Mitgliedermagazin des BVF - HEILPÄDAGOGISCHE FRÜHERZIEHUNG IM WANDEL - NEUE FACHLICHKEIT
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Mitgliedermagazin des BVF NR. 104 – JUNI 2021 SCHWERPUNKT HEILPÄDAGOGISCHE FRÜHERZIEHUNG IM WANDEL – NEUE FACHLICHKEIT SEITE 7 FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 2/2021
2 Inhaltsverzeichnis Was wir diesmal zum Thema machen: Editorial................................................................................................ 3 Aktuelles aus dem BVF....................................................................... 4 HFE im Wandel – neue Fachlichkeit Evidenzbasierung in pädagogischen und therapeutischen Zusammenhängen? oder: Warum handele ich so, wie ich handele?............................... 7 HFE im Kontext einer neuen Fachlichkeit Denkanstösse und Wahrnehmungen aus der Praxis........................ 13 Ein Blick auf das «Damals», «Heute» und «Übermorgen» Gedankenkarussell zum Feld der Heilpädagogischen Früherziehung in den letzten vier Jahrzehnten................................. 22 Mu-Ki-Wasserspielgruppe ................................................................ 32 Kommunikation im Zentrum – der Wandel in der Audiopädagogischen Früherziehung.................. 34 Was bleibt nach der HFE von der HFE? Teil 2: qualitative Erhebung................................................................. 38 Kinderschutz Schweiz: Die starke Stimme der Kinder..................... 43 Entwicklungsdiagnostik bei Kindern mit einer Sehbehinderung................................................................. 48 Kinderbetreuung und Behinderung: Angebotsmangel trotz substanziellem Bedarf................................... 52 Rezension............................................................................................ 57 Abkürzungsverzeichnis....................................................................... 58 Vorstand................................................................................................ 61 Geschäftsstelle /Vorschau.................................................................. 62 Cartoon................................................................................................ 63 Impressum........................................................................................... 64 FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 2/2021
Editorial 3 Liebe Leserinnen und Leser Tanja Alther Schon Charles Darwin wusste: «Nichts in der Wandel in der audiopädagogischen Früherzie- Geschichte des Lebens ist beständiger als der hung aufgezeigt und wir erhalten einen weiteren Wandel». Wandel vollzieht sich jederzeit und Einblick in das laufende Forschungsprojekt des unaufhaltsam – so auch in unserem Berufsfeld. Kinderspitals Zürich zum Thema «Was bleibt Mancher Wandel wird sehnlichst erwartet und nach der HFE von der HFE?». Ferner erfahrt ihr auf andere Neuerungen könnte wahrscheinlich in der Rubrik «aktuelle Berufspolitik» wie sich der getrost verzichtet werden. Kinderschutz Schweiz gegen Gewalt an Kindern einsetzt (zusätzlich zu diesem Artikel findet ihr Woher kommt dieses Verlangen nach Verände- auch den Leitfaden «Früherkennung von Gewalt rung, nach Erneuerung? Es ist ein Grundbedürf- in der frühen Kindheit» als Beilage). Zum Ab- nis der Menschen sich zu verbessern und wei- schluss erwarten euch noch ein Einblick in eine terzuentwickeln. Nur so konnten wir uns soweit Masterarbeit, in welcher die Entwicklungsdiag- entwickeln und verschiedene Hochkulturen ent- nostik bei Kindern mit einer Sehbehinderung stehen lassen. Gleichzeitig fallen uns persönlich beleuchtet wird und eine Vorstellung des Be- Veränderungen oftmals extrem schwer. Diesen richts von Procap Schweiz zur ausserfamiliären Widerspruch erleben wir – glaube ich – tagtäg- Betreuungssituation von Kindern – es lohnt sich lich an uns selbst und auch in unserer Arbeit mit bis zum Schluss zu lesen. den Familien. Ich wünsche euch eine abwechslungsreiche Ich bin überzeugt, dass ein Schlüssel zu einem Lektüre und etwas Zeit für Reflexion. gelungenen Wandel und damit zu Verbesserun- gen in der Reflexion liegt. Wer sich und seine Arbeit (kritisch und auch wertschätzend) hinter- fragen kann, kann sich auch weiterentwickeln. Diese Fähigkeit ist gerade in unserem Arbeitsfeld unabdingbar und benötigt einen gewissen Raum im Alltag. Nehmen wir uns also alle ein bisschen Zeit für die Lektüre dieser Ausgabe und setzen Mit herzlichen Grüssen uns mit unserer Ab- oder Zuneigung zu gewissen Veränderungen auseinander. Was euch bei der heutigen Lektüre erwartet: Nach den Aktualitäten aus dem BVF erfahrt ihr, wie ihr eure Evidenzbasierung in der Arbeit stei- gern könnt. Es geht um die neue Fachlichkeit in der HFE und wir erhalten von drei gestandenen Heilpädagogischen Früherzieherinnen Einblicke, wie sich ihre Arbeit in den letzten rund 35 Jahren verändert hat. Des Weiteren wird eine Mut- ter-Kind-Wasserspielgruppe vorgestellt, der Tanja Alther FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 2/2021
4 Aktuelles Aktuelles aus dem BVF Franziska Brüngger und Sarah Wabnitz Wir setzen uns ein! Offener Brief an die Kantone Mit der anhaltenden Pandemie und nach di- versen Anfragen aus dem Berufsfeld bezüglich Impfung hat sich der BVF entschieden, mit einem offenen Brief an die Kantone zu gelan- gen. Ziel des offenen Briefes war es, die Kan- tone auf die Berufsgruppe der Heilpädagogi- schen Früherziehung aufmerksam zu machen und auf die besondere Ausgangslage sowie die Klientel der Heilpädagogischen Früherzie- EDK Totalrevision hung hinzuweisen, mit der Bitte, diese Bedin- Die EDK nimmt im Jahr 2021/2022 eine Total- gungen in den Impfstrategien der Kantone zu revision der Anerkennungsreglemente für die berücksichtigen. Der offene Brief wurde allen pädagogisch-therapeutischen Lehrberufe vor. Mitgliedern zur Verfügung gestellt und auf der Der BVF arbeitet in der Arbeitsgruppe, beste- Homepage aufgeschaltet. hend aus Vertreter*innen von Universitäten, Hochschulen, Kantonen und Verbänden, mit und vertritt ebenfalls die Anliegen der ARPSEI. Wir plaudern gern mit euch! Diskutiert werden aktuell die Studiengänge der Logopädie, Psychomotorik und Sonder- pädagogik und die damit verbundenen Ab- schlüsse Bachelor/Master. Im Herbst wird auch die Anerkennung altrechtlicher Diplome der Heilpädagogischen Früherziehung ein Thema sein. Als Argumentationsgrundlage für die Aner- kennung des Studienganges der Heilpädago- Zooméro gischen Früherziehung (auf Masterstufe) hat Am 15.04.2021 führten wir unseren dritten der BVF ein Kompetenzprofil erarbeitet, wel- Zooméro durch. Wir freuen uns, dass sich ches aufzeigt, in welchen und in wie vielen einige zu dieser einfachen, überkantonalen Bereichen eine Fachperson Heilpädagogische Austauschrunde zusammengefunden haben. Früherziehung Kompetenzen erwerben muss, In zwei Runden wurden während einer Stunde um einen berufsqualifizierenden Abschluss zu in Gruppen allerhand unterschiedliche Fragen erreichen. aus dem Berufsalltag diskutiert. Themen wa- FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 2/2021
Aktuelles 5 ren unter anderem die verschiedenen Aus- Wir haben Elisabeth Gubler und Denise Eng gangslagen und Angebote in Bezug auf inte- mit einem Blumenstrauss für ihre hervorra- grative Kita- oder Spielgruppenplätze, der gende Arbeit als Revisorinnnen verabschiedet. Medienkonsum, die subjektiv wahrgenomme- Neu gewählt wurden für diese Aufgabe Elisa- ne Zunahme an Verdachtsdiagnosen Autis- beth Handschin und Lina Hansen. Der Vor- mus-Spektrum und die damit verbundenen stand freut sich auf die neue Zusammenarbeit gegenwärtig laufenden Projekte für diese Kin- und bedankt sich für den Einsatz! der sowie die in einigen Kantonen aktuell sehr anspruchsvollen Einschulungsverfahren. Es ist einerseits spannend zu erfahren, welche The- men in der Praxis und in den unterschiedli- chen Kantonen gerade aktuell sind. Anderer- seits ist es inspirierend zu hören, welche Er- fahrungen, Lösungsansätze und Ideen andere auf eigene Frage- oder Problemstellungen haben. So können wir alle unser Wissen und unsere Erfahrungen miteinander teilen und Elisabeth Handschin Lina Hansen gegenseitig voneinander profitieren. Das Datum für den nächsten Zooméro er- fährst du in unserem Newsetter oder auf Lin- Wir sind aktiv! kedIn – sei auch du das nächste Mal dabei! Mitgliederversammlung Am 28.05.2021 fand unsere Mitgliederver- sammlung statt - auch dieses Jahr wieder digital. Da wir alle im letzten Jahr enorm viel im Umgang mit digitalen Medien dazu gelernt haben, entschieden wir uns (anders als letztes Jahr) dieses Mal das Fachreferat ebenfalls Procap durchzuführen. Erneut konnte Frau Waigand An einer Online-Konferenz am 11.05.2021 prä- dafür gewonnen werden. Mit ihrem Vortrag sentierte Procap ihren Bericht zu «Familiener- zum Thema «UK genau jetzt – nicht dann! – gänzender Betreuung für Kinder mit Behinde- Modelling in der Unterstützten Kommunikati- rung: Wo steht die Schweiz heute?». Der BVF on» zeigte uns Frau Waigand auf, wie UK in hat für diese Studie seine Kontakte ins Feld den Alltag eingebaut und dadurch für UK-Nut- der HFE zur Verfügung gestellt. Integration/ zer*innen positive Voraussetzungen für den Inklusion im Frühbereich ist weiterhin ein Spracherwerb geschaffen werden können. Thema das den BVF beschäftigt und mit Netz- Der «dialogue carrousel» wurde umfassend werkpartnern diskutiert wird. Eine Zusam- genutzt für einen reichhaltigen Austausch und menfassung des Berichtes findet sich in die- Vernetzung der Mitglieder. sem Heft. FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 2/2021
6 Aktuelles Mehr profitieren! zweite Runde gegangen, in Form eines Inter- views. Dieses kann im internen Bereich ange- schaut werden. Wir bedanken uns herzlich bei Prof. Dr. Fröhlich-Gildhoff für eine ab- schliessende Zusammenfassung in Form ei- nes Artikels in dieser Forumausgabe. Sehen wir uns? Ressort Social Media Die Sozialen Medien gewinnen nicht nur we- Kommende Termine gen der Pandemie an Wichtigkeit, sondern ganz allgemein. Der Vorstand des BVF hat 23.09.2021 daher entschieden, ein neues Ressort zu kre- Antrittsvorlesung von Prof. Christina Koch, ieren – das Ressort Social Media. Carina HfH Zürch Speck ist für dieses neue Ressort zuständig. Die HfH hatte eine Professor*innenstelle Mit der Homepage und der Aktivität des BVF «Heilpädagogik der frühen Kindheit» ausge- auf LinkedIn sind erste Grundsteine bereits schrieben und durch Christina Koch besetzt. gelegt worden. Insbesondere auf LinkedIn Die neue Stelle dient dazu die Bedeutsamkeit wollen wir die Berufsgruppe der Heilpädago- eines Themengebietes der Heil- und Sonder- gischen Früherziehung sichtbarer machen. pädagogik spezifisch hervorzuheben und wei- Folge uns auf LinkedIn. ter zu stärken. Es freut uns, dass dadurch die Heilpädagogische Früherziehung und ihre Neu: Rabatt für SZH-Zeitschrift Nachbarsgebiete zusätzliche Aufmerksamkeit Als Mitglied des BVF hast du die Möglichkeit, erhalten. ein Jahresabonnement der Schweizerischen Zeitschrift für Heilpädagogik mit einem Rabatt 13.11.2021 von 20% zu beziehen. Wenn du gerne von 50 Jahre ISP Jubiläumstagung: diesem Angebot profitieren möchtest, dann «Auf dem Weg zu Learning Communities in schreib bitte an edition@szh.ch. Weitere In- Frühförderung, Logopädie und Schule» (Nä- formationen finden sich auf der Website here Informationen hinten im Heft) www.frueherziehung.ch unter Publikationen. 04./05.03.2022 Aus- und Weiterbildungstag Münchner Symposium Frühförderung: Der Aus- und Weiterbildungstag ist nach dem Zutrauen-Vertrauen: Kernressourcen in der Referat von Prof. Dr. Fröhlich-Gildhoff in die Frühförderung FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 2/2021
Aus- und Weiterbildungstag 7 Evidenzbasierung in pädagogischen und therapeutischen Zusammenhängen? oder: Warum handele ich so, wie ich handele? 1 Die Grundanforderung an professionelles Handeln Klaus Fröhlich-Gildhoff Professionelles pädagogisch bzw. thera- gilt das Prinzip der Begründbarkeit: Als peutisches Handeln muss – im Unterschied professionelle Fachperson muss ich – zu «Alltagshandeln» – durch zwei grundle- ggfls. im Nachhinein – begründen können, gende Voraussetzungen gekennzeichnet warum ich so und nicht anders gehandelt sein: Zum einen ein hohes Mass an Re- habe. flexivität: Als professionelle Fachperson muss ich wissen, was ich mache und zu- Dies verweist auf den generellen «Kreislauf mindest im Nachhinein darüber nachden- professionellen Handelns» (Fröhlich-Gildhoff, ken und – fühlen können. Zum anderen Rönnau-Böse & Tinius, 2020): Abbildung 1: Kreislauf professionellen Handelns 1 Dieser Beitrag basiert auf vorherigen Veröffentlichungen des Autors, besonders Fröhlich-Gildhoff & Hof- fer (2017). Es wurde aus Gründen der Lesbarkeit die weibliche Geschlechtsform gewählt, andere sind damit inkludiert. FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 2/2021
8 Aus- und Weiterbildungstag Zur Realisierung dieses Handlungskreislaufs • Wie sind Wirkungen und Wirksamkeitsfak- müssen Fachkräfte ihre Beobachtungen sys- toren zu beschreiben und empirisch zu er- tematisch durchführen und reflektieren sowie fassen? Klassischerweise erfolgt hier der das Beobachtete auf der Grundlage von the- Verweis auf die in Medizin und Psychologie oretischem Wissen über Verhaltensentste- etablierten Designs nach dem «Goldstan- hung und die je spezifische Situation des Kin- dard» randomisierter Experimentalstudien des/Gegenübers verstehen und analysieren. (RCT-Designs, Wirtz, 2014; Otto, 2007), die Das Verstehen führt zu Hypothesen über die jedoch insbesondere beim Transfer in die Verhaltensentstehung und damit zu einer Praxis deutlich ihre Grenzen finden und aus Handlungsplanung von passgenauen Begeg- methodologischer Perspektive umstritten nungs-antworten, die im weiteren Schritt in sind (Fröhlich-Gildhoff & Hoffer, 2017). der Begegnung mit dem Kind, in der Zusam- • Wie lassen sich die in systematischen und menarbeit mit den Eltern und ggfls. weiteren kontrollierten Studien erfassten Wirkungs- Institutionen umgesetzt werden. Das Handeln zusammenhänge auf die ‚alltägliche‘ päda- wird dann überprüft und reflektiert, damit eva- gogische Handlungspraxis so transferieren luiert und möglicherweise sind weitere Beob- und transformieren, dass sie der Praxis an- achtungs- und Analyseschritte für eine verän- gemessen sind? Pädagogische Prozesse derte Handlungsplanung nötig. sind dadurch gekennzeichnet, dass sie sich Damit wird dem – verstehbaren – Wunsch, nicht normieren und standardisieren lassen; rasch wirksame «Rezepte» zur Verfügung zu pädagogisches Handeln entfaltet seine Wir- haben, also von der Beobachtung direkt zum kung stets mit einer gewissen Eigendyna- Handeln zu kommen, ein systematisches, mik und Eigensinnigkeit (vgl. Honig, 2002) langfristig jedoch wirksames Vorgehen entge- und ist grundlegend durch ein gewisses gen gestellt. Mass von Unbestimmtheit gekennzeichnet. Die Grundlage für das Handeln stellen also die Trotz der entsprechend notwendigen Flexi- Analyse und Handlungsplanung dar, die wie- bilität muss die Pädagogin oder Therapeu- derum auf wissenschaftlich überprüften tin wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse Theorien und Modellen – wie bspw. dem zur Handlungsplanung, -durchführung und Bio-Psycho-Sozialen Modell – und/oder re- -reflexion zur Verfügung haben (z.B. Fröh- flektierter, durch Theorie begründbare Erfah- lich-Gildhoff, Nentwig-Gesemann & Pietsch, rung beruhen sollte. Dabei sollten bei der 2014). Planung ebenfalls Handlungsweisen ausge- wählt werden, deren Wirkung wissenschaft- • Wie werden die Interessen der Adressatin- lich überprüft wurde (Evidenzbasierung). nen, der Kinder und Familien berücksich- tigt? Diese haben ja schon aus ethischer Wirkungsorientierung und Sicht ein Anrecht darauf, dass als wirksam Wirksamkeitsforschung identifizierte Massnahmen – z.B. evidenz- Die Themen «Wirkungsorientierung» und gesicherte Formen der Sprachförderung – «Wirksamkeitsforschung» hängen mit mehre- in der Praxis bestmöglich und passgenau ren grundlegenden Fragen zusammen: umgesetzt werden. FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 2/2021
Aus- und Weiterbildungstag 9 Anforderungen an die Untersuchung es immer darum, den «Ausgangs»-Zustand von Wirkungen vor der Intervention mit dem «End»-Zustand Bei der gezielten Untersuchung der Wirkung nach der Intervention zu vergleichen und da- einer Intervention – also einer klar beschreib- bei das Vorgehen bei der Umsetzung bzw. baren Handlung, eines Programms etc. – geht Implementation zu berücksichtigen: Abbildung 2: Grundprinzip der Wirkungsforschung Dabei gibt es Kern-Anforderungen an die Un- Untersuchungsgegenstand zu ermöglichen; tersuchung der Wirkung(en) von Massnah- zu bevorzugen sind sog. Mixed Methods men bzw. Interventionen – insbesondere unter Designs (Creswell, 2003) aus quantitativen Praxisbedingungen. Aus der Literatur zur und qualitativen Untersuchungsmethoden. (Wirkungs-) Evaluation (z. B. Bortz & Döring, • es sind verschiedene Perspektiven (v.a. 2006; Stockmann, 2006) lassen sich zentrale Selbstbeobachtung, Fremdbeobachtung) zu Anforderungen an entsprechende Studien und berücksichtigen Designs zusammenfassen: • es muss eine Verbindung von Prozessdaten und Ergebnissen hergestellt werden kön- • eine Intervention oder Handlungspraxis ist nen. über mehrere Messzeitpunkte zu beobach- ten (mindestens vorher und nachher) Auf diese Weise lassen sich auch Wirkungen • es ist eine Vielfalt von Methoden (z. B. Be- und wirksame Prozesse jenseits der klassi- obachtung, Interviews, Fragebögen, …) ein- schen Experimentalforschung abbilden. zusetzen, um verschiedene Zugänge zum Wichtig ist dabei ein systematisches, begrün- FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 2/2021
10 Aus- und Weiterbildungstag detes und nachvollziehbares Vorgehen, das den pädagogischen Fachkräften der beteilig- an einem Beispiel verdeutlicht werden soll: ten vier Durchführungs- und drei Vergleich- Untersuchungsbeispiel: Gezielter Einsatz seinrichtungen erfasst (Nentwig-Gesemann, qualitativer Methoden zum Erfassen von 2011). Die Gruppendiskussion ist ein offenes Veränderungen bei quasi-experimenteller Verfahren der qualitativen Sozialforschung, Bedingungsvariation das es ermöglicht, konkrete Erfahrungen und Erlebnisse zu erfassen, die Eigendynamik und Im Rahmen eines Projekts zur Resilienzförde- Eigensinnigkeit von Projektpraxis zu verstehen rung in Kindertageseinrichtungen in sozial und die Veränderung von Orientierungen und belasteten Quartieren (Fröhlich-Gildhoff & Deutungen zu rekonstruieren (vgl. Bohnsack, Rönnau-Böse, 2012) wurden mögliche Wir- 2003). Insgesamt wurden 14 Gruppendiskus- kungen durch ein Vergleichsgruppendesign sionen durchgeführt, jeweils sieben zu Pro- mit quantitativen Methoden (standardisierte jektbeginn und Projektende mit den Teams Testverfahren; prä-post-Messung; Randomi- der vier Durchführungs- und drei Vergleichs- sierung war nicht möglich) erfasst. Eine po- gruppeneinrichtungen). Diese Forschungsan- tentielle Einflussvariable stellen bei Interven- lage ermöglichte, sowohl querschnittliche als tionen in Kitas die «Haltungen» (handlungslei- auch längsschnittliche Vergleiche zwischen tende Orientierungen) der pädagogischen Durchführungs- und Vergleichseinrichtungen Fachkräfte dar. Diese wurden durch eine ex- und auch innerhalb der jeweiligen Gruppe im terne Evaluation, die prozessbegleitend ange- Hinblick auf Veränderungen über die Projekt- legt war, mittels Gruppendiskussionen mit zeit; es waren mithin vier Vergleiche möglich: Abbildung 3: Design einer qualitativen Wirkungsanalyse (Nentwig-Gesemann, 2011) FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 2/2021
Aus- und Weiterbildungstag 11 Die Analyse der Gruppendiskussionen zeigte Bei der Evaluation des eigenen Handelns un- deutliche Änderungen der «Haltungen» der ter Berücksichtigung wissenschaftlicher Stan- Fachkräfte in den Durchführungsgruppen dards ist es wichtig, die eigene Intervention über den Projektverlauf hinweg, die sich in klar zu beschreiben, mehrere Messzeitpunkte den Vergleichsgruppen nicht rekonstruieren (vorher/nachher) zu berücksichtigen, mög- liessen (Nentwig-Gesemann, 2011). Diese Er- lichst verschiedene «Instrumente» (Interview; gebnisse liessen sich dann wiederum mit den systematische Beobachtungen; standardisier- quantitativen Daten verbinden und es ergaben ter Test; …) einzusetzen und möglichst unter- sich vertiefte Erkenntnisse zu Wirkungszu- schiedliche Perspektiven (Beurteilung durch sammenhängen und -mechanismen. verschiedene Personen, an verschiedenen Orten, zu verschiedenen Zeiten, …) einzube- Fazit für die Praxis ziehen. Optimal ist es, Vergleiche herzustellen Wirkungsorientiertes und evidenzbasiertes – zu anderen Gruppen, die andere Interventi- pädagogisches und therapeutisches Handeln onen erhalten haben oder solchen, die keine hat als Grundlage immer ein geplantes und erhielten. Dies gilt auch bei entsprechenden begründetes, systematisches Vorgehen, keine systematisch kontrollierten Einzelfallstudien. «Abkürzungspädagogik». Dies bedeutet, dass Es ist schön und bedeutsam, wenn sich Prak- es wichtig ist, Beobachtetes sorgfältig – am tikerinnen trauen, systematisch die Wirkun- besten im Austausch mit anderen – zu analy- gen des eigenen Handelns zu untersuchen sieren, darauf aufbauend unter Hinzuziehung und dabei auch offen für «Abweichungen» zu wissenschaftlicher Erkenntnisse Hypothesen sein: Eine auch mit bescheidenen Mitteln zu bilden und diese dann später zu prüfen, durchgeführte Evaluation ist immer besser als also das eigene Handeln und seine Wirkun- gar keine! gen zu überprüfen bzw. zu evaluieren. FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 2/2021
12 HFE im Wandel – neue Fachlichkeit Literatur Bohnsack, R. (2003). Gruppendiskussion. In U. Flick, E. von Kardorff & I. Steinke (Hrsg.), Qualitative Forschung. Ein Handbuch. 2. Auflage. (S. 369-384). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Bortz, J. & Döring, N. (2006). Forschungsmethoden und Evaluation für Human- und Sozialwissenschaftler. Berlin: Springer. Cresswell, J. W. (2003). Research Design. Qualitative, Quantitative and Mixed Methods Approaches. Thousend Oaks: Sage. Fröhlich-Gildhoff, K., Rönnau-Böse, M. & Tinius, C. (2020). Herausforderndes Verhalten in Kita und Grundschule (2. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer. Fröhlich-Gildhoff, K. & Hoffer, R. (2017). Methodische und methodologische Herausforderungen der Wirkungsforschung unter Praxisbedingungen in der Frühpädagogik – Lösungen jenseits des «Goldstandards». In I. Nentwig-Gesemann & K. Fröhlich-Gildhoff (Hrsg.), Forschung in der Frühpädagogik X. Zehn Jahre frühpädagogische Forschung – Bilanzierungen und Reflexionen (S. 209-228). Freiburg: FEL Fröhlich-Gildhoff, K., Nentwig-Gesemann, I. & Pietsch, S. (2014). Kompetenzentwicklung und Kompetenzerfas- sung in der Frühpädagogik. Konzepte und Methoden. Freiburg: FEL. Fröhlich-Gildhoff, K. & Rönnau-Böse, M. (2012). Prevention of exclusion: the promotion of resilience in early childhood institutions in disadvantaged areas. Journal of Public Health, 20 (2), 131-139. Honig, M-S. (2002). Perspektiven frühpädagogischer Forschung. Drei Beiträge zur Frühpädagogik. Arbeitspapiere des Zentrums für sozialpädagogische Forschung der Universität Trier. Arbeitspapier II – 01, Mai 2002. Trier. Nentwig-Gesemann, I. (2011). Ergebnisse der externen Evaluation. In K. Fröhlich-Gildhoff et al., Förderung der seelischen Gesundheit in Kitas für Kinder und Familien mit sozialen Benachteiligungen (S. 113-130). Freiburg: FEL. Otto, H. U. (2007). Zum aktuellen Diskurs um Ergebnis und Wirkung im Feld der Sozialpädagogik und Sozialarbeit – Literaturvergleich nationaler und internationaler Diskussion. Expertise im Auftrag Auftragsgemein- schaft für Kinder- und Jugendhilfe. AGJ. Berlin: Eigendruck der AGJ. Bezug: AGJ: www.agj.de Stockmann, R. (Hrsg.) (2006). Evaluationsforschung: Grundlagen und ausgewählte Forschungsfelder (Sozialwissenschaftliche Evaluationsforschung). Münster: Waxmann. Wirtz, M. A. (2014). Evidenzbasierung. In M. A. Wirtz (Hrsg.), Dorsch – Lexikon der Psychologie (18. Aufl., S. 536). Göttingen: Hogrefe. Prof. Dr. Klaus Fröhlich-Gildhoff Zentrum für Kinder- und Jugendforschung an der Evangelischen Hochschule Freiburg (ZfKJ) Bugginger Str. 38, 79114 Freiburg Tel. 01778126700 oder 0761-47812400 froehlich-gildhoff@eh-freiburg.de FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 2/2021
HFE im Wandel – neue Fachlichkeit 13 HFE im Kontext einer neuen Fachlichkeit Denkanstösse und Wahrnehmungen aus der Praxis Petra Ulshöfer Ein philosophischer Auftakt Wandel, ein sich langsam entwickelnder, in- zum Wandel als Bewegung dem dieser immer eine Geschichte fort- und umsetzt, Altes abgewandelt und in eine neue «Wandlung ist notwendig Richtung fokussiert wird (vgl. ebd.). Somit wie die Erneuerung der Blätter im Frühling» meint zur Lippe «Wandel hat viel mehr mit Vincent van Gogh Bewegung zu tun als mit der Forderung nach Neuheit». Gerade in der Frühlingszeit, wie es dieses Zi- Und diese Geschichte des beweglichen Wan- tat andeutet, wird das Thema des Wandels dels in der Heilpädagogischen Früherziehung besonders deutlich und augenscheinlich setzt sich tatsächlich fort. Dies wurde mir wie- drängt sich dieser in Form eines Wachstums der bewusst, als ich den Nachdruck des Jah- in den Vordergrund. Die Natur erwacht aus resberichtes von 1990/91 des Heilpädagogi- dem Winterschlaf mit dem Spriessen frischer schen Seminars Zürich durchblätterte. In grüner Blätter, den blumigen Frühlingsboten, diesem Bericht greift die damalige Freie Ar- den Sonnentagen. Auch wir entwickeln mit beitsgruppe Früherziehung Schweiz diese unseren körperlichen und geistigen Kräften Thematik mit dem Artikel «Früherziehung im eine Vielfalt an Ideen für neue Projekte und Wandel – Veränderungen des Aufgabenver- Lust auf Veränderung. Auf ein Verlangen nach ständnisses von 1968 bis heute» auf. Die da- immer Neuem als moderner, gesellschaftli- malige Diskussion zu Entwicklungen und dem cher Trend weist Rudolf zur Lippe, ein deut- scher Philosoph, in seinem Buch «Das Den- ken zum Tanzen bringen» hin. Das macht nachdenklich, denn dies würde ja bedeuten, dass alles Alte wertlos und unbrauchbar wäre und alles müsste «zumindest den Anschein der Neuheit aufweisen, um Anspruch und Gel- tung erheben zu können» (2011, S. 8). Den Wandel in dieser Auffassung zu denken, in- dem einfach Altes gegen Neues ausgetauscht wird, wäre geradezu impraktikabel. Vielmehr geht es um ein evolutionäres Verständnis von Abb.1 Eigenes Foto FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 2/2021
14 HFE im Wandel – neue Fachlichkeit Hinwenden zu einer neuen Richtung in unse- griffs durchaus gewinnbringend sein. Um bei rem Berufsfeld macht deutlich, dass der Ver- der Fachlichkeit zu bleiben, führt einen die änderungsbedarf unserer Arbeit sich keines- Recherche unter anderem in das Berufsfeld wegs erst mit aktuellen gesellschaftlichen der Sozialen Arbeit in dem dieser Begriff als Neuerungen und Erscheinungen wie Corona «eine Vielzahl von Wissensbeständen, Kom- etc. in unser Bewusstsein getreten ist. Der petenzen, Handlungspraxen und Haltungen Blick von heute auf die damaligen Auseinan- verstanden» wird (Businger & Biebricher, dersetzungen und «Rezepte» ist insofern auf- 2020, S. 10f.). Schon aus dieser ersten Defini- schlussreich, als doch einige Schwerpunkte tion wird deutlich, dass Fachlichkeit nicht nur und Themen in unserem Berufsfeld sozusagen auf den Erwerb von reinem Wissen reduziert beim «Alten» geblieben sind und es einzelne wird, sondern als Zusammenspiel von Fach- Akzentverschiebungen gibt, die den heutigen wissen, Können und Erfahrungen verstanden Diskurs immer noch oder wieder massgeblich werden muss. Heinrich Greving (2011) ergänzt bestimmen. in seiner Definition der heilpädagogischen Professionalität diese drei Elemente mit der Fachlichkeit und Professionalität – Intuition der beruflich handelnden Person, die Versuch einer begrifflichen Annäherung mir im Rahmen der Fachlichkeit der HFE Die Auseinandersetzung mit einer «Neuen wichtig erscheint (vgl. S. 18). Fachlichkeit», die einher geht mit dem Wandel in der HFE, bringt einen zwangsläufig dazu, sich erst einmal Fragen zur Bedeutung von Fachlichkeit im beruflichen Setting zu stellen: Was heisst Fachlichkeit überhaupt? Welche Kompetenzen braucht es für eine neue Fach- lichkeit und wie kann diese im beruflichen Alltag der HFE realisiert werden? Die Suche nach Begriffserklärungen zur Fach- lichkeit ist nicht so leicht, wie ich mir gedacht hatte, obwohl dieser in unserem beruflichen Kontext doch allgegenwärtig scheint. Um sich etwas heranzutasten, fallen bei der Durchsicht verschiedener Wörterbücher Ausdrücke wie Anforderung, Kompetenz, Eignung, Befähi- gung, Know-how, Qualifikation, Professiona- lität in den Blick. Gerade letzteres, die Profes- sionalität als «begründete und fachlich ge- konnte berufliche Handlung», (Greving, 2011, S. 18f.) wird in einigen Publikationen mit dem Terminus Fachlichkeit gleichgesetzt und kann Abb. 2 Definition von Fachlichkeit (Eigene daher für die Erfassung des Fachlichkeitsbe- Darstellung) FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 2/2021
HFE im Wandel – neue Fachlichkeit 15 Dem anzufügen ist, dass Professionalität nach Einführung des Buches «Innovation und Sys- dem socialnet Lexikon eine Bereitschaft zur tementwicklung in der Frühförderung» zu persönlichen Entwicklung im Sinne eines per- sprechen. Er zeigt in seinen Ausführungen sönlichen biografischen Prozesses beinhaltet, Beispiele im Kontext der Frühförderung auf, was zum Erwerb von Selbstbewusstsein und die unter Berücksichtigung aktueller Anliegen Sicherheit im beruflichen Handeln und in der von Gesellschaft und Politik wesentliche Ver- eigenen Rolle mit sich bringt. So kann durch- änderungen für das gesamte System der aus Fachlichkeit bzw. Professionalität nach Frühförderung mit sich bringen. Sohns spricht Greving (2011) «als persönliches Projekt» ana- in diesem Zusammenhang von einem Span- lysiert werden, indem nicht nur die Weiter- nungsfeld fachlicher Forderungen und der entwicklung der beruflichen Tätigkeiten be- Umsetzung in der Praxis. Dies erfordert eine rücksichtigt wird, sondern vielmehr auch die dementsprechende kontinuierliche Einstel- Balance zwischen den individuellen-subjekti- lung der Fachlichkeit auf die Veränderungen ven Personen im Einklang mit den gesell- der Umwelt (vgl. 2013, S. 15f.). Dieser Wandel schaftlichen Erwartungen beachtet werden führt zwangsläufig zu neuen Herausforderun- (vgl. S. 19). gen in vielerlei Hinsicht bezüglich unseres Professionalität als «Sinnbild von qualitativ Berufsauftrags bzw. an uns Fachpersonen der hochwertiger Arbeit» steht «im Kontext von Heilpädagogischen Früherziehung und somit berufstypischen Kompetenzen, über die der auf die Fachlichkeit, die mit den veränderten professionell Handelnde verfügt oder verfü- Anforderungen wächst. gen sollte» (ebd.). Hierbei scheint gerade ein Blick auf das Studium der Heilpädagogischen Was heisst das nun bezogen auf die Praxis Früherziehung interessant als Schlüsselstelle der Heilpädagogischen Früherziehung? von Fachlichkeit bzw. Professionalität. Eine Veränderung zu einer neuen Fachlichkeit hin- In den nachfolgenden Ausführungen werde sichtlich dieser berufstypischen Kompetenzen ich diesbezüglich die Gedanken und Überle- wird in den Ausführungen der neuen Broschü- gungen aus der eigenen Praxis reflektieren. re des «Kompetenzprofils Heilpädagogische Dazu möchte ich darauf hinweisen, dass die- Früherziehung» der Interkantonalen Hoch- se lediglich meine persönlichen Erfahrungen schule für Heilpädagogik (HfH) zu ihrem neu- widerspiegeln und durchaus nicht als allge- en Curriculum des Masterstudiengangs Heil- meingültige Erkenntnisse in repräsentativer pädagogische Früherziehung angesprochen. Hinsicht zu sehen sind. Ich möchte auch an- Ein Blick hineinzuwerfen ist durchaus interes- merken, dass die einzelnen Aspekte des Wan- sant, zu sehen, wie bereits im Studium, als dels der HFE und demensprechende Verän- «fachlicher Nährboden» sozusagen, sich neue derung auf die Fachlichkeit, die in diesem Trends abzeichnen. Beitrag diskutiert werden, durchaus nicht als abschliessende und vollständige Abhandlung Neue Fachlichkeit in der HFE betrachtet werden können, sondern vielmehr Auf die neue Fachlichkeit im Berufsfeld der Denkanstösse für einen fachlichen Diskurs Frühförderung kommt Armin Sohns in der liefern. FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 2/2021
16 HFE im Wandel – neue Fachlichkeit Trendmap einer neuen Fachlichkeit habe ich lange Zeit den Aspekt des Wandels in der HFE auf Ebene der Fachperson selbst, als vierten Die «Neue Fachlichkeit», resultierend aus Ver- Punkt miteinbezogen, aber wieder verworfen, änderungen aktueller Herausforderungen in da er mir darin nicht passend schien. Dies aus der Praxis der HFE, kann aus mehreren Blick- einem Grund: Alle drei dargestellten Ebenen winkeln nachgezeichnet werden und sie be- betreffen Veränderungen, die von aussen ge- zieht sich aus meiner Sicht, auf drei relevante steuert sind, durch verschiedenste Einflüsse Ebenen. Die Grafik fokussiert weniger auf eine und Entwicklungen, die sich im umfassenden historische Sicht der Veränderungen, vielmehr gesellschaftlichen Kontext im Laufe der Zeit wird auf aktuelle Themen eingegangen, die so gewandelt haben. Auf diese können wir als aus Beobachtungen der Praxis hergeleitet Fachpersonen nur punktuell einwirken. Aber sind. Die Form dieser «Trendmap», als eine wir können durch persönliche und fachliche Art zukunftsorientiertes Entwicklungsbild, fin- Weiterentwicklung bzw. Stärkung darauf re- de ich insofern sinnvoll, da sie sowohl die agieren und zusammen mit der Transformati- aktuelle Situation der HFE mit der Positionie- on der inneren Haltung eine wichtige Grund- rung von Trends abbildet und darin die Ak- lage schaffen, um diesem veränderten beruf- zentverschiebungen durch gesellschaftliche lichen Kontext zu begegnen. Wandlungsprozesse hinsichtlich der Fachlich- keit aufzeigt. Diesen Aspekt möchte ich aufgreifen und - ganz im Sinne der Zeit – «Take-Away»-Denk- Impulse auf dem Weg zu einer «neuen» anstösse aus der eigenen Praxis im Sinne ei- Fachlichkeit nes frischen, modernen «Spirits» mitgeben: Die vorangegangene «Trendmap» macht zwei- erlei deutlich. Zum einen, welche Vielfalt an • Achtsamkeit vor Entgrenzung: Entgren- Herausforderungen und Aufgabenstellungen zung meint eine Vereinnahmung des Alltags an die Praxis der HFE gestellt werden und durch die Arbeit und ist bezogen auf die zum anderen zeigt sie eine deutliche Entwick- Aufhebung der Grenzen des Arbeits- und lungstendenz für unser Berufsfeld auf. Was Privatlebens in Bezug auf Raum, Zeit, Ar- meiner Ansicht nach in dieser Zusammenstel- beitsinhalt, Sozialorganisation usw. Dies lung fehlt, sind Aspekte des Wandels auf Ebe- häufig hervorgerufen durch die beschleu- ne der Fachperson selbst, da der Umgang mit nigten Digitalisierungsprozesse, die es er- den sich wandelnden Bedingungen nicht nur möglichen, ausserhalb der regulären Ar- für das Klientel grosse Unsicherheit mit sich beitszeit immer und überall tätig und er- bringt, sondern auch für unsere eigene Per- reichbar zu sein. Dies macht sich auch in sönlichkeit und berufliche Identität als Fach- unserem Berufsfeld bemerkbar. Schnell personen. Wir bewegen uns im Kontext der wird ein Termin bei einem Kind per Whats- erwähnten, wachsenden Ansprüche und der App kurz vorher abgesagt, es erreicht uns Veränderungen in einem zunehmend an- ein Mail von einer Familie am Wochenende, spruchsvolleren, diffuseren und unvertrauten das dringende Bearbeitung verlangt, Eltern, Terrain. Bei der Erstellung dieser «Trendmap» die lieber 3 als nur 1 Stunde HFE pro Woche FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 2/2021
HFE im Wandel – neue Fachlichkeit 17 Wandel Zielgruppe Wandel Zielgruppe Wandel der Rahmen- und Trendmap: Ebene Kind Ebene Eltern/Familie Arbeitsbedingungen Ebene Berufsfeld HFE Tendenzieller Rückgang Veränderung der «Kundenbedürfnisse» Steigende fachliche «klassischer» Behinderungen dafür mit steigenden Ansprüchen, fordernde Anforderungen aufgrund mehr Anmeldungen von diffusen, Anliegen gesellschaftlicher Veränderungen unklaren Verhaltensauffälligkeiten - strukturelle Veränderungen, Klarere Vorstellung von Zielen und ändernde Arbeitsbedingungen Anstieg von Anmeldungen von Inhalten der Förderung – daher Kindern mit: gemeinsame Zielformulierung erschwert, Höhere Anmeldezahlen (nicht erst • diffusen, nicht klaren häufiger Dysbalance in den seit Corona) dadurch Wartelisten Verhaltensauffälligkeiten Zielsetzungen Eltern und HFE oder Aufnahme von Kindern über • mit diagnostizierter ASS oder die eigenen Ressourcen, erhärtetem Verdacht darauf Enormer Förderdruck der Eltern, Zeitbudget hinaus – führt zu • mit «autismusähnlichen» schneller, möglichst viel, Nichts übervollen Stundenplänen, Verhaltensweisen im Kontext verpassen wollen– sensibles Zeitfenster weniger hoch frequentierte von schweren der frühen Jahre soll genutzt werden Förderung möglich, Wahrnehmungsbeeinträchtigu ngen Selbstbewusstere Eltern: Forderung für mehr Flexibilität • mit massiven • Wahrnehmen ihrer Rolle als steigt Problemstellungen in der Auftraggeber emotionalen Regulation Differenzierte Auftragsklärung rückt Veränderung Fördersetting Kita • mit einer erhöhten daher mehr in den Vordergrund statt Hausbesuch – Verschiebung Schwierigkeit in der sozialen • Wahrnehmung ihres Rechts der der Örtlichkeit der HFE Anpassung, Interaktion und freien Wahl einer geeigneten HFE für Bindung ihr Kind - Selbstbestimmte Suche – Kostendruck und • mit diffusen Angststörungen weniger Akzeptanz für direkt Sparmassnahmen von Seiten der • mit Schlaf- und Ess-Störungen «zugewiesene» HFE von der Finanzgeber haben Auswirkungen Fachstelle auf die Versorgungslage: Bedarf nach spezifischen Fördergruppen steigt – oftmals ist Aber auch Überforderte, unsichere Eltern • Reduktion Förderstunden vs. die Suche nach einem geeigneten im Umgang mit dem Kind, – Diskrepanz Bedarf nach Kitaplatz durch die Erziehungsfragen intensiverer Unterstützung Verhaltensproblematik erschwert • Kürzung der Altersspanne – Komplexere Familiensysteme - HFE nur noch bis Hoch belastete Eltern Kindergarten (Kanton Zürich) Vereinbarkeit Beruf, Akzeptanz Behinderung, Administrationsaufwand höher Einschränkungen durch eigene schwere Erkrankungen z. B. Depression, Digitalisierung: Erschöpfungszustände • bringt Erweiterung des knappe, finanzielle Ressourcen Angebots • erhöhte Flexibilität Erschwerte Zusammenarbeit: • gewährleistet • Wahrnehmung der HFE als Erreichbarkeit z. B. in Dienstleistung nur für ihr Kind – Krisenzeiten Förderung ist Job der HFE, Eltern • leistet jedoch keinen wollen nichts damit zu tun haben Ersatz für direkten • Hohe Berufstätigkeit beider Eltern – Kontakt – Beziehung zu Kind 5 Tage Kita, daher Kind und Familie Erreichbarkeit, gemeinsamer Prozess mit den Eltern schwierig 14 FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 2/2021
18 HFE im Wandel – neue Fachlichkeit wünschen, Eltern, die fast in Panik geraten, haften persönlichen Prozess zu entwickeln wenn man eine Woche in Ferien ist und das und optimieren gilt. Hierbei geht es nicht Kind daher die wertvollen Inputs verpasst um die Entwicklung von neuen Strukturen oder was mir in diesem Zusammenhang in oder Methoden, sondern um ein Umdenken der Praxis begegnet ist, dass eine Familie an sich in einer Abstimmung mit unseren mit einem Kind mit ASS von mir verlangte, eigenen Grundhaltungen und mit einer Of- ich könnte doch die ABA-Therapie des Kin- fenheit für neue Sichtweisen, Werte und des auch noch gerade in die HFE miteinbe- Prinzipien. ziehen, so hätte das Kind doch jeden Tag Vollprogramm-HFE – alles nach dem Mot- • Changekompetenz: Im beruflichen Kontext to «HFE – grenzenlos». Was es hier braucht, bezieht sich das Changemanagement auf um dem Risiko einer Überforderung vorzu- Massnahmen und Prozesse, die dem Ziel beugen, ist eine bewusste Achtsamkeit und dienen, Abläufe zu verändern. Wie bereits Respekt seinen Grenzen gegenüber und schon angedeutet, sind wir in unserer Arbeit diese, das ist in der Praxis wahrlich oft nicht ständig wechselnden Situationen ausge- leicht, auch vor den Eltern selbstbewusst zu setzt. Kein Tag gleicht dem anderen, keine vertreten. Familie ist wie die andere. In unserem Beruf können mit eingeschliffenen Abläufen kaum • Agiles Mindset: Agilität ist in aller Munde Ziele erreicht werden. Daher gilt es, sich und es gibt viele Definitionen dafür, ein immer wieder neu zu organisieren, die Ar- Konsens ist jedoch, Agilität als Flexibilität beitsweise der jeweiligen Situation anzu- oder wörtlich übersetzt als Wendigkeit zu passen und vor allem auch eine hohe Be- verstehen. Nun sind diese beiden Begriffe reitschaft zur Veränderung zu zeigen. Dass in unserem Berufsfeld durchaus nichts Neu- Veränderungen durchaus auch Chancen es, sondern gehören quasi zum Standard. beinhalten, im Sinne eines CHANGE = Tagtäglich sind wir in der Heilpädagogi- CHANCE. Es geht darum, dass wir eine schen Früherziehung damit konfrontiert in «neue Fähigkeit», die «Changekompetenz» unserer Arbeit flexibel zu sein und uns wen- erwerben bzw. weiterentwickeln, um die dig auf die Rahmenbedingungen der Fami- äusseren Veränderungen positiv annehmen lie, auf die aktuelle Situation des Kindes zu können. oder die plötzliche Änderung des Settings anzupassen. Agiles Arbeiten verlangt ein • Entschleunigung: Steigt der Druck, lohnt es hohes Mass an Eigenverantwortung und sich langsamer zu werden, ganz nach dem kritischer Reflexionsfähigkeit. In unserer Ar- japanischen Sprichwort «Wenn Du es eilig beit treffen wir eine grosse Vielfalt an Situ- hast, gehe langsam». Dieses Prinzip, einen ationen an und sind darin konfrontiert mit Gang zurückzuschalten, bewährt sich im- unterschiedlichen Sichtweisen, Werten und mer mehr in unserem Arbeitsalltag, vor al- Vorstellungen. Um sich mit diesen Heraus- lem bei Kindern, die dermassen überfordert forderungen auseinanderzusetzen, braucht sind von Seiten ihres Umfeldes, das mög- es ein «agiles Mindset», das es als dauer- lichst viel, möglichst schnell das Kind för- FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 2/2021
HFE im Wandel – neue Fachlichkeit 19 dern möchte und dabei zu übersehen werden, reicht aus meiner Erfahrung her- scheint, dass es oftmals förderlicher wäre aus, das «Rüstzeug», das in Form von Fach- langsamer zu werden, sich zurück zu neh- wissen und Methoden in der Ausbildung men und dem Kind Zeit bzw. Raum zum weitergegeben wurde, oft nicht aus. Es Entfalten zu geben. Dazu kommt mir ein braucht vielmehr ein kontinuierliches Up- Mädchen in den Sinn, deren Eltern völlig date an fundiertem Fachwissen und prakti- unter Druck stehen, ihrem Kind, mit dem schen Methoden, das auf aktuellen Er- Fokus das Beste zu wollen, eine möglichst kenntnissen aus der Forschung und Praxis umfassende Förderung mit vielen verschie- beruht, um so auf einer evidenzbasierten denen Unterstützungsangeboten anzubie- Grundlage professionell handeln zu können. ten. Die Mutter selbst unterstützt das Kind Vor allem im ASS Bereich ist eine fundierte, zuhause mit einem ausgearbeiteten «För- umfassende Weiterbildung enorm gewinn- derprogramm», das täglich stattfindet. Und bringend, um neben dem praktischen Er- selbst ich als HFE liess mich von diesem fahrungswissen, das man sich im Laufe der «Drive» der Eltern anstecken. Dem Mäd- Zeit angeeignet hat, einen kontinuierlichen, chen merkte man schnell an, dass ihr alles fachlichen Hintergrund zu schaffen, die ei- zu viel wurde und zu schnell ging. Sie be- genen Kompetenzen auszubauen, um das gann zu schlagen, an den Haaren zu ziehen Kind wie auch die Eltern adäquat begleiten und war völlig blockiert. Nach mehreren zu können. Gesprächen mit den Eltern wurde das enor- me Programm heruntergeschraubt und • «Out of the box» – Denken: Damit ist nicht auch ich habe in der HFE wie einen «Reset» der Einbezug neuer Methoden gemeint, gemacht und mich ganz auf den Flow des sondern ein neues Denken über den eige- Kindes, auf sein Tempo und auf seine Inte- nen Auftrag und die Grenzen hinaus. Dazu ressen eingelassen. Mit der Zeit hat sich die ein kleines Fallbeispiel, das diesen Aspekt Situation entspannt und es war wieder näher verdeutlicht. Anina (Name geändert), möglich mit dem Mädchen in freudvolle ein knapp 2-jähriges Mädchen, bei dem ein Spielinteraktionen zu kommen. Neben die- starker Verdacht auf ASS bestand, zeigte sem Beispiel merke ich immer wieder in der deutliche Auffälligkeiten sowohl in der so- Praxis, wie wichtig es bei vielen Kindern ist, zialen Interaktion, Kommunikation und im das Tempo zu drosseln, sich bewusst zu- Spielverhalten. Was den Eltern im Alltag rück zu nehmen, zu beobachten und vor besonders Sorge bereitet, sind das proble- allem den Eltern in dieser Hinsicht ein Vor- matische, sehr eingeschränkte Essverhalten bild zu sein. – meist ernährt sie sich nur von Milch- schnitten – und extreme Schlafprobleme • Erweiterung der Hard und Soft Skills: Um mit starkem Weinen und einer maximalen der enormen Vielfalt an Problemstellungen Durchschlafzeit von 1–2 Stunden am Stück. und vor allem wenig klar definierten Formen Mit letzterem Thema, der Schlafstörungen, der Verhaltensbeeinträchtigungen von Kin- wurde mit den Eltern zusammen mit ver- dern im beruflichen Handeln gerecht zu schiedensten Möglichkeiten aus meiner FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 2/2021
20 HFE im Wandel – neue Fachlichkeit Methodenkiste, wie z. B. Schlafprotokoll, sammenhang könnte es ergänzend durch- Einführung von Ritualen, Veränderung der aus hilfreich sein, sich von Zeit zu Zeit Schlafsituation usw., probiert, die Situation selbst zu reflektieren, um Rückschau zu zu verbessern, was alles wenig brachte. halten, über sich Nachzudenken und die Auch eine medikamentöse Unterstützung Sicht auf das eigene Handeln zu legen, um zeigte sich erfolglos. Nach vielen Gesprä- so Grenzen zu erfassen und Ansatzpunkte chen mit den Eltern, auf der Suche nach für Veränderungen zu finden. Hypothesen und differenzierten Analysen des Problems, wurde deutlich, dass das Abschliessende Gedanken Schlafproblem nur im Elternhaus besteht. Mit den Ausführungen des Beitrags und vor So begann ich mit den Eltern, im familiären allem mit der Betrachtung der sieben Impulse Umfeld weitere Verursachermöglichkeiten ist es weniger die Absicht, wesentliche Neu- zu suchen, wie Wasseradern, Erdstrahlen heiten zu vermitteln, sondern eher bedeutsa- usw. bis mir die Idee kam, die Eltern anzu- me Aspekte, die es für eine Fachlichkeit in regen, sämtliche Spiegel im Schlafzimmer unserem wandelnden Berufskontext braucht, abzudecken oder zu entfernen und das bewusst zu machen. Damit möchte ich zum überdimensionale Mobile über dem Bett Nachdenken und zu einem fachlichen Diskurs abzuhängen, um dem Mädchen die mögli- anregen. Anhand der sieben Impulse, die sich che Angst davor zu nehmen. Das wurde von an den Trends der modernen Arbeitswelt ori- den Eltern umgesetzt und ab dieser Nacht entieren, wird deutlich, wie zeitgemäss die schlief das Mädchen mehrere Stunden am Grundpfeiler der HFE bereits ausgerichtet sind Stück durch, war fröhlicher, begann wieder und wie von Zeit zu Zeit ein frisches Update einzelne Sachen zu essen und zunehmend gewinnbringend sein könnte. entspannte sich die Situation. Was ich mit Um abschliessend nochmal das eingangs ver- dem Beispiel aufzeigen möchte ist, dass es wendete Zitat von Vincent van Gogh aufzu- sich lohnt manchmal über die Grenzen des greifen, wird klar, dass Wandel etwas Not- eigenen Methoden- und Handlungsreper- wendiges und an sich Unabwendbares ist. Der toires hinauszudenken, um so gemeinsam Wandel hat durchaus seine positive Seite, mit dem Umfeld eine mögliche Lösung zu indem er uns zwingt, in persönlicher wie be- finden. ruflicher Hinsicht, die eigene Komfortzone zu verlassen, neugierig zu bleiben und Mut zu • Selbstmanagement: Dies bedeutet, sich fassen, Unbekanntes zu entdecken, um somit nicht nur die (Arbeits)zeit gut einzuteilen, neuen Möglichkeiten Raum für eine kontinu- sondern sich selbst zu motivieren, sich ierliche Weiterentwicklung schaffen zu kön- selbst kurz- und langfristige Ziele zu setzen, nen. eigene Strategien im Umgang mit den be- ruflichen Herausforderungen zu entwickeln, eigene Leistungsfähigkeit realistisch einzu- schätzen und Verantwortung gegenüber sich selbst zu übernehmen. In diesem Zu- FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 2/2021
HFE im Wandel – neue Fachlichkeit 21 Literatur Businger, S. & Biebricher, M. (2020). Sozialer Wandel und Fachlichkeit in Sozialpädagogik. In S. Businger & M. Biebricher. Von der Paternalistischen Fürsorge zu Partizipation und Agency. Zürich: Chronos Greving, H. (2011). Heilpädagogische Professionalität. Eine Orientierung. Kohlhammer: Stuttgart. Sohns, A. (2013). Einführung. In B. Maelicke, R. Fretschner, N. Köhler & F. Frei. Innovation und Systementwicklung in der Frühförderung. Wiesbaden: Springer Fachmedien. Freie Arbeitsgruppe Früherziehung Schweiz (1990). Früherziehung im Wandel. Zürich. Zur Lippe, R. (2011). Das Denken zum Tanzen bringen. Philosophie des Wandels und der Bewegung. Freiburg i. Breisgau: Karl Alber. Petra Ulshöfer Heilpädagogin MA Erziehungswissenschaftlerin Msc praxis 67, Zürich praxis67.ulshoefer@hin.ch FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 2/2021
22 HFE im Wandel – neue Fachlichkeit Heilpädagogische Früherziehung im Wandel Ein Blick auf das «Damals», «Heute» und «Übermorgen» Gedankenkarussell zum Feld der Heilpädagogischen Früherziehung in den letzten vier Jahrzehnten Der Titel dieser Ausgabe: «Heilpädagogi- de Geschäftsleiterin und Bereichsleiterin Heil- sche Früherziehung im Wandel», lädt dazu pädagogische Früherziehung. Ebenso war ich ein, den Blick ins Feld zu wenden und die über viele Jahre gleichzeitig in der Berufspo- langjährigen Erfahrungen, Veränderungen litik aktiv (Vorstand BVF, Vorstand SZH, Ge- und Erfolge aufzugreifen und sichtbar wer- schäftsleiterin BVF). Vom Virus HFE ange- den zu lassen. Dazu berichten drei Berufs- steckt wurde ich durch Jörg Grond, dem frauen der Heilpädagogischen Früherzie- damaligen Leiter der Nachdiplomspezialisie- hung über den Wandel der Heilpädago- rung HFE am Heilpädagogischen Seminar gischen Früherziehung in ihrer Berufslauf- Zürich, heute HfH. Privat bin ich verheiratet bahn während gut 35 Jahren. Ein spannen- und Mutter von zwei erwachsenen Söhnen. des Stück Geschichte, das uns hier aufge- zeigt wird. Wer sind diese drei Berufsfrauen? Elisabeth 1991 stieg ich als Früherzieherin mit kleinem Pensum bei der Heilpädagogischen Frühbe- Brigitte ratung Winterthur, Andelfingen und Illnau-Ef- fretikon ein. Ausschlaggebend für die Berufs- Beruflich bin ich seit 1988 im Kanton Zug in wahl war ein Filmportrait über HFE am dama- der HFE tätig. Dies zunächst am HPD, dann ligen HPS. Die im Engadin tätige Früherziehe- freiberuflich in einem Zusammenschluss von rin bewältigte den Weg zu den Familien auf vier Früherzieher*innen. Seit 2008 bin ich Skiern. Dies hat mich sehr beeindruckt. Leider wieder zurück am HPD. Dort zunächst ange- konnte ich dieses «Transportmittel» nie ein- stellt als stellvertretende Leiterin, nach der setzen. Die Berufswahl habe ich trotzdem nie Umstrukturierung von 2020 als stellvertreten- bereut! FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 2/2021
HFE im Wandel – neue Fachlichkeit 23 Neben meiner Berufstätigkeit als HFE war ich Kinder mit ASS und für Kinder mit kognitiven von 2001 – 2004 an der Initiierung des Pilot- Beeinträchtigungen). projektes «Heilpädagogische Unterstützung, Förderung und Beratung im Kindergarten» in Wie hat sich ein Arbeitstag «Damals» zu Zusammenarbeit mit der Bildungsdirektion einem Arbeitstag «Heute» verändert? massgeblich beteiligt. Ab 2008 übernahm ich die Geschäftsleitung des Frühberatungsdiens- Brigitte: Von «damals» zu «heute» gab es eine tes Winterthur. Privat bin ich verheiratet und kontinuierliche Entwicklung. Zu Beginn war Mutter von zwei erwachsenen Söhnen. die Heilpädagogische Früherziehung (HFE) noch stark auf geistigbehinderte Kinder (da- malige Bezeichnung) ausgerichtet. Die Diens- te wurden ja grossmehrheitlich auch von El- tern geistigbehinderter Kinder initiiert/aufge- baut. Schon damals wurden im Kanton Zug 4-5 Familien pro Tag begleitet. Die Vor- und Nachbereitung erfolgten handschriftlich. Die schriftliche Vorbereitung der Stunde bezog Silvia sich in der Regel hauptsächlich auf Tätigkeiten mit dem Kind. Die Zusammenarbeit mit den 1985 war mein beruflicher Einstieg als eine Eltern betraf hauptsächlich den Prozess der von fünf Heilpädagogischen Früherzieher*in- Akzeptanz der Behinderung des Kindes oder nen in der damaligen Heilpädagogischen Be- er ergab sich aus der Situation – ausser die ratungs- und Behandlungsstelle in Luzern. Ab Früherzieherin liess sich vom damaligen Den- 1990 arbeitete ich zusätzlich in einem kleinen ken der Machbarkeit leiten. Dieses Denken Pensum als Stellenleiterin, später dann mit führte zu Eltern als Co-Therapeuten, die wäh- grösserem Leitungsumfang als Co-Geschäfts- rend der Woche täglich Übungen mit dem leiterin bis zur Kantonalisierung des HFD im Kind machen mussten. Doch schon nach we- Jahre 2013. Danach übernahm ich die Leitung nigen Jahren wurde das Co-Therapeutentum des HFD mit über 60 Mitarbeitenden, der ei- durch Partnerschaftlichkeit abgelöst. ne kantonale Abteilung innerhalb der Dienst- Die Wochen waren früher fast austauschbar. stelle Volksschulbildung wurde und drei Termine mussten kaum verschoben werden. Zweigstellen, ein Tagesangebot sowie das Regelmässigen Austausch mit Fachpersonen Projekt KITAplus umfasste. Von 2016 bis zu gab es am häufigsten mit Physiotherapeut*in- meiner Pensionierung 2020 entwickelte sich nen (bei mehrfachbehinderten Kindern). Es daraus die Fachstelle für Früherziehung und gab viel weniger Anlass für Interdisziplinarität, Sinnesbehinderungen, ein kantonales Kom- denn die Kinder mit geistiger Behinderung petenzzentrum für Heilpädagogische Früher- waren noch selten in Kitas oder Spielgruppen, ziehung und Integrierte Sonderschulung (ne- es gab viel weniger Kinder aus Migrationsfa- ben HFE Fachstellen für Audio- und Visiopä- milien (und wenn, dann waren es häufig Fa- dagogik sowie integrative Fachdienste für milien, mit denen italienisch gesprochen wer- FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 2/2021
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