Michael Vassiliadis Vorsitzender der IG BCE - Jahrespressekonferenz 2020 der IG BCE - Presseportal
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Jahrespressekonferenz 2020 der IG BCE 13. Januar, Hannover Statement Michael Vassiliadis Vorsitzender der IG BCE Es gilt das gesprochene Wort! Bitte beachten Sie die Sperrfrist: Dienstag, 14.1.2020, 10:00 Uhr
Meine Damen und Herren, auch von meiner Seite ein herzliches Willkommen hier bei uns in Hannover und alles Beste für das noch junge neue Jahr. Ob es wirtschaftlich die Rückkehr auf den Wachstumspfad bringt, von dem Deutschland ein Jahrzehnt lang profitiert hat, steht in den Sternen. Dazu sind gerade in der Weltpolitik die Signale noch zu unterschiedlich. 2020 markiert eine entscheidende Wegmarke. Wir stehen inmitten einer Zeitenwende, getrie- ben durch Digitalisierung, Globalisierung und Klimapolitik. Welch gewaltige Herausforderun- gen das für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft noch mit sich bringen wird, spielt in der aktu- ellen öffentlichen Diskussion bislang kaum eine Rolle. Ohne wirtschaftliche Stärke wird es kaum möglich sein, die Transformation der Industriege- sellschaft ohne Brüche zu bewältigen. Wir werden sie auch nicht organisieren, indem wir uns immer neue, noch ambitioniertere Ziele geben – ohne Pläne für deren Erreichung zu haben. Nur auf den „Man on the Moon“-Effekt zu vertrauen, ist uns jedenfalls zu wenig. Die IG BCE will Treiberin einer realistischen Transformation sein – und deshalb umfassend vorbereitet sein. Sie soll Antworten geben können auf völlig neue Fragen – und damit für ihre Mitglieder Garant für den Ausgleich von sozialen, ökonomischen und ökologischen Positio- nen bleiben. Weil sich nur treu bleibt, wer sich verändert. Deshalb haben wir den Strategieprozess „Perspektiven 2030+“ gestartet, der auf dem 7. Ge- werkschaftskongress der IG BCE 2021 in neue industrie-, tarif- und organisationspolitische Leitbilder münden wird. Wir möchten Sie in den nächsten Minuten gern mitnehmen auf unsere Reise in die Zukunft. Nicht, weil wir Sie mit gewerkschaftlicher Nabelschau behelligen wollten. Sondern, weil die Herausforderungen und Zukunftsszenarien des kommenden Jahrzehnts (und darüber hin- aus) uns alle angehen. Und weil wir alle darauf heute nur bedingt vorbereitet sind. Wir haben in den vergangenen Monaten in einem aufwendigen Prozess mit Befragungen, Analysen, Interviews und Workshops unter Beteiligung Hunderter Branchenfachleute, Wis- senschaftler und Funktionäre Szenarien für die Entwicklung des Landes entwickelt. Flankiert wurde das Ganze durch eine Umfrage unter mehr als 17.000 IG-BCE-Mitgliedern und anderen Beschäftigten aus unseren Branchen – von der Anilin- bis zur Zellstoffproduk- tion. Beides möchte ich Ihnen kurz vorstellen. W I R B A U E N V O R: U N S E R E Z U K U N F T S S Z E N A R I E N Im Szenarioprozess (Seite 2) kristallisierten sich schnell zwei für unsere Branchen zentrale Entwicklungspfade heraus, die das hier gezeigte Koordinatenkreuz abbildet. Einerseits: Wie stark wird sich die Industrie wandeln? Eher unter dem heutigen Primat von Wachstum und Wettbewerb? Oder wird der ökologische Druck einen Systemwechsel not- wendig machen?
Und auf der X-Achse: Wie entwickelt sich unsere auf Erwerbsarbeit basierende Gesellschaft? Eher in Richtung Zusammenhalt oder in Richtung Fragmentierung? Daraus haben wir vier Zukunftsszenarien entwickelt, zu denen Sie viele Details in Ihren Un- terlagen finden. Ich will mich deshalb dazu kurzfassen. Szenario 1 (Seite 3) heißt „Unter Druck“. Hier gerät Deutschland immer stärker in die Zange globalen Wettbewerbs, auch weil es an Innovationskraft verloren und zu wenig in die Moder- nisierung des Standorts investiert hat. Unternehmen werden zu Übernahmekandidaten, Spar- programme und Digitalisierung lassen mehr alte Jobs verschwinden als neue entstehen. Der Anteil gewerkschaftlich organisierter, tariflich abgesicherter und gut bezahlter Arbeitnehmer sinkt. Und Gewerkschaften stehen vor der Herausforderung, immer mehr an Drittfirmen aus- gegliederte oder in Leiharbeit und Werksverträgen Beschäftigte zu organisieren. Im zweiten Szenario – „Smartes Wachstum“ – (Seite 4) hat Deutschland seine Innovations- chancen genutzt und die klimagerechte Transformation des Industriestandorts mit Technolo- gieführerschaft verbinden können. Investitionsstaus etwa in der öffentlichen Infrastruktur wur- den aufgelöst. Die Industrie ruft nach hochqualifizierten Fachkräften, die Belegschaften wer- den tendenziell jünger, weiblicher, besser ausgebildet und internationaler. Damit verändert sich auch die potenzielle Mitgliederbasis der Gewerkschaften. Und ihr Arbeitsschwerpunkt: Tarifpolitik wird facettenreicher, regelt weit mehr als nur das Lohnplus. In Szenario 3 (Seite 5) – „Neuland“ – haben viele Staaten in der Klimapolitik ihrer Wirtschaft einen sozial-ökologischen Transformationskurs verschrieben. Geschäftsmodelle, die sich nicht umweltgerecht realisieren lassen, geraten ins Abseits – und damit Hunderttausende Jobs in Gefahr. Gewerkschaften müssen dafür sorgen, dass dieser Wandel sozial abgefedert wird und kein Beschäftigter „ins Bergfreie“ fällt. Wichtiger wird zudem die internationale Zu- sammenarbeit der Gewerkschaften, da auch die Herausforderungen global sind. In Szenario 4 (Seite 6) schließlich ist Deutschland über zu schwache und unklare Problemlö- sungsversuche in eine tiefe Krise geraten. Weder ist die ökologische Wende, noch eine nach- haltige technologische Transformation der Industrie gelungen. Unternehmen haben kriselnde Geschäftsbereiche abgestoßen, die Arbeitslosigkeit ist auf Rekordniveau gestiegen. Die Ge- sellschaft ist tief gespalten, das Vertrauen in die etablierten Parteien und Institutionen massiv beschädigt. Aus der Mitte der Zivilgesellschaft entstehen neue Initiativen mit vermeintlich „einfachen Antworten“ auf große Herausforderungen. In diesem „Tohuwabohu“ – so haben wir das Szenario überschrieben – müssen Gewerkschaften ihre Rolle komplett neu definie- ren. UMFRAGE Parallel zum Szenarioprozess haben wir unter unseren Mitgliedern eine groß angelegte Um- frage durchgeführt, in der wir unter anderem lernen wollten, wie sie auf die Transformation in ihren Branchen blicken, welche Sorgen und Hoffnungen sie damit verbinden und was sie sich von ihrer Gewerkschaft erhoffen. Die Ergebnisse zeigen, dass die Unsicherheit groß ist.
Beginnen wir mit dem Themenfeld Digitalisierung (Seite 7). Hier glaubt eine deutliche Mehr- heit, dass dadurch in ihrer Branche mehr Arbeitsplätze wegfallen als neue geschaffen wer- den. Auffallend ist allerdings die große Zahl der Unentschlossenen. Fast jeder dritte Befragte traut sich zu dieser Frage keine Antwort zu. Übrigens sind Akademiker und Beschäftigte in der Verwaltung in der Frage ein wenig opti- mistischer als der Durchschnitt, während vor allem Beschäftigte ohne Berufsabschluss und Schichtarbeiter die Digitalisierung eher als Jobkiller sehen. Beim Blick auf die Branchen zei- gen sich Pharma- und Energiesektor optimistischer, Beschäftigte in der Papier- und Kaut- schukindustrie pessimistischer. Gespalten (Seite 8) zeigen sich die Beschäftigten bei der Frage, ob Digitalisierung eher den Arbeitsalltag erleichtert oder die Arbeitsbelastung erhöht. Vor allem die Jüngeren und die Verwaltungsbeschäftigten sehen eher den Entlastungsfaktor, während Meister und Außen- dienstleister die Arbeitsverdichtung betonen. Nach Branchen blicken Beschäftigte bei den Labordienstleistern und in der Kunststoffindust- rie eher optimistisch auf das Thema, Arbeitnehmer im Mineralöl- und Papierbereich eher pes- simistisch. Auch die Frage, ob stärkere Anstrengungen beim Klimaschutz für ihre Branche eher Chance oder eher Risiko bedeuten, hinterlässt die Beschäftigten tief gespalten (Seite 9). Optimistisch und Pessimisten liegen nahezu gleichauf – und jeder Fünfte traut sich dazu gar keine Mei- nung zu. Natürlich gibt es hier deutliche Unterschiede mit Blick auf die Branchen: Wer kaum von Kli- maschutz tangiert wird wie Pharmabranche und Labordienstleister, verfolgt die Diskussion natürlich entspannter als etwa die Beschäftigten aus dem Braunkohlen-Bergbau, die das Aus für ihre Branche klar vor Augen haben. Wesentlich eindeutiger (Seite 10) ist da die Stimmungslage mit Blick auf die Rolle der Unter- nehmen. Zwei von drei Befragten fordern, dass sie stärker in die Pflicht genommen werden müssen, einen Beitrag zum Klimaschutz zu leisten. Nur jeder Vierte sieht sie durch die Auf- lagen zu stark belastet. Das deckt sich mit unserer Position: Wir fordern von den Unternehmen seit Jahren, jetzt vor- zusorgen für treibhausgasneutrale Produkte und Produktionsverfahren. Und vor allem: Dass klimagerechte Modernisierung zuerst an inländischen Standorten stattzufinden hat. Bestätigt sehen wir uns deshalb auch durch die Frage zur Rolle der Gewerkschaften in der Transformation (Seite 11). Sie sollen bei Unternehmen und Politik darauf drängen, dass diese die Herausforderungen durch Digitalisierung und Klimaschutz aktiver angehen, sagt die Mehrheit der Befragten. Genau das tun wir. Doch dazu später mehr. Zunächst einmal gibt uns die Befragung kräftige Rückendeckung: Den Industriestandort in einem gesamtgesellschaftlichen Kraftakt zu einem globalen Technologieführer der Transfor- mation zu machen – das muss das Ziel sein. Darin liegt die große Chance für eine Zukunft mit guter Industriearbeit, mit wettbewerbsfähigen Unternehmen, mit neuem, qualitativem Wachstum.
Ich will aber klar sagen: Wir wissen, dass wir hier nicht bei „Wünsch dir was!“ sind. Wir haben die Szenarien entwickelt, um uns auf alle Eventualitäten vorbereiten zu können. Am Ende wird die Zukunft ohnehin eine bunte Mischung aus allem bringen – und eine Vielzahl von neuen Entwicklungen, die wir heute noch gar nicht absehen können. Eines haben übrigens alle Szenarien gemeinsam: In keiner Zukunft wird die Lage der Be- schäftigten besser, wenn sich die Gestaltungskraft der Gewerkschaften abschwächt. Dage- gen müssen wir aktiv anarbeiten. Und da gibt es viel zu tun. GESTALTUNGSKRAFT AUSBAUEN Unsere Strategie für die kommende Dekade umfasst deshalb auch ein umfangreiches Maß- nahmenpaket, um uns stärker zu machen – mit einer Wende in der Mitgliederentwicklung und einer Verbesserung unseres Organisationsgrads in den Betrieben. Dazu müssen wir bei Beschäftigungsgruppen stärker werden, bei denen Gewerkschaften bis- lang unterrepräsentiert sind: zum Beispiel Hochqualifizierte, Frauen oder ausländische Kol- leginnen und Kollegen. Dazu müssen wir in den Großbetrieben, wo wir schon auf gesunden Strukturen aufbauen können, erfolgreicher neue Mitglieder werben. Dazu müssen wir vor Ort und in den Betrieben präsenter und ansprechbarer sein. Das sind nur einige Beispiele für die Maßnahmen in den kommenden Jahren. Bis 2023 wollen wir damit den aktuell noch durch das Ende des Steinkohlenbergbaus bedingten Mitglieder- rückgang gestoppt haben. Das geht nur mit Investitionen in Köpfe, Konzepte und Kommunikation, und zwar dort, wo die Potenziale liegen. Wir werden deshalb in den kommenden Jahren Geld und Personal in die Regionen umschichten, in denen Zukunfts- und Wachstumsbranchen wie Pharma und La- bore zuhause sind. Im zurückliegenden Jahr 2019 haben wir mit 30.270 Menschen so viele neue Mitglieder hin- zugewonnen wie seit sieben Jahren nicht mehr. In Abwandlung eines geflügelten Werbe- spruchs könnte man sagen: Alle 17 Minuten verliebt sich ein Beschäftigter in die IG BCE. Überdurchschnittlich stark konnten wir übrigens schon 2019 bei den Höherqualifizierten und Beschäftigten in höheren Lohngruppen zulegen. Dass wir das Jahr unterm Strich dennoch mit einem Minus bei den Mitgliederzahlen abge- schlossen haben, lag neben den bekannten Bergbau- und Demografie-Herausforderungen auch an einem einmaligen Sondereffekt. Wir haben die Statistik um jene Mitglieder bereinigt, die länger keine satzungsgemäßen Beiträge gezahlt, aber nicht gekündigt haben. Das ver- bessert nicht nur unsere interne Transparenz, sondern fördert auch die Motivation zur Mit- gliederbindung und -rückgewinnung. Summa summarum sank die Mitgliederzahl um 2,4 Prozent auf rund 618.000. Ohne Sonder- effekt und Verstorbene hätten wir einen halben Prozentpunkt im Plus gelegen. AUF DEM WEG ZU NEUEN LEITBILDERN
Schlagkraft ist das Eine, die richtigen Inhalte sind das andere. Die Arbeiten an unserer pro- grammatischen Neuaufstellung haben mit dem Zukunftskongress erst begonnen. Wir werden Schlussfolgerungen erarbeiten und unter breiter Beteiligung der Ehrenamtlichen in den Re- gionen diskutieren und schließlich auf unserem ordentlichen Kongress 2021 beschließen. Im Zentrum stehen mehrere Zukunftsprogramme: für eine neue Industrie- und Tarifpolitik, für Mitbestimmung und gewerkschaftliche Bildung sowie für die eigene Organisation. Wohl keine Gewerkschaft hat so viel Erfahrung mit Strukturwandel und der sozialen und so- lidarischen Begleitung von Transformation. Das haben wir nicht nur im Steinkohlenbergbau bewiesen, sondern auch in der Chemie, in der Papier- oder der Schuhindustrie. Wir sind die Transformationsgewerkschaft. Deshalb wollen wir uns an die Spitze der Bewe- gung setzen, wenn es um die Herausforderungen der kommenden Dekade geht. Klar ist aber auch: Das Thema geht nicht nur die IG BCE an. Die Transformation unseres Industriestandorts wird das wahrscheinlich größte und riskanteste ökonomische Projekt seit Bestehen der Bundesrepublik. Es wird mehr denn je starke Gewerkschaften brauchen, um diese Herausforderung zu meis- tern und Gute Arbeit zu sichern – und zwar nicht nur in der Industrie. Nicht ohne Grund hat das die Bundeskanzlerin in ihrem jüngsten Video-Podcast unterstrichen. Wir wollen deshalb unser Netzwerk enger knüpfen – nicht nur zu Politik und NGOs, sondern vor allem auch zwischen den Gewerkschaften innerhalb des DGB. Die Gewerkschaftsbewe- gung insgesamt muss stärker deutlich machen, dass sie für Zukunftsthemen steht. MEHR MUT ZU INVESTITIONEN Transformation muss für die Beschäftigten von heute und von morgen mehr heißen als Sozi- alplan, Transfergesellschaft und Arbeitslosengeld. Nicht Verteidigung, Angriff lautet die De- vise. Das haben uns unsere Mitglieder in der Umfrage deutlich ins Stammbuch geschrieben. In die Offensive kommt man aber nur mit den richtigen Konzepten und dem Mut zu Innovati- onen und Investitionen. Wenn wir den Standort zum globalen Marktführer für klimaneutrale Industrie machen wollen, muss endlich Schluss sein mit der Investitionszurückhaltung in Deutschland. Das gilt für Staat und Unternehmen gleichermaßen. Die Forschungsinstitute von DGB und BDI haben gerade eine gemeinsame Studie vorgelegt, in der sie eine Investitionsoffensive des Staats in Infrastruktur, Bildung, Wohnen und zur För- derung von klimafreundlichen Technologien fordern: mehr als 450 Milliarden Euro für die kommenden zehn Jahre. Und das skizziert nur die mittelfristigen Herausforderungen. Wollen wir bis 2050 tatsächlich Klimaneutralität erreichen, stehen wir allein in den energieintensiven Industrien, deren Be- schäftigte wir vertreten, vor einer Aufgabe bislang ungekannten Ausmaßes. Ein Beispiel: Deutschlands Chemiekonzerne überbieten sich derzeit mit unternehmenseige- nen Klimazielen: Bayer will bis 2030 klimaneutral wirtschaften, Lanxess bis 2040, BASF will
von 2030 an zumindest klimaneutral wachsen und so weiter. Was diese Zahlen nicht sagen: All das geht nur mit klimaneutral erzeugter Elektrizität. Die Industrie verfügt über gewaltige Großanlagen, in der chemische Prozesse unter hohem Energieeinsatz ablaufen. Heute sind sie meist mit Gas betrieben, was bekanntlich CO2 emit- tiert. Der Branchenverband VCI hat gerade eine Studie zur Treibhausgasneutralität in der chemi- schen Industrie vorgelegt, an der auch unsere Fachleute mitgearbeitet haben. Das Ergebnis: Klimaneutralität in der Chemie ist möglich, allerdings würde es den Strombedarf der Branche ab Mitte der 30er Jahre auf das Elffache in die Höhe steigen lassen. Allein die Chemieindust- rie bräuchte dann mehr Strom als die gesamte Bundesrepublik heute. Und da reden wir nur von einer Branche. Noch nicht von Glas, Zement, Papier und anderen Industrien aus der Welt der IG BCE. Und noch nicht von E-Autos oder elektrischen Wärme- pumpen, die die Deutschen ja nach dem Willen der Politik ja zu Millionen erwerben sollen. Wo soll all der Grünstrom herkommen? Das genau ist die Frage, die uns umtreibt. Und bei der wir nicht nachlassen werden, Antworten einzufordern. Bund und Länder haben ein Klimapaket geschnürt, das uns in der Hinsicht enttäuscht hat. Sie sehen zu, wie der Ausbau der Windkraft schrumpft und schrumpft – obwohl sie, vor allem auf hoher See, die einzige alternative Energiequelle mit großem Potenzial ist. Bis heute lässt uns die Bundesregierung auf ihre „Nationale Wasserstoffstrategie“ warten – obwohl längst klar ist, dass Klimaneutralität in der Industrie nur mit Hilfe von „grünem“ und „blauem“ Wasserstoff möglich sein wird. Warum uns als Gewerkschaft das beschäftigt? Weil wir mindestens mittelfristig Hunderttau- sende guter Industriejobs in Gefahr sehen, wenn wir hier zu Lande keine sichere und bezahl- bare Versorgung mit ausreichend CO2-freiem Strom sicherstellen können. Denn dann entstehen die nächsten Großanlagen ganz schnell auf der grünen Wiese in Ma- rokko oder anderswo, wo ausreichend Sonnen- oder Windenergie zu Billigst-Konditionen zu haben ist. Wir haben deshalb schon vor Monaten einen Energie-Pakt gefordert, in dem sich die Politik gemeinsam mit allen relevanten gesellschaftlichen Gruppen auf einen Pfad für eine erfolgrei- che Energiewende 2.0 verständigt. Die Herausforderungen sind diesmal wesentlich größer als zum Start der vermurksten ersten Version im Jahr 2000 – und die Risiken auch: Ohne geeintes Konzept droht nicht weniger als die Deindustrialisierung. MOBILITÄTSWENDE BRAUCHT GEMEINSAMEN PLAN Das gilt analog für den Mobilitätssektor. Unsere Kolleginnen und Kollegen in der Zulieferin- dustrie erleben derzeit hautnah, was es heißt, wenn es keinen gemeinsamen Plan für die Zukunft gibt – weder bei den Autokonzernen, noch in der Politik.
Elektroantrieb? Effizientere Diesel? Hybrid? Oder doch Wasserstoff? Jeder Autohersteller verfolgt eine eigene Strategie – und die Zulieferer wissen nicht, in welches Zukunftsfeld sie investieren sollen. Stattdessen verfallen sie in Managementmethoden der Vergangenheit: Werke schließen, Produktion verlagern, Geschäft aufgeben. Die ersten Abbauprogramme sind längst auf dem Weg, die Unsicherheit ist riesig. Dass sich überforderte Vorstände in Aktionismus flüchten, geht gar nicht. Die Transformation der Automobilindustrie ist ein tiefgreifender Wandel, aber er kommt nicht über Nacht. Er lässt den Betrieben Zeit für eine sorgfältige Abwägung und soziale Anpassung. Dafür werden wir in den Unternehmen kämpfen – und gleichzeitig für ein abgestimmtes Vor- gehen in der Branche werben: Einen gemeinsamen Entwicklungspfad für den Automobilsek- tor zu skizzieren, könnte mehr Planungssicherheit ins System bringen und die Transformation in geordnete Bahnen lenken. KLARE KANTE IN DER KOHLE Eigentlich gibt es für solche Transformations-Pakte eine gute Blaupause. In der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ haben wir uns mit unterschiedlichsten Inte- ressengruppen auf einen Kompromiss geeinigt, der ein Auslaufen der Kohleverstromung bis 2038 verbindet mit einer milliardenschweren Neuausrichtung der Reviere und einem engma- schigen Sicherheitsnetz für die Zehntausenden betroffenen Beschäftigten. Inzwischen warten wir seit einem Jahr auf das dazugehörige Kohleausstiegsgesetz. Nach allem, was wir wissen, nähert es sich nun tatsächlich der Vollendung. Für uns ist entschei- dend, dass der vor einem Jahr in der Kommission geschlossene, fein austarierte Kompromiss nicht leichtfertig aus dem Gleichgewicht gebracht werden darf. Wir jedenfalls werden keine Änderungen akzeptieren, die eine soziale Abfederung dieses staatlich verordneten Arbeitsplatzabbaus erschweren. Die Bundesregierung darf sich nicht allein auf das Formulieren von Abschaltdaten fokussie- ren, sondern muss auch die Folgen und Alternativen im Blick behalten. Jeder einzelne Schritt muss nicht nur auf seine Auswirkungen für Beschäftigung und Versorgungssicherheit über- prüft werden, sondern auch darauf, ob in der betroffenen Region im Gegenzug schon neue Industrien und neue Jobs angesiedelt wurden. Wir brauchen eine funktionierende Weitervermittlung für jüngere vom Kohleausstieg be- troffene Beschäftigte auf gleichwertige Arbeitsplätze in ihrer Region. Die älteren Beschäftigten ab 58 Jahren müssen mit einem staatlichen Anpassungsgeld in die Anpassung wechseln können. Ihnen dürfen dadurch keine nennenswerten finanziellen Nach- teile entstehen. Für uns ist hier nicht nur der Staat, sondern auch die Industrie gefragt. Deshalb haben wir dazu bereits im Dezember gemeinsam mit den Kollegen von ver.di Tarifverhandlungen mit den Arbeitgebern aufgenommen.
Neben dem Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen bis 2038 fordern wir von den Unter- nehmen, das staatliche Anpassungsgeld auf das Niveau des letzten Nettogehalts der Be- troffenen aufzustocken, keine Kürzungen bei der betrieblichen Altersvorsorge vorzunehmen und – falls der Staat dies nicht übernimmt – den Ausgleich von Rentenabschlägen. Für jüngere Beschäftigte wollen wir Regelungen für eine erfolgreiche Weitervermittlung auf gute, neue Jobs verabreden. Für die kommende Woche ist die zweite Verhandlungsrunde angesetzt. Wir werden in der Frage nicht nachlassen. TARIFPOLITIK NAH AM MENSCHEN Womit wir bei der Tarifpolitik wären (Seite 12). Wie Sie wissen, haben wir vor wenigen Wo- chen ein dickes, innovatives Tarifpaket in der Chemieindustrie geschnürt. Dass wir mit den Forderungen sehr nah an der Lebenswirklichkeit unserer Mitglieder lagen, zeigt Ihnen ein weiteres Chart aus unserer Umfrage. Altersvorsorge, Work-Life-Balance und Gesundheits- vorsorge sind die Themen, die die Menschen derzeit am meisten beschäftigen. Das gilt übri- gens für alle Altersgruppen. Wir haben deshalb für Deutschlands drittgrößte Industriebranche mit ihren 580.000 Beschäf- tigten ganz bewusst Fragen der Zeitsouveränität und der Vorsorge in den Mittelpunkt unserer Forderungen gestellt. Dass wir uns am Ende in allen Punkte weitgehend durchgesetzt haben, zeigt Ihnen dieses Chart (Seite 13). Ralf Sikorski und seinem Team ist es sogar gelungen, mit der Aufstockung des Weihnachts- gelds einen Punkt hinein zu verhandeln, den wir zu Beginn gar nicht gefordert hatten. Wenn man den Abschluss in trockenen Zahlen zusammenfassen wollte, würde man sagen: Er hat ein Gesamtvolumen von 6 Prozent. Wir sagen und empfinden es aber so: Dieser Abschluss setzt Maßstäbe in der Tarifpolitik. LÖSUNGEN FÜR DIE MODERNE ARBEITSWELT Im Tarifvertrag „Moderne Arbeitswelt“ (Seite 14) gehen wir weit über die Frage „Geld oder Zeit“ hinaus. Er eröffnet einen Strauß von Optionen, der sowohl den Betriebsparteien als auch jedem einzelnen Beschäftigten Wahlmöglichkeiten lässt – und das jedes Jahr aufs Neue. Die Bandbreite reicht von freien Tagen, die man Jahr für Jahr zusätzlich nehmen oder ansparen kann und Möglichkeiten, die eigene Vorsorge zu stärken bis zur schlichten Auszahlung des Geldes. Für uns steht dabei außer Frage, dass das Zukunftskonto immer auch ein Freizeit- Angebot enthalten muss. Zu groß ist inzwischen der Wunsch nach Entlastung unter den Be- schäftigten. Mehr Freiheit bei der Ausbalancierung von Arbeit und Leben bringt übrigens auch eine Ver- einbarung zu Mobilem Arbeiten, die wir ebenfalls in diesem Abschluss getroffen haben. Sie sieht die Möglichkeit einer Verkürzung der Ruhezeit um zwei auf neun Stunden vor, wenn der Beschäftigte das Arbeitsende oder den Arbeitsbeginn am nächsten Tag selbst bestimmen kann. Selbstverständlich gibt es hierfür klare Regeln: Es muss dazu eine freiwillige Betriebsverein- barung im Unternehmen geschlossen werden. Die Tätigkeit muss geeignet und sowohl der
Arbeitgeber wie auch der Arbeitnehmer mit der Option einverstanden sein. Außerdem muss die mobil geleistete Arbeit erfasst und bezahlt werden. Wer also lieber morgens später zur Arbeit kommen oder am Nachmittag früher nach Hause gehen und sich dann abends nochmal an den Rechner setzen möchte, dem haben wir mit dieser Vereinbarung ein tariflich abgesichertes Regelwerk an die Hand gegeben, auf das er sich verlassen kann. Das ist moderne Tarifpolitik für die neue Dekade, wie wir sie verstehen. Und unser Vorschlag zur Befriedung der leidigen politischen Debatte um die gesetzlichen Ruhezeiten. SICHERHEIT IM PFLEGEFALL Neue Wege gehen wir auch mit der bundesweit ersten tariflichen Pflegezusatzversicherung (Seite 15). Sie schließt nicht nur einen großen Teil der Lücke bei den Pflegekosten und gibt den Beschäftigten damit mehr Sicherheit für den Pflegefall. Sie trägt auch dazu bei, dass das Pflegesystem insgesamt gestärkt wird. Nicht nur wegen der explodierenden Pflegekosten insgesamt, sondern auch damit Pflege- kräfte angemessen für ihre schwere, verantwortungsvolle Arbeit entlohnt werden. Wir haben mit dieser Forderung nicht nur viel für unsere Mitglieder erreicht, sondern auch für den ge- sellschaftlichen Zusammenhalt. Das Modell zeigt, welche Innovationskraft Sozialpartnerschaft und Tarifautonomie entwickeln können – und wie sie ihren Teil zur Lösung gesamtgesellschaftlicher Herausforderungen bei- tragen können. Wir haben das schon mit privater Altersvorsorge und Berufsunfähigkeitsversicherung getan. Die Pflege war da nur der nächste logische Schritt. Bei dem Thema werden wir nicht locker- lassen – und es für kommende Tarifrunden in anderen Branchen prüfen. Voraussetzung für moderne Tarifpolitik ist, dass beide Parteien das Ohr am Puls ihrer Mit- glieder und die Kraft zu Veränderungen haben – und sich auf Augenhöhe begegnen. Diese Konstellation findet sich in der Tariflandschaft leider immer seltener. Es ist dringend erforderlich, dass Politik und Wirtschaft Tarifbindung und Tarifautonomie stär- ken. Wir unterstützen deshalb ausdrücklich die Forderung, öffentliche Aufträge ausschließlich an Unternehmen mit Tarifbindung zu vergeben. Gleichzeitig müssen die Arbeitgeber damit aufhören, an ihrer eigenen Bedeutungslosigkeit zu arbeiten. Wer nur noch Mindeststandards in Tarifverträgen regeln will und die Tore weit öffnet für Mitglieder ohne Tarifbindung, der hat die Herausforderungen, die die Transforma- tion in den nächsten Jahren an uns stellen wird, nicht verstanden. BEI QUALIFIZIERUNG IN DIE OFFENSIVE KOMMEN Das betrifft beispielsweise den enormen Qualifizierungsbedarf, mit dem die Beschäftigten auf der Höhe der Zeit gehalten werden müssen. Allein die fortschreitende Digitalisierung dürfte die Halbwertzeit von Wissen und Kompetenzen in immer schnellerer Taktzahl schrumpfen lassen.
Passgenaue Weiterbildung wird sich nur auf der Ebene einer Branche – und damit eben auf der eines Flächentarifvertrags – organisieren lassen. Das sollte auch im Interesse der Arbeit- geber sein. Wir werden das Thema deshalb jetzt mit Nachdruck angehen – mit dem ersten systemati- schen Weiterbildungsprogramm für eine ganze Leitbranche: Mit dem BAVC haben wir eine „Qualifizierungsoffensive Chemie“ vereinbart, mit der wir die Beschäftigten fit machen wollen für die spezifischen Herausforderungen, die auf diese Branche zukommen. Das Paket umfasst eine Trendanalyse, die herausarbeiten soll, welche Kompetenzen in der Chemie künftig wichtiger werden und welche an Bedeutung verlieren. Die Erkenntnisse fließen ein in ein Tool, mit dem sich für jedes Unternehmen die aktuellen Qualifikationen der Beschäftigten und der künftige Qualifikationsbedarf bestimmen lassen. Gemeinsam mit der Bundesagentur für Arbeit werden wir ein auf die Chemie zugeschnittenes Beratungsangebot rund um die Weiterbildung auflegen, das sich sowohl an Arbeitnehmer wie auch Arbeitgeber richten soll. Wir wollen zunächst in mehreren Pilotregionen starten und das Programm anschließend auf das ganze Land ausrollen. Es ist das bundesweit erste Modell dieser Art. In den kommenden Tagen werden wir die Absichtserklärung unterzeichnen. Meine Damen und Herren, ich denke, meine Ausführungen haben aufgezeigt, dass die Transformation unserer Indus- triegesellschaft die Beschäftigten und ihre Interessenvertreter vor gewaltige Herausforderun- gen stellen wird. Gleichzeitig bieten sich durch die Mega-Trends der kommenden Jahre viele Chancen und Gestaltungsoptionen, mit denen wir Arbeit und Leben für unsere Mitglieder besser machen und gesellschaftlichen Zusammenhalt organisieren können. Wir bereiten uns mit unseren „Perspektiven 2030+“ jedenfalls auf alle Eventualitäten vor – und leben den Wandel schon heute. Um im Fußball-Bild zu bleiben: Dort, wo der Druck auf die Beschäftigten wächst, werden wir stabil in der Abwehr stehen – und dort auf Angriff spielen, wo sich neue Freiräume und Chan- cen auftun. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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