Menschen - Von Anfang an - Aktion Mensch
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#1 – 2018 Menschen Inklusiv leben Von Anfang an Kindergarten, Grundschule, Spielplatz: Ein Miteinander kann gelingen, wenn die Weichen früh gestellt werden.
Jeder Kauf hilft. Gemeinsam errichten wir inklusive Spielplätze in ganz Deutschland. Mehr Infos auf www.rewe.de/glück VIELE MENSCHEN KÖNNEN ZUSAMMEN GROSSES ERREICHEN, WENN JEDER EINZELNE EIN KLEINES STÜCK BEITRÄGT. Das ist die Idee hinter der Spenden-Aktion „Stück zum Glück“. Damit gemeinsames Spielen und Aufwachsen selbstver- REWE und P&G wollen gemeinsam mit der Aktion Mensch ständlicher wird, dafür macht sich die Aktion Mensch die Lebensqualität von Kindern mit und ohne Behinderung gemeinsam mit REWE und Procter & Gamble stark. nachhaltig verbessern und das selbstverständliche Mitein- In den kommenden drei Jahren werden deutschlandweit ander durch inklusive Spielplätze fördern. komplett neue inklusive Spielplätze errichtet, etliche be- stehende aus- oder umgebaut und durch passende Spiel- Spielplätze schenken Kindern und auch ihren Familien wert- geräte erweitert. Möglich wird dies durch die Spenden- vollen Spielraum: Hier ist Platz für Spaß, Lärm, Bewegung summe von 1 Million Euro. und eine ungebremste motorische Entwicklung. In ganz Deutschland mangelt es jedoch an Spielräumen, Spenden geht so einfach: Mit jedem Kauf eines Produktes die Kinder und Eltern zum Austausch und spielendem Mit- der abgebildeten P&G-Marken unterstützt jeder REWE- einander einladen. Nur die wenigsten bieten aktuell ein Kunde die Aktion Stück zum Glück. Gemeinsam inklusives Spielerlebnis für alle Kinder. können wir so viel erreichen. Diese Marken machen mit: *Mit jedem Kauf eines Procter & Gamble Produktes ab Aktionsstart am 30.04.2018 unterstützen Procter & Gamble und REWE die Aktion Mensch bei der Errichtung von inklusiven Spielplätzen in Deutschland mit 0,01€ bis zum Erreichen der Spendensumme von 1 Million Euro. Die Aktion Mensch bevorzugt keine Marken oder Produkte. Mehr Infos auf www.rewe.de/glück
e Das neu l rund Editorial W a ti o n sporta Inform ung: sive Bild um inklu lusion.de ann könnte man besser www.ink lernen, dass Vielfalt etwas Selbstverständliches ist und dass sie unser Zusammenleben bereichert, als im Kindesalter? Wer Inklusion von Anfang erlebt, dem ist ein Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung oder mit unterschiedlichem sozialen und kulturellen Hintergrund auch später vertraut. Für diese Idee wirbt der aktuelle Filmspot der Aktion Mensch (Seite 6). Er markiert den Auftakt zum Themenschwerpunkt Bildung und Persönlichkeitsstärkung, dem wir uns bis 2020 widmen werden. In diesem Zeitraum verstärkt die Aktion Mensch ihr Engagement für gleiche Teilhabechancen aller Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Dazu tragen neue Förderprogramme bei (Seite 15), aber auch eine Kampagne, Formate für Fachleute und natürlich Angebote für Kinder und Jugendliche selbst – etwa das erste inklusive Kinderbuch auf dem deutschen Buchmarkt (Seite 90). In dieser und in den nächsten Ausgaben unseres Magazins begleiten wir diesen Themenschwerpunkt, zunächst mit dem Blick auf Kinder, später wird es dann um die Entwicklung von Jugendlichen und Erwachsenen gehen. Lesen Sie diesmal, wie Bildungseinrichtungen – gerade auch im außerschulischen Bereich – inklusiver werden können oder wie benachteiligte Kinder lernen, sich für ihre Belange einzusetzen, und starke Persönlichkeiten werden (Seite 24). Fotos Käte Kieseyer (oben), Tobias Schult (unten) Eltern, Pädagogen, Wissenschaftler, eine Filme- Titel macherin und Kinder berichten in dieser Ausgabe von Thibaud (links) und ihren Erfahrungen mit der Umsetzung von Inklusion. Leopold spielen beide Daraus lässt sich viel für die Zukunft lernen. Denn wie im neuen Kampagnen- sagte schon Albert Einstein: „Lernen ist Erfahrung. film der Aktion Mensch Alles andere ist einfach nur Information.“ mit. Viel Spaß hatten sie auch in den Drehpau- Christina Marx sen – und wurden beste Chefredakteurin Freunde. Menschen #1 – 2018 3
Seite 24 Wer als Kind mitreden darf, lernt, sich für die Gemeinschaft einzuset- zen. Eva-Maria (6 Jahre) hilft dabei, die Wege in Großwechsungen für alle sicherer zu ma- chen. Partizipationspro- jekte wie dieses gibt es in ganz Deutschland. Foto Lisa Winter 4 Menschen #1 – 2018
Inhalt 6 A b in die Zukunft! 58 H and in Hand Kunstreich Die neue Kampagne der Akti- In Gütersloh arbeiten Drei Arbeiten aus einem inklusiven on Mensch für mehr gemein- Lebenshilfe, Schule und Workshop des Kunstmuseums Bonn same Bildung und Entwicklung Kita zusammen zum Thema „Bildräume“ 15 G eld für Gutes 66 Geht doch! 22 Anna Zöller Förderprogramme der Fünf Projekte, bei denen die 52 Maxima Behr-O’Hara Aktion Mensch Rahmenbedingungen stimmen und die Inklusion läuft 84 Leo Wilsmann 16 K indheit heute Großer Leistungsdruck, ge- 72 K inder brauchen jemanden, lockerte Familienstrukturen, der an sie glaubt Standards mehr Kontrolle: Aufwachsen In zwei Filmen hat Hella 96 M ehr wissen hat sich verändert Wenders die Lernkarrieren von Schülern dokumentiert. Ein In- 97 Impressum 24 E in Wörtchen mitreden terview über ihre Erkenntnisse 98 Ausblick: Auf dem Weg Wo Kinder lernen können, an gesellschaftlichen Prozessen 80 Q wie Qualifizierung teilzunehmen Fortbildung kann den Weg für die Inklusion ebnen. Aber wie 31 W ohl oder Wehe? sehen wirksame Angebote Bewirkt sonderpädagogische Diagn ostik Hilfe oder Etikettie- aus? Menschen online rung? Zwei Meinungen 86 K eine Kompromisse mehr Fassungen der Texte in Einfacher Unser Bildungssystem folgt Sprache und als Hörausgabe unter: 38 E ltern erzählen Logiken, die mit der Inklusi- www.aktion-mensch.de/magazin Mütter und Väter über ihre onsidee wenig gemein haben, Wünsche für ihre Kinder und meint Prof. Bettina Amrhein eine inklusivere Gesellschaft www.youtube.com/ 90 D ie Bunte Bande 50 E ltern müssen fordern user/AktionMensch Der fünfte Band der Erstlese- Elternvertreter setzen auf reihe vereint Alltagssprache, stärkeres Miteinander Einfache Sprache und Braille- www.facebook.com/ 54 Spielend inklusiv aktion.mensch schrift Mehr barrierefreie Angebote wären gut für die kindliche www.twitter.com/ Entwicklung aktion_mensch Menschen #1 – 2018 5
Mehr gemeinsame Bildung und Entwicklung von Kindheit an ist das Ziel der neuen Kampagne der Aktion Mensch. Warum das für unsere ganze Gesellschaft ein Gewinn wäre, zeigt ein Blick nach vorn. Ab in die Zukunft! 6 Menschen #1 – 2018
Die Geschichte Die Landung auf dem Mars steht kurz bevor: Der Film zur neuen Kampagne der Aktion Mensch spielt in einer nicht allzu fernen Zukunft, in der Inklusion längst Realität ist – selbst in der Raumfahrt. Der junge Astronaut trägt eine Beinprothese. Foto Claas Ortmann/Bigfish Menschen #1 – 2018 7
Text Robert Fechner Wir schreiben das Jahr X in einer nicht allzu fernen Zu- kunft. Ein sonniger Morgen kündigt sich an. Heute soll zum ersten Mal eine bemannte Raumkapsel auf dem Mars landen. Gespannte Erwartung liegt über der all- täglichen Routine der Stadtmenschen auf der Erde. Alle Personen sind Kinder, die in die Rollen von Erwachsenen geschlüpft sind. Ein Mädchen im Businesskostüm springt in ein Taxi, um die Landung zusammen mit ihren Kollegen in der Firma verfolgen zu können. Sie gebärdet dem Fah- rer, wohin sie möchte und dass er sich beeilen soll. Der Fahrer versteht und gibt Gas. In der Firma angekommen, stürmt sie in ein Meeting und erklärt aufgeregt, dass ge- Pädagogen, die in inklusiven Settings arbeiten, rade die Marsmission landet. Der Chef der Runde, der im erleben, wie normal Unterschiede werden kön- Rollstuhl sitzt, unterbricht die Besprechung und schaltet nen, wenn sie alltäglich sind. Das zeigt die Ant- die Liveübertragung ein. Gerade rechtzeitig, um zu sehen, wort, die die Inklusionsforscherin Ines Boban von wie zwei Astronauten die Leiter ihrer Raumfähre hinab- einer Schülerin auf die Frage erhielt, wie viele steigen und einer der beiden als erster Mensch seinen Flüchtlinge in ihrer Klasse seien: „Es gibt bei uns Fuß auf die sandige Oberfläche des Mars setzt – oder keine Flüchtlinge, nur Kinder.“ Oder das Beispiel besser gesagt: seine Prothese. Mit einer Nahaufnahme von Schülern einer Klasse der Bonner Marie- auf diesen Schritt blendet der Film über in die Gegenwart: Kahle-Schule, die auch dann die akustische Der sandige Boden gehört zu einem Spielplatz, auf dem Hilfstechnik benutzen, wenn ihr Mitschüler, der Kinder mit und ohne Behinderung und mit verschiedener darauf angewiesen ist, um Gruppendiskussionen Hautfarbe herumtoben. Es sind die Kinder aus den voran- folgen zu können, gar nicht anwesend ist. gegangenen Szenen. Die beiden Astronauten, ein Mäd- chen und ein Junge, sind nicht von der Raumfähre, son- Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmer- dern vom Spielplatzgerüst hinabgestiegen und beginnen mehr? Natürlich können auch Erwachsene Be nun, gemeinsam „den Mars“ um sich herum zu erkunden. rührungsängste, Hemmungen, Vorurteile able- gen. Aber es fällt schwer, kostet Überwindung und Zeit. Wie viel besser wäre es, wenn die Be- Mit diesem Spot startet die Aktion Mensch rührungsängste erst gar nicht entstünden! Wenn ihre neue Kampagne für mehr „Inklusion von man die Unverkrampftheit und Offenheit, mit der Anfang an“. Die Botschaft ist so einfach wie ein- Kinder Unbekanntem begegnen, nutzen würde, leuchtend: Je mehr Kinder von klein an Vielfalt um ihnen von vornherein zu vermitteln: Die Welt als etwas Selbstverständliches erleben, desto ist bunt, und das ist gut so. Bezogen auf alle wahrscheinlicher wird es Inklusion in der Welt Facetten von Vielfalt. von morgen geben. Dann werden diejenigen, die sich als Kinder auf dem Spielplatz, in der Wir leben in einer zunehmend heterogenen Schule, in der Ferienfreizeit begegnet sind, auch Gesellschaft. Entsprechend wichtig ist es für als J ugendliche und Erwachsene ganz selbst- uns, den Umgang mit Vielfalt zu erlernen. verständlich zusammen Sport treiben, M usik Diese Fähigkeit wird es den heutigen Kindern machen und arbeiten. erleichtern, als Erwachsene ihren Platz in der 8 Menschen #1 – 2018
Die Darsteller Alle Rollen im Film sind mit Kindern besetzt. Einige davon haben eine Behinderung. Aber die ist oft erst auf den zweiten Blick erkennbar – wie bei der Fensterputzerin mit Handprothese. Eine Rolle spielen sie nie. 125 Darsteller, Techniker und Begleiter waren am Set. Die Kinder stammen aus Deutschland, Portugal, Großbritannien und Frankreich. Foto Claas Ortmann/Bigfish Menschen #1 – 2018 9
Die Diskussion um Inklusion an Schulen verdeckt, dass Gemeinschaft zu finden und insgesamt ver- bundener miteinander zu sein. Je früher sie diese Kompetenz erwerben, desto besser. Warum treibt die Aktion Mensch das Thema In- klusion und Bildung gerade heute voran? Nach auch andere Bildungsorte viel der Verabschiedung der Behindertenrechts- konvention der Vereinten Nationen (UN) 2006 und spätestens nach ihrem Inkrafttreten im Jahr dazu beitragen 2008 herrschte Aufbruchstimmung in Deutsch- land. Doch inzwischen folgte auf die anfängliche Euphorie vor allem im Bildungsbereich vielfach können. Ernüchterung. Angesichts knapper Ressourcen und mangelnder Konzepte, wie Inklusion im be- stehenden Schulsystem gelingen kann, droht das Bemühen nachzulassen. In den Medien haben Berichte Konjunktur, die Beispiele präsentieren, in denen gemeinsamer Unterricht nicht funktio- niert und für alle Beteiligten frustrierend ist. Es gibt aber auch zahlreiche Beispiele, die belegen, dass gemeinsamer Unterricht unter den richtigen Rahmenbedingungen für alle Kinder ein Gewinn ist. Nur dringen diese Erzählungen zurzeit nicht durch, weil sie sich nicht so gut verkaufen lassen. Die Stimmung in den Medien schlägt sich in der Bildungspolitik nieder Die Stimmung in den Medien spiegelt sich in weiten Teilen der Bildungspolitik und der Eltern- schaft. Bei Eltern von Kindern mit Behinderung wird dies teilweise zusätzlich genährt durch schlechte Erfahrungen und die Hemmung, das eigene Kind aus seinem geschützten Bereich 10 Menschen #1 – 2018
Interview „Die Chancen in den Blick nehmen“ Armin von Buttlar, Vorstand der Aktion Mensch, zu Zielen und Maßnahmen der mehrjährigen Kampagne „Inklusion von Anfang an“. Die Aktion Mensch will sich bis 2020 verstärkt für mehr Inklusion schon im Kindesalter einsetzen. Was ist der Ansatz und was das Ziel? Armin von Buttlar: Wir sind fest davon überzeugt, dass Inklusion schneller vorankommt, wenn Kinder mit und ohne Behinde- rung von Anfang an gemeinsam aufwachsen. Wenn sie in der Tagesstätte, in der Schule und in der Freizeit erfahren, dass das Miteinander ganz normal ist, dann wird Inklusion im späteren Leben auch selbstverständlich sein. Berührungsängste und Barrieren in den Köpfen können so gar nicht erst entstehen. Mit unserer Kampagne und vielen anderen Maßnahmen möchten wir die Menschen sensibilisieren. Welche Maßnahmen sind geplant? Wir wollen zum Beispiel über ein neues Förderprogramm für Kinder- und Jugendprojekte Inklusion von Anfang an an den Start bringen. Als größter Förderer im Bereich Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland hat die Aktion Mensch hier schon viel Erfahrung. Darüber hinaus sind neben unserer Kam- pagne mit dem Film „Inklutopia“ viele weitere Angebote, wie zum Beispiel Expertenrunden, Workshops, Lesungen und ein Onlineportal, geplant. An das jüngere Publikum richten wir uns mit Social-Media-Aktivitäten auf Face- book und YouTube. Welche Hoffnungen verbinden Sie ganz persönlich mit mehr Inklusion von Anfang an? Das gemeinsame Aufwachsen in einer vielfältigen Umgebung macht es möglich, dass Kinder und Jugendliche ihre Stärken optimal entwickeln kön- nen. Deshalb wünsche ich mir, dass ein neuer, konstruktiver Dialog in Gang kommt, der nicht nur Probleme, sondern die vielen Chancen in den Blick nimmt. Kinder haben keine Vorbehalte. Sie gehen ganz selbstverständlich mit Unterschieden um. Sie sind neugierig, voneinander zu lernen, sich ken- nenzulernen. Wenn Normalität im Kindesalter entsteht, ist Inklusion von An- fang an ein Gewinn für alle. Foto Ayse Tasci Menschen #1 – 2018 11
Der Film „Mission Zukunft“ ist zu sehen auf der Website und auf dem YouTube-Kanal der Aktion Mensch, ab Mitte August 2018 außerdem im Fernsehen und ab November im Kino. Foto Claas Ortmann/Bigfish 12 Menschen #1 – 2018
Jetzt abzuwarten, bis irgendwann mehr Geld und Personal zur Verfügung steht, oder gar das Rad zurückzudrehen, wäre verschenkte Zeit. heraus an eine der heute oft schlecht ausge- Der gesellschaftliche und politische Auftrag statteten Regelschulen zu schicken. Das Resultat: lautet, daran zu arbeiten, das in der UN-Behin- Nach wie vor besuchen fast 70 Prozent der Kin- dertenkonvention festgeschriebene Menschen- der mit Behinderung eine Förderschule. Die Zahl recht auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben der Kinder mit Förderbedarf, die auf eine Regel- durchzusetzen. Denn erst in der Praxis und aus schule gehen, ist zwar inzwischen mit rund der Praxis können wir lernen, wie Inklusion im 200.000 mehr als doppelt so hoch wie vor zehn Kinder- und Jugendbereich funktioniert und an Jahren. Aber gleichzeitig ist die Gesamtzahl der welchen Stellschrauben gedreht werden muss, Kinder mit diagnostiziertem Förderbedarf im sel- damit sie gelingt. Das heißt: Learning by Doing. ben Zeitraum um fast zehn Prozent gestiegen: Jeder, nicht nur Eltern und Pädagogen, kann sei- von rund 481.000 auf rund 524.000 (siehe Sei- nen Beitrag dazu leisten. Denn es ist nicht zuletzt te 37). Sehr viel hat sich prozentual also noch eine Frage der Haltung, die das gesellschaftliche nicht getan. Inklusionsklima bestimmt. Die alles überlagernde Diskussion um Inklusion an Schulen verdeckt die Sicht darauf, dass auch Austausch fördern und an anderen Bildungsorten viel dafür getan wer- Erfahrungen sammeln den kann und bereits wird, damit unterschiedli- che Kinder gemeinsam aufwachsen. In Vereinen, Gute Beispiele, die zeigen, dass inklusives Ler- bei Angeboten freier Träger der Kinder- und nen nicht nur funktionieren kann, sondern berei- Jugendhilfe, mehr und mehr auch bei Angeboten chernd für alle Beteiligten ist, gibt es viele – und der Behindertenhilfe treffen Kinder auf Altersge- das nicht erst seit Inkrafttreten der UN-Behinder- nossen, denen sie beispielsweise in ihrem schu- tenrechtskonvention. Bereits in den 1970er- und lischen Umfeld bisher eher nicht begegnen. Kin- 1980er-Jahren starteten – meist auf Initiative der, die einer anderen gesellschaftlichen Schicht, engagierter Eltern – die ersten Versuche, Kindern einer anderen Nationalität, vielleicht auch einer mit und ohne Behinderung gemeinsames Lernen anderen Religion angehören – oder eben auf zu ermöglichen, zunächst in Kindergärten, später Unterstützung angewiesen sind. Für die Persön- an Grund- und schließlich auch an weiterführen- lichkeitsentwicklung sind diese Begegnungen den Schulen. Seit den 1990er-Jahren hat das wichtig. Sie fördern die soziale Kompetenz, die Thema in Form der Wahlmöglichkeit Eingang in Fähigkeit, Lösungen zu finden und Kompromisse viele Landesschulgesetze gefunden. Allerdings einzugehen, die eigenen Interessen zu artikulie- war es vor dem Rechtsanspruch auf inklusive ren und die der anderen wahrzunehmen. Bildung Bildung, der durch die UN-Behindertenrechtskon- ist mehr als die Vermittlung von Lernstoff. Sie ist vention begründet wurde, schwierig, einen Platz auch Persönlichkeitsbildung und -stärkung. Und an einer der wenigen Schulen mit gemeinsamem sie findet nicht nur an Schulen statt. Unterricht zu ergattern. Menschen #1 – 2018 13
In vielen inklusiven Kitas, Freizeitklubs, teilwei- se auch in traditionellen Vereinen sind Kinder mit und ohne Behinderung inzwischen regelmäßig zusammen. Bisher ist das allerdings noch keine Selbstverständlichkeit, denn zu häufig fehlt es auch hier an entsprechenden Rahmenbedingun- gen und an Überzeugung. Daher ist es wichtig, die guten Erfahrungen miteinander zu ver- knüpfen und erfolgreiche Beispiele bekannt zu machen, sodass sich Akteure austauschen und voneinander lernen können. Wie viele Synergien entstehen können, wenn Schule und außerschuli- scher Bereich, Eltern und Pädagogen, Lehrer und Die Maßnahmen Erzieher, Inklusionsfachkräfte und Sozialarbeiter Plakate und Anzeigen unterstützen die zusammenarbeiten, zeigen erfolgreiche Koopera- Verbreitung der Botschaft. Ausführliche tionen wie das Projekt FRED in Gütersloh, das in Infos über die Kampagne und die Initia- dieser Ausgabe vorgestellt wird (siehe Seite 58). tiven der Aktion Mensch für mehr Inklu- sion in der Bildung gibt es unter: Wenn sich die Aktion Mensch in den kommen- www.aktion-mensch.de/vonanfangan den Jahren für das Thema „Inklusion von An- fang an“ stark macht, ist eines ihrer wichtigsten Ziele, die Entstehung gerade solcher Projekte an Schnittstellen der Bildungsträger zu fördern. So könnten Impulse und Ideen für neue Wege entstehen, wie sich die Lebenswelten von Kin- dern inklusiver gestalten lassen, damit diese von Anfang an die Einstellung und Kompetenz ent- wickeln, die für unser Zusammenleben wichtig sind. Dieses Ziel zu erreichen, ist noch ein weiter Weg, auf dem manches in der Praxis überdacht und Neues ausprobiert werden muss. Aber im Foto Claas Ortmann/Bigfish Vergleich zum Mars ist es zum Greifen nah. Inklu- sion ist zudem keine Raketenwissenschaft. Sie ist eine Frage der Haltung und der Bereitschaft, sich auf die Reise zu machen. Dabei können wir viel von Kindern lernen. 14 Menschen #1 – 2018
an an die Töpfe R Informationen zu den genannten Förderprogram- men finden Sie unter: www.aktion-mensch.de/ foerderung/foerderprogramme.html Geld Inklusion einfach machen – mit dem neuen Angebot fördert die Aktion Mensch Projekte mit bis zu 50.000 für Gutes Euro für Personal-, Honorar- und Sachkosten und weiteren 10.000 Euro für die Kosten zur Herstellung von Barrierefreiheit. Die aufzubringenden Eigenmittel betragen nur fünf Prozent der Gesamtkosten. Sie bringen das inklusive Miteinander von Kindern und Jugendlichen voran? Lassen Sie sich dabei unterstützen Starthilfe* gibt es für ambulante – mit Fördermitteln der Aktion Mensch! Verschiedene Unterstützungsangebote, die Kindern und Jugendlichen Teilhabe und ein Programme sorgen dafür, dass die Umsetzung guter selbstbestimmtes Leben ermöglichen. Ideen nicht am Geld scheitert. Die Aktion Mensch fördert die Personal- kosten für den Auf- und Ausbau solcher Dienste mit bis zu 250.000 Euro über maximal vier Jahre. Kleine lokale Projekte – vom Projekte der Kinder- und Investitionsförderung* können Kinderkochkurs bis zum Theaterpro- Jugendhilfe* brauchen Geld für ambulante Dienste und Einrichtungen jekt, von Aktionen am 5. Mai bis zu gutes Personal und Material. Die Akti- wie Jugendzentren bekommen, die ihre Maßnahmen für mehr Barrierefreiheit on Mensch bezuschusst diese Kosten Räume für alle zugänglich machen. Illustration Gabriella Seemann – bringen Inklusion überall in Deutsch- für bis zu 36 Monate mit maximal Für die Herstellung von umfassender land voran. Aktion Mensch fördert die 250.000 Euro. Maßnahmen, die die Barrierefreiheit ist eine Förderung in Projekte gemeinnütziger Initiativen mit Barrierefreiheit erhöhen – zum Beispiel Höhe von bis zu 140.000 Euro möglich. bis zu 5.000 Euro. der Einsatz eines Gebärdendolmet- *F ür freie gemeinnützige Organisationen der schers –, können mit bis zu 50.000 Kinder- und Jugendhilfe, die über eine Anerken- nung gemäß Paragraf 75 des SGB VIII verfügen Euro zusätzlich gefördert werden. oder sie beantragt haben. Menschen #1 – 2018 15
Kindheit heute In den letzten 20 bis 30 Jahren haben sich die Lebenswelten unserer Kin- der deutlich gewandelt. Die komplexen Anforderungen einer vernetzten, von Leistungsdruck und unsicheren sozialen Beziehungen, aber auch vom Bestreben nach Teilhabe für alle geprägten Gegenwart stellen Eltern, Päda gogen und nicht zuletzt die Kinder selbst vor große Herausforderungen. Text Astrid Eichstedt Fotos Jan Steinhauer Lockerung der der Erwachsenen Unsicherheit bei den Familienstrukturen Kindern erzeugen. Mit der abnehmenden Zahl der Kleinfamilien ist zugleich die In ihren Anfängen geht die Lockerung der sogenannten Patchworkkonstella- der Familienstrukturen auf die soge- tionen gestiegen. Es gibt mehr Stieffa- nannte 68er-Bewegung zurück. Heute milien, Pflege- und Adoptiveltern sowie erleben nahezu 40 Prozent der Kinder gleichgeschlechtliche Lebensgemein- bis zum 18. Lebensjahr das Scheitern schaften mit Kindern. Verschiedenheit ist der elterlichen Beziehung. Ein Fünftel also auch in dieser Hinsicht inzwischen der Familien in Deutschland besteht fast normal. Insgesamt erleben Kinder aus einem alleinerziehenden Elternteil, in ihrem privaten Umfeld heute deutlich meist als Folge einer Trennung. Über die mehr als früher, wie wichtig familiäres Trennungsraten von Eltern, die ein oder Diversity-Management und Offenheit für mehrere Kinder mit Behinderung haben, neue Erfahrungen sind. gibt es keine aktuellen Erhebungen. Wissenschaftler vermuten jedoch, dass deren Scheidungsraten noch etwas hö- Digitalisierung her liegen. Für Kinder ist die Trennung im Kinderzimmer der Eltern in jedem Fall eine enorme Belastung. Es erschüttert ihr Gefühl von Internetnutzung, Computerspiele und Sicherheit, kann sie in Loyalitätskonflikte soziale Medien sind heute aus dem Alltag stürzen und Verlustängste schüren. Psy- der Kinder nicht mehr wegzudenken. chologen gehen zudem davon aus, dass Ihre Kommunikation findet zu weiten der Mangel an emotionaler Sicherheit Teilen in einer Parallelwelt auf WhatsApp, nicht selten durch verstärkte Selbstbezo- Instagram, Snapchat und Co. statt. You- genheit kompensiert wird. So kann die Tuber sind die neuen Vorbilder. Wie das wachsende Freiheit in den Beziehungen das Always-on-Dasein die Psyche der 16 Menschen #1 – 2018
21% Laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung von Oktober 2017 erleben 21 Prozent der Kinder in Deutschland über einen Zeitraum von über fünf Jahren dauerhaft oder wiederkehrend Armut. Besonders betroffen sind Kinder alleinerziehender Eltern, Kinder mit mehreren Geschwistern und Kinder, deren Eltern eine geringe berufliche Qualifizierung haben. 17
20% Vorschulalter allerdings kritisch. Denn die Interaktion mit dem Bildschirm kann nicht das bieten, was Kinder vor allem im frühen Alter am meisten benötigen: den realen Austausch mit anderen Kindern. Mit Spiele-Apps wird nicht gelacht, ge- quatscht, gestritten. Erst dadurch lernen Kinder jedoch, mit ihren Impulsen umzu- gehen, Konflikte zu regeln, sich wieder zu vertragen, Regeln einzuhalten, aber auch, Regeln zu setzen. Mehr Leistungsdruck Die früher berechtigte Hoffnung von Eltern, dass der Lebensstandard ihres Kindes einmal besser sein wird als der eigene, ist längst der Sorge gewichen, ob es später überhaupt mal ein gesi- chertes Auskommen haben wird. Der Effekt ist, dass Eltern heute mehr denn Der Kinder- und Jugend- je darauf drängen, dass sich ihre Nach- gesundheitssurvey kommen von klein auf für einen erfolg- KiGGS des Robert Koch- reichen Platz in der Gesellschaft qua- Instituts kam zu dem lifizieren. Nach aktuellen Erhebungen Ergebnis, dass 20 Pro- Kinder beeinflusst, darüber herrscht wünschen sich 70 Prozent der Eltern zent der Kinder in in der Forschung Uneinigkeit. Tatsäch- von Schulkindern für ihr eigenes Kind Deutschland psychische lich ist die Frage, ob die neuen Medien das Abitur als Abschluss. Tatsächlich Probleme haben. Nach gut oder schlecht für die kindliche Ent- schließen heute immerhin 55 Prozent innen gerichtete Auffäl- wicklung sind, falsch gestellt. Denn es der Kinder ihre schulische Ausbildung ligkeiten wie Aggressio- kommt darauf an – zum Beispiel darauf, mit dem Abitur ab. 1992 waren es in nen und Unaufmerksam- wie gefestigt Kinder in ihrem sozialen Westdeutschland lediglich 33 Prozent, keit nehmen bei Jungen Umfeld sind. Nicht zuletzt dies bedingt in Ostdeutschland 22 Prozent. In sei- und Mädchen im Laufe auch ihren Umgang mit Smartphone und nem Buch „Wie Kinder heute wachsen“, des Kindes- und Jugend- Co. Es kann eine womöglich aus dem das er zusammen mit dem Hirnforscher alters ab, Mädchen ent- digitalen Medienkonsum erwachsene Gerald Hüther geschrieben hat, kritisiert wickeln allerdings mehr Aufmerksamkeitsstörung und Hyperakti- der Kinderarzt Herbert Renz-Polster das nach außen gerichtete vität oder einen Mangel an körperlicher einseitige Training für die Leistungsge- Symptome wie Ängste Bewegung ebenso begünstigen wie sellschaft, das bereits in vielen Krippen und Depressionen. verhindern. Kindern mit Behinderung und Kitas beginnt. „Tatsächlich steht auf erleichtert ein barrierefreier Zugang zur der Erziehungsagenda des bürgerlichen virtuellen Welt oft eine ganz reale Teilha- Mainstreams heute ganz oben das, be. Und die berüchtigte Spielsucht trifft was wir mit den materiell produktivsten tatsächlich nur drei bis fünf Prozent der Arbeitsplätzen der Zukunft verbinden: Kinder. Einige Wissenschaftler sehen Selbstständigkeit, Durchsetzungsfähig- die Nutzung elektronischer Medien im keit, kognitive Kompetenz, Individualis- 18 Menschen #1 – 2018
mus mit einem Schuss Teamfähigkeit. lichkeit vieler heutiger Eltern hängt damit Und eben ganz viel Wissen.“ Eine Ent- zusammen, dass sie befürchten, unsere wicklung, die nach dem PISA-Schock offen, komplex, vielfältig und vielschich- im Jahr 2000 noch mal deutlich voran- tig gewordene Lebenswelt könnte ihre getrieben wurde. Das Ergebnis ist ein Kinder überfordern.“ Da man mögliche enormer Leistungs- und Termindruck, Gefahren zudem immer besser messen befördert durch Ganztagseinrichtungen, kann, richtet sich der Blick immer stärker G8 und möglichst noch Sport- oder auf die Vermeidung von Risiken und Musikkurse. „Bei unserer Aufholjagd, damit auf die Risiken selbst. Dabei sei, um den Anschluss im internationalen so Herbert Renz-Polster, das unbeauf- Vergleich nicht zu verlieren, darf die sichtigte Spielen draußen und das Her- Persönlichkeitsentwicklung nicht aus umstromern mit anderen Kindern sehr dem Blick geraten“, warnt auch der So- wichtig für die Persönlichkeitsentwick- zial-, Bildungs- und Gesundheitswissen- lung. „Die Fülle an Themen, die Anlass schaftler Klaus Hurrelmann, der im ge- zur Sorge bereiten, fühlen sich in der Tat meinsam mit Heidrun Bründel verfassten für alle Verantwortung tragenden Er- Buch „Kindheit heute“ einen Abriss der wachsenen manchmal überwältigend wissenschaftlichen Forschung zum The- an“, meint Ines Boban. „Wenn dann noch ma geliefert hat. Und die Inklusionspäd- aufgrund schnell diskriminierbarer Ei- agogin Ines Boban konstatiert, „dass mit genschaften wie Beeinträchtigung, Der Bundesbehörde dem Druck und Ehrgeiz möglichst früh dunkle Hautfarbe oder Fluchterfahrung Destatis zufolge erlebten möglichst viel vermitteln zu wollen, na- Ausgrenzung erfahren wird, kann dies 2016 40 Prozent der türlich angelegte Prozesse der Entwick- ein zusätzlicher Anlass für potenzierte unter 18-Jährigen in lung und des Lernens bei Kindern sogar Sorgen und Kontrolle sein.“ Deutschland die Tren- verhindert werden“. nung oder Scheidung ihrer Eltern. Konkret waren knapp 132.000 Viel Kontrolle, Kinder betroffen. wenig Freiraum „Einerseits“, so Klaus Hurrelmann, „wird den Kindern heute ein großer Spielraum für ihre persönliche Entfaltung einge- räumt.“ Es gibt weniger starre Verhal- 40% tens- und Maßregeln in Familien und im sozialen Umfeld. Andererseits ist Kind- heit in der Gegenwart so behütet wie nie zuvor.“ Eltern aus dem bürgerlichen Mittelstand begleiten und beaufsichtigen ihre Kinder viel mehr als dies früher der Fall war. Das Mobiltelefon dient als eine Art verlängerte Nabelschnur. Dadurch wird den Kindern Selbstständigkeit und Entscheidungsfähigkeit genommen, wo- mit sich die elterliche Intention, alles richtig machen zu wollen, ins Gegenteil verkehrt. Klaus Hurrelmann: „Die Ängst- Menschen #1 – 2018 19
62% 82% 32 % 49% 87% 32 Prozent der Kinder verbringen ihre Freizeit mit Kindern mit und ohne Behinderung. Dies ergab eine aktuelle Umfrage der Aktion Mensch zu Inklusion. Laut einer Studie zum Thema Freizeitgestaltung, die mehrere Medienverlage 2017 in Auftrag gaben, ist die liebste Beschäftigung von Kindern zwischen vier und 17 Jahren Freunde zu treffen (87 Prozent). Danach folgt Spielen im Freien (82 Prozent), 62 Prozent chillen und jeder zweite Vier- bis 13-Jährige treibt mehrmals pro Woche Sport.
45% Was sie bräuchten Der einseitigen Förderung genormter kognitiver Kompetenzen steht mit der inklusiven Bildung ein Konzept gegen- über, welches das Gegenteil fordert: die Unterstützung und Stärkung der individu- ellen Interessen und Fähigkeiten jedes einzelnen Kindes. War man früher darum bemüht, homogene Kindergruppen zu bilden, wissen Experten heute, dass der Austausch unter Kindern verschiedener Entwicklungsniveaus soziale Kompeten- zen fördert und vielfältige Anreize für ihre Entwicklung bietet. Ein Ansatz, der nach und nach in vielen Kitas, Schulen und außerschulischen Angeboten berücksich- tigt wird. Inklusion bezieht Kinder mit unterschiedlichen körperlichen und geisti- gen Voraussetzungen sowie unterschied- lichem kulturellen und sozialen Hinter- grund ein. Kinder mit Förderbedarf finden Die Studie „Kindheit, sich besonders häufig in Stadtteilen mit Internet, Medien“ ermit- prekären Lebensverhältnissen. Die soziale telte 2016, dass Herkunft eines Kindes spielt eine ent- 45 Prozent der Sechs- scheidende Rolle für dessen Entwicklung den eigenen Interessen und Fähigkeiten bis Elfjährigen ein Handy und dessen Bildungserfolg. Nach aktuel- nachzugehen, Dinge auszuprobieren, besitzen. Sechs- bis len Studien ist der Anteil der Kinder, de- damit sie Spaß daran entwickeln, neue Siebenjährige schauten ren Eltern mit der Erziehung völlig über- Seiten an sich zu entdecken, über sich pro Tag durchschnittlich fordert sind, mit 20 Prozent immer noch hinauszuwachsen. Und damit sie ler- 75 Minuten fern, Zehn- sehr hoch. Klaus Hurrelmann: „Offensicht- nen, ihren eigenen Stärken zu vertrauen. bis Elfjährige 90 Minu- lich ist es in unserer so modernen, reichen Gleichzeitig können sie – um im Bild des ten. Elektronische Spiele Wohlfahrtsgesellschaft bislang nicht ge- Sprichworts zu bleiben – von der Vielfalt nutzten Sechs- bis Sie- lungen, diese Zahl deutlich zu verringern.“ des Dorfes um sie herum lernen, in einer benjährige 29 Minuten, immer komplexer werdenden Umgebung Zehn- bis Elfjährige In der komplexen und zugleich immer ständig Kompromisslösungen zu finden, 65 Minuten. 17 Minuten individualisierteren Realität, in der Kin- die Bedürfnisse von anderen wahrzuneh- lasen die Jüngeren der heute aufwachsen, scheint es umso men und sich trotz aller Unterschiede als täglich Bücher, die Älte- wichtiger, dass sie bei Bedarf auch ein Gemeinschaft zu verstehen. Diese Fähig- ren 40 Minuten. komplexes Netzwerk von Bezugsperso- keiten werden sie brauchen, um den gro- nen haben, die ihre Erfahrung und ihren ßen gesellschaftlichen Herausforderungen Blick auf das einzelne Kind einbringen. begegnen zu können, die die globalen „Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein Probleme mit sich bringen. ganzes Dorf“, besagt ein oft zitiertes afri- kanisches Sprichwort. Ergänzend könnte man sagen: und Freiräume zur kreativen ehr wissen M Entfaltung. Kinder brauchen Ermutigung, Weitere Infos finden Sie ab Seite 96. Menschen #1 – 2018 21
Anna Zöller (9 Jahre) Ohne Titel, 2018 Gouache- und Puk-Farbe in Sprenkeltechnik 50 cm x 35 cm Inspiriert von einem Werk der Künstlerin Katharina Grosse, das vor dem Kunstmuseum Bonn steht, entstand dieses Bild. Anna malt mit Begeiste- rung und spielt dabei mit Formen. Die individuellen Farbsprenkel hat sie mit einer Zahnbürste kreiert. 22 Menschen #1 – 2018
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Ein Wörtchen mitreden Amelie (10) ist Parlamentarierin im Kinderparlament Hilden. Sie macht sich für die Interessen ihrer Mitschüler stark und verschafft den Bedürfnissen von Kindern damit eine Stimme. 24 Menschen #1 – 2018
Kinder sind die Erwachsenen von morgen. Ob sie später verantwortungsvolle und soziale Entscheidungen treffen, hängt auch davon ab, wie sie lernen, an gesellschaftlichen Prozessen teilzunehmen. Partizipationsprojekte für Kinder vermitteln ihnen früh die Erfahrung, etwas bewirken zu können. Text Vivien Lenzen Fotos Lisa Winter Partizipation bedeutet Teilhabe und Mitbestim- setzen. Die Erzieherinnen unterstützen sie, indem mung. Alle Kinder haben ein Recht darauf, sich sie die Kommunikationsfähigkeiten der Kinder beteiligen und mitwirken zu dürfen – das haben fördern und sie frühzeitig an gesellschaftliches die Vereinten Nationen in der Kinderrechtskon- Engagement heranführen. So haben die Kleinen vention als Recht aller Kinder auf Meinungsäu- Entdecker bereits etwas erreicht, von dem alle ßerung, Information und Gehörtwerden festge- Bürger in Großwechsungen etwas haben: das schrieben. Dass die Partizipationsformen dem Zufußgehen ist sicherer geworden. Das Projekt Alter angemessen sein müssen, liegt auf der Hand. Sichere Wege begann mit dem Sturz eines der Der Morgenkreis in der Kindertagesstätte kann Kitakinder während eines Ausflugs. „Die Brü- daher ebenso ein Ort sein, um mitzubestimmen, cke über einen Graben war morsch und kaputt, wie das Mitmachradio oder ein Kinderparlament. deshalb blieb ein Kind mit dem Schuh stecken. Im Morgenkreis sprachen die Kinder darüber und hatten viele Ideen, wie man nicht nur diese Sichere Wege schaffen Brücke wieder sicher machen könnte, sondern wie auch andere Wege, etwa zu Spielplätzen, Wie die inklusive Kindertagesstätte Kleine Ent- zur Kita oder zur nahe gelegenen Turnhalle in decker in Großwechsungen zeigt, ist Partizipation einer Grundschule, verbessert werden könnten“, schon für die Jüngsten möglich. „Bei uns können erzählt Juch. Mittlerweile ist daraus ein Kinder- die Kinder gemeinschaftlich mitbestimmen, was Stadtplan-Projekt geworden, in das die Kita mit es zu essen gibt, und für sich selbst entscheiden, ihren 63 Kindern, eine Grundschule, verschie- ob sie draußen oder drinnen spielen wollen“, be- dene Ämter und der Bürgermeister involviert richtet Leiterin Beanke Juch. Seit 2015 nimmt sie sind. In kleinen Gruppen fotodokumentieren die mit ihrer Einrichtung am Projekt L ebens(t)raum des Vorschul- und Schulkinder Wegabschnitte, für die Kinderschutzbundes Thüringen teil, das von der sie als Experten fungieren, und besprechen mit Aktion Mensch gefördert wird. Ziel des Projektes den Betreuern, ob und was sich verändert hat. ist es, die Kinder darin zu stärken, sich selbstbe- „Die Kinder erleben so, dass ihre Stimme Gehör wusst und demokratisch für ihre Interessen einzu- findet, aber auch, dass nicht alles auf einmal Menschen #1 – 2018 25
Clara macht Radio, wie es Kindern gefällt Clara (12) führt als Ohrlotsin Interviews auch mit Erwachsenen. Die Radiogruppe Osdorf der Ohrlotsen in Hamburg gibt Kindern und Jugendlichen die Chance, eigenverantwortlich Radiosendungen zu gestalten. 26 Menschen #1 – 2018
Amir spricht für seine ganze Klasse Amir (9) engagiert sich wie Amelie im Kinderparlament Hilden. Er wurde von seinen Klassenkameraden demokratisch für ein Jahr gewählt. Menschen #1 – 2018 27
klappt und wie viele einzelne Schritte nötig nisieren, und bei der technischen Umsetzung. sind, bis zum Beispiel eine Brücke repariert wer- „Manchmal muss man sie ermuntern, frecher den kann. Wichtig für die Kinder ist es, zu erleben, nachzufragen, sich mehr zuzutrauen“, sagt der dass sie etwas verändern können“, sagt Juch. Medienpädagoge. „Es ist meine Aufgabe, den Kindern dabei zu helfen, kritische und mündige Kindern Gehör für ihre Themen zu schaffen und Erwachsene zu werden.“ sie erleben zu lassen, wie viel sie bewirken kön- nen, möchte auch die Initiative die Ohrlotsen, die Radio und Hörspiele mit Kindern macht. „Das Ra- Demokratie üben dio als Medium eignet sich bestens, um Kindern eine Bühne für Themen zu geben, die sie interes- Kinderparlamente können ein Ort sein, an dem sieren. Die Themen können sie für die monatlich Minderjährige diese mündige Grundhaltung üben ausgestrahlte Sendung so umsetzen, wie sie das können, indem sie demokratische Prozesse über- möchten“, erklärt Florian Jacobsen. Er arbeitet seit nehmen. Das Kinderparlament Hilden arbeitet 2011 im Stadtteil- und Kulturzentrum Motte e. V. dazu in den Arbeitskreisen Öffentlichkeitsarbeit, als Medienpädagoge. Einmal pro Woche trifft er Schule, Spielplatz sowie Umwelt, Verkehr und sich zu Redaktionssitzungen mit Kindern aus dem Natur unter der Leitung von Diplom-Sozialpäda- Osdorfer Born, einem durch Hochhaussiedlungen gogin Susanne Hentschel. Im Parlament sitzen geprägten Bezirk von Hamburg. Zu den Ohrlotsen Schüler aus den Klassen drei bis sieben. Alle kommen die Kinder, weil Medienpädagogen das Schüler dürfen einmal jährlich zwei Kinderparla- Projekt in Schulen vorstellen oder weil ein Freund mentarier ihres Jahrgangs wählen – einen Haupt- oder eine Freundin, die bereits mitmachen, ihnen verantwortlichen und einen Stellvertreter für ihre davon erzählt haben. „Anders als Erwachsene Interessen. Jugendliche ab Klasse acht können wollen Kinder im Radio nur über Themen berich- sich im Jugendparlament einbringen. Aktuell ten, die sie begeistern. Sie wollen nicht Probleme gibt es 80 Kinderparlamentarier in Hilden, davon in den Vordergrund stellen“, berichtet Jacobsen. sind rund 60 regelmäßig bei den Treffen und Zuletzt hat es Sendungen über Lieblingsbücher Projekten engagiert. Einmal im Monat kommen gegeben und über Musik. Dazu haben die Kinder die Kinderparlamentarier des jeweiligen Arbeits- junge Musiker der Elbphilharmonie und einen kreises für ein bis zwei Stunden zusammen, um Musiklehrer interviewt. „Sobald die Kinder mit an Projekten zu arbeiten. Zweimal im Jahr dürfen einem Mikrofon Fragen an Erwachsene stellen, gewählte Stellvertreter des Kinderparlaments wachsen sie unter der Verantwortung, werden zu in einer großen Sitzung mit der Bürgermeiste- kleinen Journalisten“, erzählt Jacobsen. „Auch ihre rin und anderen Amtsvertretern diskutieren. Sie Gesprächspartner merken das und nehmen die stellen Anträge, etwa für die Sanierung eines Kinder als kompetente Journalisten wahr.“ Jacob- Spielplatzes, und die Kinder melden zurück, wie sen unterstützt die Kinder mit journalistischem sie die Umsetzung von Projekten erlebt haben. Know-how, hilft ihnen, eine Recherche zu orga- „Für die Stadtparksanierung haben die Kinder 28 Menschen #1 – 2018
Damien setzt sich für sichere Wege für alle Kinder ein Damien (5) ist ein Kleiner Entdecker in der gleichnamigen inklusiven Kindertagesstätte in Großwechsungen. Im Projekt Lebens(t)raum lernen er und alle anderen Kinder schon früh, für ihre Interessen einzustehen. Menschen #1 – 2018 29
zusammen mit Architekten und Landschaftsin- schieden haben. Deutschlandweit hat Children genieuren zwei Workshops belegt. Sie haben den sechs solcher Beiräte, das Fördervolumen be- Erwachsenen erklärt, was ihnen wichtig ist, und trägt also 60.000 Euro. Die Gelder stammen aus daraus einen Plan für den neuen Stadtpark entwi- Spenden, von Partnern und Förderern, die sich ckelt“, erzählt Susanne Hentschel. Besonders in- gegen Kinderarmut in Deutschland und für sozia- teressiert waren die Kinderparlamentarier in letz- les Engagement einbringen möchten, alles kann ter Zeit daran, wie es Kindern geht, die aus ihrer in öffentlich zugänglichen Jahresberichten ein- Heimat flüchten mussten. Daher organisierte das gesehen werden. „Nur wer schon früh lernt, wie Parlament einen Weihnachtsmarktstand, auf dem viel Mitbestimmung und Eigeninitiative bewirken selbst gebackene Plätzchen verkauft wurden. „In können, hat auch in seinem späteren Leben die drei Tagen haben wir 1.000 Euro eingenommen“, Motivation, Grundwerte wie Gemeinschaftssinn erinnert sich Hentschel. Das Geld brachte eine und Tatendrang zu leben sowie an seine eigenen Delegation zur Hilfsorganisation Friedensdorf Kinder weiterzugeben. Davon bin ich überzeugt“, Oberhausen, die kranke und verletzte Kinder aus sagt Geschäftsführer Cornelius Nohl. Er selbst ist Kriegs- und Krisengebieten zur medizinischen ein Beispiel dafür, wie positiv sich frühe Begeis- Versorgung nach Deutschland bringt. „Einige Wo- terung für soziales Engagement auswirkt – als chen später haben die Parlamentarier die Kinder 16-Jähriger erhielt er von Children einen Preis für besucht, mit ihnen gegessen und musiziert.“ sein eigenes soziales Projekt. „Wir möchten Kin- der dabei begleiten, Empathie zu entwickeln und das Gefühl, etwas bewirken zu können. Das geht Verantwortung tragen nur über Selbstwertstärkung. Aber auch Frustrati- onstoleranz gehört dazu, denn die Kinder haben Begeisterung für soziales Engagement von Kin- eben nicht genug Budget, um alles zu fördern, dern für Kinder und ein Bewusstsein für soziale was sie gerne möchten.“ Themen direkt vor der Haustür möchte auch die Kinderhilfsorganisation Children for a better World Wegbereiter sein dafür, dass Kinder lernen, ihre mit Hauptsitz in München wecken. In einem Kin- Meinung zu vertreten und ein selbstbestimmtes derbeirat mit zehn bis 15 Kindern ab acht Jah- Leben zu führen – diese Idee verbindet Juch, ren lässt sie zweimal jährlich über die Vergabe Jacobsen, Hentschel und Nohl. „Das kommt von Geldern für soziale Projekte diskutieren und nicht von selbst, sondern braucht Anleitung und entscheiden. Pro Projekt können maximal 1.500 Begleitung“, sagt Juch. „Erwachsene müssten Euro, insgesamt pro Sitzung 5.000 Euro vergeben sich aber zurücknehmen und die Balance finden werden, die Kinder bekommen fünf bis sieben zwischen altersbedingt notwendiger Hilfestellung Anträge zur Voransicht. Therapeutisches Reiten, und Bevormundung. „Kinder sind die Entscheider Schwimmkurse für traumatisierte Kinder oder ein von morgen. Wir sollten ihnen durch frühzeitiges Erlebnistag für verwaiste Geschwister gehören zu Fördern beibringen, wie man Verantwortung über- den Projekten, für die die Beiräte sich bislang ent- nimmt und für sich und andere einsteht.“ 30 Menschen #1 – 2018
Wohl oder Wehe? Ist sonderpädagogische Diagnostik notwendige Hilfe oder Etikettierung? Ein Kinderarzt und eine Professorin für Disability Studies über das Spannungsfeld zwischen positiven Zielen und manchmal negativen Folgen. Text und Protokolle Sarah Schelp Illustrationen Gabriella Seemann Menschen #1 – 2018 31
Verankert ist das Recht auf sonderpädagogische Förderung im § 53, Sozialgesetz- buch XII: Wer eine Behinderung hat oder von Behinderung „bedroht“ ist, steht dort, hat Anspruch auf Unterstützung, um am Leben in der Gemeinschaft teilzuhaben, auch im Hinblick auf Bildungsweg und Beruf. Mit der Zuordnung zum förderberech- tigten Personenkreis geht der sogenannte Integrationsstatus einher, im Volksmund als I-Status bekannt. Das Verfahren seiner Feststellung beruht in Deutschland traditi- onell auf pädagogischer Diagnostik. Medizinische und psychologische Begutachtun- gen eines Kindes dienen der Überprüfung und Legitimierung des individuellen Be- darfs. Diese „Vormachtstellung“ der pädagogischen Begutachtung ist eine Besonder- heit des hiesigen Systems. Deutschland gehört zudem zu den wenigen Ländern weltweit, in denen der Förder- schwerpunkt „Lernen“ existiert. Darunter können theoretisch alle Schüler fallen, die langfristig dem Unterricht einer allgemeinen Schule nicht folgen können. Auch weil die Förderkategorie „Lernen“ in den meisten Ländern nicht vorkommt, wird sie im Vergleich hierzulande überproportional oft vergeben. Sie findet sich von allen Förder- schwerpunkten am häufigsten an allgemeinen Schulen wieder: Laut dem Bildungsbe- richt der Kultusministerkonferenz für das Jahr 2016 wurden 44 Prozent der Kinder mit Förderbedarf „Lernen“ inklusiv unterrichtet, gefolgt von Kindern mit Förderbedarf „Emotionale und soziale Entwicklung“ und „Sprache“ (ESE). Etwa zwei Drittel aller sonderpädagogisch geförderten Schüler in Deutschland jedoch besuchten Sonder- schulen und repräsentierten dort auch den Großteil der übrigen Förderschwer- punkte „Geistige Entwicklung“, „Hören“, „Sehen“ und „Körperliche und motorische Entwicklung“. Gleichwohl gerade der oft sozial mitbedingte Förderbedarf in den Bereichen „Ler- nen“, „Sprache“ und „ESE“ zahlreiche Kinder betrifft, sind die Vergabekriterien bun- desweit nicht standardisiert. Der Ermessensspielraum begutachtender Pädagogen ist groß. Umso wichtiger erscheint es im Sinne der Inklusion, die sonderpädagogi- sche Diagnostik regelmäßig zu wiederholen, um Bedarfe anzupassen und fatale Fehleinschätzungen zu vermeiden – damit die Förderung nicht das stärkt oder ver ursacht, was sie mindern soll: die Stigmatisierung und Segregation beeinträchtigter Menschen. Die Förderdiagnostik ist derzeit eine Gratwanderung zwischen der Bereitstellung not- wendiger Hilfen und der Etikettierung als „behindert“. Wir haben darüber mit zwei Experten gesprochen, die sich in ihrem beruflichen Alltag viel mit der Eingliederung von Kindern mit Beeinträchtigungen in die Gesellschaft beschäftigen: Dora Lisa Pfahl ist Professorin für Disability Studies an der Universität Innsbruck und hat unter ande- rem intensiv zum Einfluss sonderpädagogischer Förderung auf die Bildungsbiografie und den allgemeinen Lebensweg von Kindern und Jugendlichen geforscht. Holger Petri ist langjähriger Chefarzt des Sozialpädiatrischen Zentrums der DRK-Kinderklinik in Siegen, wo er gemeinsam mit einem Team aus Ärzten und Therapeuten Kinder mit körperlichen, geistigen und emotionalen Entwicklungsbeeinträchtigungen behandelt und begleitet. 32 Menschen #1 – 2018
darauf hinarbeiten, dass ein Kind ihn erhält, um auf diese Weise nieder- schwellig zusätzliche Ressourcen für ein Team von Helfern zu erschließen. Gefälligkeitsdiagnosen für eine Einrich- tung dürfen keine Rolle spielen: Es wäre falsch, Kinder mit bestimmten Diagno- Dr. med. Holger Petri, sen zu etikettieren, um den Zugriff auf Fördermittel zu ermöglichen. Chefarzt des Sozialpäd- iatrischen Zentrums der Deswegen sollte die Beschreibung der spezifischen Bedarfe eines Kindes im DRK-Kinderklinik in Vordergrund stehen dürfen – nicht die Vergabe von Diagnosen. Leider lassen Siegen: Es ist wichtig, kindliche Entwicklungs- die geltenden Spielregeln und be- störungen durch frühe Diagnostik recht- schränkten Ressourcen nicht immer zeitig zu erkennen und zu beschreiben, genügend Raum für eine individuelle damit man ihren Verlauf positiv beein- Förderplanung ohne Labeling. flussen kann. Je früher man die Entwick- lungsherausforderungen eines Kindes Für den Graubereich zwischen „leichter kennt, desto besser kann man es unter- Entwicklungsauffälligkeit“ und „drohen- stützen und auch die besorgten Eltern der Behinderung“ ist eine gute interdis- und das Umfeld beraten und begleiten. ziplinäre Diagnostik und die Erfahrung Dafür braucht es funktionierende lokale von zum Beispiel entwicklungsneurolo- Netzwerke. Deshalb ist es oft notwen- gisch ausgebildeten Fachärzten sehr dig, Helfersysteme und Kostenträger wichtig, weil die Entscheidung über Art möglichst früh mit ins Boot zu holen, um und Umfang von Förderung immer indi- Therapien und Förderungen im Alltag viduell getroffen werden muss. Ein Bei- umzusetzen. In Kitas etwa kann oft nur spiel: Ein Kind kommt mit einer Sprach- dann förderpädagogisch gearbeitet wer- entwicklungsstörung zum Arzt. In sei- den, wenn genug Integrationserzieherin- nem Umfeld gibt es kein positives nen vor Ort bereitstehen. Das geschieht Sprachvorbild, also niemanden, der ihm nicht von heute auf morgen. beim Erlernen von Sprache helfen könn- te – vielleicht, weil die Eltern selbst Jeder, der betroffene Eltern dazu ermu- schlecht Deutsch sprechen oder weil tigt, Förderung für ihr Kind im Rahmen sie nicht wissen, was sie tun sollen. der sogenannten Eingliederungshilfe Wenn Kinder in einer solchen Situation gemäß § 53, Sozialgesetzbuch XII, in nicht unterstützt werden und sich Anspruch zu nehmen, muss sich darü- sprachlich und kommunikativ kaum wei- ber im Klaren sein, dass das Kind damit terentwickeln, können Verhaltensauffäl- dem Personenkreis behinderter oder ligkeiten und sogar seelische Behinde- von Behinderung bedrohter Menschen rungen entstehen. Da darf man ärztlich zugeordnet wird. Das gilt es gerade den nicht zu kurz denken, sonst geht das Eltern offen und fair mitzuteilen. Es Kind mit seinen sozialen Fähigkeiten muss ein verantwortungsvoller Umgang und seiner schulischen und beruflichen mit diesem sogenannten Integrations- Zukunft den Bach runter. Eine drohende status gepflegt werden. Niemand sollte Behinderung kann für ein Kind auch Menschen #1 – 2018 33
bedeuten, nie eine Ausbildung ent- sprechend seiner Möglichkeiten zu schaffen oder zum Außenseiter zu wer- den – obwohl man beides mit Unter- stützung hätte verhindern können. Die große Chance integrativer Frühför- derung liegt dabei gerade darin, nicht nur die Defizite eines Kindes im Blick zu haben und an irgendwelchen Schrau- ben zu drehen, sondern früh genug miteinander auf dem Weg zu sein, um Familien und Institutionen wie Kitas und Schulen dabei zu unterstützen, das Kind bestmöglich zu fördern. Man kann zum Beispiel zunächst versuchen, Eltern „Die Beschreibung und Erzieher anzuleiten, damit sie ein gutes Sprachvorbild sind. Wenn der F örderbedarf unter sachkundiger Beob- von Bedarfen achtung und Anleitung bestehen bleibt, kann dann rechtzeitig eine logopädi- sollte gegen- sche Behandlung begonnen werden. Kinder mit ausgeprägten körperlichen, über der Vergabe geistigen oder seelischen Behinderun- gen brauchen aber fast immer ganz spezifische förderpädagogische Unter- von Diagnosen stützung, um den eigenen Bildungsweg gehen zu können. Ihre Einschulung sollte von einem Netzwerk aus Ärzten, im Vordergrund Pädagogen, Therapeuten und anderen Helfern vorbereitet werden. Die wich- tigste Frage dabei muss lauten: Welcher stehen.“ verfügbare Förderort kann genau die- sem Kind mit seinen spezifischen Be- Dr. med. Holger Petri einträchtigungen und Interessen – im Hinblick auf Bildung und Teilhabe – das Beste bieten? Das sind keine Problem- lösungen von der Stange, sondern kom- plexe individuelle Entscheidungen. Weil sie einen Lebensweg bestimmen können. 34 Menschen #1 – 2018
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