Menschen - Von Anfang an - Aktion Mensch

Die Seite wird erstellt Christine Bruns
 
WEITER LESEN
Menschen - Von Anfang an - Aktion Mensch
#1 – 2018

       Menschen
                Inklusiv leben

Von Anfang an
                  Kindergarten, Grundschule, Spielplatz:
                  Ein Miteinander kann gelingen, wenn
                  die Weichen früh gestellt werden.
Menschen - Von Anfang an - Aktion Mensch
Jeder Kauf hilft. Gemeinsam errichten wir
inklusive Spielplätze in ganz Deutschland.

Mehr Infos auf www.rewe.de/glück

VIELE MENSCHEN KÖNNEN ZUSAMMEN GROSSES ERREICHEN,
   WENN JEDER EINZELNE EIN KLEINES STÜCK BEITRÄGT.
Das ist die Idee hinter der Spenden-Aktion „Stück zum Glück“.                                   Damit gemeinsames Spielen und Aufwachsen selbstver-
REWE und P&G wollen gemeinsam mit der Aktion Mensch                                             ständlicher wird, dafür macht sich die Aktion Mensch
die Lebensqualität von Kindern mit und ohne Behinderung                                         gemeinsam mit REWE und Procter & Gamble stark.
nachhaltig verbessern und das selbstverständliche Mitein-                                       In den kommenden drei Jahren werden deutschlandweit
ander durch inklusive Spielplätze fördern.                                                      komplett neue inklusive Spielplätze errichtet, etliche be-
                                                                                                stehende aus- oder umgebaut und durch passende Spiel-
Spielplätze schenken Kindern und auch ihren Familien wert-                                      geräte erweitert. Möglich wird dies durch die Spenden-
vollen Spielraum: Hier ist Platz für Spaß, Lärm, Bewegung                                       summe von 1 Million Euro.
und eine ungebremste motorische Entwicklung.
In ganz Deutschland mangelt es jedoch an Spielräumen,                                           Spenden geht so einfach: Mit jedem Kauf eines Produktes
die Kinder und Eltern zum Austausch und spielendem Mit-                                         der abgebildeten P&G-Marken unterstützt jeder REWE-
einander einladen. Nur die wenigsten bieten aktuell ein                                         Kunde die Aktion Stück zum Glück. Gemeinsam
inklusives Spielerlebnis für alle Kinder.                                                       können wir so viel erreichen.

Diese Marken machen mit:

*Mit jedem Kauf eines Procter & Gamble Produktes ab Aktionsstart am 30.04.2018 unterstützen Procter & Gamble und REWE die Aktion Mensch bei der Errichtung von inklusiven Spielplätzen in
         Deutschland mit 0,01€ bis zum Erreichen der Spendensumme von 1 Million Euro. Die Aktion Mensch bevorzugt keine Marken oder Produkte. Mehr Infos auf www.rewe.de/glück
Menschen - Von Anfang an - Aktion Mensch
e
                                                                                                                                                 Das neu l rund
                                                                                Editorial

                                                                                W
                                                                                                                                                 a ti o n sporta
                                                                                                                                          Inform                  ung:
                                                                                                                                                        sive Bild
                                                                                                                                            um inklu lusion.de
                                                                                                        ann könnte man besser                 www.ink
                                                                                                        lernen, dass Vielfalt etwas
                                                                                                        Selbstverständliches
                                                                                                        ist und dass sie unser
                                                                                                        Zusammenleben bereichert,
                                                                                                        als im Kindesalter? Wer
                                                                                                        Inklusion von Anfang erlebt,
                                                                                dem ist ein Miteinander von Menschen mit und
                                                                                ohne Behinderung oder mit unterschiedlichem
                                                                                sozialen und kulturellen Hintergrund auch später
                                                                                vertraut. Für diese Idee wirbt der aktuelle Filmspot
                                                                                der Aktion Mensch (Seite 6). Er markiert den
                                                                                Auftakt zum Themenschwerpunkt Bildung und
                                                                                Persönlichkeitsstärkung, dem wir uns bis 2020
                                                                                widmen werden. In diesem Zeitraum verstärkt
                                                                                die Aktion Mensch ihr Engagement für gleiche
                                                                                Teilhabechancen aller Kinder, Jugendlichen
                                                                                und jungen Erwachsenen. Dazu tragen neue
                                                                                Förderprogramme bei (Seite 15), aber auch eine
                                                                                Kampagne, Formate für Fachleute und natürlich
                                                                                Angebote für Kinder und Jugendliche selbst – etwa
                                                                                das erste inklusive Kinderbuch auf dem deutschen
                                                                                Buchmarkt (Seite 90).

                                                                                In dieser und in den nächsten Ausgaben unseres
                                                                                Magazins begleiten wir diesen Themenschwerpunkt,
                                                                                zunächst mit dem Blick auf Kinder, später wird
                                                                                es dann um die Entwicklung von Jugendlichen
                                                                                und Erwachsenen gehen. Lesen Sie diesmal,
                                                                                wie Bildungseinrichtungen – gerade auch im
                                                                                außerschulischen Bereich – inklusiver werden können
                                                                                oder wie benachteiligte Kinder lernen, sich für ihre
                                                                                Belange einzusetzen, und starke Persönlichkeiten
                                                                                werden (Seite 24).
Fotos Käte Kieseyer (oben), Tobias Schult (unten)

                                                                                Eltern, Pädagogen, Wissenschaftler, eine Filme-
                                                    Titel                       macherin und Kinder berichten in dieser Ausgabe von
                                                    Thibaud (links) und         ihren Erfahrungen mit der Umsetzung von Inklusion.
                                                    ­Leopold spielen beide      Daraus lässt sich viel für die Zukunft lernen. Denn wie
                                                    im neuen Kampagnen-         sagte schon Albert Einstein: „Lernen ist Erfahrung.
                                                    film der Aktion Mensch      Alles andere ist einfach nur Information.“
                                                    mit. Viel Spaß hatten sie
                                                    auch in den Drehpau-        Christina Marx
                                                    sen – und wurden beste      Chefredakteurin
                                                    Freunde.

                                                    Menschen #1 – 2018                                                                                                   3
Menschen - Von Anfang an - Aktion Mensch
Seite 24
Wer als Kind mitreden
darf, lernt, sich für die
Gemeinschaft einzuset-
zen. Eva-Maria (6 Jahre)
hilft dabei, die Wege in
Großwechsungen für
alle sicherer zu ma-
chen. Partizipationspro-
jekte wie dieses gibt es
in ganz Deutschland.

                                                 Foto Lisa Winter

4                           Menschen #1 – 2018
Menschen - Von Anfang an - Aktion Mensch
Inhalt
 6 A
    b in die Zukunft!                  58 H
                                            and in Hand                    Kunstreich
   Die neue Kampagne der Akti-             In Gütersloh arbeiten
                                                                            Drei Arbeiten aus einem inklusiven
   on Mensch für mehr gemein-              ­Lebenshilfe, Schule und
                                                                            Workshop des Kunstmuseums Bonn
   same Bildung und Entwicklung            Kita zusammen
                                                                            zum Thema „Bildräume“
15 G
    eld für Gutes                      66 Geht
                                              doch!
                                                                            22 Anna Zöller
   Förderprogramme der                     Fünf Projekte, bei denen die
                                                                            52  Maxima Behr-O’Hara
   Aktion Mensch                           Rahmenbedingungen stimmen
                                           und die Inklusion läuft          84 Leo Wilsmann
16 K
    indheit heute
   Großer Leistungsdruck, ge-           72 K inder brauchen jemanden,
   lockerte Familienstrukturen,            der an sie glaubt
                                                                            Standards
   mehr Kontrolle: Aufwachsen              In zwei Filmen hat Hella
                                                                            96 M ehr wissen
   hat sich verändert                      Wenders die Lernkarrieren von
                                           Schülern dokumentiert. Ein In-   97 Impressum
24 E in Wörtchen mitreden
                                           terview über ihre Erkenntnisse   98 Ausblick: Auf dem Weg
   Wo Kinder lernen können, an
   gesellschaftlichen Prozessen         80 Q
                                            wie Qualifizierung
   teilzunehmen                            Fortbildung kann den Weg für
                                           die Inklusion ebnen. Aber wie
31 W
    ohl oder Wehe?
                                           ­sehen wirksame Angebote
   Bewirkt sonderpädagogische
   Diag­n ostik Hilfe oder Etikettie-
                                           aus?                             Menschen online
   rung? Zwei Meinungen                 86 K
                                            eine Kompromisse mehr          Fassungen der Texte in Einfacher

                                           Unser Bildungssystem folgt       Sprache und als Hörausgabe unter:
38 E ltern erzählen
                                           Logiken, die mit der Inklusi-    www.aktion-mensch.de/magazin
   Mütter und Väter über ihre
                                           onsidee wenig gemein haben,
   Wünsche für ihre Kinder und
                                           meint Prof. Bettina Amrhein
   eine inklusivere Gesellschaft
                                                                                    www.youtube.com/
                                        90 D
                                            ie Bunte Bande
50 E ltern müssen fordern                                                          user/AktionMensch
                                           Der fünfte Band der Erstlese-
   Elternvertreter setzen auf
                                           reihe vereint Alltagssprache,
   stärkeres Miteinander
                                           Einfache Sprache und Braille-            www.facebook.com/
54 Spielend
          inklusiv                                                                aktion.mensch
                                           schrift
   Mehr barrierefreie Angebote
   wären gut für die kindliche
                                                                                    www.twitter.com/
   Entwicklung
                                                                                    aktion_mensch

Menschen #1 – 2018                                                                                               5
Menschen - Von Anfang an - Aktion Mensch
Mehr gemeinsame Bildung und Entwicklung von Kindheit an ist das Ziel
der neuen Kampagne der Aktion Mensch. Warum das für unsere ganze
Gesellschaft ein Gewinn wäre, zeigt ein Blick nach vorn.

    Ab in die Zukunft!
6                                                             Menschen #1 – 2018
Menschen - Von Anfang an - Aktion Mensch
Die Geschichte
                                                  Die Landung auf dem
                                                  Mars steht kurz bevor:
                                                  Der Film zur neuen
                                                  Kampagne der Aktion
                                                  Mensch spielt in einer
                                                  nicht allzu fernen
                                                  Zukunft, in der Inklusion
                                                  längst Realität ist –
                                                  selbst in der Raumfahrt.
                                                  Der junge Astronaut
                                                  trägt eine Beinprothese.
Foto Claas Ortmann/Bigfish

                             Menschen #1 – 2018                               7
Menschen - Von Anfang an - Aktion Mensch
Text Robert Fechner

Wir schreiben das Jahr X in einer nicht allzu fernen Zu-
kunft. Ein sonniger Morgen kündigt sich an. Heute soll
zum ersten Mal eine bemannte Raumkapsel auf dem
Mars landen. Gespannte Erwartung liegt über der all-
täglichen Routine der Stadtmenschen auf der Erde. Alle
Personen sind Kinder, die in die Rollen von Erwachsenen
geschlüpft sind. Ein Mädchen im Businesskostüm springt
in ein Taxi, um die Landung zusammen mit ihren Kollegen
in der Firma verfolgen zu können. Sie gebärdet dem Fah-
rer, wohin sie möchte und dass er sich beeilen soll. Der
Fahrer versteht und gibt Gas. In der Firma angekommen,
stürmt sie in ein Meeting und erklärt aufgeregt, dass ge-     Pädagogen, die in inklusiven Settings arbeiten,
rade die Marsmission landet. Der Chef der Runde, der im       erleben, wie normal Unterschiede werden kön-
Rollstuhl sitzt, unterbricht die Besprechung und schaltet     nen, wenn sie alltäglich sind. Das zeigt die Ant-
die Liveübertragung ein. Gerade rechtzeitig, um zu sehen,     wort, die die Inklusionsforscherin Ines Boban von
wie zwei Astronauten die Leiter ihrer Raumfähre hinab-        einer Schülerin auf die Frage erhielt, wie viele
steigen und einer der beiden als erster Mensch seinen         Flüchtlinge in ihrer Klasse seien: „Es gibt bei uns
Fuß auf die sandige Oberfläche des Mars setzt – oder          keine Flüchtlinge, nur Kinder.“ Oder das Beispiel
besser gesagt: seine Prothese. Mit einer Nahaufnahme          von Schülern einer Klasse der Bonner Marie-­
auf diesen Schritt blendet der Film über in die Gegenwart:    Kahle-Schule, die auch dann die akustische
Der sandige Boden gehört zu einem Spielplatz, auf dem         Hilfstechnik benutzen, wenn ihr Mitschüler, der
Kinder mit und ohne Behinderung und mit verschiedener         darauf angewiesen ist, um Gruppendiskussionen
Hautfarbe herumtoben. Es sind die Kinder aus den voran-       folgen zu können, gar nicht anwesend ist.
gegangenen Szenen. Die beiden Astronauten, ein Mäd-
chen und ein Junge, sind nicht von der Raumfähre, son-        Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmer-
dern vom Spielplatzgerüst hinabgestiegen und beginnen         mehr? Natürlich können auch Erwachsene Be­
nun, gemeinsam „den Mars“ um sich herum zu erkunden.          rührungsängste, Hemmungen, Vorurteile able-
                                                              gen. Aber es fällt schwer, kostet Überwindung
                                                              und Zeit. Wie viel besser wäre es, wenn die Be-
          Mit diesem Spot startet die Aktion Mensch           rührungsängste erst gar nicht entstünden! Wenn
          ihre neue Kampagne für mehr „Inklusion von          man die Unverkrampftheit und Offenheit, mit der
          Anfang an“. Die Botschaft ist so einfach wie ein-   Kinder Unbekanntem begegnen, nutzen würde,
          leuchtend: Je mehr Kinder von klein an Vielfalt     um ihnen von vornherein zu vermitteln: Die Welt
          als etwas Selbstverständliches erleben, desto       ist bunt, und das ist gut so. Bezogen auf alle
          wahrscheinlicher wird es Inklusion in der Welt      Facetten von Vielfalt.
          von morgen geben. Dann werden diejenigen,
          die sich als Kinder auf dem Spielplatz, in der      Wir leben in einer zunehmend heterogenen
          Schule, in der Ferienfreizeit begegnet sind, auch   Gesellschaft. Entsprechend wichtig ist es für
          als J­ ugendliche und Erwachsene ganz selbst-       uns, den Umgang mit Vielfalt zu erlernen.
          verständlich zusammen Sport treiben, ­M usik        Diese Fähigkeit wird es den heutigen Kindern
          ­machen und arbeiten.                               erleichtern, als Erwachsene ihren Platz in der

8                                                                                           Menschen #1 – 2018
Menschen - Von Anfang an - Aktion Mensch
Die Darsteller
                             Alle Rollen im Film sind mit Kindern besetzt. Einige davon haben eine
                             ­Behinderung. Aber die ist oft erst auf den zweiten Blick erkennbar – wie
                             bei der Fensterputzerin mit Handprothese. Eine Rolle spielen sie nie.
                             125 Darsteller, Techniker und Begleiter waren am Set. Die Kinder stammen
                             aus Deutschland, Portugal, Großbritannien und Frankreich.
Foto Claas Ortmann/Bigfish

                             Menschen #1 – 2018                                                          9
Menschen - Von Anfang an - Aktion Mensch
Die Diskussion
                                                      um Inklusion
                                                      an Schulen
                                                      verdeckt, dass
  Gemeinschaft zu finden und insgesamt ver-
bundener miteinander zu sein. Je früher sie diese
Kompetenz erwerben, desto besser.

Warum treibt die Aktion Mensch das Thema In-
klusion und Bildung gerade heute voran? Nach          auch andere
                                                      Bildungsorte viel
der Verabschiedung der Behindertenrechts-
konvention der Vereinten Nationen (UN) 2006
und spätestens nach ihrem Inkrafttreten im Jahr

                                                      dazu beitragen
2008 herrschte Aufbruchstimmung in Deutsch-
land. Doch inzwischen folgte auf die anfängliche
Euphorie vor allem im Bildungsbereich vielfach

                                                      können.
Ernüchterung. Angesichts knapper Ressourcen
und mangelnder Konzepte, wie Inklusion im be-
stehenden Schulsystem gelingen kann, droht das
Bemühen nachzulassen. In den Medien haben
Berichte Konjunktur, die Beispiele präsentieren,
in denen gemeinsamer Unterricht nicht funktio-
niert und für alle Beteiligten frustrierend ist. Es
gibt aber auch zahlreiche Beispiele, die belegen,
dass gemeinsamer Unterricht unter den richtigen
Rahmenbedingungen für alle Kinder ein Gewinn
ist. Nur dringen diese Erzählungen zurzeit nicht
durch, weil sie sich nicht so gut verkaufen lassen.

Die Stimmung in den Medien
schlägt sich in der
Bildungspolitik nieder
Die Stimmung in den Medien spiegelt sich in
weiten Teilen der Bildungspolitik und der Eltern-
schaft. Bei Eltern von Kindern mit Behinderung
wird dies teilweise zusätzlich genährt durch
schlechte Erfahrungen und die Hemmung, das
eigene Kind aus seinem geschützten Bereich

10                                                                Menschen #1 – 2018
Interview

                           „Die Chancen in
                           den Blick nehmen“
                           Armin von Buttlar, Vorstand der Aktion Mensch, zu
                           Zielen und Maßnahmen der mehrjährigen Kampagne
                           „Inklusion von Anfang an“.

                           Die Aktion Mensch will sich bis 2020 verstärkt für
                           mehr Inklusion schon im Kindesalter einsetzen. Was
                           ist der Ansatz und was das Ziel?
                              Armin von Buttlar: Wir sind fest davon überzeugt,
                           dass Inklusion schneller vorankommt, wenn Kinder mit und ohne Behinde-
                           rung von Anfang an gemeinsam aufwachsen. Wenn sie in der Tagesstätte, in
                           der Schule und in der Freizeit erfahren, dass das Miteinander ganz normal
                           ist, dann wird Inklusion im späteren Leben auch selbstverständlich sein.
                           Berührungsängste und Barrieren in den Köpfen können so gar nicht erst
                           entstehen. Mit unserer Kampagne und vielen anderen Maß­nahmen möchten
                           wir die Menschen sensibilisieren.

                           Welche Maßnahmen sind geplant?
                              Wir wollen zum Beispiel über ein neues Förderprogramm für Kinder- und
                           Jugendprojekte Inklusion von Anfang an an den Start bringen. Als größter
                           Förderer im Bereich Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland hat die Aktion
                           Mensch hier schon viel Erfahrung. Darüber hinaus sind neben unserer Kam-
                           pagne mit dem Film „Inklutopia“ viele weitere Angebote, wie zum Beispiel
                           Expertenrunden, Workshops, Lesungen und ein Onlineportal, geplant. An
                           das jüngere Publikum richten wir uns mit Social-Media-Aktivitäten auf Face-
                           book und YouTube.

                           Welche Hoffnungen verbinden Sie ganz persönlich mit mehr
                           Inklusion von Anfang an?
                              Das gemeinsame Aufwachsen in einer vielfältigen Umgebung macht es
                           möglich, dass Kinder und Jugendliche ihre Stärken optimal entwickeln kön-
                           nen. Deshalb wünsche ich mir, dass ein neuer, konstruktiver Dialog in Gang
                           kommt, der nicht nur Probleme, sondern die vielen Chancen in den Blick
                           nimmt. Kinder haben keine Vorbehalte. Sie gehen ganz selbstverständlich
                           mit Unterschieden um. Sie sind neugierig, voneinander zu lernen, sich ken-
                           nenzulernen. Wenn Normalität im Kindesalter entsteht, ist Inklusion von An-
                           fang an ein Gewinn für alle.
Foto Ayse Tasci

                  Menschen #1 – 2018                                                                     11
Der Film
„Mission Zukunft“ ist zu sehen auf der Website und auf dem YouTube-Kanal
der Aktion Mensch, ab Mitte August 2018 außerdem im Fernsehen und ab
November im Kino.
                                                                                                Foto Claas Ortmann/Bigfish

12                                                                         Menschen #1 – 2018
Jetzt abzuwarten, bis irgendwann mehr Geld
                                                      und Personal zur Verfügung steht, oder gar das
                                                      Rad zurückzudrehen, wäre verschenkte Zeit.
   heraus an eine der heute oft schlecht ausge-       Der gesellschaftliche und politische Auftrag
statteten Regelschulen zu schicken. Das Resultat:     lautet, daran zu arbeiten, das in der UN-Behin-
Nach wie vor besuchen fast 70 Prozent der Kin-        dertenkonvention festgeschriebene Menschen-
der mit Behinderung eine Förderschule. Die Zahl       recht auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben
der Kinder mit Förderbedarf, die auf eine Regel-      durchzusetzen. Denn erst in der Praxis und aus
schule gehen, ist zwar inzwischen mit rund            der Praxis können wir lernen, wie Inklusion im
200.000 mehr als doppelt so hoch wie vor zehn         Kinder- und Jugendbereich funktioniert und an
Jahren. Aber gleichzeitig ist die Gesamtzahl der      welchen Stellschrauben gedreht werden muss,
Kinder mit diagnostiziertem Förderbedarf im sel-      damit sie gelingt. Das heißt: Learning by Doing.
ben Zeitraum um fast zehn Prozent gestiegen:          Jeder, nicht nur Eltern und Pädagogen, kann sei-
von rund 481.000 auf rund 524.000 (siehe Sei-         nen Beitrag dazu leisten. Denn es ist nicht zuletzt
te 37). Sehr viel hat sich prozentual also noch       eine Frage der Haltung, die das gesellschaftliche
nicht getan.                                          Inklusionsklima bestimmt.

Die alles überlagernde Diskussion um Inklusion
an Schulen verdeckt die Sicht darauf, dass auch       Austausch fördern und
an anderen Bildungsorten viel dafür getan wer-        Erfahrungen sammeln
den kann und bereits wird, damit unterschiedli-
che Kinder gemeinsam aufwachsen. In Vereinen,         Gute Beispiele, die zeigen, dass inklusives Ler-
bei Angeboten freier Träger der Kinder- und           nen nicht nur funktionieren kann, sondern berei-
Jugendhilfe, mehr und mehr auch bei Angeboten         chernd für alle Beteiligten ist, gibt es viele – und
der Behindertenhilfe treffen Kinder auf Altersge-     das nicht erst seit Inkrafttreten der UN-Behinder-
nossen, denen sie beispielsweise in ihrem schu-       tenrechtskonvention. Bereits in den 1970er- und
lischen Umfeld bisher eher nicht begegnen. Kin-       1980er-Jahren starteten – meist auf Initiative
der, die einer anderen gesellschaftlichen Schicht,    engagierter Eltern – die ersten Versuche, Kindern
einer anderen Nationalität, vielleicht auch einer     mit und ohne Behinderung gemeinsames Lernen
anderen Religion angehören – oder eben auf            zu ermöglichen, zunächst in Kindergärten, später
Unterstützung angewiesen sind. Für die Persön-        an Grund- und schließlich auch an weiterführen-
lichkeitsentwicklung sind diese Begegnungen           den Schulen. Seit den 1990er-Jahren hat das
wichtig. Sie fördern die soziale Kompetenz, die       Thema in Form der Wahlmöglichkeit Eingang in
Fähigkeit, Lösungen zu finden und Kompromisse         viele Landesschulgesetze gefunden. Allerdings
einzugehen, die eigenen Interessen zu artikulie-      war es vor dem Rechtsanspruch auf inklusive
ren und die der anderen wahrzunehmen. Bildung         Bildung, der durch die UN-Behindertenrechtskon-
ist mehr als die Vermittlung von Lernstoff. Sie ist   vention begründet wurde, schwierig, einen Platz
auch Persönlichkeitsbildung und -stärkung. Und        an einer der wenigen Schulen mit gemeinsamem
sie findet nicht nur an Schulen statt.                Unterricht zu ergattern.

Menschen #1 – 2018                                                                                           13
In vielen inklusiven Kitas, Freizeitklubs, teilwei-
                                               se auch in traditionellen Vereinen sind Kinder mit
                                               und ohne Behinderung inzwischen regelmäßig
                                               zusammen. Bisher ist das allerdings noch keine
                                               Selbstverständlichkeit, denn zu häufig fehlt es
                                               auch hier an entsprechenden Rahmenbedingun-
                                               gen und an Überzeugung. Daher ist es wichtig,
                                               die guten Erfahrungen mit­einander zu ver-
                                               knüpfen und erfolgreiche Beispiele bekannt zu
                                               machen, sodass sich Akteure austauschen und
                                               voneinander lernen können. Wie viele Synergien
                                               entstehen können, wenn Schule und außerschuli-
                                               scher Bereich, Eltern und Pädagogen, Lehrer und
     Die Maßnahmen                             Erzieher, Inklusionsfachkräfte und Sozialarbeiter
     Plakate und Anzeigen unterstützen die     zusammenarbeiten, zeigen erfolgreiche Koopera-
     Verbreitung der Botschaft. Ausführliche   tionen wie das Projekt FRED in Gütersloh, das in
     Infos über die Kampagne und die Initia-   dieser Ausgabe vorgestellt wird (siehe Seite 58).
     tiven der Aktion Mensch für mehr Inklu-
     sion in der Bildung gibt es unter:        Wenn sich die Aktion Mensch in den kommen-
     www.aktion-mensch.de/vonanfangan          den Jahren für das Thema „Inklusion von An-
                                               fang an“ stark macht, ist eines ihrer wichtigsten
                                               Ziele, die Entstehung gerade solcher Projekte
                                               an Schnittstellen der Bildungsträger zu fördern.
                                               So könnten Impulse und Ideen für neue Wege
                                               entstehen, wie sich die Lebenswelten von Kin-
                                               dern inklusiver gestalten lassen, damit diese von
                                               Anfang an die Einstellung und Kompetenz ent-
                                               wickeln, die für unser Zusammenleben wichtig
                                               sind. Dieses Ziel zu erreichen, ist noch ein weiter
                                               Weg, auf dem manches in der Praxis überdacht
                                               und Neues ausprobiert werden muss. Aber im
                                                                                                        Foto Claas Ortmann/Bigfish

                                               Vergleich zum Mars ist es zum Greifen nah. Inklu-
                                               sion ist zudem keine Raketenwissenschaft. Sie ist
                                               eine Frage der Haltung und der Bereitschaft, sich
                                               auf die Reise zu machen. Dabei können wir viel
                                               von Kindern lernen.

14                                                                            Menschen #1 – 2018
 an an die Töpfe
                                                                                                                     R
                                                                                                                     Informationen zu den genannten Förderprogram-
                                                                                                                     men finden Sie unter: www.aktion-mensch.de/
                                                                                                                     foerderung/foerderprogramme.html

                                 Geld                                                                                Inklusion einfach machen – mit
                                                                                                                     dem neuen Angebot fördert die Aktion
                                                                                                                     Mensch Projekte mit bis zu 50.000

                                 für Gutes
                                                                                                                     Euro für Personal-, Honorar- und
                                                                                                                     Sachkosten und weiteren 10.000 Euro
                                                                                                                     für die Kosten zur Herstellung von
                                                                                                                     Barrierefreiheit. Die aufzubringenden
                                                                                                                     Eigenmittel betragen nur fünf Prozent
                                                                                                                     der Gesamtkosten.
                                 Sie bringen das inklusive Miteinander von Kindern und
                                 Jugendlichen voran? Lassen Sie sich dabei unterstützen                              Starthilfe* gibt es für ambulante
                                 – mit Fördermitteln der Aktion Mensch! Verschiedene                                 Unterstützungsangebote, die Kindern
                                                                                                                     und Jugendlichen Teilhabe und ein
                                 Programme sorgen dafür, dass die Umsetzung guter
                                                                                                                     selbstbestimmtes Leben ermöglichen.
                                 Ideen nicht am Geld scheitert.                                                      Die Aktion Mensch fördert die Personal-
                                                                                                                     kosten für den Auf- und Ausbau solcher
                                                                                                                     Dienste mit bis zu 250.000 Euro über
                                                                                                                     maximal vier Jahre.

                                 Kleine lokale Projekte – vom              Projekte der Kinder- und                  Investitionsförderung* können
                                 Kinderkochkurs bis zum Theaterpro-        Jugendhilfe* brauchen Geld für            ambulante Dienste und Einrichtungen
                                 jekt, von Aktionen am 5. Mai bis zu       gutes Personal und Material. Die Akti-    wie Jugendzentren bekommen, die ihre
                                 Maßnahmen für mehr Barrierefreiheit       on Mensch bezuschusst diese Kosten        Räume für alle zugänglich machen.
Illustration Gabriella Seemann

                                 – bringen Inklusion überall in Deutsch-   für bis zu 36 Monate mit maximal          Für die Herstellung von umfassender
                                 land voran. Aktion Mensch fördert die     250.000 Euro. Maßnahmen, die die          Barrierefreiheit ist eine Förderung in
                                 Projekte gemeinnütziger Initiativen mit   Barrierefreiheit erhöhen – zum Beispiel   Höhe von bis zu 140.000 Euro möglich.
                                 bis zu 5.000 Euro.                        der Einsatz eines Gebärdendolmet-         *F
                                                                                                                       ür freie gemeinnützige Organisationen der
                                                                           schers –, können mit bis zu 50.000         Kinder- und Jugendhilfe, die über eine Anerken-
                                                                                                                      nung gemäß Paragraf 75 des SGB VIII verfügen
                                                                           Euro zusätzlich gefördert werden.          oder sie beantragt haben.

                                 Menschen #1 – 2018                                                                                                                     15
Kindheit heute
In den letzten 20 bis 30 Jahren haben sich die Lebenswelten unserer Kin-
der deutlich gewandelt. Die komplexen Anforde­rungen einer vernetzten,
von Leistungsdruck und unsicheren sozialen Beziehungen, aber auch vom
Bestreben nach Teilhabe für alle geprägten Gegenwart stellen Eltern, Päda­
gogen und nicht zuletzt die Kinder selbst vor große Herausforderungen.

Text Astrid Eichstedt
Fotos Jan Steinhauer

                        Lockerung der                                 der Erwachsenen Unsicherheit bei den
                        Familienstrukturen                            Kindern erzeugen. Mit der abnehmenden
                                                                      Zahl der Kleinfamilien ist zugleich die
                        In ihren Anfängen geht die Lockerung          der sogenannten Patchworkkonstella-
                        der Familienstrukturen auf die soge-          tionen gestiegen. Es gibt mehr Stieffa-
                        nannte 68er-Bewegung zurück. Heute            milien, Pflege- und Adoptiveltern sowie
                        erleben nahezu 40 Prozent der Kinder          gleichgeschlechtliche Lebensgemein-
                        bis zum 18. Lebensjahr das Scheitern          schaften mit Kindern. Verschiedenheit ist
                        der elterlichen Beziehung. Ein Fünftel        also auch in dieser Hinsicht inzwischen
                        der Familien in Deutschland besteht           fast normal. Insgesamt erleben Kinder
                        aus einem alleinerziehenden Elternteil,       in ihrem privaten Umfeld heute deutlich
                        meist als Folge einer Trennung. Über die      mehr als früher, wie wichtig familiäres
                        Trennungsraten von Eltern, die ein oder       Diversity-Management und Offenheit für
                        mehrere Kinder mit Behinderung haben,         neue Erfahrungen sind.
                        gibt es keine aktuellen Erhebungen.
                        Wissenschaftler vermuten jedoch, dass
                        deren Scheidungsraten noch etwas hö-          Digitalisierung
                        her liegen. Für Kinder ist die Trennung       im Kinderzimmer
                        der Eltern in jedem Fall eine enorme
                        Belastung. Es erschüttert ihr Gefühl von      Internetnutzung, Computerspiele und
                        Sicherheit, kann sie in Loyalitätskonflikte   soziale Medien sind heute aus dem Alltag
                        stürzen und Verlustängste schüren. Psy-       der Kinder nicht mehr wegzudenken.
                        chologen gehen zudem davon aus, dass          Ihre Kommunikation findet zu weiten
                        der Mangel an emotionaler Sicherheit          Teilen in einer Parallelwelt auf WhatsApp,
                        nicht selten durch verstärkte Selbstbezo-     Instagram, Snapchat und Co. statt. You-
                        genheit kompensiert wird. So kann die         Tuber sind die neuen Vorbilder. Wie das
                        wachsende Freiheit in den Beziehungen         das Always-on-Dasein die Psyche der

16                                                                                                  Menschen #1 – 2018
21%

Laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung von Oktober 2017 erleben 21 Prozent der Kinder in Deutschland über einen
Zeitraum von über fünf Jahren dauerhaft oder wiederkehrend Armut. Besonders betroffen sind Kinder alleinerziehender
Eltern, Kinder mit mehreren Geschwistern und Kinder, deren Eltern eine geringe berufliche Qualifizierung haben.

                                                                                                                      17
20%                      Vorschulalter allerdings kritisch. Denn
                                                                         die Interaktion mit dem Bildschirm kann
                                                                         nicht das bieten, was Kinder vor allem im
                                                                         frühen Alter am meisten benötigen: den
                                                                         realen Austausch mit anderen Kindern.
                                                                         Mit Spiele-Apps wird nicht gelacht, ge-
                                                                         quatscht, gestritten. Erst dadurch lernen
                                                                         Kinder jedoch, mit ihren Impulsen umzu-
                                                                         gehen, Konflikte zu regeln, sich wieder
                                                                         zu vertragen, Regeln einzuhalten, aber
                                                                         auch, Regeln zu setzen.

                                                                         Mehr Leistungsdruck
                                                                         Die früher berechtigte Hoffnung von
                                                                         ­Eltern, dass der Lebensstandard ihres
                                                                          Kindes einmal besser sein wird als der
                                                                          eigene, ist längst der Sorge gewichen,
                                                                          ob es später überhaupt mal ein gesi-
                                                                          chertes Auskommen haben wird. Der
                                                                          ­Effekt ist, dass Eltern heute mehr denn
Der Kinder- und Jugend-                                                    je darauf drängen, dass sich ihre Nach-
gesundheitssurvey                                                          kommen von klein auf für einen erfolg-
KiGGS des Robert Koch-                                                     reichen Platz in der Gesellschaft qua-
Instituts kam zu dem                                                       lifizieren. Nach aktuellen Erhebungen
Ergebnis, dass 20 Pro-        Kinder beeinflusst, darüber herrscht         wünschen sich 70 Prozent der Eltern
zent der Kinder in         in der Forschung Uneinigkeit. Tatsäch-          von Schulkindern für ihr eigenes Kind
Deutschland psychische     lich ist die Frage, ob die neuen Medien         das Abitur als Abschluss. Tatsächlich
Probleme haben. Nach       gut oder schlecht für die kindliche Ent-        schließen heute immerhin 55 Prozent
innen gerichtete Auffäl-   wicklung sind, falsch gestellt. Denn es         der Kinder ihre schulische Ausbildung
ligkeiten wie Aggressio-   kommt darauf an – zum Beispiel darauf,          mit dem Abitur ab. 1992 waren es in
nen und Unaufmerksam-      wie gefestigt Kinder in ihrem sozialen          Westdeutschland lediglich 33 Prozent,
keit nehmen bei Jungen     Umfeld sind. Nicht zuletzt dies bedingt         in Ostdeutschland 22 Prozent. In sei-
und Mädchen im Laufe       auch ihren Umgang mit Smartphone und            nem Buch „Wie Kinder heute wachsen“,
des Kindes- und Jugend-    Co. Es kann eine womöglich aus dem              das er zusammen mit dem Hirnforscher
alters ab, Mädchen ent-    digitalen Medienkonsum erwachsene               Gerald Hüther geschrieben hat, kritisiert
wickeln allerdings mehr    Aufmerksamkeitsstörung und Hyperakti-           der Kinderarzt Herbert Renz-Polster das
nach außen gerichtete      vität oder einen Mangel an körperlicher         einseitige Training für die Leistungsge-
Symptome wie Ängste        Bewegung ebenso begünstigen wie                 sellschaft, das bereits in vielen Krippen
und Depressionen.          verhindern. Kindern mit Behinderung             und Kitas beginnt. „Tatsächlich steht auf
                           erleichtert ein barrierefreier Zugang zur       der Erziehungsagenda des bürgerlichen
                           virtuellen Welt oft eine ganz reale Teilha-     Mainstreams heute ganz oben das,
                           be. Und die berüchtigte Spielsucht trifft       was wir mit den materiell produktivsten
                           tatsächlich nur drei bis fünf Prozent der       Arbeitsplätzen der Zukunft verbinden:
                           Kinder. Einige Wissenschaftler sehen            Selbstständigkeit, Durchsetzungsfähig-
                           die Nutzung elektronischer Medien im            keit, kognitive Kompetenz, Individualis-

18                                                                                            Menschen #1 – 2018
mus mit einem Schuss Teamfähigkeit.         lichkeit vieler heutiger Eltern hängt damit
Und eben ganz viel Wissen.“ Eine Ent-       zusammen, dass sie befürchten, unsere
wicklung, die nach dem PISA-Schock          offen, komplex, vielfältig und vielschich-
im Jahr 2000 noch mal deutlich voran-       tig gewordene Lebenswelt könnte ihre
getrieben wurde. Das Ergebnis ist ein       Kinder überfordern.“ Da man mögliche
enormer Leistungs- und Termindruck,         Gefahren zudem immer besser messen
befördert durch Ganztagseinrichtungen,      kann, richtet sich der Blick immer stärker
G8 und möglichst noch Sport- oder           auf die Vermeidung von Risiken und
Musikkurse. „Bei unserer Aufholjagd,        damit auf die Risiken selbst. Dabei sei,
um den Anschluss im internationalen         so Herbert Renz-Polster, das unbeauf-
Vergleich nicht zu verlieren, darf die      sichtigte Spielen draußen und das Her-
Persönlichkeitsentwicklung nicht aus        umstromern mit anderen Kindern sehr
dem Blick geraten“, warnt auch der So-      wichtig für die Persönlichkeitsentwick-
zial-, Bildungs- und Gesundheitswissen-     lung. „Die Fülle an Themen, die Anlass
schaftler Klaus Hurrelmann, der im ge-      zur Sorge bereiten, fühlen sich in der Tat
meinsam mit Heidrun Bründel verfassten      für alle Verantwortung tragenden Er-
Buch „Kindheit heute“ einen Abriss der      wachsenen manchmal überwältigend
wissenschaftlichen Forschung zum The-       an“, meint Ines Boban. „Wenn dann noch
ma geliefert hat. Und die Inklusionspäd-    aufgrund schnell diskriminierbarer Ei-
agogin Ines Boban konstatiert, „dass mit    genschaften wie Beeinträchtigung,             Der Bundesbehörde
dem Druck und Ehrgeiz möglichst früh        dunkle Hautfarbe oder Fluchterfahrung         Destatis zufolge erlebten
möglichst viel vermitteln zu wollen, na-    Ausgrenzung erfahren wird, kann dies          2016 40 Prozent der
türlich angelegte Prozesse der Entwick-     ein zusätzlicher Anlass für potenzierte       unter 18-Jährigen in
lung und des Lernens bei Kindern sogar      Sorgen und Kontrolle sein.“                   Deutschland die Tren-
verhindert werden“.                                                                       nung oder Scheidung
                                                                                          ihrer Eltern. Konkret
                                                                                          waren knapp 132.000
Viel Kontrolle,                                                                           Kinder betroffen.
wenig Freiraum
„Einerseits“, so Klaus Hurrelmann, „wird
den Kindern heute ein großer Spielraum
für ihre persönliche Entfaltung einge-
räumt.“ Es gibt weniger starre Verhal-
                                                                                                   40%
tens- und Maßregeln in Familien und im
sozialen Umfeld. Andererseits ist Kind-
heit in der Gegenwart so behütet wie
nie zuvor.“ Eltern aus dem bürgerlichen
Mittelstand begleiten und beaufsichtigen
ihre Kinder viel mehr als dies früher der
Fall war. Das Mobiltelefon dient als eine
Art verlängerte Nabelschnur. Dadurch
wird den Kindern Selbstständigkeit und
Entscheidungsfähigkeit genommen, wo-
mit sich die elterliche Intention, alles
richtig machen zu wollen, ins Gegenteil
verkehrt. Klaus Hurrelmann: „Die Ängst-

Menschen #1 – 2018                                                                                                19
62%
                                    82%

32 %

                                                               49%

                                                                                                        87%

32 Prozent der Kinder verbringen ihre Freizeit mit Kindern mit und ohne Behinderung. Dies ergab eine aktuelle Umfrage der
Aktion Mensch zu Inklusion. Laut einer Studie zum Thema Frei­zeitgestaltung, die mehrere Medienverlage 2017 in Auftrag
gaben, ist die liebste Beschäftigung von Kindern zwischen vier und 17 Jahren Freunde zu treffen (87 Prozent). Danach folgt
Spielen im Freien (82 Prozent), 62 Prozent chillen und jeder zweite Vier- bis 13-Jährige treibt mehrmals pro Woche Sport.
45%
  Was sie bräuchten
Der einseitigen Förderung genormter
kognitiver Kompetenzen steht mit der
inklusiven Bildung ein Konzept gegen-
über, welches das Gegenteil fordert: die
Unterstützung und Stärkung der individu-
ellen Interessen und Fähigkeiten jedes
einzelnen Kindes. War man früher darum
bemüht, homogene Kindergruppen zu
bilden, wissen Experten heute, dass der
Austausch unter Kindern verschiedener
Entwicklungsniveaus soziale Kompeten-
zen fördert und vielfältige Anreize für ihre
Entwicklung bietet. Ein Ansatz, der nach
und nach in vielen Kitas, Schulen und
außerschulischen Angeboten berücksich-
tigt wird. Inklusion bezieht Kinder mit
unterschiedlichen körperlichen und geisti-
gen Voraussetzungen sowie unterschied-
lichem kulturellen und sozialen Hinter-
grund ein. Kinder mit Förderbedarf finden                                                   Die Studie „Kindheit,
sich besonders häufig in Stadtteilen mit                                                    Internet, Medien“ ermit-
prekären Lebensverhältnissen. Die soziale                                                   telte 2016, dass
Herkunft eines Kindes spielt eine ent-                                                      45 Prozent der Sechs-
scheidende Rolle für dessen Entwicklung        den eigenen Interessen und Fähigkeiten       bis Elfjährigen ein Handy
und dessen Bildungserfolg. Nach aktuel-        nachzugehen, Dinge auszuprobieren,           besitzen. Sechs- bis
len Studien ist der Anteil der Kinder, de-     damit sie Spaß daran entwickeln, neue        Siebenjährige schauten
ren Eltern mit der Erziehung völlig über-      Seiten an sich zu entdecken, über sich       pro Tag durchschnittlich
fordert sind, mit 20 Prozent immer noch        hinauszuwachsen. Und damit sie ler-          75 Minuten fern, Zehn-
sehr hoch. Klaus Hurrelmann: „Offensicht-      nen, ihren eigenen Stärken zu vertrauen.     bis Elfjährige 90 Minu-
lich ist es in unserer so modernen, reichen    Gleichzeitig können sie – um im Bild des     ten. Elektronische Spiele
Wohlfahrtsgesellschaft bislang nicht ge-       Sprichworts zu bleiben – von der Vielfalt    nutzten Sechs- bis Sie-
lungen, diese Zahl deutlich zu verringern.“    des Dorfes um sie herum lernen, in einer     benjährige 29 Minuten,
                                               immer komplexer werdenden Umgebung           Zehn- bis Elfjährige
In der komplexen und zugleich immer            ständig Kompromisslösungen zu finden,        65 Minuten. 17 Minuten
individualisierteren Realität, in der Kin-     die Bedürfnisse von anderen wahrzuneh-       lasen die Jüngeren
der heute aufwachsen, scheint es umso          men und sich trotz aller Unterschiede als    täglich Bücher, die Älte-
wichtiger, dass sie bei Bedarf auch ein        Gemeinschaft zu verstehen. Diese Fähig-      ren 40 Minuten.
komplexes Netzwerk von Bezugsperso-            keiten werden sie brauchen, um den gro-
nen haben, die ihre Erfahrung und ihren        ßen gesellschaftlichen Herausforderungen
Blick auf das einzelne Kind einbringen.        begegnen zu können, die die globalen
„Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein       Probleme mit sich bringen.
ganzes Dorf“, besagt ein oft zitiertes afri-
kanisches Sprichwort. Ergänzend könnte
man sagen: und Freiräume zur kreativen               ehr wissen
                                                    M
Entfaltung. Kinder brauchen Ermutigung,             Weitere Infos finden Sie ab Seite 96.

Menschen #1 – 2018                                                                                                  21
Anna Zöller
 (9 Jahre)
 Ohne Titel, 2018
 Gouache- und Puk-Farbe
 in Sprenkeltechnik
 50 cm x 35 cm

 Inspiriert von einem Werk der
 Künstlerin Katharina Grosse,
 das vor dem Kunstmuseum
 Bonn steht, entstand dieses
 Bild. Anna malt mit Begeiste-
 rung und spielt dabei mit
 Formen. Die individuellen
 Farbsprenkel hat sie mit einer
 Zahnbürste kreiert.

22                                Menschen #1 – 2018
Menschen #1 – 2018   23
Ein Wörtchen
             mitreden
     Amelie (10) ist Parlamentarierin im Kinderparlament Hilden. Sie macht sich für die Interessen ihrer Mitschüler stark
     und verschafft den Bedürfnissen von Kindern damit eine Stimme.

24                                                                                                     Menschen #1 – 2018
Kinder sind die Erwachsenen von morgen. Ob sie später
verantwortungsvolle und soziale Entscheidungen treffen, hängt
auch davon ab, wie sie lernen, an gesellschaftlichen Prozessen
teilzunehmen. Partizipationsprojekte für Kinder vermitteln ihnen
früh die Erfahrung, etwas bewirken zu können.

Text Vivien Lenzen
Fotos Lisa Winter

Partizipation bedeutet Teilhabe und Mitbestim-         setzen. Die Erzieherinnen unterstützen sie, indem
mung. Alle Kinder haben ein Recht darauf, sich         sie die Kommunikationsfähigkeiten der Kinder
beteiligen und mitwirken zu dürfen – das haben         fördern und sie frühzeitig an gesellschaftliches
die Vereinten Nationen in der Kinderrechtskon-         Engagement heranführen. So haben die Kleinen
vention als Recht aller Kinder auf Meinungsäu-         Entdecker bereits etwas erreicht, von dem alle
ßerung, Information und Gehörtwerden festge-           Bürger in Großwechsungen etwas haben: das
schrieben. Dass die Partizipationsformen dem           Zufußgehen ist sicherer geworden. Das Projekt
­Alter angemessen sein müssen, liegt auf der Hand.     Sichere Wege begann mit dem Sturz eines der
 Der Morgenkreis in der Kindertagesstätte kann         Kitakinder während eines Ausflugs. „Die Brü-
 daher ebenso ein Ort sein, um mitzubestimmen,         cke über einen Graben war morsch und kaputt,
 wie das Mitmachradio oder ein Kinderparlament.        deshalb blieb ein Kind mit dem Schuh stecken.
                                                       Im Morgenkreis sprachen die Kinder darüber
                                                       und hatten viele Ideen, wie man nicht nur diese
Sichere Wege schaffen                                  Brücke wieder sicher machen könnte, sondern
                                                       wie auch andere Wege, etwa zu Spielplätzen,
Wie die inklusive Kindertagesstätte Kleine Ent-        zur Kita oder zur nahe gelegenen Turnhalle in
decker in Großwechsungen zeigt, ist Partizipation      einer Grundschule, verbessert werden könnten“,
schon für die Jüngsten möglich. „Bei uns können        erzählt Juch. Mittlerweile ist daraus ein Kinder-
die Kinder gemeinschaftlich mitbestimmen, was          Stadtplan-Projekt geworden, in das die Kita mit
es zu essen gibt, und für sich selbst entscheiden,     ihren 63 Kindern, eine Grundschule, verschie-
ob sie draußen oder drinnen spielen wollen“, be-       dene Ämter und der Bürgermeister involviert
richtet Leiterin Beanke Juch. Seit 2015 nimmt sie      sind. In kleinen Gruppen fotodokumentieren die
mit ihrer Einrichtung am Projekt L
                                 ­ ebens­(t)raum des   Vorschul- und Schulkinder Wegabschnitte, für die
Kinderschutzbundes Thüringen teil, das von der         sie als Experten fungieren, und besprechen mit
Aktion Mensch gefördert wird. Ziel des Projektes       den Betreuern, ob und was sich verändert hat.
ist es, die Kinder darin zu stärken, sich selbstbe-    „Die Kinder erleben so, dass ihre Stimme Gehör
wusst und demokratisch für ihre Interessen einzu-      findet, aber auch, dass nicht alles auf einmal

Menschen #1 – 2018                                                                                         25
Clara
            macht Radio, wie
            es Kindern gefällt

     Clara (12) führt als Ohrlotsin Interviews auch mit Erwachsenen. Die Radiogruppe Osdorf der Ohrlotsen in Hamburg
     gibt Kindern und Jugendlichen die Chance, eigenverantwortlich Radiosendungen zu gestalten.

26                                                                                                 Menschen #1 – 2018
Amir
         spricht für seine
         ganze Klasse

    Amir (9) engagiert sich wie Amelie im Kinderparlament Hilden. Er wurde von seinen Klassenkameraden
    demokratisch für ein Jahr gewählt.

Menschen #1 – 2018                                                                                       27
klappt und wie viele einzelne Schritte nötig        nisieren, und bei der technischen Umsetzung.
     sind, bis zum Beispiel eine Brücke repariert wer-      „Manchmal muss man sie ermuntern, frecher
     den kann. Wichtig für die Kinder ist es, zu erleben,   nachzufragen, sich mehr zuzutrauen“, sagt der
     dass sie etwas verändern können“, sagt Juch.           Medienpädagoge. „Es ist meine Aufgabe, den
                                                            Kindern dabei zu helfen, kritische und mündige
     Kindern Gehör für ihre Themen zu schaffen und          Erwachsene zu werden.“
     sie erleben zu lassen, wie viel sie bewirken kön-
     nen, möchte auch die Initiative die Ohrlotsen, die
     Radio und Hörspiele mit Kindern macht. „Das Ra-        Demokratie üben
     dio als Medium eignet sich bestens, um Kindern
     eine Bühne für Themen zu geben, die sie interes-       Kinderparlamente können ein Ort sein, an dem
     sieren. Die Themen können sie für die monatlich        Minderjährige diese mündige Grundhaltung üben
     ausgestrahlte Sendung so umsetzen, wie sie das         können, indem sie demokratische Prozesse über-
     möchten“, erklärt Florian Jacobsen. Er arbeitet seit   nehmen. Das Kinderparlament Hilden arbeitet
     2011 im Stadtteil- und Kulturzentrum Motte e. V.       dazu in den Arbeitskreisen Öffentlichkeitsarbeit,
     als Medienpädagoge. Einmal pro Woche trifft er         Schule, Spielplatz sowie Umwelt, Verkehr und
     sich zu Redaktionssitzungen mit Kindern aus dem        Natur unter der Leitung von Diplom-Sozialpäda-
     Osdorfer Born, einem durch Hochhaussiedlungen          gogin Susanne Hentschel. Im Parlament sitzen
     geprägten Bezirk von Hamburg. Zu den Ohrlotsen         Schüler aus den Klassen drei bis sieben. Alle
     kommen die Kinder, weil Medienpädagogen das            Schüler dürfen einmal jährlich zwei Kinderparla-
     Projekt in Schulen vorstellen oder weil ein Freund     mentarier ihres Jahrgangs wählen – einen Haupt-
     oder eine Freundin, die bereits mitmachen, ihnen       verantwortlichen und einen Stellvertreter für ihre
     davon erzählt haben. „Anders als Erwachsene            Interessen. Jugendliche ab Klasse acht können
     wollen Kinder im Radio nur über Themen berich-         sich im Jugendparlament einbringen. Aktuell
     ten, die sie begeistern. Sie wollen nicht Probleme     gibt es 80 Kinderparlamentarier in Hilden, davon
     in den Vordergrund stellen“, berichtet Jacobsen.       sind rund 60 regelmäßig bei den Treffen und
     Zuletzt hat es Sendungen über Lieblingsbücher          Projekten engagiert. Einmal im Monat kommen
     gegeben und über Musik. Dazu haben die Kinder          die Kinderparlamentarier des jeweiligen Arbeits-
     junge Musiker der Elbphilharmonie und einen            kreises für ein bis zwei Stunden zusammen, um
     Musiklehrer interviewt. „Sobald die Kinder mit         an Projekten zu arbeiten. Zweimal im Jahr dürfen
     einem Mikrofon Fragen an Erwachsene stellen,           gewählte Stellvertreter des Kinderparlaments
     wachsen sie unter der Verantwortung, werden zu         in einer großen Sitzung mit der Bürgermeiste-
     kleinen Journalisten“, erzählt Jacobsen. „Auch ihre    rin und anderen Amtsvertretern diskutieren. Sie
     Gesprächspartner merken das und nehmen die             stellen Anträge, etwa für die Sanierung eines
     Kinder als kompetente Journalisten wahr.“ Jacob-       Spielplatzes, und die Kinder melden zurück, wie
     sen unterstützt die Kinder mit journalistischem        sie die Umsetzung von Projekten erlebt haben.
     Know-how, hilft ihnen, eine Recherche zu orga-         „Für die Stadtparksanierung haben die Kinder

28                                                                                       Menschen #1 – 2018
Damien
        setzt sich für sichere
        Wege für alle Kinder ein

    Damien (5) ist ein Kleiner Entdecker in der gleichnamigen inklusiven Kindertagesstätte in Großwechsungen. Im
    Projekt Lebens(t)raum lernen er und alle anderen Kinder schon früh, für ihre Interessen einzustehen.

Menschen #1 – 2018                                                                                                 29
zusammen mit Architekten und Landschaftsin-         schieden haben. Deutschlandweit hat Children
     genieuren zwei Workshops belegt. Sie haben den         sechs solcher Beiräte, das Fördervolumen be-
     Erwachsenen erklärt, was ihnen wichtig ist, und        trägt also 60.000 Euro. Die Gelder stammen aus
     daraus einen Plan für den neuen Stadtpark entwi-       Spenden, von Partnern und Förderern, die sich
     ckelt“, erzählt Susanne Hentschel. Besonders in-       gegen Kinderarmut in Deutschland und für sozia-
     teressiert waren die Kinderparlamentarier in letz-     les Engagement einbringen möchten, alles kann
     ter Zeit daran, wie es Kindern geht, die aus ihrer     in öffentlich zugänglichen Jahresberichten ein-
     Heimat flüchten mussten. Daher organisierte das        gesehen werden. „Nur wer schon früh lernt, wie
     Parlament einen Weihnachtsmarktstand, auf dem          viel Mitbestimmung und Eigeninitiative bewirken
     selbst gebackene Plätzchen verkauft wurden. „In        können, hat auch in seinem späteren Leben die
     drei Tagen haben wir 1.000 Euro eingenommen“,          Motivation, Grundwerte wie Gemeinschaftssinn
     erinnert sich Hentschel. Das Geld brachte eine         und Tatendrang zu leben sowie an seine eigenen
     Delegation zur Hilfsorganisation Friedensdorf          Kinder weiterzugeben. Davon bin ich überzeugt“,
     Oberhausen, die kranke und verletzte Kinder aus        sagt Geschäftsführer Cornelius Nohl. Er selbst ist
     Kriegs- und Krisengebieten zur medizinischen           ein Beispiel dafür, wie positiv sich frühe Begeis-
     Versorgung nach Deutschland bringt. „Einige Wo-        terung für soziales Engagement auswirkt – als
     chen später haben die Parlamentarier die Kinder        16-Jähriger erhielt er von Children einen Preis für
     besucht, mit ihnen gegessen und musiziert.“            sein eigenes soziales Projekt. „Wir möchten Kin-
                                                            der dabei begleiten, Empathie zu entwickeln und
                                                            das Gefühl, etwas bewirken zu können. Das geht
     Verantwortung tragen                                   nur über Selbstwertstärkung. Aber auch Frustrati-
                                                            onstoleranz gehört dazu, denn die Kinder haben
     Begeisterung für soziales Engagement von Kin-          eben nicht genug Budget, um alles zu fördern,
     dern für Kinder und ein Bewusstsein für soziale        was sie gerne möchten.“
     Themen direkt vor der Haustür möchte auch die
     Kinderhilfsorganisation Children for a better World    Wegbereiter sein dafür, dass Kinder lernen, ihre
     mit Hauptsitz in München wecken. In einem Kin-         Meinung zu vertreten und ein selbstbestimmtes
     derbeirat mit zehn bis 15 Kindern ab acht Jah-         Leben zu führen – diese Idee verbindet Juch,
     ren lässt sie zweimal jährlich über die Vergabe        Jacobsen, Hentschel und Nohl. „Das kommt
     von Geldern für soziale Projekte diskutieren und       nicht von selbst, sondern braucht Anleitung und
     entscheiden. Pro Projekt können maximal 1.500          Begleitung“, sagt Juch. „Erwachsene müssten
     Euro, insgesamt pro Sitzung 5.000 Euro vergeben        sich aber zurücknehmen und die Balance finden
     werden, die Kinder bekommen fünf bis sieben            zwischen altersbedingt notwendiger Hilfestellung
     Anträge zur Voransicht. Therapeutisches Reiten,        und Bevormundung. „Kinder sind die Entscheider
     Schwimmkurse für traumatisierte Kinder oder ein        von morgen. Wir sollten ihnen durch frühzeitiges
     Erlebnistag für verwaiste Geschwister gehören zu       Fördern beibringen, wie man Verantwortung über-
     den Projekten, für die die Beiräte sich bislang ent-   nimmt und für sich und andere einsteht.“

30                                                                                        Menschen #1 – 2018
Wohl
                                oder
               		                 Wehe?
    Ist sonderpädagogische Diagnostik notwendige Hilfe
    oder Etikettierung? Ein Kinderarzt und eine Professorin
    für Disability Studies über das Spannungsfeld zwischen
    positiven Zielen und manchmal negativen Folgen.

    Text und Protokolle Sarah Schelp
    Illustrationen Gabriella Seemann

Menschen #1 – 2018                                            31
Verankert ist das Recht auf sonderpädagogische Förderung im § 53, Sozialgesetz-
     buch XII: Wer eine Behinderung hat oder von Behinderung „bedroht“ ist, steht dort,
     hat Anspruch auf Unterstützung, um am Leben in der Gemeinschaft teilzuhaben,
     auch im Hinblick auf Bildungsweg und Beruf. Mit der Zuordnung zum förderberech-
     tigten Personenkreis geht der sogenannte Integrationsstatus einher, im Volksmund
     als I-Status bekannt. Das Verfahren seiner Feststellung beruht in Deutschland traditi-
     onell auf pädagogischer Diagnostik. Medizinische und psychologische Begutachtun-
     gen eines Kindes dienen der Überprüfung und Legitimierung des individuellen Be-
     darfs. Diese „Vormachtstellung“ der pädagogischen Begutachtung ist eine Besonder-
     heit des hiesigen Systems.

      Deutschland gehört zudem zu den wenigen Ländern weltweit, in denen der Förder-
      schwerpunkt „Lernen“ existiert. Darunter können theoretisch alle Schüler fallen, die
      langfristig dem Unterricht einer allgemeinen Schule nicht folgen können. Auch weil
      die Förderkategorie „Lernen“ in den meisten Ländern nicht vorkommt, wird sie im
      Vergleich hierzulande überproportional oft vergeben. Sie findet sich von allen Förder-
      schwerpunkten am häufigsten an allgemeinen Schulen wieder: Laut dem Bildungsbe-
      richt der Kultusministerkonferenz für das Jahr 2016 wurden 44 Prozent der Kinder mit
      Förderbedarf „Lernen“ inklusiv unterrichtet, gefolgt von Kindern mit Förderbedarf
      „Emotionale und soziale Entwicklung“ und „Sprache“ (ESE). Etwa zwei Drittel aller
      sonderpädagogisch geförderten Schüler in Deutschland jedoch besuchten Sonder-
      schulen und repräsentierten dort auch den Großteil der übrigen Förderschwer­­-
      punkte „Geistige Entwicklung“, „Hören“, „Sehen“ und „Körperliche und motorische
     ­Entwicklung“.

     Gleichwohl gerade der oft sozial mitbedingte Förderbedarf in den Bereichen „Ler-
     nen“, „Sprache“ und „ESE“ zahlreiche Kinder betrifft, sind die Vergabekriterien bun-
     desweit nicht standardisiert. Der Ermessensspielraum begutachtender Pädagogen
     ist groß. Umso wichtiger erscheint es im Sinne der Inklusion, die sonderpädagogi-
     sche Diagnostik regelmäßig zu wiederholen, um Bedarfe anzupassen und fatale
     Fehleinschätzungen zu vermeiden – damit die Förderung nicht das stärkt oder ver­
     ursacht, was sie mindern soll: die Stigmatisierung und Segregation beeinträchtigter
     Menschen.

     Die Förderdiagnostik ist derzeit eine Gratwanderung zwischen der Bereitstellung not-
     wendiger Hilfen und der Etikettierung als „behindert“. Wir haben darüber mit zwei
     Experten gesprochen, die sich in ihrem beruflichen Alltag viel mit der Eingliederung
     von Kindern mit Beeinträchtigungen in die Gesellschaft beschäftigen: Dora Lisa Pfahl
     ist Professorin für Disability Studies an der Universität Innsbruck und hat unter ande-
     rem intensiv zum Einfluss sonderpädagogischer Förderung auf die Bildungsbiografie
     und den allgemeinen Lebensweg von Kindern und Jugendlichen geforscht. Holger
     Petri ist langjähriger Chefarzt des Sozialpädiatrischen Zentrums der DRK-Kinderklinik
     in Siegen, wo er gemeinsam mit einem Team aus Ärzten und Therapeuten Kinder mit
     körperlichen, geistigen und emotionalen Entwicklungsbeeinträchtigungen behandelt
     und begleitet.

32                                                                                    Menschen #1 – 2018
darauf hinarbeiten, dass ein Kind ihn
                                                          erhält, um auf diese Weise nieder-
                                                          schwellig zusätzliche Ressourcen für
                                                          ein Team von Helfern zu erschließen.
                                                          Gefälligkeitsdiagnosen für eine Einrich-
                                                          tung dürfen keine Rolle spielen: Es wäre
                                                          falsch, Kinder mit bestimmten Diagno-
Dr. med. Holger Petri,                                    sen zu etikettieren, um den Zugriff auf
                                                          Fördermittel zu ermöglichen.
Chefarzt des Sozialpäd-
iatrischen Zentrums der                                   Deswegen sollte die Beschreibung der
                                                          spezifischen Bedarfe eines Kindes im
DRK-Kinderklinik in                                       Vordergrund stehen dürfen – nicht die
                                                          Vergabe von Diagnosen. Leider lassen
Siegen: Es ist wichtig, kindliche Entwicklungs-           die geltenden Spielregeln und be-
               störungen durch frühe Diagnostik recht-    schränkten Ressourcen nicht immer
               zeitig zu erkennen und zu beschreiben,     genügend Raum für eine individuelle
               damit man ihren Verlauf positiv beein-     Förderplanung ohne Labeling.
               flussen kann. Je früher man die Entwick-
               lungsherausforderungen eines Kindes        Für den Graubereich zwischen „leichter
               kennt, desto besser kann man es unter-     Entwicklungsauffälligkeit“ und „drohen-
               stützen und auch die besorgten Eltern      der Behinderung“ ist eine gute interdis-
               und das Umfeld beraten und begleiten.      ziplinäre Diagnostik und die Erfahrung
               Dafür braucht es funktionierende lokale    von zum Beispiel entwicklungsneurolo-
               Netzwerke. Deshalb ist es oft notwen-      gisch ausgebildeten Fachärzten sehr
               dig, Helfersysteme und Kostenträger        wichtig, weil die Entscheidung über Art
               möglichst früh mit ins Boot zu holen, um   und Umfang von Förderung immer indi-
               Therapien und Förderungen im Alltag        viduell getroffen werden muss. Ein Bei-
               umzusetzen. In Kitas etwa kann oft nur     spiel: Ein Kind kommt mit einer Sprach-
               dann förderpädagogisch gearbeitet wer-     entwicklungsstörung zum Arzt. In sei-
               den, wenn genug Integrationserzieherin-    nem Umfeld gibt es kein positives
               nen vor Ort bereitstehen. Das geschieht    Sprachvorbild, also niemanden, der ihm
               nicht von heute auf morgen.                beim Erlernen von Sprache helfen könn-
                                                          te – vielleicht, weil die Eltern selbst
               Jeder, der betroffene Eltern dazu ermu-    schlecht Deutsch sprechen oder weil
               tigt, Förderung für ihr Kind im Rahmen     sie nicht wissen, was sie tun sollen.
               der sogenannten Eingliederungshilfe        Wenn Kinder in einer solchen Situation
               gemäß § 53, Sozialgesetzbuch XII, in       nicht unterstützt werden und sich
               Anspruch zu nehmen, muss sich darü-        sprachlich und kommunikativ kaum wei-
               ber im Klaren sein, dass das Kind damit    terentwickeln, können Verhaltensauffäl-
               dem Personenkreis behinderter oder         ligkeiten und sogar seelische Behinde-
               von Behinderung bedrohter Menschen         rungen entstehen. Da darf man ärztlich
               zugeordnet wird. Das gilt es gerade den    nicht zu kurz denken, sonst geht das
               Eltern offen und fair mitzuteilen. Es      Kind mit seinen sozialen Fähigkeiten
               muss ein verantwortungsvoller Umgang       und seiner schulischen und beruflichen
               mit diesem sogenannten Integrations-       Zukunft den Bach runter. Eine drohende
               status gepflegt werden. Niemand sollte     Behinderung kann für ein Kind auch

Menschen #1 – 2018                                                                                   33
bedeuten, nie eine Ausbildung ent-
                        sprechend seiner Möglichkeiten zu
                        schaffen oder zum Außenseiter zu wer-
                        den – obwohl man beides mit Unter-
                        stützung hätte verhindern können.

                         Die große Chance integrativer Frühför-
                         derung liegt dabei gerade darin, nicht
                         nur die Defizite eines Kindes im Blick zu
                         haben und an irgendwelchen Schrau-
                         ben zu drehen, sondern früh genug
                         miteinander auf dem Weg zu sein, um
                         Familien und Institutionen wie Kitas und
                         Schulen dabei zu unterstützen, das
                         Kind bestmöglich zu fördern. Man kann
                         zum Beispiel zunächst versuchen, Eltern

„Die Beschreibung        und Erzieher anzuleiten, damit sie ein
                         gutes Sprachvorbild sind. Wenn der
                        ­F örderbedarf unter sachkundiger Beob-

von Bedarfen            achtung und Anleitung bestehen bleibt,
                        kann dann rechtzeitig eine logopädi-

sollte gegen-
                        sche Behandlung begonnen werden.

                        Kinder mit ausgeprägten körperlichen,

über der Vergabe
                        geistigen oder seelischen Behinderun-
                        gen brauchen aber fast immer ganz
                        spezifische förderpädagogische Unter-

von Diagnosen           stützung, um den eigenen Bildungsweg
                        gehen zu können. Ihre Einschulung
                        ­sollte von einem Netzwerk aus Ärzten,

im Vordergrund           Pädagogen, Therapeuten und anderen
                         Helfern vorbereitet werden. Die wich-
                         tigste Frage dabei muss lauten: Welcher

stehen.“                 verfügbare Förderort kann genau die-
                         sem Kind mit seinen spezifischen Be-
Dr. med. Holger Petri    einträchtigungen und Interessen – im
                         Hinblick auf Bildung und Teilhabe – das
                         Beste bieten? Das sind keine Problem-
                         lösungen von der Stange, sondern kom-
                         plexe individuelle Entscheidungen.
                         Weil sie einen Lebensweg bestimmen
                         können.

34                                                    Menschen #1 – 2018
Sie können auch lesen