MIT HIRN, HAUT UND HERZ - Interkulturelles Philosophieren - Elke Pichler

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Mit Hirn, Haut und Herz

                   MIT HIRN, HAUT
                     UND HERZ
                       Interkulturelles Philosophieren

von Elke Pichler                                Saint-Exupéry, aus dem dieses weltberühm-
                                                te Zitat stammt, wird hier auf die Liebe

I m westlichen Kulturkreis ist die metapho-
  rische Bedeutung des Herzens zumeist je-
ne des Fühlens. Ganz besonders verbinden
                                                des kleinen Prinzen zu seiner eitlen Rose
                                                verwiesen: Die beiden haben sich einander
                                                vertraut gemacht, sodass für den kleinen
wir mit dem Herzen das Gefühl der Liebe:        Prinzen die Rose selbst in einem Meer aus
sei es die romantische Liebe, die mystische     tausend anderen wunderschönen Rosen zu
Liebe zu Gott oder aber auch das liebende       einer ganz besonderen Rose wird. Diese Be-
Mitgefühl mit anderen. Das Herz gilt aber       sonderheit ist weder mit den Sinnen, noch
besonders im Christentum auch als Ort der       mit dem Verstand, sondern nur mit dem
Reinheit, als Sitz von Gut und Böse.¹ Gleich-   Herzen erkennbar und lässt sich nicht von
zeitig ist das Herz im westlichen Denken        Äußerlichkeiten täuschen.
zumeist so etwas, wie ein privater Raum,
der uns gehört – wir lassen nicht jeden in      Auch in der asiatischen Philosophie hat das
unser Herz hinein – und dadurch, dass es        Herz mit einer bestimmten Form der Emp-
uns gehört, sind wir auch in der Lage, ei-      findung und mit Erkenntnis zu tun. Eine
ner ausgewählten Person (oder Gott) unser       gefährliche Falle interkulturellen Philoso-
Herz darzubieten. ² So heißt ein bekannter      phierens ist aber, das westliche Verständnis
Spruch: Wer sein Herz verschenkt, sollte        eines Begriffes unmittelbar auf eine andere,
wissen, dass er nur eines hat. Außerdem         in diesem Fall die indische Philosophie zu
ist das Herz ein Ort von spezieller und         übertragen. Daraus erwachsen stark ver-
umfassender Erkenntnis, die Verstandes-
urteile und sinnliche Wahrnehmungen zu
übersteigen scheint: Man sieht nur mit dem      1 Jemand ist guten oder bösen Herzens.
Herzen gut, das Wesentliche ist für die Au-     2 „Mein Herz ist rein, ich lass’ niemanden
                                                hinein, außer mein Herz-Jesulein.“ So lautet
gen unsichtbar (Saint-Exupéry 1993: 98).        ein Gebet, das noch vor wenigen Jahrzehnten
In den meisten Interpretationen von Der         im christlichen Umfeld Kindern beigebracht
kleine Prinz, jenem Buch von Antoine de         wurde.

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zerrte Interpretationen einer uns im Grunde     senderen Erkenntnis dringen kann. Und hier
völlig fremden Kultur. Allzu schnell wird so    offenbart sich auch die große Bedeutung
der Herz-Begriff der Yoga-Sūtren im Sinne       philosophischer Tätigkeit: Nur über einen
der christlichen Nächstenliebe, der lieben-     offenen und bewussten Kontakt kann das
den Verbindung zu allen Geschöpfen und          Andere überhaupt erst einmal als anders
der mystischen Vereinigung mit dem Gött-        wahrgenommen werden. Und es wird da-
lichen interpretiert – oder aber als Form       mit klar: Menschen erzählen und erzählten
des Fühlens wahrgenommen, die Sinne und         immer schon Geschichten, um ihrem Leben
Verstand übersteigt und Wesentliches von        in der Welt Sinn und Struktur zu verleihen
Unwesentlichem zu unterscheiden vermag.         – und diese Geschichten können auf sehr
Aber umschreibt dies in ausreichender Wei-      verschiedene und sogar gänzlich gegen-
se das, was Herz-Erfahrungen in asiatischen     sätzliche Weise erzählt werden. In dieser
Philosophien zugrunde liegt? Oder gibt es       Erkenntnis liegt ein Hauch von Freiheit.
da auch noch ein anderes wichtiges Ele-         Was wir von klein auf hören, beeinflusst
ment, das in einer zumeist unabsichtlichen,     unser Denken. So, wie wir denken, sehen
aber doch seit langem wie selbstverständ-       und interpretieren wir gewohnheitsmä-
lich praktizierten kolonialen Aneignungsbe-     ßig die Welt. Auf neue Ideen kommen wir
wegung uns fremder kultureller Elemente         manchmal erst, wenn wir förmlich über sie
nicht übersehen werden darf? Diesem Ele-        stolpern. Anderen Gedanken nachzugehen
ment, das unserer Kultur nicht in gleichem      kann genau so mit Richtungswechseln, Los-
Maße vertraut ist, wie die Begriffe der Lie-    lassen und Anstrengung verbunden sein,
be oder der Erkenntnis von Wesentlichem,        wie die körperliche, bessere Ausrichtung
widme ich diesen Artikel. Dieses Element        des eigenen Trikoṇāsana. Aber so, wie uns
ist allgemein für das Verständnis asiatischer   ein besser ausgerichtetes Trikoṇāsana ein
Philosophien unverzichtbar – und ganz be-       Gefühl von Weite und Offenheit vermitteln
sonders für den asiatischen Herzbegriff.        kann, so vermag das auch ein Denken, das
                                                sich von der einen oder anderen kulturell
Interkulturelles Philosophieren kann, wenn      bedingten Konvention befreit hat. Es geht
eine fragende Haltung bewahrt wird, nicht       also um ein anderes Denken und um ein
nur zu Missverständnissen führen, sondern       anderes Spüren – und beide scheinen ein-
– wenn wir uns wahrlich darauf einlassen        ander immer wieder in die eine oder ande-
– unsere starren Bedeutungsrahmen aufbre-       re Richtung mitzuführen. Der ganz offene
chen, sodass unsere geschichtlich-kulturell     und nicht von kolonialem Geist geprägte
bedingten Interpretationsgewohnheiten,          Kontakt mit anderen Kulturen kann einen
denen wir so schwer entkommen können,           großen Beitrag zu beidem leisten.
durcheinander gerüttelt werden und Risse
in unseren tiefsten Überzeugungen entste-       Selbst wenn es in Indien eine starke Tra-
hen – durch die der Schimmer einer umfas-       dition des bhakti-Yoga gibt, der Hingabe

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an die Götter oder den einen Gott, und die        Iyengar das emotionale Herz anspricht, so
christliche Nächstenliebe durch intellektu-       schreibt er von unseren Gefühlen allgemein.
elle Reformbewegungen, wie die Brahmo-            Aber was ist mit dem spirituellen Herzen
Samaj Bewegung des 19. Jahrhunderts, un-          gemeint?
ter manchen indischen Denker*innen zu                  Wenn er das spirituelle Herz erwähnt,
einem angestrebten Ideal wurde, so bleibt         beruft er sich, wie so oft, vor allem auf die
der spirituelle Herz-Begriff in den meisten       Sāṃkhya-Yoga Philosophie und insbesonde-
indischen Philosophien einer, der sich letzt-     re auf Patañjali. Iyengar versucht mithilfe
lich doch ganz wesentlich von unserem vor         der Yoga-Sūtren jene meditative Praxis zu
allem christlich und romantisch geprägten         beschreiben, die bei ihm auf körperlichen
Verständnis unterscheidet. Die Purānas            Übungen (Āsanas) basiert und die zu ei-
beschreiben beispielsweise, dass Rudra            ner Form der Erkenntnis führen soll, die
aus dem Herzen Śivas entsteht und seine           widersprüchlicherweise für Patañjali ein
Eigenschaft vor allem jene der Zerstörung         ausschließlich geistiger Akt war: Die unter-
sei.³ Was hat aber die brutale, vernichtende      scheidende Erkenntnis zwischen Vergäng-
Gewalt Śivas/ Rudras mit dem Herzen zu            lichem und Ewigem (viveka khyati). Aus
tun? Um mich einer von mehreren mög-              dieser Erkenntnis erwächst, so die Theorie,
lichen Antworten auf diese Frage anzunä-          die im Herzen erlebbare Freiheit und Weite
hern, möchte ich im Folgenden der Spur            des samādhi:
des Herzens bei B.K.S. Iyengar nachgehen
und seine Theorien in einen Dialog mit den        „Samādhi means total absorption. […]
tantrischen Philosophien setzen.                  Though samādhi can be explained at the
                                                  intellectual level, it can only be experienced
Tradition und Innovation in                       at the level of the heart.“ (Iyengar 2008: 182)
Iyengars Schriften
                                                  Das Problem ist: Patañjali kann, zumindest
Auch B.K.S. Iyengar spricht in seinen Bü-         traditionell gelesen, die Verbindung zwi-
chern immer wieder vom Herzen. Er un-             schen Iyengars körperlicher Yoga-Praxis
terscheidet dabei zwei Arten von Herz:            und samādhi nicht ausreichend erklären,
das emotionale und das spirituelle. Wenn          ist doch bekannt, dass asketische Praktiken,

3 Wie so oft in der indischen Mythologie existiert die Geschichte auch genau anders herum:
Während dem Gott Śiva nachgesagt wird, er vermöge mit tänzerischer Leichtigkeit erstarrte Gege-
benheiten zu vernichten, um einen Prozess der Reinigung einzuleiten und so den Boden für Neues
zu schaffen, gilt Rudra als der furchteinflößende und zornige Prototyp Śivas, der weder mit dem
Attribut der Freundlichkeit noch mit jenem des Wohlwollens beschrieben werden kann. Ihm wird
nachgesagt, er schicke dem menschen Naturkatastrophen, Seuchen und Krankheiten, er habe aber
auch, ähnlich einem Heiler, die Macht, die Menschen vor diesen zu bewahren.

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wie sie zu Zeiten Patañjalis betrieben und        drücklich in seinen Schriften berief. Viel-
von diesem als Autor und Redakteur in den         mehr gilt es, den Lücken, seinem Schwei-
Yoga-Sūtren zusammengefasst wurden, dem           gen, mehr Aufmerksamkeit zu schenken
Körper nicht sonderlich große Bedeutung           und dabei stets eine fragende Haltung zu
beimaßen (vgl. Maas 2014: 6). Vielmehr galt       bewahren.
alles Körperliche als unrein, wie auch einige          Bei Iyengars philosophischen Texten
Sūtren deutlich veranschaulichen – exemp-         handelt es sich um eine moderne Neuin-
larisch sei hier Sūtra II.40 genannt⁴ – und als   terpretation der Yoga-Sūtren Patañjalis, das
großes Hindernis auf dem Weg zur Befrei-          deutet Iyengar selbst immer wieder an. Dem
ung. Die Freiheit, von der gesprochen wird,       Körper wird in der befreienden Praxis eine
konnte zu Patañjalis Lebzeiten auch als eine      völlig neue Bedeutung beigemessen: War er
Freiheit (wörtlich Loslösung = kaivalyam)         zuvor ein großes Hindernis, so wird er nun
des puruṣa (des unveränderlichen, ewigen,         zum unentbehrlichen Medium. Sehr wahr-
erkennenden Selbst) von der prakṛti (der          scheinlich hat Iyengar zu diesem Schritt
wandelbaren und vergänglichen Materie)            die Vitalisierung, die er durch die eigene
verstanden werden, kurzum eine Freiheit           Yoga-Praxis erfahren hatte, inspiriert. Vieles
des Selbst vom hinderlichen und leidbrin-         erschließt sich aber auch aus dem gesell-
genden Körper. Patañjali ging davon aus,          schaftlichen Umfeld und dem allgemeinen
dass die letzte und höchste Erfahrung die         Zeitgeist, in dem Iyengar sich bewegte: So
sinnliche und damit dem zeitlichen Wandel         lösten ab dem 19. Jahrhundert westliche
unterliegende Welt übersteigt.                    körperlich-spirituelle Praktiken und damit
                                                  verbundene Theorien, die mit der Koloni-
Iyengars Schriften pendeln, wie er auch           alisierung nach Indien kamen (vgl. exem-
selbst sagt, zwischen Tradition und Inno-         plarisch Alter 2004, De Michelis 2004, Sin-
vation (Iyengar 2007: 15). Warum machte           gleton 2010, Singleton 2013, Goldberg 2016
Iyengar diesen radikalen Sprung von einer         u.a.), große Begeisterung in der britischen
sehr asketischen traditionell körpervernei-       Kolonie aus und wurden rasch zu so etwas
nenden Lebens-Einstellung, wie sie in man-        wie allgemeinem Gedankengut bestimmter
chen Sūtren Patañjalis zu finden ist, zu einer    Kreise dieser Epoche. Dass – wie bei allen
Praxis, die den Körper in den Mittelpunkt         kulturellen Vermengungsprozessen – sich
stellt? Um uns dieser Frage zu nähern, reicht     auch in der Yogapraxis indische Traditionen
es offensichtlich nicht, ausschließlich das zu    untrennbar mit der Kultur und dem Wissen
berücksichtigen, worauf Iyengar sich aus-         des British Empire vermischt haben, liegt
                                                  auf der Hand, wird aber heute in Indien
                                                  nicht immer erwähnt: Man möchte sich
4 „Durch äußere und innere Reinheit vergeht       vor allem in nationalistischen Bewegungen
das Interesse am eigenen Körper und am Um-        von vielen Jahrhunderten Fremdherrschaft
gang mit anderen Körpern.“ (Iyengar 1995: 190)    durch den Islam und durch England eman-

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zipieren, obwohl der Versuch einer Rück-       Die Schriften und Theorien des Haṭha-Yoga,
kehr zu einer angeblich rein hinduistischen    die ja vornehmlich körperliche Praktiken
Kultur vor den vielen Jahrhunderten Fremd-     beschreiben, erwähnt Iyengar deutlich
herrschaft von vornherein zum Scheitern        weniger als Patañjali – und manchmal
verurteilt ist (vgl. Baier/ Pichler Abhyasa    auch eher abwertend. Haṭha-Yoga Prak-
2018, Yoga-Talk)⁵: Die islamischen Groß-       tiken wurden in ihren Ursprüngen auch
reiche prägten den indischen Subkontinent      von ungebildeten Yogis ausgeführt, die es
schon ab dem 12. Jahrhundert sehr nachhal-     mit brahmanischen Reinheitskulten, wie
tig mit wirtschaftlichen, wissenschaftlichen   beispielsweise dem sorgsamen Umgang
und kulturellen Neuerungen, genauso wie        mit Drogen, Alkohol, Frauen oder Fleisch
das die europäische Kolonialisierungsbewe-     nicht immer genau nahmen. Daher hafte-
gung, in die das muslimische Mogulreich        te ihnen auch noch im 19. Jahrhundert, in
mehr oder weniger nahtlos überging, auf        dem die Ursprünge des Modernen Yoga zu
unauslöschliche Weise tat.                     suchen sind, ein dubioser Ruf an. Aber auch
                                               heute haben manche ihrer Praktiken unter
Manches in Iyengars Werk scheint aber          modernen Hinduist*innen immer noch eine
auch von indischen körperbetonten Tra-         zwielichtige Reputation. Dabei hat das, was
ditionen inspiriert, die selbst heute noch     Iyengar-Yoga ausmacht, in vieler Hinsicht
ungern von manchen Brahman*innen               mehr Ähnlichkeit mit Haṭha Yoga als mit
zitiert werden, die aber von den meisten       Patañjali-Yoga.
Yoga-Forscher*innen als eindeutige Vorläu-
fer der heutigen Yoga-Praxis genannt wer-      Zu den Wurzeln dieser Haṭha-Yoga-
den: Der Haṭha-Yoga und dessen Mutter-         Tradition, den tantrischen Theorien, bezieht
Bewegung, der Tantrismus. Brahmanische         Iyengar meines Wissens nach sehr selten in
Praktiken waren schon in frühen Zeiten         seinen Büchern Stellung – aber auch hier
von Reinheitsgedanken geprägt, die sich        finden sich einzelne Verweise (exemplarisch
auch in einer Angst vor dem Körper und         sei Iyengar 2008 genannt).
der Spontanität der Sinne äußerten – und            Während es sich bei den Haṭha-Yoga
daher in Bemühungen endeten, den Körper        Traditionen in der weiteren Entwicklung
und die Sinne absolut zu beherrschen und       wieder um streng asketische Disziplinen
ihre Impulse zu unterdrücken. Der Haṭha-       handelt, in denen zwar Übungen mithilfe
Yoga und vor allem der Tantrismus können       des Körpers ausgeführt werden, die aber
als eine Gegenbewegung zu diesen stark         letztlich zu einer Bedürfnislosigkeit des
geist-betonten brahmanischen Praktiken         Körpers führen sollen, ist der Tantrismus
betrachtet werden.                             demgegenüber eine Tradition, die sich we-
                                               der vom Körper noch von unserem alltäg-
5 https://elkepichler.com/wp-content/up-       lichen Erleben abwendet. Im Westen wird
loads/2020/11/abhyasa_2018_s30-39.pdf          Tantrismus häufig mit sexuellen Praktiken

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– vielleicht sogar orgiastischen Charakters       besondere Empfindsamkeit des eigenen
– assoziiert. Zur Verbreitung dieses Miss-        Körpers spielt dabei eine große Rolle. Im
verständnisses im Westen haben Personen           Dialog mit einzelnen tantrischen Theorien
wie Aleister Crowley beigetragen.⁶ Natür-         lässt sich also eher eine Antwort auf die
lich gibt es einige Zweige des Tantrismus         Frage finden, was unser sinnlich empfin-
(wie der sog. linkshändige Tantrismus), in        dender Körper mit im spirituellen Herzraum
denen ritualisierte Sexualpraktiken einen         erfahrbaren Bewusstseinszuständen zu tun
ganz wesentlichen Bestandteil ausmachen,          hat, als in einer traditionellen Lektüre von
gleichzeitig geht es aber in vielen tantri-       Patañjalis Yoga-Sūtren. Dieses Zwiege-
schen Theorien vor allem darum, Versen-           spräch zwischen Iyengar und tantrischen
kungszustände mithilfe der Schulung der           Philosophien erscheint mir auch insofern
Sinne zu erreichen. Bewusstseinszustände,         legitim, da tantrisches Wissen in Indien
die in den Yoga-Sūtren als dharāna, dhyāna        vielerorts präsent ist, ohne dass man sich
und samādhi⁷ beschrieben werden, werden           immer explizit darauf bezieht.
im Tantrismus nicht erreicht, indem Prak-
tizierende ihren Körper mit seinen Bedürf-        Der Tantrismus
nissen negieren, sondern indem sie ihn als
Sprungbrett benutzen, um sich für einige          Tantra ist ein philosophisch-religiöses Sys-
Momente in eine neue und sehr intensive           tem, das erstmals schriftlich um die Mitte
Bewusstseins-Dimension zu katapultie-             des ersten Jahrtausends unserer Zeitrech-
ren, die die Alltagserfahrung übersteigt:         nung in hinduistischen, buddhistischen und
Das Supra-Mentale, das Iyengar das Über-          jainistischen Texten aufzutauchen begann.
Bewusstsein nennt.⁸ Dieser Ansatz des             Vor allem der hinduistische Tantrismus
Tantrismus hat insofern Ähnlichkeit mit           wird zumeist als eine Gegenbewegung zu
der Art und Weise, wie Iyengar mit dem            idealistischen und rein geistigen Philoso-
Körper umgeht, als auch er davon ausgeht,         phien der Brahmanen und daher auch zu
dass uns die körperliche Āsana-Praxis al-         den Machtansprüchen der obersten Kaste
lein alle Stufen des 8-gliedrigen Yoga-Pfades     interpretiert. Gemäß White (vgl. Tantra,
erleben lässt, also auch die letzten Stufen       in: Brill’s Encyclopedia of Hinduism On-
der Meditation und der Versenkung. Eine           line)⁹ wird heute der Tantrismus von vielen

6 Aleister Crowley war ein britischer Okkultist und enfant terrible, der neben dem von ihm kon-
zipierten Tarot-Karten Set auch für sexualmagische Praktiken berühmt wurde.
7 Konzentration, Meditation und Versenkung
8 Iyengar distanzierte sich sehr oft von der westlichen Psychologie (exemplarisch Iyengar 2007:
211). Wichtig ist in diesem Kontext, das Über-Bewusstsein nicht mit Begriffen wie beispielsweise
Freuds Über-Ich zu verwechseln.
9 https://referenceworks.brillonline.com/browse/brill-s-encyclopedia-of-hinduism

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modernen Hindus als eine Praxis dunkler           Erkenntnis- und Bewusstseinzustände
Scharlatane betrachtet.                           spielen, die im sogenannten Herzraum
     Manche frühe tantrische Kulte er-            stattfinden.
scheinen heute tatsächlich zweifelhaften               Der Tantrismus entstand an der Grenze
Charakters (so zum Beispiel die frühen            einer körperverneinenden brahmanischen
Yogini-Kulte kannibalistischen Charakters,        Kultur – Abhinavagupta war selbst Brah-
vgl. White, Brill Online), gleichzeitig exis-     mane – und versuchte die Energien, den
tieren aber auch elaborierte philosophische       kraftvollen Puls alles Lebendigen (śakti)
Theorien, die in unserer Yoga-Praxis erlebte      nicht nieder zu halten und zu verdrängen,
körperlich-sinnliche Prozesse und deren er-       sondern sie im Gegensatz zu steigern, zu
hebenden Charakter gut beschreiben kön-           verfeinern und nutzbar zu machen. Be-
nen. Manche dieser Theorien möchte ich            freiung findet im Körper und durch den
nun in weiterer Folge vorstellen.                 Körper statt. Das deckt sich mit Iyengars
                                                  Einstellung:
Während zahlreichen Inder*innen westliche
Philosophen wie Kant, Nietzsche oder Fou-         „Bei den meisten Menschen findet sich
cault ein Begriff sind, ist der Tantriker Abhi-   nämlich das Missverständnis, dass diese
navagupta (*950, +1020), der neben Śankara        Reise nach Innen oder der spirituelle Pfad
als der bedeutendste indische Philosoph be-       die Ablehnung der natürlichen Welt, des
trachtet werden kann, bei uns im Westen           Weltlichen, des Praktischen, des Vergnüg-
vielen nicht einmal namentlich bekannt.           lichen bedeutet. Doch das Gegenteil ist der
Śankara vertrat die heute in Indien domi-         Fall. Für einen Yogi (oder auch einen dao-
nierende Philosophie des Advaita Vedānta,         istischen Meister oder Zen-Mönch) ist der
die der sinnlich erfahrbaren Welt nur eine        Pfad hin zu Geist oder Seele ganz und gar
Scheinrealität zuspricht (māyā). Demgegen-        im Reich der Natur angesiedelt. Es handelt
über gilt die Materie im Tantrismus nicht         sich um die Erkundung der Natur, ausge-
nur als real, sondern sie wird zusätzlich als     hend von der Welt der Erscheinungen, oder
intelligente Materie betrachtet, da sie auf       der Oberfläche, bis hin zum subtilsten Kern
besondere Weise fähig ist, schlummernde           und Herzschlag lebendiger Materie." (Iyen-
Potentiale zu entfalten.10 Dies hat weitrei-      gar 2007: 50)
chende Folgen für den Erkenntnisprozess,
da so Sinneswahrnehmungen eine große              Das Hirn als Ort der Erkenntnis
Bedeutung im Erleben transformierender            und das Sehen

                                                  Stark vereinfacht kann man sagen, dass es
10 Sehr oft spricht auch Iyengar von der In-
                                                  in Indien zwei konträre Wege gibt, die zu
telligenz des Körpers und verwendet dafür den     meditativen Zuständen führen sollen: die ei-
Sāṃkhya-Begriff buddhi.                           nen, die den Geist betonen und die anderen,

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Mit Hirn, Haut und Herz

die eher den Körper und die Sinnlichkeit in    auch auf dem Yoga-Weg nicht klein reden.
den Mittelpunkt stellen und die zumeist als    Weiter oben habe ich darauf hingewiesen,
minderwertig galten und gelten.                wie wichtig es sein kann, über die Philoso-
     Die Sinne des Menschen haben in vie-      phie anders betrachten und denken zu ler-
len indischen Philosophien ein bestimmtes      nen. Geistig-meditative Übungen können
Gewicht. Wenn man aber genau hinsieht,         zu Erkenntnis- und Versenkungszuständen
so wurde ihre Bedeutung in diversen Denk-      führen.
Systemen nach und nach in einer Weise               Problematisch wird meiner Meinung
uminterpretiert, die sie völlig un-sinnlich    nach aber eine ausschließliche Betonung
machte. In den meisten Interpretationen        des Geistes, die eine logisch-diskursive Pra-
indischer Philosophie wird zum Beispiel        xis in den Vordergrund stellt und dabei alles
dem Sehsinn eine überragende Bedeutung         Körperliche abwertet – vor allem, wenn der
zugeschrieben,11 der aber in metaphori-        Körper, wie im Iyengar-Yoga, eine so große
scher Verwendung immer mit einer Form          Rolle spielt.
von Erkenntnis verbunden ist, die letztlich         Ich möchte diese Problematik mithilfe
von den Sinnen losgelöst zu sein scheint:      eines kleinen Ausfluges in die Geschich-
So werden die sogenannten riśis, jener ge-     te der westlichen Philosophie erläutern,
heimnisvolle Nomaden-Stamm, dem man            in der in gleicher Weise das Sehen häufig
nachsagt, in Indien eingewandert zu sein       mit geistigem Erkennen gleichzusetzen ist.
und das Wissen um Yoga begründet zu ha-        Auch hier wird nicht vom Sehen als sinn-
ben, als Seher bezeichnet. Die sechs ortho-    licher Wahrnehmung, sondern von einer
doxen Philosophie-Schulen heißen darśana,      Art von Erkenntnis gesprochen, die sich
was von der Wurzel dṛś abgeleitet ist und      gerade nicht von sinnlichen Erlebnissen
soviel wie sehen oder betrachten bedeutet.     und Leidenschaften beirren lässt: Sokrates,
Gleichermaßen ist ein Synonym für den          jenem Philosophen, der in der Antike wie
puruṣa der Yoga-Sūtren das Sanskrit-Wort       kein anderer die westliche Philosophie ge-
dṛśta, der Sehende. Gemeint ist also in den    prägt hat, wird nachgesagt, dass er völlig
meisten Übersetzungen eine Form geistigen      nüchtern und klar erkennen konnte, ohne
Sehens. Auch Iyengar selbst versucht immer     von Emotionen oder Gefühlen gestört zu
wieder zu erläutern, wie die Āsana-Praxis      werden. Es gibt viele Lebenssituationen, in
zu geistigem Sehen führt.                      denen diese Fähigkeit Gold wert ist. Aber:
     Geistige Erkenntnis ist natürlich sehr    Seitdem gilt das geistige Erkennen (oder
wichtig und ich möchte deren Bedeutung         Sehen) dem Fühlen als überlegen. Wir sind
                                               mittlerweile über zahlreiche Generationen
                                               von dieser Ausrichtung so stark geprägt,
11 Neben dem Sehen gilt das Hören als wich-    dass wir sie selten hinterfragen. Sokrates,
tigster Sinn. In den Lehren der sogenannten    so sagt man, konnte sogar über den Eros
śrutis wird Gehörtes mündlich weitergegeben.   sprechen, ohne von diesem ergriffen zu

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sein.12 Was uns vielleicht im ersten Mo-          unentbehrlich auf dem Weg zur Freiheit, die
ment vernünftig erscheint – man kann als          niemals eine Freiheit vom Körper, wie in
Mensch des lógos nur in Klarheit über den         den meisten Interpretationen indischer Phi-
Eros sprechen, solange man nüchtern ist,          losophien, sondern immer nur eine Freiheit
– wird auf den zweiten Blick rasch faden-         im, mit und durch den Körper sein kann.
scheinig. Kann ein Philosoph tatsächlich               Auch in Iyengars praktischem Āsana-
wahrhaftig über den Eros sprechen, wenn           Unterricht war (im Gegensatz zu seinen
er diesen ausschließlich sachlich-objektiv        Büchern) wenig von geistiger Erkenntnis
betrachtet, ihn vielleicht noch nie selbst am     die Rede, sondern vielmehr von sinnlichen
eigenen Leib erlebt hat? Oder braucht die         Empfindungen, die in Form von Linien
Wahrheit über den Eros nicht auch die tiefe       und Kraftpunkten auf die Haut gezeichnet
sinnliche Erfahrung, die eigenen Gefühle?         wurden. Bisweilen nannte er diese Zeich-
Kann ein Philosoph nicht in mancher Hin-          nungen auch Mandala (oder Mandalāsana),
sicht wahrhaftiger über den Eros sprechen,        was wiederum ein Begriff ist, der dem Tan-
wenn er gerade nicht nüchtern, sondern von        trismus zuzuordnen ist. Auch führten diese
diesem mit allen Sinnen ergriffen ist?            Mandalas als Kraftlinien durch den Körper
     Ist es vielleicht so, dass beide Elemente,   hindurch – in Form von Bewegungsrichtun-
die intellektuelle Schulung und das körperli-     gen von Haut, Muskeln, Knochen und Orga-
che Spüren, für die Erkenntnis wichtig sind,      nen, was ganz allgemein zu einer besseren
und die Sinne zu unerlässlichen Wegberei-         Ausrichtung des Körpers, einer Energeti-
tern zu überbewussten Wahrnehmungsräu-            sierung und einer generellen Verfeinerung
men werden?                                       der propriozeptiven Wahrnehmung führte.13
                                                  Das entscheidende Sinnesorgan war bei ihm
Die Haut und die Berührung als                    in der Praxis also nicht der Sehsinn (auch
Erkenntnisform                                    nicht in metaphorischer Form), sondern
                                                  der Tastsinn, die Haut und deren Fähigkeit,
Tantrischen Theorien geht es im Erkenntnis-       Kontakt in Form von Berührung und Span-
und Transformationsprozess um eine Stei-          nung wahrzunehmen. Berührung als etwas
gerung der Empfindung, um in höchstem             Zartes und Intimes, die sowohl eine von
Maße verfeinerte Sinneswahrnehmungen,             außen kommende Kontaktaufnahme über
die zu Momenten der pulsierenden Stille           unsere Haut darstellt, als auch den Körper
führen, in denen der Lauf der Zeit für Au-        über den Atem von innen berührt, umgibt
genblicke anzuhalten scheint. Im Gegensatz        für Iyengar wie Luft jeden Aspekt des Seins
zu den Yoga-Sūtren bleibt der Körper in den       (vgl. Iyengar 2007: 220):
tantrischen Theorien bis zum letzten Schritt
                                                  „Und wenn wir zwischen uns und der Welt
                                                  außerhalb unserer Haut einen starren Pan-
12 vgl. Platons Symposion                         zer aufbauen, berauben wir uns der meisten

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Möglichkeiten die das Leben bietet." (Iyen-        sein durch die ganze Peripherie unseres
gar 2007: 60)                                      Körpers aus und kann wahrnehmen, ob
                                                   dieser in einem bestimmten Āsana richtig
Iyengar wird noch klarer, indem er die Haut        und harmonisch ausgerichtet ist." (Iyengar
in enge Verbindung mit der buddhi, also            2007: 64f)
jener Form von Intelligenz bringt, die der
Erkenntnis fähig ist: Die Haut ist für ihn das     Und so erläutert Iyengar in einem Interview
Gehirn des Körpers14 und reflektiert den ei-       ,15 dass auf dem Weg zum Über-Bewusstsein
genen mentalen Zustand (Iyengar 2007: 72).         die Intelligenz in jeder Zelle des Körpers
Damit deutet Iyengar an, dass das sinnliche        geweckt werden müsse, der Körper also auf
Spüren ein Türöffner für Bewusstseinszu-           besonders intensive Weise bewusst gemacht
stände ist, für das Über-Bewusste. Mittels         werden müsse…
der sensiblen Wahrnehmung auf der Haut
werden bloße Bewegungen (movement), die             „ […] so daß selbst die Haut bewußt wird.
wir im Āsana vollziehen, zu Bewegungen,            In diesem Prozeß verankert sich der Geist
die von Intelligenz durchdrungen sind (ac-         im gegenwärtigen Moment. Wenn du deinen
tion).                                             kleinen Zeh nicht sehen kannst, wie willst
                                                   du dann dein Selbst sehen? fragt Iyengar.“
„Wir entwickeln eine derart starke Sensibili-      (Cushman 1997: o.S.)
tät, dass jede Hautpore als ein inneres Auge
fungiert. Wir werden für die Schnittstelle         Auch Iyengar verwendet an dieser Stelle
zwischen Haut und Fleisch empfindsam.              den Begriff Sehen, aber natürlich meint er
Auf diese Weise breitet sich unser Gewahr-         mit dieser Art von Sehen weder die Tätigkeit

13 Uns allen bekannte Beispiele dafür sind Anweisungen, wie „Zieh die Kniescheibe hoch“, „Hebe
das Brustbein“ oder „Rolle die Oberschenkel von außen nach innen“.
14 Untersuchungen mit Robotern führten zur Schlussfolgerung, dass das Bewusstsein weniger sei-
nen Ursprung in der Intelligenz des Gehirns, sondern in der Berührung und daher auch in der Haut
haben könnte, da diese als Bindeglied zwischen uns selbst und dem Anderen fungiert (vgl. Skora
2007). Haut bringt uns - ob wir wollen oder nicht - in Verbindung zur Welt. Selbst-Bewusstsein (und
somit auch das Bewusstsein unseres Selbst) kann offenbar nur in Relation zu einem Bewusstsein
des Anderen entwickelt werden. Eine Öffnung und Weite zum Anderen hin, denkend oder fühlend,
scheint ein essentieller Bestandteil der Yogapraxis zu sein. Die Kultivierung der sensiblen Wahr-
nehmung, insbesondere auf der Haut, ist daher für Iyengar die Grundlage von bedeutungsvollen,
transformierenden Erfahrungen.
15 Das sehr lesenswerte von Anne Cushman geführte Interview „Iyengar looks back“ erschien
im Yogajournal 1997 und kann in der deutschen Übersetzung für die Abhyasa 9/1999 von Claudia
Böhm hier nachgelesen werden:
https://www.yoganika.de/wp-content/uploads/2018/11/Interview_BKS_Iyengar_Abhyasa_9_1999.pdf

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des Sinnesorgans Auge noch eine Art von            sondere Weise von diesen Wahrnehmungen
geistigem Sehen. Vielmehr handelt es sich in       allumfassend eingenommen. Es handelt sich
einem ersten Schritt um eine besondere Art         um sinnliche Wahrnehmungen ohne urtei-
des intensiven und allumfassenden Spürens,         lende Sinn-Zuweisungen – und nicht, wie in
wie beispielsweise das Spüren des eigenen          vielen philosophischen Theorien, um logi-
kleinen Zehs, das ich in Folge etwas genauer       sche Erkenntnis, die auch ohne Sinneswahr-
erklären möchte:                                   nehmung auskommen kann. Diese umfas-
                                                   sende sinnliche Wahrnehmung öffnet uns
Sparśa (die Berührung) ist eines der 25            die Tür zu neuen Bewusstseinszuständen.
tattvas, also der Grundprinzipien der Na-
tur in der Sāṃkhya-Philosophie. Sparśa             Die Haut und das Herz (hṛdaya)
stammt von der Wurzel spṛś, welche be-
deutet: berühren, mit etwas in mehr oder           Der Zustand höchsten Bewusstseins ist
weniger intensiven Kontakt treten, aber            für Abhinavagupta vimarśa. Dieser Be-
auch schlagen. Berührt werden ist also             griff wird in den meisten philosophischen
nicht immer ein sanfter Prozess, sondern           Schulen als vernünftiges Urteil, Wissen und
kann auch einen gewissen Schock implizie-          Erwägung übersetzt. Das Wort vimarśa
ren. In der Āsana-Praxis spüren wir nicht          stammt von der Wurzel mṛś- ab, was aber
nur die Haut, die den kleinen Zeh umgibt,          auch berühren bedeutet. Wir wissen, indem
sondern auch die Bewegung der darunter-            wir berühren oder von etwas berührt wer-
liegenden Muskel- und Gewebs-Schichten             den und so in Kontakt mit ihm treten. Auch
und Knochen. Vor allem aber spüren wir,            können wir uns selbst – und auch unser
wie der kleine Zeh den Boden berührt, mit          Selbst – berühren. Wir sind dann Berühren-
welcher Art von Druck, in welcher Intensi-         de und Berührte zugleich.16 Traditionell sind
tät, an welchen Stellen, in welchem Winkel         die für Abhinavagupta relevanten Sinne der
und so weiter. Manchmal hat Iyengar sei-           Seh- und der Hörsinn (vgl. Deshpande 1992:
nen Schüler*innen auch einen Schlag auf            65). Skora (2007) stellt nun aber die dazu
eine ihnen unbewusste Stelle versetzt. Die         in Widerspruch stehende Theorie auf, dass
Konzentration auf all das, was wir spüren,         die für die tantrische Praxis relevante Form
absorbiert unser Bewusstsein, wir denken           von Wissen für Abhinavagupta auch – und
nicht analytisch über unseren kleinen Zeh          vielleicht sogar vor allem – in berühren und
nach, sondern wir sind auf eine ganz be-           berührt werden begründet ist: Der Tastsinn

16 vergleiche dazu weiter unten die beiden Fähigkeiten von citta, dem „Bewusstsein“, einerseits die
Umwelt, aber auch das Selbst zu reflektieren. Citta zählt in der indischen Philosophie ja zur Mate-
rie, im weiteren Sinne handelt es sich also auch hier um keinen rein „geistigen“ Akt, sondern um
eine Art von Berührung, die in der wenn auch sehr feinstofflichen Materie einen Ein- oder Abdruck
hinterlässt.

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ist für ihn eine wichtige Form der Wahrneh-       auch der innere Sinn genannt wird. Und so
mung, weil er, so Skora (2007) das Potential      wird der mind, manas, der alle sinnlichen
in sich trägt, alle Sinne synästhetisch in eine   Wahrnehmungen sammelt und verarbeitet,
umfassende Wahrnehmung zu vereinen.               als innerer Sinn zu so etwas wie dem Tür-
      Unabhängig von der Betonung einzel-         öffner zum Herzraum:
ner Sinne basiert Erkenntnis im Tantrismus
niemals auf idealistischen Vorstellungen, die     „Many consider that the seat of the mind is
in einer Welt jenseits unserer sinnlich wahr-     confined to the brain, as mental activities
nehmbaren Welt begründet liegen, sondern          like thinking, remembering, emoting and
etwas zu wissen bedeutet immer, es auf            learning occur from the brain. Yet the mind
ganz besondere Weise körperlich zu wis-           lies beyond the brain. According to Yoga
sen – es intensiv sinnlich wahrzunehmen.          Sūtra III.3518, the heart is considered as the
Solche berührenden Erfahrungen sind kei-          source of mind.“ (Iyengar 2010: 7f)
ne logisch-rationalen, sondern können als
prä-reflektive, prä-diskursive aber auch prä-     Manas ist sowohl der Ort, an dem wir spü-
subjektive sinnliche Erfahrungen bezeich-         ren, als auch der Ort, an dem wir denken.
net werden. Sie führen uns in einen Zustand       Er ist sowohl der Sitz des unterscheidenden
der ganzheitlichen Wahrnehmung, bevor             Verstandes als auch der Sitz des fühlenden
wir als ein Subjekt mit einem bestimmten          Gemüts. Gleichzeitig führt er uns in den
erlernten Wissen und gewissen Konditi-            Herzraum. Daher scheint es mir selbstver-
onierungen in Verhalten und Denken mit            ständlich, dass wir uns Zuständen erhöh-
unserem Verstand die Dinge zu analysieren         ten Bewusstseins, samādhi, in einem ersten
und damit auch zu zerteilen beginnen. Sol-        Schritt von beiden Richtungen her annähern
che prä-subjektive Erfahrungen vermögen           können – symbolisch gesprochen über das
uns aber auch in jene Bewusstseinszustän-         Hirn und die Haut. Iyengar ging dabei von
de zu führen, die das Alltagsbewusstsein          einer Art Parallelismus aus, also das Denken
übersteigen und im sogenannten Herzraum           verändere sich harmonisch mit dem Wan-
erfahrbar sind. Diese prä-subjektive Ebene        del des Körpers und umgekehrt. Gepflegt
ist auch für Patañjali entscheidend, der eine     hat Iyengar bekanntlich beides, Körper und
falsche Ich-Zentrierung (asmitā) als leidvoll     Geist, hat er sich ja nicht nur seiner Āsana-
und den Versenkungszuständen hinderlich           und Prāṇāyāma-Praxis gewidmet, sondern
beschreibt.17                                     auch täglich mehrere Stunden mit Lektüre
      Iyengar beschreibt das Organ, mit des-
sen Hilfe nicht nur bewusste und unbewuss-
te, sondern auch überbewusste Zustände            17 Asmitā ist eines der fünf kleśas, der fünf
                                                  leidverursachenden Zustände.
erfasst werden, als manas, den mind – der         18 „Durch Saṃyama im Herzen erlangt man
in der Sāṃkhya-Philosophie als Sinnesor-          das Wissen (um die Inhalte und Neigungen) des
gan betrachtet wird und daher von Iyengar         Bewußtseins.“ (Iyengar 1995: 256)

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in der Bibliothek des Instituts verbracht.      ne der Sinne (Stufe 1), die durch das Er-
                                                leben der Bühnendarstellung im Theater
Körperliche Praktiken können in einer sol-      angesprochen werden. Durch das Gehörte
cherart verstandenen harmonisierenden           und Gesehene wird die Imaginationskraft
Praxis diskursive Formen des Bewusstseins       des Beobachters geweckt (Stufe 2) und er
– den unentwegten Monolog mit uns selbst,       beginnt sich in die Rolle des Helden ein-
der in unserem Kopf stattfindet – auflösen      zufühlen, die eine ganz andere ist, als jene,
und zu tief im Körper empfundenen For-          die er im Alltag gewohnheitsmäßig erfüllt
men des Bewusstseins führen, die Formen         (Stufe 3). Dies bewirkt, dass das Erleben
alltäglichen Bewusstseins übersteigen. Der      der eigenen Subjektivität, des eigenen in-
Ort, an dem wir dieses erhöhte Bewusstsein      dividuellen Gewordenseins in den Hinter-
erleben, ist das spirituelle Herz, sodass das   grund tritt – ein kathartischer Effekt tritt
Sinnesorgan mind oder manas auf verschie-       ein (Stufe 4). Schlussendlich führt das zum
densten Ebenen wirksam ist.                     sog. transzendentalen Level, in dem reine,
                                                stille Freude erlebbar wird (Stufe 5). Diese
„Actually the mind permeates between the        höchste Wahrnehmung ist völlig frei von
intellect of the head and the intelligence      individuellen Prägungen, sie ist eine Ebene,
of the emotional as well as the spiritual       die daher alle Menschen miteinander teilen.
heart engulfing the entire process of the             Diese ästhetische Theorie lässt sich mei-
conscious, sub-conscious, unconscious and       ner Meinung nach, etwas uminterpretiert,
super-conscious states." (Iyengar 2010: 62)     auch auf Iyengars Āsana-Praxis anwenden
                                                – nicht zuletzt auch, weil selbst Iyengar die
Die im Herzraum stattfindenden Zustände         Yoga-Praxis als künstlerischen Prozess be-
des Über-Bewussten scheinen so, wie Iyen-       zeichnete. In einem ersten Schritt nehmen
gar dies hier beschreibt, eine Form allumfas-   wir mit unseren Sinnen die „Geschichten“,
senden Bewusstseins darzustellen.               die Worte unserer Lehrer*innen, wahr. Die-
                                                se erzählen uns von etwas, das derzeit in
Transformierende Erfahrung                      unserem alltäglichen Erleben noch nicht ist.
durch Spüren – und nicht durch                  Unsere Sinne kommen so mit dem Anderen
rationale Erkenntnis                            in Berührung. Durch dieses Andere wird
                                                unsere Imaginationskraft angeregt und wir
Dies deckt sich mit Abhinavaguptas Fünf-        beginnen uns in das Andere hineinzufühlen.
Stufen-Theorie ästhetischer (also sinnlicher)   Etwas konkreter: Wir spüren in der Āsana-
transformierender Erfahrungsprozesse, die       Praxis unser eigenes Trikoṇāsana, vielleicht
er für künstlerische Prozesse, insbesondere     noch ein wenig verkrampft, verspannt und
für das Theater entwarf (vgl. Deshpande         eng. Und dann gibt es aber das Bild eines
1992: 85). Transformierende ästhetische         sehr offenen, ganz frei im Raum ausgerich-
Erfahrung beginnt demnach auf der Ebe-          teten Trikoṇāsana, das über die Worte der

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Lehrer*innen in uns erweckt wird und das         „Sie müssen, vom Scheitel bis zu den Fersen,
wir noch nicht sind. Wir beginnen uns nun        Ihre Mitte finden, und von dieser Mitte aus
über die Sinneswahrnehmung und über              müssen Sie sich in der Länge und Breite
die Imaginationskraft in dieses noch nicht       dehnen und weiten. Geht die Dehnung
verwirklichte Trikoṇāsana einzufühlen und        ursprünglich von der Intelligenz des Ge-
daher zunehmend zu diesem Trikoṇāsana            hirns aus, so entsteht die Weitung aus der
zu werden. Schlussendlich fühlen wir uns         Intelligenz des Herzens. […] Ausdehnung
so sehr in das Andere hinein, dass wir für       bedeutet Aufmerksamkeit, und Ausweitung
Momente leer von unseren bisherigen Er-          bedeutet Gewahrsein, wie ich oft sage. Es
fahrungen und Prägungen werden. Wir              meint, dass Sie die Aufmerksamkeit und das
werden dann, so Iyengars Theorie, für            Gewahrsein bis zu den Spitzen Ihres Kör-
Augenblicke ganz zu diesem Trikoṇāsana,          pers bringen und Ihr Gespür für die Haut
unserem Meditationsobjekt und können all         aktivieren.“ (Iyengar 2007: 70)
unsere subjektiven Erfahrungen, mit denen
wir uns zu identifizieren neigen, loslassen.     Während also die Fokussierung auf die Mit-
Dieses Erlebnis mündet in Momente stiller        te, das Halten und Strecken dieser Mitte, der
Freude. Dieser aus tantrischer Perspektive       Konzentration entspricht, einem Bewahren
beschriebene Prozess ist in vieler Hinsicht      und Neu-Ausrichten des eigenen Kerns ver-
mit Patañjalis letzten 3 Stufen des achtglied-   gleichbar, so ist die Ausdehnung das Gegen-
rigen Pfades, also Saṃyama, vergleichbar         teil, ein ekstatisches19 Verlassen der eigenen
und findet sowohl für Patañjali als auch für     Mitte (dessen, was scheinbar meinen Kern
Abhinavagupta im Herzraum statt.                 ausmacht), ein Öffnen in Richtung Welt
                                                 hin, hin zum Anderen, bis ein Zustand der
Sinnliche Wahrnehmung, die nicht mit             Selbstvergessenheit erlangt wird. Entschei-
Angst vor der eigenen Körperlichkeit, son-       dend ist, dass Meditation immer beide Ele-
dern mit Freude wahrgenommen wird, hat           mente verbindet, gewissermaßen eine zen-
immer einen weitenden Effekt – weitend           tripetale und eine zentrifugale Bewegung.
auf den Körper und auf den Geist. Iyengar
beschreibt daher movement with intelli-          Transformierende Erfahrung bei
gence, also action, in Āsanas folgenderma-       Patañjali
ßen: Zum einen gibt es einen Prozess des
Längens und Streckens, was er dem Gehirn         Wie erklärt nun Patañjali diese Wandlung
zuordnet und als auf einen Punkt (bzw. auf       von einem Alltagsbewusstsein zu einem
eine Linie) fokussierte Aufmerksamkeit be-       erhöhten Bewusstsein?
schreibt. Dann aber gibt es vor allem auch
einen Prozess des Weitens, der dem Herzen
zuzuschreiben ist, und der als umfassendes       19 von ἐξ-ίστασθαι ex-hístasthai: aus sich
Gewahrsein beschrieben wird:                     heraustreten, außer sich sein

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Mit Hirn, Haut und Herz

Iyengar beschreibt citta, das „Bewusst-            liegt darin, dass es sich bei dieser gewisser-
sein“20, derart, dass es von den Dingen der        maßen um eine materielle Nachahmung der
Außenwelt gefesselt ist und sich entspre-          empfundenen Gegenstände handelt. Dies
chend der Qualitäten der zugewendeten              gilt auf einer sinnlichen Ebene genauso
Objekte einfärbt. Gleichermaßen ist citta          wie auf einer kognitiven, da ja auch geis-
aber auch von der Leuchtkraft des puruṣa           tige Prozesse materielle Prozesse sind. Da-
angezogen und kann dessen Transparenz              her ist die Verfeinerung der Wahrnehmung
annehmen, wenn es seine Aufmerksamkeit             des Außen, die Schulung des Spürens noch
dort hin richtet (Iyengar 1995b: 75). Citta        subtilerer Ebenen der äußeren, materiellen
reflektiert also entweder die Außenwelt            Welt, die Vorbereitung für die subtilste al-
oder unser Selbst, puruṣa.                         ler Wahrnehmungen, die Wahrnehmung
     Aufgrund der Āsana- und Prāṇāyāma-            und damit auch Nachahmung des puruṣa.
Praxis und der mit ihr verbundenen Ver-            Selbst-Reflektion im Sinne der Spiegelung
feinerung der Sinneswahrnehmung kommt              des eigenen Selbst ist daher in letzter Kon-
es schließlich zu einer Umkehr der Bewe-           sequenz nicht als ein Nachdenken über und
gung der eigenen Sinnesorgane: Sie wen-            somit Erkennen des eigenen Selbst zu ver-
den sich nicht mehr nach außen, was ihre           stehen, sondern als ein plastisches Spüren
Natur im Alltag ist, sondern beginnen sich         und Nachahmen auf allen Ebenen.
nach innen zu kehren und das eigene Selbst              Warum kommt es aber überhaupt zu
nachzuahmen: Dieser Vorgang ist mit dem            dieser Umkehr der Sinne? Hier sagt Iyen-
Zurückziehen der Sinne (pratyāhāra) ge-            gar, dass citta von cit (oder puruṣa) wie von
meint. Die Sinne werden so zur Ursache             einem Schwerkraftzentrum angezogen wird
der Selbst-Reflektion (hier also gemeint als       (Iyengar 1995: 75b) – wer also aufmerksam
eine Reflektion unseres Selbst, puruṣa, vgl.       und sensibel genug spüren gelernt hat, kann
Sūtra II.5421, der aber immer eine durch die       gar nicht anders…
Begegnung mit dem Anderen ausgelöste
Selbst-Reflektion im gängigen Sprachge-            Welche Form nimmt dann aber citta an,
brauch vorausgeht).                                wenn es cit (oder puruṣa) zu fühlen und
     Ein wesentlicher Punkt jeder Art von          daher auch zu imitieren beginnt? Wir wis-
Wahrnehmung in der indischen Philosophie           sen, dass die eigentliche Wesensidentität des

20 In den deutschen Übersetzungen der Texte Iyengars wird citta häufig mit „Bewusstsein“
übersetzt. Es gibt im Deutschen leider keinen Begriff, der citta angemessen übersetzen könnte.
Citta umfasst gemäß Iyengar buddhi, ahaṃkāra und manas. Die Übersetzung mit Bewusstsein ist
insofern problematisch, als citta in der dualistischen Sāṃhya-Philosophie der Materie zu zu ordnen
ist, während das Bewusstsein im Körper-Geist Dualismus der westlichen Philosophie dem geistigen
Prinzip zuzuordnen ist.
21 „Die Sinne von den äußeren Gegenständen abzuziehen und sie nach innen auf das Eigenwesen
des Bewußtseins (den Seher) zu richten: das ist Pratyāhāra.“ (Iyengar 1995: 206)

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Mit Hirn, Haut und Herz

puruṣa einer bestimmten Form der stillen         „Es handelt sich um die Erkundung der Na-
Leere entspricht, die indirekt bereits im        tur, ausgehend von der Welt der Erschei-
zweiten Sūtra mit nirodhah22 angedeutet          nungen, oder der Oberfläche, bis hin zum
wird. Aber auch wissen wir, dass puruṣa          subtilsten Kern und Herzschlag lebendiger
ohne prakṛti nicht zu fühlen imstande ist,       Materie." (Iyengar 2007: 50)
er braucht diese um sich selbst wahrzuneh-
men (vgl. Iyengar 2008: 51). Puruṣa gleicht      Das, was übrig bleibt, wenn sich alle For-
einem passiven, stillen Beobachter, der der      men und Erscheinungen der prakṛti auflö-
Welt nichts hinzufügt, sie aber benutzt, um      sen, ist eine pulsierende, stille Leere. Kann
sich selbst wie in einem Spiegel (also mit-      diese Bewegung der Erkundung der Natur
tels der Selbst-Reflektion) zu erkennen. Oder    von außen nach innen und von innen nach
besser noch: Um sich selbst nicht nur zu         außen, von der sensiblen Wahrnehmung der
sehen, sondern mit allen Sinnen auf freud-       Haut zum eigenen Selbst und umgekehrt,
volle Weise zu spüren (puruṣa wird vom           über einige Zeit aufrechterhalten werden, so
Samhya-Gelehrten Larson auch als the en-         kommt es zu Konzentration und Meditation,
joyer bezeichnet, vgl. Bhattacharya/ Larson      dhāraṇā, dhyāna und samādhi. Es wird der
1987). Dies ist, könnte man mit Iyengar sa-      stille Puls alles Lebendigen wahrnehmbar,
gen, mit der unterscheidenden Erkenntnis         was Iyengar als gleichmäßigen und rhyth-
zwischen Vergänglichem und Ewigem ge-            mischen zentripetalen und zentrifugalen
meint (viveka-khyati). Da aber die Materie       Strom der Energie in den Kanälen des Kör-
der Stoff ist, auf dem diese Spiegelung statt-   pers beschreibt. Diese Erfahrung ist eine des
findet, kann es gemäß der Sāṃkhya-Yoga           Glücks, ānanda, die die Sinne ergreift:
Philosophie niemals eine „tote“ Leere, das
absolute Nichts sein, die gefühlt und nach-      „Ein Gefühl von reiner Freude erfaßt den
geahmt wird, sondern eine Leere, die zwar        inneren Sinn und alle Zellen." (Iyengar
von verfestigten Formen und Strukturen           1995b: 195)
der Materie befreit, aber unweigerlich vom
beständigen Puls alles Lebendigen gefüllt        Dies deckt sich mit Abhinavaguptas Be-
ist, dem vibrierenden Herzschlag der Na-         schreibung der fünften Stufe ästhetischer
tur prakṛti.                                     Erfahrung, die immer große Glückseligkeit
                                                 mit sich bringt. Dieses freudige Empfinden
Deshalb sagt ja auch Iyengar über die Yo-        der Leere voll von pulsierender Intensität
gapraxis, um zu obigem Zitat zurück zu           ist auch, was der Tantrismus als das Erleben
kommen:                                          im spirituellen Herzraum beschreibt: Die Ei-
                                                 genschaft des Herzens (hṛdaya) ist die Leere
22 yogaś citta-vṛtti-nirodhaḥ: Yoga ist das
                                                 und die Vibration (spanda). Das spirituelle
Aufhören aller Bewegungen im Bewußtsein          Herz ist ein unendlich weiter Raum, „ge-
(Iyengar 1995: 83)                               füllt“ mit einer energetisch-pulsierenden

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Mit Hirn, Haut und Herz

Leere23, die manchmal erst durch den Tanz         Wesentlichem und Unwesentlichem unter-
Śivas geschaffen werden muss – ein Tanz,          scheidet, wie beim kleinen Prinzen, sondern
der ein Festhalten an allen unnötig starren       ein Raum, in dem sich schlussendlich alles
Formen vernichten soll. Und so übersetzt          differenzierendes Urteilen als unnötige
Skora mit Gonda die riśis nicht als die Se-       Strukturierung auflöst. Es ist ein Ort, in
henden, sondern vor allem als the vibrant         dem das erfahrbar wird, was allem Sein
ones (vipra) (vgl. Skora 2007, Gonda 1963),       gleichermaßen zugrunde liegt.
also jene Weisen, die den Kern der Natur,
von dem Iyengar spricht, in meditativen Zu-       Dieser stille Ort, an dem fast alle Formen
ständen nicht kognitiv erfasst, auch nicht        von Unterscheidung völlig unbedeutend
emotional erfühlt, sondern am eigenen Leib        werden, ist ein Raum, der immer da ist
mit allen Sinnen erfahren haben.                  und den wir durch bestimmte Praktiken
                                                  für Momente zu betreten vermögen, bevor
Der Herzraum ist jener unendlich weite,           wir wieder in unser Alltagsbewusstsein zu-
leere und zugleich höchst energetische            rückkehren. Es ist ein Ort, der uns in der
Raum, der als mögliche Seinsebene in je-          Iyengar Yoga Praxis genauso, wie im Tant-
dem Augenblick potentiell existiert, den wir      rismus, zunächst durch die Sinne geöffnet
in Momenten der Versunkenheit für einige          werden kann. So kommen wir zu äußerst
Sekunden oder Minuten realisieren, also be-       intensiven Formen des Bewusstseins, die in
treten. Als unendlicher Raum kann er aber         gewisser Weise Haut und Hirn im Herzen
auch niemals ein privater Raum sein. Es ist       vereinen – aber nur insofern, als sie deren
ein Raum, an dem wir als einzelne Subjekte        Unterscheidung auflösen.
Anteil haben, dessen pulsierend-leere „Qua-
lität“ gemäß vieler asiatischer Philosophien      Auch wenn es manche Parallelen zum
die Grundlage allen Seins ist und der daher       westlichen Denken, wie zu den mystischen
nicht nur für uns als Einzelperson persön-        Interpretationen des Christentums, gibt,
lich existiert, sondern für alle Individuen. Es   unterscheidet sich dieser Ort grundsätzlich
ist daher ein Raum, den wir so betrachtet         ganz wesentlich von den von mir zu Be-
mit allen anderen Menschen teilen.                ginn erwähnten Arten des Verständnisses
                                                  des Herzens in der westlichen Philosophie.
Das spirituelle Herz der indischen Philo-
sophie ist kein Raum des Urteils zwischen         Auf Nachfrage stellt die Redaktion das Li-
gut und böse, wie wir das aus dem Chris-          terarutverzeichnis zum Text zur Verfügung.
tentum kennen, kein Raum, der zwischen

23 Hier drängt sich eine Assoziation zur Quantenphysik auf, in der das Vakuum ja auch keine
absolute und tote Leere ist, sondern als Raum voller schwingender Möglichkeiten beschrieben wird.

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