WOHNEN Zeitschrift für Kulturphilosophie - Meiner eLibrary

 
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Zeitschrift für Kulturphilosophie
                                                      HEF T 2021/1

 WOHNEN

SCHWERPUNK T Beiträge von David Espinet, Günter Figal,
Jürgen Hasse, Hanno Rauterberg und Walter Siebel
 z wischenruf Interview mit Johannes Ebert, Generalsekretär des
 Goethe-Instituts
abhandlungen Cornelius Borck, René Heinen, Jacob Rogozinski,
Annika Schlitte und Niels Weidtmann
 kritik Bücher von Edgar Cabanas und Eva Illouz, Gunnar ­Hindrichs,
 Timo K­ lattenhoff, Dieter Thömä, Klaus Vieweg und zur
 ­Universitätsphilosophie in Münster
INHALTSVER ZEICHNIS

Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .     7

Schwerpunkt: Wohnen
           Hanno Rauterberg
           Rückzug ins Offene! Wie das digitale Zeitalter neue Leitideen des
           Wohnens begünstigt und zugleich verstellt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                                    9

           Walter Siebel
           Soziologie des Wohnens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                    19

           Jürgen Hasse
           Wohnen als Ausdruckssituation des Lebens. Auf dem Weg zu einer
           Ethik des Wohnens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                 37

           David Espinet
           Tische, Stühle und andere Gedichte. Zur Poetik des Designs als
           Ethik des Wohnens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                 55

           Günter Figal
           Wohnbilder. Bewohnbare Architektur und Photographie . . . . . . . . . . .                                                 75

Zwischenruf
           »Man ist am Abend porös.« Über digitale und physische Begegnungen
           und Kultur in Zeiten der Pandemie.
           Die ZKph im Gespräch mit Johannes Ebert, Generalsekretär des
           Goethe-Instituts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .             89

Abhandlungen
           Cornelius Borck
           Die Epistemologie von Forschungsumwelten als wissenschafts­
           philosophisches Programm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                        99

           René Heinen
           »Vergebliche Courage«? Über Adornos versteckte Anthropologie
           und Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .         111
EDITORIAL

A    ls die Idee zum Themenschwerpunkt ›Wohnen‹ entstand, war noch nicht von
     Hygienekonzepten oder Abstandsregeln die Rede. Man öffnete Fenster, um
wie eh und je zu lüften, aber man dachte dabei nicht an Ansteckungsgefahr durch
Aero­sole und schon gar nicht zählte man die Gäste, die man zu sich nach Hause
einlud. Die Idee zu diesem Heft entstand also lange vor der Coronapandemie. Mit
dem ersten Auftreten des Virus in Europa im Frühjahr 2020 wurden das Wohnen
und die Wohnungsfrage jäh und umso nachdrücklicher in ein neues Licht gerückt.
Wie lange dies auch nach Abflauen der Pandemie so sein wird, bleibt abzuwarten.
    Das Wohnen ist ein zentrales Thema des Menschen und der Organisation seines
Lebens in all seinen Facetten. Es ist mehr als eine interdisziplinäre Schnittstelle, an
der sich Architektur, Soziologie, Geschichtswissenschaft, Design und Wohnungs-
planung treffen. Am und mit dem Wohnen gewinnt das menschliche Leben eine
Form, in der sich die Grenze zwischen ›privat‹ und ›öffentlich‹, ›sichtbar‹ und ›un-
sichtbar‹ oder auch zwischen Eigenem und Fremdem in vielfacher Hinsicht reflek-
tiert. Damit rückt das Thema in den Fokus der Kulturphilosophie.
    Die Philosophie ist gerade dabei, das Thema wiederzuentdecken. Erinnert man
sich an die speziellen Wohnsituationen der Philosophen von der Antike über das
Mittelalter und die Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert, auch an die jeweiligen Insze-
nierungen des Wohnens etwa bei Heidegger oder Wittgenstein, dann nimmt es
wunder, dass das Wohnen zwar keineswegs unbedacht, aber doch eher randständig
blieb. Von besonderer Bedeutung ist es sicherlich für die Philosophische Anthro-
pologie, und als Ressource für die philosophische Metaphorik ist es in seiner Viel­
dimensionalität unersetzlich. Erinnert sei nur exemplarisch an Heideggers Rede
von der Sprache als Haus des Seins.
    Wie es auch nicht ganz so einfach ist, von der Sprache zu sprechen, ohne die
Vielfalt der Sprachen einfach auszublenden, so ist es auch angesichts der Ge-
schichte und der Vielfalt der Formen des Wohnens nicht einfach, das Wohnen
schlechthin zu behandeln. Walter Siebel erinnert in seinem Beitrag nicht nur an
die historische Vielfalt, sondern auch die verschiedenen funktionalen Dimensio-
nen des Wohnens, um die Wohnungsfrage vor dem Hintergrund der Gegenwart
neu zu stellen. Denn die Wohnungsfrage ist nicht etwa nur durch die Pandemie zu
einem Topos geworden, sondern auch durch die Entwicklung moderner Technolo-
gien, besonders natürlich der digitalen Medien. Hanno Rauterberg diskutiert, wie
angesichts dieser Entwicklungen neue Ambivalenzen des Wohnens aufbrechen, die
keineswegs mit einem Federstrich gelöst werden können. Im Rückblick auf die Di-
versität der Wohnräume und Wohnsituationen stellt Jürgen Hasse die Frage nach
einer Ethik des Wohnens, die von der Raumnahme bis hin zu Selbstgestaltung des

                                                                         ZKph 15 | 2021 | 1
SCHWERPUNKT

   Hanno Rauterberg

   Rückzug ins Offene!
   Wie das digitale Zeitalter neue Leitideen des Wohnens
   ­begünstigt und zugleich verstellt

W       er nach der Zukunft des Wohnens fragt, bekommt zumeist technische Ant-
        worten. Da ist viel von neuen Dämmstoffen und nachhaltigen Lüftungsklap-
pen die Rede, von Fenstern, die bei Regen von alleine schließen, von Rollläden,
die auf Zuruf herunterrasseln, von Badewannen, die sich per Internet-Kommando
füllen. Nicht fern scheint die Zeit, in der unser Kühlschrank eigenständig die Le-
bensmittelbestellung beim nächsten Supermarkt aufgibt, weil er genau weiß, was
wir brauchen und lieben. ›Intelligente Architektur‹ nennt sich dieser dioden- und
kabelumschlungene Wohntraum, und wer in einem solchen sogenannten Smart
Home leben will, muss tatsächlich über einen hohen IQ verfügen. Andernfalls wird
er die vielen Regler, Schalter, Knöpfchen seines neuen Heims kaum beherrschen
können. Das Haus von Morgen, so steht zu befürchten, dient nicht mehr, es will be-
dient sein.
    Gehört also die Zukunft des Wohnens den Programmierern? Entwickelt sich
das Eigenheim zur digitalen Monade? Wenn es wirklich so kommen sollte, läge dies
nicht zuletzt an den Architekten und ihrer Ratlosigkeit. Über viele Jahre schien den
meisten kaum noch etwas Neues zum Thema Wohnungsbau einzufallen. Anders
als in den experimentierlustigen zwanziger Jahren und den tollkühnen Sechzigern
des vergangenen Jahrhunderts hatten sich die Planer auf das Bewährte zurück-
gezogen, entwarfen immer dieselben Grundrisse für immer die gleiche Vierkopf-
Ideal­familie, in der Regel, weil der Markt eben das verlangte. Es fehlte an Anreizen,
an Auftraggebern und auch an der nötigen Neugier, um das Wohnen ins Unge-
wohnte weiterzuentwickeln. Ohnehin erscheint das Einfamilienhaus den meisten
Architekten nur wenig attraktiv, es lässt sich damit weder viel Geld noch viel Re-
nommee verdienen. Und so bauten sie lieber spektakuläre Museen, Opernhäuser
oder Bürotürme und überließen den Traum vom besseren Wohnen den Fertighaus-
fabrikanten und Haustechnikern.
    Gerade die innovativen Architekten blickten oft mit Abscheu auf die Vorstädte
mit ihren Eigenheimsiedlungen und Einkaufszentren. Sie wollten nichts wissen
vom Ankommen und Bleiben, von Gemütlichkeit und Einkehr, vom Glück im stil-
len Winkel. Die alte Idee des Wohnens schien vielen hoffnungslos unzeitgemäß zu

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Walter Siebel

    Soziologie des Wohnens1

D     ie Soziologie, anders als die Naturwissenschaften, hat keinen stabilen Gegen-
      stand, dem sie in generationenübergreifender, geduldiger Forschungsarbeit
allmählich immer näher kommen könnte. Soziale Tatbestände, auch wenn man sich
an ihnen laut Émile Durkheim das Schienbein stoßen kann wie an einem Stein, un-
terliegen dem historischen Wandel. Deshalb sind soziologische Begriffsbildungen
nur von begrenzter Gültigkeit. Kategorien, die an der vormodernen Standesgesell-
schaft gewonnen wurden, helfen bei der Analyse der modernen Gesellschaft nicht
weiter und umgekehrt. Die Soziologie gehört zu den
    »Wissenschaften, denen ewige Jugendlichkeit beschieden ist, und das sind alle
    historischen Disziplinen, alle die, denen der ewig fortschreitende Strom der
    Kultur stets neue Problemstellungen zuführt. Bei ihnen liegt die Vergänglich-
    keit aller, aber zugleich die Unvermeidlichkeit immer neuer idealtypischer Kon­
    struktionen im Wesen der Aufgabe. Stets wiederholen sich die Versuche, den
    ›eigentlichen‹, ›wahren‹ Sinn historischer Begriffe festzustellen, und niemals
    gelangen sie zu Ende«.2
Die befristete Gültigkeit ihrer Erkenntnisse gilt auch für die Soziologie des Woh-
nens. Sie kann den Wandel ihres Gegenstandes nachzeichnen und versuchen, ihn
mit sozialen Faktoren zu erklären. Sie kann unter ceteris-paribus-Vorbehalten auch
Prognosen über künftige Wohnweisen aufstellen, aber die Soziologie muss sich hü-
ten vor der Versuchung, einen ahistorischen, universellen Begriff oder ein Wesen
des Wohnens zu formulieren. Wenn man von den epochen‑, kultur- und schicht-
spezifischen Ausformungen des Wohnens abstrahiert, bleibt als gemeinsamer Nen-
ner nur die Schutzfunktion der Wohnung vor den Unbilden der Natur, die aber

1   Der Beitrag fasst Thesen zusammen, die ausführlich entwickelt sind in: Hartmut Häußer-
    mann/Walter Siebel, Soziologie des Wohnens, Weinheim/München ²2000; Walter Siebel, Die
    Kultur der Stadt, Berlin ³2018 sowie Walter Siebel, Die Wohnungsfrage, in: Andres Lepik/
    Hilde Strobl (Hrsg.), Die Neue Heimat (1950–1982). Eine sozialdemokratische Utopie und ihre Bau-
    ten, München 2019, 34–39. Ich danke Martin Kronauer für hilfreiche Kritik an einer früheren
    Fassung dieses Artikels.
2   Max Weber, »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis«,
    in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 19/1 (1904), 22–87, hier: 79 f.; https://nbn-
    resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-50770-8, (02.12.20).

                                                                                     ZKph 15 | 2021 | 1
Jürgen Hasse

    Wohnen als Ausdruckssituation des Lebens
    Auf dem Weg zu einer Ethik des Wohnens

D      as Loch sei für ein Schwein zu schlecht, aber wegen der wohlfeilen Miete –
       1 ½ Schilling (15 Groschen) die Woche – hätte sie es genommen, da ihr Mann
wegen Krankheit die letzte Zeit verdienstlos gewesen«.1 Ein Bericht von Friedrich
Engels aus dem Jahre 1872, in dem er mit diesen Worten die Bewohnerin finsterer
Kellerräume in Manchester zitiert, klärt über die näheren Umstände auf. Diesem
zufolge lag der Fußboden der »Wohnung« nur einige Zoll über dem Spiegel des Ri-
ver Medlock. »Jeder tüchtige Regenschauer ist imstande, ekelhaft fauliges Wasser
aus den Versenklöchern oder Abzugsröhren in die Höhe zu treiben und die Woh-
nung mit den Pestgasen zu vergiften, welche jedes Überschwemmungswasser zum
Anden­ken hinterlässt.«2 Die Rede war hier eigentlich weniger von einer »Woh-
nung« als von einer üblen Behausung. Engels nannte solche Löcher auch »ver-
frühte Gräber«.3 Die zu Beginn der Industrialisierung herrschende Wohnungsnot
drückte im Prinzip eine Lebensnot aus, die im Wesentlichen aus einem Missbrauch
der Macht ökonomisch Herrschender über die Masse weitgehend mittel­loser Ar-
beiter resultierte. Viele Fabrikbesitzer erwirtschafteten (über die Ausbeutung ih-
rer Arbeiter hinaus) zusätzliche Gewinne aus der Vermietung von Arbeiterwoh-
nungen. Wer entsprechende Immobilien besaß, hatte daher auch gar kein Interesse
daran, das Elend abzuschaffen, selbst wenn die Möglichkeit dazu bestanden hät-
te.4 Der Fortbestand der Wohnungsnot rentierte sich für das Kapital (siehe Abb. 1,
S. 38).
    Noch in der Gegenwart leben Menschen im Elend, z. B. in der Obdachlosigkeit
und damit weit diesseits dessen, was sich noch unter den Begriff ›Wohnen‹ subsu-
mieren ließe. Als »Hauptstadt der Wohnungslosen in der Ersten Welt«5 nennt Mike
Davis Los Angeles mit rund 100.000 Obdachlosen. In indischen oder afrikanischen
Großstädten ist die Lage weit schlimmer. Wo, wie in Lagos, eine Schubkarre pro

1   Friedrich Engels, Zur Wohnungsfrage (zuerst 1872), Singen 1947, 58.
2   Ebd., 57 f.
3   Ebd., 58.
4   Vgl. ebd, 47.
5   Mike Davis, Planet der Slums, übers. von Ingrid Scherf, Hamburg 2007, 40.

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David Espinet

    Tische, Stühle und andere Gedichte
    Zur Poetik des Designs als Ethik des Wohnens

Dichterisch wohnet der Mensch auf dieser Erde?

Im Folgenden interpretiere ich Hölderlins Satz nicht ›metaphorisch‹, sondern so
wörtlich und konkret wie möglich, sagen wir im Sinne eines Beitrags zur Philoso-
phie des Designs, also einer Theorie der schönen und zugleich funktionalen Arte-
fakte.1 »Dichterisch wohnet der Mensch auf dieser Erde«2, sei ein Satz, der sinnvoll
auf Tische, Stühle oder Häuser bezogen werden kann: Was bedeutet ein dichteri-
sches Wohnen nicht etwa im ›Haus des Seins‹, sondern inmitten von Gebrauchs-
dingen konkret? Was macht die ästhetische Gestaltung des menschlichen Habitats
dichterisch? Was verleiht den Artefakten des täglichen Gebrauchs und dem Leben
inmitten dieser prosaischen Dinge dennoch eine gewisse Poesie? Und welche Rolle
spielt das romantische Versprechen noch dort, wo die Sehnsucht nach Poesie im
Alltag klarerweise außerästhetischen, in der Regel dann instrumentellen Zwecken

1   Der Text ist die Überarbeitung eines Vortrags, den ich am Humboldt-Studienzentrum für Phi-
    losophie und Geisteswissenschaften der Universität Ulm im Rahmen der Humboldt-­Lectures vor
    überwiegend fachfremdem Ulmer Stadtpublikum gehalten habe. Für überaus hilfreiche Fra-
    gen und Anregungen danke ich herzlich allen Hörerinnen und Hörern, insbesondere Joachim
    Ankerhold, Renate Breuninger, Johannes Knöller, Martin Mäntele, Klaus Treutlein sowie An-
    drea Weber-Tuckermann.
2   Vollständig lautet der Satz, der erst durch Heidegger philosophische Prominenz erlangt hat:
    »Voll Verdienst, doch dichterisch, wohnet der Mensch auf dieser Erde.« Friedrich Hölderlin,
    »In lieblicher Bläue …«, in: Sämtliche Werke und Briefe Bd. I, hrsg. von Michael Knaup, Mün-
    chen 1992, 908 f., hier: 908. Die folgenden Überlegungen beanspruchen freilich keine philo-
    logisch abgesicherte Interpretation von Hölderlins Spätdichtungen. Immerhin dürfte die an
    Kant und Schiller angelehnte folgende Argumentation zu Hölderlins Verständnis von Dich-
    tung historisch betrachtet nicht fremd sein. Die Auseinandersetzung mit Heideggers Philoso-
    phie der Dichtung als einem Wohnen im Sinne des Ethos oder eigentlichen Aufenthalts muss
    aus Gründen der sinnvollen Beschränkung hier ebenfalls unterbleiben. Für heideggerkundige
    Ohren dürfte aber der stille Dialog mit und auch Widerspruch gegen Heideggers Position klar
    hörbar sein. Für eine explizite Auseinandersetzung mit Heideggers Sprachphilosophie, die
    die Grundlage seiner Philosophie des Wohnens bildet, vgl. David Espinet, »Quand ne pas dire
    c’est faire. L’écoute heideggérienne et l’o(n)to-polémologie du silence«, in: Sophie-Jan Arrien/
    Christian Sommer (Hrsg.), Heidegger aujourd’hui. Actualité et postérité de la pensée de l’Ereignis,
    Paris 2021 (im Erscheinen).

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Günter Figal

    Wohnbilder
    Bewohnbare Architektur und Photographie1

                                                      Für AMES – aus gemeinsamer Erfahrung

I n ihrem mittlerweile zum Klassiker gewordenen Buch über Photographie er-
  wähnt Susan Sontag ein Gastgeberpaar, das, stolz auf das eigene Haus, seinen
Gästen Photographien des Hauses präsentiert, statt ihnen einfach das Haus zu zei-
gen.2 Das Beispiel, so meint Sontag, belege, wie sehr das photographische Bild zum
»standard of the beautiful« geworden sei. Sie findet das problematisch, und man
wird ihr umso bereitwilliger zustimmen, je mehr man als guter Alltagsplatoniker
im Bild das bloße Abbild sieht, das dem abgebildeten Original unterlegen ist.3 Dann
wäre mit der Photographie das Geringere, die bloße Abbildung, zum Standard für
die Schönheit des Originals geworden.
    Doch haben die Gastgeber Bild und Original derart verwechselt? Es könnte
auch sein, dass sie nichts durcheinandergebracht, sondern etwas verstanden haben,
nämlich die Angewiesenheit der Architektur auf die Photographie. Bauwerke sind
bildbedürftig und darin photographie-affin, mehr als andere Werke der bildenden
Kunst.
    Das hat zunächst den einfachen Grund, dass Bauwerke nicht transportabel sind.
Es ist unmöglich, ein architektonisches Gesamtwerk so in einer Ausstellung zu-
gänglich zu machen wie ein malerisches, zeichnerisches oder photographisches
Werk. Wer die Architektur zum Beispiel von Tadao Ando kennenlernen will, muss
reisen – nach Japan, Südkorea, China, in die USA, nach Italien, Frankreich und
Deutschland – oder eben, wenn das nicht möglich ist, sich mit einer zweitbesten
Fahrt begnügen und zu Bildbänden greifen. Das wäre zwar beim Gesamtwerk eines
Malers ähnlich, dessen Werke über die Museen der Welt verteilt sind. Doch immer-
hin lassen die Bilder sich zu einer Retrospektive versammeln und so an einem ge-
meinsamen Ort zugänglich machen. Bauwerke hingegen sind immer an den vielen,
oft weit auseinanderliegenden Orten, an denen sie unverrückbar sind.

1 Ein herzlicher Dank an Susanne Fritz und Hideki Mine.
2 Vgl. Susan Sontag, »On Photography«, in: Essays of the 1960s and 70s, hrsg. von
David Rieff, New York 2013, 523–674, hier: 587.
3 Vgl. Günter Figal, Philosophy as Metaphysics. The Torino Lectures, Tübingen 2019, 53–64.

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ZWISCHENRUF

    Die ZKph im Gespräch mit Johannes Ebert, Generalsekretär des Goethe-Instituts

    »Man ist am Abend porös.«
    Über digitale und physische Begegnungen und Kultur
    in Zeiten der Pandemie1

ZKph: Das Goethe-Institut ist als Kulturinstitut der Bundesrepublik Deutschland welt-
weit tätig. Wie hat sich das Goethe-Institut auf die sich anbahnende Pandemie zu Beginn
des Jahres vorbereitet?

Johannes Ebert: Das Goethe-Institut besteht aus 157 Instituten in 98 Ländern, wobei
zwölf davon in Deutschland angesiedelt sind. Das Goethe-Institut ist also kein mo-
nolithischer Block, der als großer Tanker durch die Welt schwimmt, sondern es sind
einzelne agile Einheiten, die sich wiederum mit vielen Partnern vor Ort vernetzen.
   Im Vorstand erreichte uns im Januar 2020 zum ersten Mal die Nachricht aus
China, dass die dortigen Institute für den Publikumsverkehr geschlossen und dass
die Sprachkurse, die in China eine große Rolle spielen, digital abgehalten werden
mussten. Es ging dann sehr schnell: Wir haben bereits im Februar einen Krisenstab
gegründet, weil wir als Institution natürlich vor großen Herausforderungen stan-
den. 314 Entsandte arbeiten beispielsweise im Ausland. Wie kommen sie zurück ?
Oder bleiben sie dort ? Wie ist die Gesundheitsversorgung für die Mitarbeiterin-
nen und Mitarbeiter vor Ort ? Wir mussten und müssen weiterhin diskutieren, wie
die Arbeit für die lokalen Angestellten weitergeht, wenn es keinen Publikumsver-
kehr mehr gibt. Zahlreiche Fragen stellten sich: Wie geht man mit der gesamten
Situation um ? Wie kommuniziert man ? Wie gehen wir auch mit der Zentrale in
München um ? Ich habe den Eindruck, dass uns diese erste, akute Phase der Arbeit
ganz gut gelungen ist. Die Institution hat sehr agil und gut agiert und wir wurden
vom Auswärtigen Amt, das vor Ort und auch hier unser Partner ist, gut unter-
stützt.
   Im März 2020 war nur noch ein Institut für den Publikumsverkehr geöffnet,
das war das Institut in Taipeh. Heute ist etwa die Hälfte der Institute wieder für

1   Das Gespräch fand im Oktober 2020 statt. Die Fragen stellten Ralf Becker, Christian Bermes
    und Sonja Feger. Für die Transkription sei den Redaktionspraktikanten Benjamin Bedersdor-
    fer und Marius Heil herzlich gedankt.

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ABHANDLUNGEN

    Cornelius Borck

    Die Epistemologie von Forschungsumwelten
    Zum Kasseler Projekt einer Philosophie der Tierforschung1

H     och über Kassel thront im Bergpark Wilhelmshöhe der berühmte Herkules.
      Einen Fuß elegant zurückgesetzt, stützt er sich mit dem linken Arm auf seine
Keule, über die er das Fell des erbeuteten Nemeischen Löwen geworfen hat. Der
Löwe ist auch Hessens Wappentier und wurde 2008 zum Akronym für die »Lan-
des-Offensive zur Entwicklung Wissenschaftlich-ökonomischer Exzellenz«, um
die Chancen bei der Exzellenzinitiative des Bundes zu erhöhen. Vielleicht war das
kein besonders gutes Omen, denn Kassel ging bislang leer aus. Aber im Rahmen
des LOEWE-Programms wurde dort der Forschungsschwerpunkt »Tier – Mensch –
­Gesellschaft: Ansätze einer interdisziplinären Tierforschung« mit über dreißig
 Mitarbeiterinnen gefördert und die erste (Junior)Professur für das Mensch-Tier-
 Verhältnis (Human-Animal Studies) in Deutschland eingerichtet. Kristian Köchy
 war in diesem von 2014 bis 2017 geförderten Forschungsschwerpunkt einer der Pro-
 jektleiter, und die Philosophie der Tierforschung in drei Bänden, die er gemeinsam
 mit zwei Mitarbeitern herausgegeben hat, wird man allein schon von ihrem Um-
 fang her, aber auch in systematischer Hinsicht, sicher das umfassendste Ergebnis
 dieses Programms nennen dürfen.
     Mensch-Tier-Beziehungen sind ein derzeit intensiv diskutiertes, selbstverständ-
 lich zugleich uraltes Thema, dessen Konjunktur inzwischen auch den deutsch-
 sprachigen Raum erfasst hat: In Berlin entstand 2012 ein Arbeitskreis für Human-­
 Animal Studies, der sich programmatisch »Chimaira« nennt. An der Universität
 Wien wurde das Messerli Forschungsinstitut zur Erforschung der Mensch-Tier-Be-
 ziehung gegründet, die Tierärztliche Hochschule Hannover berief einen Theologen
 auf eine Professur für Tierethik. Die Volkswagen-Stiftung fördert das Nachwuchs-
 netzwerk Cultural and Literary Animal Studies, dem über hundert Wissenschaftle-
 rinnen angehören. Markus Wilds Tierphilosophie erschien 2019 bereits in vierter
 Auflage, und von den vielen Publikationen zu Animal Studies seien nur zwei he-
 rausgegriffen, die das nähere Umfeld der hier im Zentrum stehenden dreibändi-
 gen Philosophie der Tierforschung abstecken: das kulturwissenschaftliche Hand-

1   Martin Böhnert/Kristian Köchy/Matthias Wunsch (Hrsg.), Philosophie der Tierforschung,
    3 Bde., Freiburg 2016–2018.

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René Heinen

    »Vergebliche Courage«?1
    Über Adornos versteckte Anthropologie und Ethik

                                   »Adorno, der heute wieder so aktuell ist, weil sein Den-
                                   ken keine Lösungen anbietet für eine andere Gesellschaft,
                                   einen neuen Menschen, das Paradies nach der Revolution,
                                   das ganz andere nach dem nächsten Krieg.«2

Die Dialektik der Aufklärung sei ein merkwürdiges Buch, deren an den »schwarzen
Schriftstellern« des Bürgertums (gemeint sind Nietzsche und de Sade) geschulter
Pessimismus überwunden erscheine. »Diese Stimmung, diese Einstellung ist nicht
mehr die unsere«, hält Jürgen Habermas Mitte der 1980er Jahre fest, und seine Er-
leichterung ist mit Händen zu greifen.3 In der Folge lese sich Adornos Negative Dia-
lektik wie eine fortlaufende Erklärung dafür, warum wir im performativen Wider-
spruch einer total gewordenen Vernunftkritik weiter kreisen, ja verharren müssen,
ohne uns (wie etwa Nietzsche) auf die Seite der Gegenaufklärung zu schlagen.4 In
jüngerer Zeit verdichten sich allerdings die Hinweise darauf, dass eine solche selbst
historisch gewordene Einordnung wichtige Aspekte im Denken Adornos verfehlt,
zumal sich allgemein eine Renaissance marxistisch gefärbter Theoriebildung im-
mer weniger übersehen lässt.5 Das Ungenügen an einer Gesellschaftskritik, die sich
vor allem um die (Letzt-)Begründung und Selbstvergewisserung ihrer normativen
Maßstäbe kümmert, darin zu einer prozedural-formalistischen Verhandlung von
Geltungsansprüchen unterschiedlicher diskursiver Sphären bis hin zur Esoterik
und Abkoppelung von der Alltagspraxis neigt, treibt verstärkt Überlegungen an,

1   Zum Titel vgl. Max Horkheimer, Brief an den S. Fischer Verlag (1965), in: Max Horkheimer,
    Schriften 1931–1936, Gesammelte Schriften Bd. 3, Frankfurt a. M. 1988, 10 f.
2   Matthias Beltz, »Glück und Arbeit« (2001), in: Gut/Böse, Gesammelte Untertreibungen Bd. 2,
    Frankfurt a. M. 2004, 854.
3   Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a. M.
    1988, 130.
4   Vgl. ebd., 145.
5   Stellvertretend seien genannt: Patrick Eiden-Offe, »Der alte Karl Marx«, in: Merkur 817 (2017),
    66–75; Martin Burckhardt, »Der Kapitalismus ist tot (er weiß es nur noch nicht) – Marx’ ›Ma-
    schinenfragment‹ und die Logik des Plattform-Kapitalismus«, in: Merkur 831 (2018), 21–33.

                                                                                   ZKph 15 | 2021 | 1
Jacob Rogozinski

    Noli me tangere
    Eine Erfahrung der Reversibilität in Zeiten der Pandemie*

W      elche Lehren werden wir aus dieser Pandemie schließlich ziehen? Als ich
       während unserer 55-tägigen Ausgangssperre1 – wie ich gestehen muss, ohne
Maske – gelegentlich durch menschenleere Straßen und verlassene Parks spazierte,
war ich sehr erstaunt über die Verhaltensweisen der wenigen mir begegnenden
Menschen, da wir uns auffällig anders als früher verhielten. Wenn sich meine
Wege in ›der Welt von einst‹ mit jenen Unbekannter kreuzten, gab keiner dem an-
deren das mindeste Zeichen – weder der Zustimmung noch des Zurückweichens.
Jeder hielt sich an eine höfliche Gleichgültigkeit. Mir fiel auf, dass diese Neutralität
nun Haltungen von großer Gegensätzlichkeit gewichen war. Während die weniger
maskierte Mehrzahl mich mit einer Geste oder einem Lächeln grüßte, vergrößerten
die anderen den Abstand, indem sie einen großen Bogen machten und mir einen so-
wohl empörten als auch besorgten Blick zuwarfen. Da diejenigen, die sich abwand-
ten, fast immer eine Maske trugen, kam es mir in den Sinn, diese als ›maskierte
Phobiker‹ zu bezeichnen.
   In Zeiten der Pandemie erscheint das Verhältnis zu den anderen höchst ambiva-
lent. Ganz so, als offenbarte die Pandemie eine neue Gemeinschaft von Männern
und Frauen, die wissen, dass sie auf dieselbe Bewährungsprobe gestellt werden.
Gleichzeitig lässt die Pandemie die Antipathie derjenigen durchscheinen, welche
die Begegnung mit anderen nun als Bedrohung empfinden und davor zurückschre-
cken. Wir erkennen im alltäglichen Leben die Ambivalenz des hostis wieder. Be-
kanntermaßen bezeichnet der lateinische Begriff sowohl den Gast als auch den
Gastgeber, denjenigen also, den ich aufnehmen oder der mich aufnehmen könnte,
aber auch den Widersacher, den Feind, denjenigen, der mir feindlich gesinnt ist.
Beim vorliegenden Fall handelt es sich nicht – oder nicht nur – um eine patholo-
gische Phobie oder ein Hirngespinst: Ich könnte tatsächlich Überträger des Virus,
also einer potenziell tödlichen Bedrohung sein. Offenkundig ist nicht nur der An-
dere eine Bedrohung für mich, sondern auch ich bin eine Bedrohung für ihn; und

*   Zuerst erschienen in Lignes 63 (2020), 7–22; übersetzt aus dem Französischen von David Espinet.
1   Bezieht sich auf die erste in Frankreich ab dem 17. März 2020 verhängte Ausgangssperre
    (Anm. d. Übers.).

                                                                                   ZKph 15 | 2021 | 1
Annika Schlitte

    »A different sense of nature«
    Ästhetische Perspektiven auf Natur-Kultur-Verhältnisse

I  n letzter Zeit ist in den Sozial- und Kulturwissenschaften häufig die Forderung
   nach einer Verabschiedung des modernen Natur-Kultur-Dualismus zu verneh-
men. Dieser Text befasst sich kritisch mit dieser Forderung, indem er den Blick
auf das Feld der (Natur-)Ästhetik lenkt. Dabei soll nicht nur gezeigt werden, dass
in diesem Kontext längst in sehr differenzierter Weise theoretisch über das Ver-
hältnis von Natur und Kultur nachgedacht wird, sondern auch, dass in bestimm-
ten künstlerischen Praktiken der späten 1960er Jahre bereits eine Reflexion über
die spezifischen Bedingungen von Natur-Kultur-Beziehungen stattgefunden hat.
Diese Reflexion bezieht explizit Perspektiven mit ein, die auch in der aktuellen
Diskussion eine zentrale Rolle spielen, etwa die Berücksichtigung der agency von
nichtmenschlichen Entitäten. Methodisch soll bei der Einbeziehung künstlerischer
Positionen in den theoretischen Diskurs auf die Phänomenologie zurückgegriffen
werden, da hier mit der Leibphilosophie eine Möglichkeit, Natur und Kultur nicht
als einander ausschließende Gegensätze zu denken, gegeben ist. Dieser leibphäno-
menologische Zugang zur Ästhetik wird um einen ortsphilosophischen ergänzt,
der es ermöglicht, über eine alleinige Fokussierung auf den Menschen hinauszu-
gehen.
    In einem ersten Schritt sollen mit Bruno Latour und Philippe Descola aktuelle
Positionen in der Anthropologie und der Soziologie vorgestellt werden, die nach
einer neuen Sicht auf das Verhältnis von Menschen und Nicht-Menschen suchen
und nach Überwindung eines Dualismus von Natur und Kultur streben, den sie
der westlichen Moderne zuschreiben (1). Hartmut Böhmes Hinweis auf Gegenbe-
wegungen zu einem strikten Dualismus von Natur und Kultur innerhalb der west-
lichen Tradition (2) soll dann zum Anlass genommen werden, um an einem Bei-
spiel über das Verhältnis von Natur und Kultur in der nachmodernistischen Kunst
nachzudenken. Einen methodischen Bezugspunkt bildet dabei die Philosophie des
Ortes (3), die kurz vorgestellt wird, bevor dann anhand von zwei ausgewählten Ar-
beiten sowie den theoretischen Überlegungen von Robert Smithson das Reflexions-
potenzial der Land Art für diesen Problembereich ausgelotet werden soll (4).

                                                                     ZKph 15 | 2021 | 1
Niels Weidtmann

    Die interkulturelle Dimension des Menschen

1. Kulturelles Handeln

Die Rede von der interkulturellen Dimension des Menschen muss verstören.
Schließlich gehört die Einsicht, dass sich der Mensch nicht durch seine kulturelle
Zugehörigkeit bestimmen lässt, schon zu den Errungenschaften der Aufklärung.
Dann muss es aber auch als problematisch erscheinen, mit dem Begriff der Inter-
kulturalität eine philosophisch relevante Aussage über den Menschen verbinden
zu wollen. Allenfalls ließe sich auf die postkoloniale Kritik der Aufklärung ver-
weisen, die zeigt, dass die aufklärerische Loslösung der Bestimmung des Menschen
von seiner kulturellen Zugehörigkeit natürlich nicht dazu berechtigt, Menschen
anderer kultureller Prägungen, die diese Form der Aufklärung nicht durchlaufen
haben, zu europäisieren. Freilich gewinnt die Interkulturalität dadurch keine ei-
gene Erklärungsmacht, stattdessen, so die postkoloniale Kritik, muss jede Form
kultureller Hegemonie zugunsten der globalen Wirklichkeit des Menschen über-
wunden werden. Der Zug zum Globalen verlangt der Menschheit dann zwar eine
größere interkulturelle Sensibilität (und ›Kompetenz‹) ab, zugleich verbietet sich
aber jede Form kultureller Zuschreibung (othering).
    Kurz, es scheint so, als sollten wir sensibel für kulturelle Besonderheiten sein,
ohne daraus grundsätzliche Differenzen abzuleiten. Das klingt, als ginge es um
bloße Oberflächenphänomene bzw. richtiger um die bloße Oberfläche von Phäno-
menen, führen diese bekanntermaßen doch ein »Tiefenleben«.1 Als Tiefenleben
der interkulturellen Oberfläche ließe sich, dem Denken der Aufklärung folgend,
auf die Vernunftfähigkeit des Menschen verweisen. Vernunftgeleitetes Handeln
ist, diesem Verständnis nach, das Wesen aller menschlichen Kultur. Nur deshalb
kann die Vernunft auch das Tiefenleben einer interkulturellen Oberfläche dar-
stellen. Freilich ist das vernunftgeleitete Handeln dadurch nicht auf eine spezifi-
sche Kulturgestalt beschränkt. Während die kulturellen Manifestationen der Ver-
nunft vielfältig sind, bleibt die Vernunft selbst doch eine. Die Vernunft manifestiert
sich diesem Ansatz zufolge in kulturellen Akten, weil sie den Menschen aus sei-
nen umweltlichen Kontexten herauslöst und ihm ein Handeln unter der Leitung

1   Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänome-
    nologie, Husserliana Bd. 6, hrsg. von Walter Biemel, Den Haag 21962, 122.

                                                                                ZKph 15 | 2021 | 1
KRITIK

❱ Don’t criticise, be happy?
   Demontage einer Pseudowissenschaft

    Edgar Cabanas / Eva Illouz, Das Glücksdiktat. Und wie es unser Leben beherrscht,
    ­Berlin: Suhrkamp 2019.

»Everybody’s happy nowadays.« (Aldous Hux­-     Psychologie, sondern zusätzlich eine geistrei-
ley, Brave New World (1932), ­London 2007,      che Diagnose der neoliberalen und individu-
79) Dieser lakonische Kommentar in Hux-         alistischen Tendenzen der westlichen Kultur
leys dystopischem Roman ist seit dem Be-        des 21. Jahrhunderts.
ginn des 21. Jahrhunderts das erklärte Ziel        Die kritische Auseinandersetzung mit
der Vertreter der positiven Psychologie und     der positiven Psychologie gliedert sich in
der »Glücksökonomie« (20). Während das          fünf Kapitel. Die Kritik basiert dabei auf ver-
Glück in der Romanwelt durch die Einnah-        schiedenen Überlegungen wissenschafts-
me von Mitteln herbeigeführt wird, behaup-      theoretischer, soziologischer und ethischer
ten die Anhänger der positiven Psychologie,     Natur. Zu Beginn des Buches steht die Fra-
Glück sei eine Einstellungssache und könne      ge im Zentrum, wie sich die positive Psycho-
trainiert bzw. erlernt werden. Es sei das In-   logie überhaupt so stark ausbreiten konnte.
dividuum selbst, das nur das eigene ›Mind-      Hier wird direkt bemängelt, wie diese ver-
set‹ in den Griff bekommen müsse, um end-       sucht, das qualitative Phänomen Glück zu
lich das zu werden, was jeden Menschen          quantifi­zieren und damit ›wissenschaftlich‹
angeblich wirklich antreibt: happy. Genau       zu bewei­sen. Im zweiten und dritten Ka-
mit solchen Annahmen der »Pseudowis-            pitel setzen sich die Autoren vor allem mit
senschaft« (17) vom Glück und ihren weit-       den folgenreichen Einflüssen der Glücks-
reichenden sozialen, moralischen, ökono-        ökonomie auf die Wirtschafts- und Arbeits-
mischen und politischen Folgen beschäftigt      welt auseinander. Dieser Teil ist nicht nur
sich Das Glücksdiktat. Die beiden Autoren –     der sprichwörtliche, sondern auch der inhalt-
welche das Themenfeld rund um Glück und         liche Mittelpunkt des Buches. Die kritische
Gefühle auch zuvor bereits zusammen be-         Beleuchtung der gegenwärtigen Arbeitswelt
arbeitet haben – veranschaulichen die Aus-      und Emotionskultur offenbart, wie groß der
breitung der positiven Psychologie an ver-      Einfluss der pseudowissenschaftlichen ›Be-
schiedenen Beispielen und verbinden ihre        weise‹ in diesen Bereichen bereits ist und
kritischen Analysen nun in diesem Buch.         wie die Glücksökonomie eben jene ›Bewei-
Dabei ist das Werk des Psychologen Cabanas      se‹ zu ihren Zwecken nutzt. Inwiefern Glück
und der Soziologin Illouz nicht nur eine kri-   zu einer Ware geworden ist und welche Aus-
tische Auseinandersetzung mit der positiven     wirkungen dies auf die individuellen Lebens-

                                                                               ZKph 15 | 2021 | 1
ABSTRACTS

Hanno Rauterberg
Rückzug ins Offene! Wie das digitale Zeitalter neue Leitideen des
­Wohnens begünstigt und zugleich verstellt

The stronger the centrifugal forces of globalization become, the more people have
to be on the move, the more uprooted they feel, the stronger the need for connec-
tion and encounter becomes. The desire for ›Heimat‹ is growing. But the digital
transformation, which permeates all spheres of society and makes unexpected al-
liances possible, has little impact on housing, of all things. It favors new living
desires that break away from old ideas of order and security and promote hybrid
forms of behavior and life. At the same time, the constraints of a capital-driven
housing industry are intensifying and rarely correspond to the otherwise common
demand-driven goals and purposes of the capitalist economic order. While the dig-
ital mode of production and distribution aims for the greatest possible diversifica-
tion and thus corresponds to the ideal of changeability, the housing market proves
to be structurally conservative and usually only finds outdated answers to new
demands—with the consequence that a ›right living in the wrong life‹ appears af-
fordable for only a select few.

Walter Siebel
Soziologie des Wohnens

Sociology has a subject matter that is constantly changing. That is why it has to
keep reformulating its theories and categories. One example is the profound change
of housing during the course of industrial urbanization. This change is described
as a change from the whole household (O. Brunner) to housing as part of the mod-
ern way of living based on the functional, social, socio-psychological, and economic
dimensions of living. In connection with this change, the two basic aspects of the
housing question are discussed: What defines a human habitat and why are new
housing problems constantly emerging?

                                                                      ZKph 15 | 2021 | 1
198                                   Abstracts

Jürgen Hasse
Wohnen als Ausdruckssituation des Lebens. Auf dem Weg zu einer
Ethik des Wohnens

Dwelling is understood in the sense of Martin Heidegger: »Dwelling is the manner
in which mortals are on the earth.« The way in which people are living on earth
situates them in their dwelling. Because dwelling is not an activity, but a mode of
being, an ethics of dwelling is required because »habitability« of the earth is lim-
ited. This demands a sustainable way of life. Responsible housing therefore needs a
structural pause in the growth-focussed process of civilisation. As a result, dwell-
ing becomes a reason for a critical reflection on life and this becomes an existential
piece of thinking about dwelling.

David Espinet
Tische, Stühle und andere Gedichte. Zur Poetik des Designs als
Ethik des Wohnens

In my paper, I interpret Hölderlin’s »poetic dwelling« in the sense of a contribution
to the philosophy of design, i.e. a theory of beautiful yet functional artifacts. The
interpretation aims at an ethics of aesthetics in which what I call ›poetry of design‹
is considered as a constitutive element for human autonomy in a world crammed
with artifacts: good design is presented as morally good in the way that it does not
interfere with self-determination, but instead promotes it because good design is
beautiful.

Günter Figal
Wohnbilder. Bewohnbare Architektur und Photographie

In this essay, I wish to elucidate the specific function architectural photography has
for the experience of buildings. With photographs, the image character of buildings
can be discovered and represented, and thereby the nature of habitation can be
revealed as well. Taking or contemplating pictures of habitable rooms one could
learn that habitation is primarily perceptional—a character mostly concealed by
the dominance of everyday practice. In order to give an impression of the manifold
possibilities architectural photography holds, I discuss the work of five quite dif-
ferent photographic artists, namely Julius Shulman, Yutaka Saito, Candida Höfer,
Cy Twombly, and Yasuhiro Ishimoto.

                                                                        ZKph 15 | 2021 | 1
AUTORINNEN UND AUTOREN

Benjamin Bedersdorfer ist Lehramtsstudent an der Universität Koblenz-Lan-
dau, Campus Landau und war 2020 Praktikant der Zeitschrift für Kulturphilosophie.

Cornelius Borck ist Professor für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin
und Naturwissenschaften. Er leitet das Institut für Medizingeschichte und Wissen-
schaftsforschung der Universität zu Lübeck und ist Sprecher des Zentrums für Kul-
turwissenschaftliche Forschung Lübeck.

Johannes Ebert ist Vorsitzender des Vorstands und Generalsekretär des Goethe-
Instituts e. V.

Christian J. Emden ist Frances Moody Newman Professor an der Rice University
und lehrt politische Ideengeschichte. Er hat in Konstanz und Cambridge, England
(Ph.D., 2000) studiert.

 David Espinet, Privatdozent am Philosophischen Seminar der Albert-Ludwigs-
 Universität Freiburg. Schwerpunkte: Kant, Phänomenologie und Hermeneutik;
­Publikationen u. a.: Ereigniskritik. Zu einer Grundfigur der Moderne bei Kant (Berlin/
 Boston 2017); »Heidegger and Kant, or Heidegger’s Poetic Idealism of Imagination«,
 in: Jon Stewart (Hrsg.), The Palgrave Handbook of German Idealism and Existentia-
 lism, London 2020, 363–385.

Günter Figal lebt und arbeitet als Philosoph in Freiburg im Breisgau. Bis 2017 war
er Ordinarius für Philosophie an der dortigen Universität. Zahlreiche Gastprofes-
suren, u. a. als Inhaber des International Chair of Philosophy Jacques Derrida an
der Universität Turin. Jüngste Buchveröffentlichungen: Japan im Westen. Kengo Ku-
mas Meditation House im Kranzbach (Freiburg 2020); Philosophy as Metaphysics. The
Torino Lectures (Tübingen 2019).

Jürgen Hasse, Dr. rer. nat. habil., von 1993 bis 2015 Univ.-Prof. für Humangeogra-
phie an der Goethe-Universität Frankfurt a. M. Forschungsschwerpunkte: Phäno-
menologische Raumforschung, Mensch und Natur, Wohnen. Zahlreiche Bücher zu
kulturwissenschaftlichen Themen.

René Heinen, Dr., Studium der Philosophie, Romanistik und Politologie in Müns-
ter, Madrid und Frankfurt am Main, hat mit einer vergleichenden Studie zu Nietz-
sche und Wittgenstein promoviert. Seither im Verlagswesen tätig, hat er vielfältig

                                                                         ZKph 15 | 2021 | 1
200                             Autorinnen und Autoren

zu Sprach- und Erkenntnistheorie sowie zum Verhältnis von Wirtschaft und Ethik
publiziert.

Christian Krijnen, Associate Professor of Philosophy, Vrije Universiteit Amster-
dam. Neuere Monographien: The Very Idea of Organization. Social Ontology Today.
Kantian and Hegelian Reconsiderations (2015); (Hrsg.): Recognition – German Ideal-
ism as an Ongoing Challenge (2014); (Hrsg. mit K. W. Zeidler): Reflexion und konkrete
Subjektivität. Beiträge zum 100. Geburtstag von Hans Wagner (2017); (Hrsg. mit St.
Zimmermann): Sozialontologie in der Perspektive des deutschen Idealismus. Ansätze,
Rezeptionen, Probleme (2018); (Hrsg.): Metaphysics of Freedom? Kant’s Concept of Cos-
mological Freedom in Historical and Systematic Perspective (2018); (Hrsg.): Concepts of
Normativity: Kant or Hegel? (2019).

Hanno R auterberg ist stellvertretender Leiter des Feuilletons der ZEIT und
schreibt vor allem über Kunst, Architektur und Städtebau. Er ist promovierter
Kunsthistoriker und Absolvent der Henri-Nannen-Journalisten-Schule. Seit 2007 ist
er Mitglied der Freien Akademie der Künste in Hamburg. Zuletzt erschienen: Wie
frei ist die Kunst? Der neue Kulturkampf und die Krise des Liberalismus (Berlin 2018),
Die Kunst und das gute Leben. Über die Ethik der Ästhetik (Berlin 2015) und Wir sind
die Stadt! Urbanes Leben in der Digitalmoderne (Berlin 2013).

Ursula Reitemeyer, Prof. apl., Dr., Westfälische Wilhelms-Universität Münster,
Institut für Erziehungswissenschaft, Schwerpunkte in Forschung und Lehre: All-
gemeine Pädagogik, Bildungs- und Geschichtsphilosophie, philosophische Anthro-
pologie, Pädagogische Ethik.

Jacob Rogozinski ist Professor der philosophischen Fakultät an der Universität
Straßburg. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Phänomenologie und gegenwärtige
Philosophie. In deutscher Übersetzung liegt von ihm vor: Das Leben heilen. Die Pas-
sion Antonin Artauds (Wien 2019).

Annik a Schlitte ist Professorin für Ästhetik und Kulturphilosophie an der Uni-
versität Greifswald. Nach der Promotion an der Ruhr-Universität Bochum war sie
wiss. Mitarbeiterin an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und Ju-
niorprofessorin an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz. Zu ihren For-
schungsschwerpunkten zählen Georg Simmels Kulturphilosophie sowie die Philo-
sophie von Ort und Raum. Wichtigste Veröffentlichungen: Die Macht des Geldes und
die Symbolik der Kultur (Paderborn 2012), als Mitherausgeberin: Philosophie des Ortes
(Bielefeld 2014), Situatedness and Place (Cham 2018).

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Autorinnen und Autoren                              201

Walter Siebel, Prof. em. Dr., Universität Oldenburg, Soziologie mit dem Schwer-
punkt Stadt- und Regionalforschung. 1989–1995 wissenschaftlicher Direktor der
IBA Emscher-Park, 1991 und 1992 Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut Es-
sen. 1995 Fritz Schumacher Preis, 2004 Schader Preis. Letzte Buchpublikation: Die
Kultur der Stadt (Berlin 2015).

Jennifer Stevens ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Allge-
meine Soziologie, insbesondere Handlungs- und Interaktionstheorien der Bergi-
schen Universität Wuppertal.

Hartmut von Sass, Prof. Dr., Titularprofessor für Systematische Theologie und
Religionsphilosophie, Theologische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin,
Arbeitsschwerpunkte: Theologie und Philosophie der Emotionen; Atheismus als
Element des Glaubens; Analytische Theologie und Philosophie der Existenz (bes.
Dank, Gebet und Hoffnung).

Niels Weidtmann, Wissenschaftlicher Leiter des Center for Interdisciplinary and
Intercultural Studies, Universität Tübingen, Philosophie; Arbeitsschwerpunkte in
Phänomenologie und Hermeneutik, Interkultureller Philosophie und Philosophi-
scher Anthropologie.

                                                                    ZKph 15 | 2021 | 1
Zeitschrift für Kulturphilosophie

                                    Herausgegeben von
                  Ralf Becker, Christian Bermes und Dirk Westerkamp

Wissenschaftlicher Beirat                       Die »Zeitschrift für Kulturphilosophie«
Christine Blättler, Cornelius Borck,            widmet sich der Schnittstelle zwischen Phi-
Ulrich von Bülow, Michael Hampe,                losophie und Kulturwissenschaften.
Gerald Hartung, Ralf Konersmann, ­              Entscheidend ist das Vorhaben, »Kultur« als
Dieter Mersch, Birgit Recki, Annika Schlitte,   eigenständiges Konzept zu begründen – also
Eva Schür­mann, Andreas Urs Sommer,             nicht bloß als Sammelname oder Themen-
Philipp Stoellger und Uwe Justus Wenzel         feld. Dementsprechend ist die »Zeitschrift
                                                für Kulturphilosophie« ein Forum für Bei-
Herausgeber                                     träge, die den Begriff der Kultur als genuin
Prof. Dr. Ralf Becker                           philosophischen Gegenstand begreifen und
Prof. Dr. Christian Bermes                      zur Profilierung des Kulturellen und seiner
Universität Koblenz-Landau                      Paradigmatik beitragen wollen. Der Kul-
Campus Landau / Fachbereich Philosophie         turwirklichkeit ebenso verpflichtet wie der
Bürgerstr. 23                                   Anstrengung des Begriffs, muß die Kultur-
D-76829 Landau                                  philosophie und muß auch die Zeitschrift
becker-ralf@uni-landau.de                       als ein offenes Projekt angelegt werden. Als
bermes@uni-landau.de                            aktuelles, den Nachbarfächern gegenüber
                                                aufgeschlossenes Unternehmen versteht
Prof. Dr. Dirk Westerkamp                       sich die Kulturphilosophie zugleich von
Philosophisches Seminar                         ihren Grenzen her und öffnet sich einem
Christian-Albrechts-Universität                 Reflexionsraum, den sie mit der Ideen- und
Leibnizstr. 6                                   Wissensgeschichte, der Kultur­semiotik und
D-24118 Kiel                                    den cultural studies teilt.
westerkamp@philsem.uni-kiel.de
                                                Bezugsbedingungen
Redaktion                                       Die Zeitschrift erscheint zweimal jährlich
Sonja Feger                                     (Mai und November) mit rd. 200 Seiten pro
Campus Landau / Fachbereich Philosophie         Heft. Informationen zu Preisen und Bezugs-
Bürgerstr. 23                                   bedingungen unserer Zeitschriften (inkl.
D-76829 Landau                                  Bei- & Sonderhefte) entnehmen Sie bitte der
redaktion-zkph@uni-landau.de                    Seite www.meiner.de/zeitschriften.
                                                Im Abonnement dieser Zeitschrift ist ein
Praktikanten in dieser Ausgabe:                 Online-Zugang enthalten. Für weitere Infor-
Benjamin Bedersdorfer, Marius Heil,             mation und zur Freischaltung besuchen Sie
­Maria Pape                                     bitte die Seite: www.meiner.de/ejournals.

                            Felix Meiner Verl ag · Ha mburg
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