Un-

   Pohrt, Multikulturelle Gesellschaft, S. 68 – 69.
   Pohrt, Multikulturelle Gesellschaft, S. 74.
   Pohrt, Multikulturelle Gesellschaft, S. 75.
   Pohrt, Multikulturelle Gesellschaft, S. 60.
336            Lukas Sarvari

terstützung der „Absonderung und Ansiedlung [der Einwanderer] in geschlosse-
nen Wohngebieten“⁵⁹ aufs Beste verträgt, auch dafür boten Cohn-Bendit und sein
Amt für Multikulturelle Angelegenheiten am Ende der 1980er Jahre ein schla-
gendes Beispiel, als sie sich etwa für den Erhalt des Frankfurter Gutleutviertels als
multikulturelles Stadtquartier einsetzten.
     Für Pohrt bestand bei all dem auch die Gefahr, dass die Einwanderer „am
Ende den Quatsch von der gleichsam angeborenen Nationalkultur selber glau-
ben“.⁶⁰ Es müsse, so sein Schlussplädoyer,

      entschieden zurückgewiesen werden […], wenn die Einheimischen [die Einwanderer] oder
      sie sich selber [sic] weiterhin als Ausländer betrachten. Türken, die gern ihr Türkentum er-
      halten möchten und entsprechende Forderungen stellen – türkischer Unterricht, türkisches
      Vereinsheim etc. – wären mit aller Herzlosigkeit darauf hinzuweisen, daß der Mensch
      manchmal vor der schmerzlichen Entscheidung steht, ob er die Semmel lieber ißt oder
      aufspart, und daß eine vielleicht ähnlich schmerzliche und nicht minder unumgängliche
      Entscheidung angesichts der Alternative erforderlich wird, entweder als glühender Patriot in
      der Türkei sein Türkentum zu pflegen, oder Nutznießer der Vorzüge einer modernen Indu-
      striegesellschaft zu werden, die nationalistische Separatismen innerhalb ihrer Grenzen nicht
      dulden kann.
            Einheimische [sic] wiederum, welche den Einwanderer türkischer Herkunft als Aus-
      länder betrachten, wäre mit allem Nachdruck die Selbstverständlichkeit ins Bewußtsein zu
      rufen, daß die Zugehörigkeit zur bundesrepublikanischen Gesellschaft nicht auf den Banden
      des Blutes und der Scholle basiert, wie vor 1945 irrtümlich angenommen wurde, sondern auf
      erworbenen und daher von jedem erwerbbaren Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkei-
      ten.“⁶¹

III
Wolfgang Pohrts Vortrag von 1989 blieb selbstverständlich weitgehend wir-
kungslos. Abgedruckt wurde er erstmals 2018⁶² und er wurde auch deshalb so
ausführlich hier wiedergegeben, weil seine Argumentation in der Bundesrepu-
blik, zumal in den 1980er Jahren, äußerst unpopulär war und noch immer ist.
Dass ein Großteil des Textes noch heute als zutreffend erscheint, zeigt, wie wenig
die universalistische Kritik des Multikulturalismus ausrichten konnte.

 Pohrt, Multikulturelle Gesellschaft, S. 77.
 Pohrt, Multikulturelle Gesellschaft, S. 49.
 Pohrt, Multikulturelle Gesellschaft, S. 79 – 80.
 Wolfgang Pohrt, Multikulturelle Gesellschaft. Kultur im Zehnerpack, in: Klaus Bittermann
(Hrsg.), Wolfgang Pohrt Werke, Bd. 5.2, Berlin 2018, S. 299 – 329.
Melting Pot statt Stammesverband?      337

     Nichtsdestotrotz sind Pohrts Kritik und seine Prognosen in einigen Punkten
historisch überholt worden. Etwa seine Mutmaßung, dass der Multikulturalismus
der Vorbereitung „kommender Missetaten“ diene und die Identitätspflege der
Fremden die Feindidentifikation durch die Deutschen erleichtern könne, schien
durch die rassistischen Pogrome und Morde 1990 ff. zwar bestätigt worden zu
sein. Spätestens mit dem durch Gerhard Schröder ausgerufenen „Aufstand der
Anständigen“ stellte sich jedoch heraus, dass von den wiedervereinigten Deut-
schen weniger ein völkischer Aufbruch zu erwarten war als vielmehr die For-
mierung einer multikulturell aufgenordeten Vielfaltsgemeinde, die sich freilich in
puncto Opposition zu den USA und in ihrem als „Israelkritik“ camouflierten
Antizionismus von den nunmehr geschassten Rechtsradikalen nur in Nuancen
unterschied.
     Welche Rolle für diese neue Berliner Republik der Islam spielen würde, hat
Pohrt nicht vorhergesehen, wenngleich die Ereignisse des Jahres 1989 einen
deutlichen Hinweis darauf gaben, dass die multikulturalistische Segregation es
nicht nur möglich machen würde, im bunten Strauß der kulturellen Identitäten
auch ein braunes Blümchen einzuflechten, sondern ebenso den Islamisten dazu
dienen würde, kulturell homogenisierte „Communities“ zu identitär formierten
Gegengesellschaften umzubilden. 1989 endetet mit dem Zusammenbruch des
Ostblocks das von Eric Hobsbawm so bezeichnete short century. Francis Fukuy-
ama sprach gar vom „Ende der Geschichte“ – eine These, die nach 9/11, dieser
„Rückkehr der Geschichte“ (Joschka Fischer), revidiert werden musste. Die Zeit
zwischen 1989 und 2001 erscheint somit rückblickend als eine Art weltge-
schichtliche Latenzphase. Eine tatsächliche Zäsur hat jedoch schon lange vor den
Anschlägen des 11. September im Jahr 1989 stattgefunden: mit der Fatwa gegen
Salman Rushdie.
     In den islamischen Rechtsschulen herrschte bis in die zweite Hälfte des
20. Jahrhunderts hinein weitgehend Einigkeit darüber, dass das islamische Ge-
setz, die Scharia, nur in den islamischen Ländern, im dar-al-Islam („Haus des
Islam“) rechtmäßig Anwendung finden könne und Fatwas außerhalb dieser
Länder nicht verpflichtend seien. Moslems, die in mehrheitlich andersgläubigen
oder säkularen Staaten als religiöse Minderheit lebten, galten als Bewohner des
dar-al-kufr („Haus der Ungläubigen“), wo die Gültigkeit der Scharia ausgesetzt ist
und die jeweiligen Staatsgesetze zu achten sind, solange die Mehrheitsgesell-
schaft mit den Moslems in Frieden lebt – es sei denn die Moslems befinden sich in
einem Heiligen Krieg gegen die „Ungläubigen“. Khomeinis Richterspruch, der den
Aufruf an seine Glaubensbrüder, Salman Rushdie und die Herausgeber seines
Romans „unverzüglich zu töten, wo immer sie sie finden“, enthält, warf die Vor-
stellung von den westlichen Moslems als Bewohnern des „Hauses der Ungläu-
bigen“ (bzw. wahlweise des Hauses des Friedens oder des Krieges) mit einem Mal
338            Lukas Sarvari

um. Indem Khomeini das islamische Recht weltweit für zuständig erklärte und
sämtliche Moslems als potentielle Exekutoren dieses Rechts adressierte, verleibte
er damit die islamischen Minderheiten im Westen dem dar-al-Islam („Haus des
Islam“) ein. Es handelte sich somit nicht nur deshalb um eine Verletzung der
britischen Staatssouveränität, weil Khomeini einen britischen Staatsbürger zum
Tode verurteilt hat, sondern auch weil er unter anderem die hunderttausenden
britischen Moslems zu Strafvollziehern im Namen des iranischen religiösen
Rechts ernannt hat. Khomeini schwebte die Konstitution eines islamischen „Ge-
gensouveräns“ vor, der das islamische Gesetz ungeachtet der unter Umständen
säkularen Staatsgesetze immer und überall gegen Abweichler, Abtrünnige und
Gotteslästerer durchsetzen könne.⁶³
     Die Todesfatwa gegen Rushdie war nur eine – wenn auch entscheidende –
Episode im Prozess der Ausweitung des dar-al-Islam auf die westeuropäischen
Gesellschaften. Die Bedeutung dieser Entwicklung ist indes nicht zu unterschät-
zen: Seither forcieren islamische Organisationen und Institutionen die schritt-
weise Anerkennung islamischer Normen durch die weltlichen Souveräne im
Westen. Zugleich propagieren sie verstärkt die Wahrung der islamischen Gesetze
in den eigenen Communities. Zwei Umstände kamen dieser Entwicklung zupass:
Erstens, dass die Minderheiten aus moslemischen Ländern, die mittlerweile
größtenteils in zweiter Generation in Europa lebten, vielerorts ökonomisch ab-
gehängt waren, seit ihre Arbeitskraft nach dem Ende der fordistischen Phase des
Kapitalismus überflüssig geworden war. Zweitens war, damit einhergehend, das
Leitbild des Multikulturalismus für die westeuropäischen Gesellschaften be-
stimmend geworden. Die Propagierung der identitätsstiftenden Wirkung von
vermeintlichen Kollektiveigenschaften wie Herkunft, Kultur oder Religion war
auch im staatlichen Interesse, insofern man sich erhoffte, dass Verwandt-
schaftsnetzwerke und religiös oder ethnisch definierte „Communities“ die Lücke
schließen würden, die zumal in Ländern wie Großbritannien durch den massiven
Sozialabbau der 1980er Jahre in die ärmeren Bevölkerungsschichten geschlagen
worden war. Für die Europäer war die Religion der moslemischen Einwanderer
also zunächst ein Stabilitätsfaktor. Spätestens mit der Rushdie-Affäre offenbarten
sich jedoch die Folgen einer Gesellschaftspolitik, die längst nicht mehr auf
Rechtsgleichheit, Individualismus und Säkularismus abzielte:

      The celebration of difference, respect for pluralism, avowal of identity politics – these have
      come to be regarded as the hallmarks of a progressive, anti-racist outlook and as the
      foundation stones of modern liberal democracies. Yet there is a much darker side to multi-

 Zur Problematik um das „Haus des Islam“ vgl. Gilles Kepel, Das Schwarzbuch des Dschihad.
Aufstieg und Niedergang des Islamismus, München/Zürich 2002, S. 235 – 253.
Melting Pot statt Stammesverband?             339

    culturalism, as the Rushdie affair demonstrated. Multiculturalism has helped foster a more
    tribal nation and, within Muslim communities, has undermined progressive trends while
    strengthening the hand of conservative religious leaders.⁶⁴

Das schreibt der britische Philosoph Kenan Malik in der Einleitung zu seinem
Buch From Fatwa to Jihad. Er argumentiert, dass die Rushdie-Fatwa, die von
vielen als Zeugnis eines neuen islamischen Selbstbewusstseins aufgefasst wurde,
der Re-Islamisierung der Migranten in Europa Aufwind gegeben hat. Während in
den Kernländern der moslemischen Welt die islamische Wiedererweckungsbe-
wegung den säkularen arabischen Nationalismus als Leitideologie längst beerbt
hatte, wurden nun auch die moslemischen Minderheiten in den säkularen Län-
dern des Westens in einen Kulturkampf verwickelt, der um die Rolle der Religion
im gesellschaftlichen Leben geführt wurde. Unter Linken, zu deren Geschäft
traditionell die Religionskritik gehört hatte, entwickelten sich mehr und mehr
Sympathien für den politischen Islam, mit dem sie nicht zuletzt die Feindbilder
Amerika und Israel teilten, und der nach dem Zusammenbruch des Realsozia-
lismus als neuer Antipode gegen den Machtblock des Westens begrüßt wurde.
Das Aufbegehren islamischer Eiferer ließ sich beinahe widerspruchsfrei in das
simple Weltbild des linken Antiimperialismus integrieren: Aus unterdrückten
Völkern wurden unterdrückte Kulturen, aus dem Kampf gegen Rassismus der
gegen ‚Islamophobie‘.
     Für Malik war der Multikulturalismus der Grund, dass die britischen Bürger
sich nicht mehr auf Basis ihrer Klassenzugehörigkeit oder ihrer politischen
Überzeugung zusammentaten, sondern sich auf der Grundlage ihrer ethnischen,
kulturellen oder religiösen „Identität“ sortierten. Pohrt hatte 1989 noch gehofft,
ein Assimilationsprozess, der kulturelle Differenzen auflösen würde, könnte über
die Integration in eine „arbeitsteilige Industriegesellschaft“ und die Teilhabe am
allgemeinen Konsum erzielt werden. Seine Analogie zur Wirtschaftswunderzeit,
die die Deutschen zivilisiert habe, zeigt allerdings, dass sein Rezept auf histori-
schen Voraussetzungen fußt, die nicht mehr ohne weiteres gegeben sind. Die
Werkbank, an der die unterschiedlichsten Menschen zusammentreffen und
möglicherweise ihr gemeinsames Interesse entdecken, ist längst zum Anachro-
nismus geworden. In der Zeitschrift Bahamas hieß es 2007 in einem Artikel mit
dem Titel „Abgehängt in der Ethno-Klitsche“:

    Tatsächlich zählten [in den 1980er Jahren, L. S.] z. B. für die Gewerkschaften die ausländi-
    schen Arbeiter trotz Konkurrenzdrucks als Kollegen, die in Tarifverhandlungen einbezogen
    waren und gleichem Recht unterlagen. Trotz latenter Fremdenfeindlichkeit in den eigenen

 Kenan Malik, From Fatwa to Jihad. The Rushdie Affair and its Legacy, London 2009, S. xx.
340            Lukas Sarvari

      Reihen wurde die Ausländerfrage als Teil einer ‚farbenblinden‘ sozialen Frage diskutiert.
      Bücher wie Günter Wallraffs Ganz unten, in dem die Erniedrigung und Ausbeutung ‚Alis‘ als
      Quasisklave und nicht der Verlust seiner Identität angeprangert wurde, zeugen von dieser
      Wahrnehmung. Doch die einstigen ‚Gastarbeiter‘ und oft auch schon neuen deutschen
      Staatsbürger wurden oftmals arbeitslos oder rutschten in die Klitschenwirtschaft ab und
      fielen so in den letzten zwanzig Jahren als Klientel der Gewerkschaften aus.⁶⁵

Abgespeist wurden die Migranten und deren Nachfahren mit ein paar öffentlich
subventionierten Stellen im Kultur-, Bildungs- und Vermittlungssektor, wo „in-
terkulturelle Kompetenzen“ als Einstellungsvoraussetzungen gefordert waren.
Für die Übrigen, vor allem die gering Qualifizierten, blieb häufig nur der Einstieg
in eine ethnisierte Parallelökonomie im Gastronomie- und Dienstleistungsbe-
reich. Für die Betreuung der solchermaßen vom ersten Arbeitsmarkt Abgeschot-
teten sind derweil ganze Kohorten von Integrationsbeauftragten, Kultur- und
Sozialarbeitern anstellig, die die Abgehängten mit der Ermunterung zum identi-
tären, vor allem islamischen Aufbegehren bei Laune halten sollen.

      Als es einer politischen Bewegung bedurft hätte, die die Forderung nach Re-Integration der
      einstigen Kollegen und Kumpel in den Arbeitsmarkt aufstellte, schwiegen die Gewerk-
      schaften daher wohlweislich und überantworteten die potentiellen Lohndrücker jenen
      multikulturell orientierten Kirchenvertretern, Sozialarbeitern, Integrationsbeauftragten und
      postmodernen Ideologen […], denen es gelungen war, sich eine Stelle im seit den Bil-
      dungsreformen der 60er und 70er Jahre aufgeblähten Bildungs- und Sozialsektor zu sichern.
      Eben diese selbsternannten Migrationsexperten sind es denn auch, die durchaus persönlich
      von der Verdrängung der Migranten vom ersten Arbeitsmarkt profitieren.⁶⁶

In einer solchermaßen segregierten Gesellschaft wird Pohrts Assimilationsfor-
derung ziellos, in Deutschland zumal, wo – wie Pohrt später schrieb – das fehle,
„was man bei anderen Nationen als eigene Staatsidee bezeichnet, und was wohl
bei der Person ihrem Selbstbewußtsein entspricht.“⁶⁷ Die offene Frage, die sich
verschärft seit der Flüchtlingskrise 2015 stellt, ist also, in was die Zuwanderer
überhaupt integriert werden sollen: Während auch die kulturalisierten Arbeits-
marktnischen längst nicht mehr allen ein Auskommen sichern können, dürfen
sich zwar akademisch Qualifizierte inzwischen im Kultur-, NGO- und Wissen-
schaftsbetrieb über das Diversity-Ticket an den Staatstropf hängen, für viele bleibt

 Claudia Dreier, Abgehängt in der Ethno-Klitsche. Kulturkonservative und Multikulturalisten
verteidigen den deutschen Arbeitsmarkt, in: Bahamas 53 (2007), S. 41– 45, hier S. 43.
 Dreier, Abgehängt in der Ethno-Klitsche, S. 43.
 Wolfgang Pohrt, Rassismus für den gehobenen Bedarf, in: Wolfgang Pohrt, Multikulturelle
Gesellschaft. Rassismus für den gehobenen Bedarf. Zwei Vorträge, Berlin 2021, S. 81– 118, hier
S. 86.
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