Wissenschaft, Lehrkunst und Technologie: Bemerkungen zum pädagogischen - Ingenta Connect

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PR 2021, 75. Jahrgang, S. 495-506
                   © 2021 Gabriele Strobel-Eisele - DOI https://doi.org/10.3726/PR052021.0048

                                      Gabriele Strobel-Eisele

    Wissenschaft, Lehrkunst und Technologie:
       Bemerkungen zum pädagogischen
                 Grundwissen1
Die Kernthemen der Pädagogik bezie-                         zum Technologieverständnis in der Erzie-
hen sich auf die Fragen, was Erziehung,                     hung schließen sich an. Dabei steht die
guter Unterricht, was eine gute Schule ist                  evidenzbasierte, empirische Forschung
und natürlich auch darauf, mit welchen                      mit ihrem unterschwellig mitgeführten kau-
Maßnahmen, Mitteln oder Techniken wir                       salen Technologieverständnis im Fokus
erziehen, unterrichten und wie wir Schu-                    (2). Abschließend wird am Beispiel eines
le gestalten. Dafür hat die pädagogische                    aktuellen Digitalisierungskonzepts für die
Disziplin ein umfangreiches, wissenschaft-                  Schule auf vergessene pädagogische Tat-
lich fundiertes Wissen entwickelt und es                    bestände aufmerksam gemacht (3).
einem ständigen Reformprozess unterzo-
gen. Erziehungsziele, Reformprogramme
und Probleme werden unter der Perspek-                      1. Differenz zwischen
tive der Frage betrachtet: Wie macht man                        Wissenschaft und Lehrkunst
das? Wie erreicht man die gewünschten
Wirkungen? Mit diesen Fragen haben wir                      Johann Friedrich Herbart ist der erste, der
einen Sachverhalt vorliegen, für dessen                     die Pädagogik auf ein wissenschaftliches
Bearbeitung die Pädagogik Begriffe wie                      Fundament gestellt hat. Er nimmt eine
Wissenschaft, Lehrkunst und eben auch                       Sonderstellung ein, insofern er der wis-
Technologie verwendet. Jeder der drei                       senschaftlichen Fundierung der Pädago-
Begriffe stößt auf unterschiedliche Denk-                   gik einen zentralen Stellenwert in seinem
traditionen bei Pädagogen und damit auf                     Gesamtwerk einräumt und Erziehungs-
weniger oder mehr Akzeptanz auf der                         fragen nicht wie z.B. Kant und Hegel als
disziplinären Ebene. Obwohl diese The-                      Nebenthemen ihrer Philosophie thema-
matik seit langem in immer wieder neuen                     tisiert. Herbarts berühmter Satz aus der
Termini aufgenommen und reflektiert wird,                   Allgemeinen Pädagogik von 1806 lautet:
beobachten wir eher eine Art engagierter                    „Pädagogik ist die Wissenschaft, deren
„Dauerreflexion“ als das Bemühen um eine                    der Erzieher für sich bedarf“2. Sein Anlie-
Standardisierung des Fachwissens darü-                      gen zu seiner Zeit betrachtet lag durchaus
ber. Die folgenden Ausführungen haben                       im Trend, denn im 18. Jahrhundert hatte
das Ziel, an die Einheit der Differenz von                  die Aufklärung in vielen anderen Gebieten
Wissenschaft und Lehrkunst zu erinnern,                     bereits zu theoretischen Fundierungen ge-
wie sie von Johann Friedrich Herbart ent-                   führt3 und mit Traditions- und Autoritätsbin-
wickelt wurde (1). Begriffliche Klärungen                   dungen gebrochen. Auch unterscheidet

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er sich von der Ratgeberliteratur seiner                    Wissenschaften der Fall ist. Herbarts Über-
Zeit, etwa der Erziehungslehre August                       legungen sind als Schritte zu lesen, wie
Herrmann Niemeyers von 1796; aber                           man von der praktischen zur theoreti-
auch von romanhaften Darstellungen wie                      schen Einstellung gelangt und damit zur
Rousseaus „Emile“ oder Goethes Wilhelm                      wissenschaftlichen Haltung. Man stellt
Meisters Lehrjahre. Herbarts vorrangiges                    vertraute Gewohnheiten und Verfahren
Anliegen ist es, eine wissenschaftliche                     unter Verdacht oder sieht sie als Hemm-
Einstellung bei den Erziehern zu entwi-                     nisse für das Erkennen neuer Möglich-
ckeln. Diese besteht zunächst darin, vom                    keiten an. Routinen und Erfahrungen sind
eigenen Erleben und von persönlichen Er-                    nicht grundlegend zu verwerfen, denn sie
fahrungen Abstand zu nehmen. Sich von                       schützen vor Irritationen und Unsicherheit.
der eigenen Berufsgeschichte zu distan-                     Aber, so Herbart, sie werden erst durch
zieren, die besonders zur Begründung der                    Reflexion und Begründung zu Stützen für
getroffenen Maßnahmen und Strategien                        die berufliche Praxis.
dient, fällt nicht leicht. Für Herbart gehört                   Neben die Wissensgenerierung durch
das Absehen davon aber zu der Bedin-                        Wissenschaft tritt aber noch eine weitere
gung, um überhaupt eine wissenschaftli-                     wichtige Einsicht. Herbart betont, dass
che Haltung entwickeln zu können. Nur so                    auch das theoretische, wissenschaftliche
kann es gelingen, von dem „Schlendrian“                     Wissen nicht einfach in die Praxis verlän-
loszukommen, den der 90jährige Dorf-                        gert werden kann. Theoretisches Wissen
schullehrer hat4. Diese berühmte Stelle ist                 ist zu allgemein und die Erfordernisse
zu einem Topos geworden für willkürliches                   der Erziehungspraxis zu speziell: Theore-
und unwissenschaftliches Erzieherverhal-                    tisches Wissen trifft nie umfänglich und
ten. Allerdings ist hier anzumerken, dass                   stringent auf den besonderen erzieheri-
das Wort ‚Schlendrian‘ damals auch eine                     schen Fall zu. Es gibt „Überschüsse“ der
andere Bedeutung hatte. Es meint nicht                      Theorie und unvorhersehbare Besonder-
Schlamperei oder Faulheit, sondern steht                    heiten des praktischen Falls: „In der Schu-
für Gewohnheiten, Routinen oder eben                        le der Wissenschaft wird daher für die
„Erfahrungswissen“ aus der eigenen Pra-                     Praxis immer zugleich zu viel und zu wenig
xis. Man kommt damit möglicherweise in                      gelernt“6. Der Übergang vom Wissen zum
der Praxis zurecht, aber es genügt nicht                    Handeln oder der Übergang der Theorie
für die Wissenschaft bzw. für eine wissen-                  in das Leben, wie es Goethe nannte, ist
schaftliche Einstellung.                                    nicht stetig oder logisch. Es gibt, wissen-
    Was meint Herbart mit Wissenschaft?                     schaftlich gesprochen, keine „Theorie“
Dazu lenkt er den Blick auf andere Erfah-                   oder Regel, die zwischen Wissen und An-
rungswissenschaften wie die Physik und                      wendung stetig vermittelt. Nicht die Regel
sagt sinngemäß: Man kann dort lernen,                       oder der empirische Befund vermittelt zwi-
dass es auf wiederholte Versuche und Be-                    schen Theorie und Praxis: Herbart sieht
obachtungen ankommt und man aus einer                       diese Überbrückungshilfe in der Kunst,
einzigen Erfahrung und aus zerstreuter                      die dafür eine Verbindung mit der Wissen-
Beobachtung nichts lernen kann im Sinne                     schaft eingeht.
der Gewinnung allgemeiner Lehrsätze und                         Was Herbart hier im Sinn hat, klärt sich
Regeln5. Um etwas wissenschaftlich zu er-                   weiter in seinem Konzept des pädagogi-
kennen und zu wissen, wie man zu verfah-                    schen Takts. „Es gibt eine Vorbereitung
ren hat, kommt es also auf systematische                    der Kunst durch die Wissenschaft, eine
Beobachtung, Vergleich und wiederholte                      Vorbereitung des Verstandes und des Her-
Versuche an, so wie es in den anderen                       zens vor Antretung des Geschäfts …“7.

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Die Verbindung von Kunst und Wissen-                        ein unmögliches Unterfangen, weil jeder
schaft leistet der pädagogische Takt. In                    Erziehungsversuch als einmaliger, nicht
ihm verbinden sich beide Elemente mit                       wiederholbarer Akt gesehen wurde. Der
dem Ziel, das praktische Handeln theorie-                   Beitrag von Schloz10 illustriert den Diskurs
geleitet zu beobachten und auf die Anfor-                   darüber und sieht den eigentlichen Grund
derungen und spezifischen Bedingungen                       in der Unverfügbarkeit der Menschlichkeit
der jeweiligen erzieherischen Situation                     und der Freiheit des Individuums. Wilhelm
sozusagen „nach allen Regeln der Kunst“                     Flitner spitzte diese Position noch einmal
anzuwenden8. Kunst impliziert ein Können                    zu, indem er die Frage stellt: Ist Erziehung
und darum geht es in der Erziehungs-                        sittlich erlaubt?11. Beim Übergang in die
kunst: Um ein den Regeln der Kunst ent-                     Praxis hat das pädagogische Handeln mit
sprechendes, fachgerechtes Können, um                       Motivation und Verstehensproblemen zu
Formen und Handlungsweisen, die für das                     tun. Im ersten Fall geht es um die Kunst,
Erziehen und Unterrichten grundlegend                       Schüler für Themen zu gewinnen, für die
sind und die der Erzieher dafür braucht                     sie noch kein Interesse haben, im zweiten
und anwendet. Der Grund für die Beto-                       Fall um Themen und Lerngegenständen,
nung der Kunst ist dabei in der Erfahrung                   die die Lernenden verstehen sollen. Die
der Wirkungsunsicherheit alles Erziehens                    Frage lautet also: Wie gelingt es, mit wel-
zu sehen. Ihr kommt die Aufgabe zu, die                     chen Maßnahmen und Techniken, den Ler-
Vermittlung von Sache und lernendem                         nenden so zu motivieren und ihm etwas so
Subjekt sensibel und kreativ zu justieren,                  zu zeigen, dass er es verstehen und selbst
denn es bedarf stets einer angemessenen,                    wieder zeigen kann?
klugen, eben „kunstvollen“ Anwendung                             Obwohl die erzieherischen Praxen und
von Regeln oder wissenschaftlichem Wis-                     Praktiken zu allen Zeiten genügend Anlass
sen auf den jeweiligen Fall. D.h., zwischen                 lieferten, an der jeweiligen Kunstfertigkeit
der Erziehungswissenschaft, die in empiri-                  begründet zu zweifeln, lässt sich an der
scher und kritischer Hinsicht den Prozess                   Entwicklung der Pädagogik als wissen-
der Erziehung untersucht, artikuliert sowie                 schaftliche Disziplin belegen, dass sie
auf den Begriff bringt und dem Erziehen                     trotz dieser Skepsis und den offensichtli-
vor Ort vermittelt die Erziehungs- bzw. die                 chen Misserfolgen in der Erziehung ihren
Lehrkunst.                                                  Aufgabenkern gerade darin gesehen hat,
    Diese Sachlage sollte man sich klar                     das „Unmögliche“ doch möglich zu ma-
machen, ehe man pädagogisch-wissen-                         chen oder seine Eintrittswahrscheinlich-
schaftliche Theorie und pädagogische                        keit zu erhöhen. Dieser „take-off“ lässt
Praxis aufeinander bezieht und sich Ge-                     sich sehr eindrucksvoll an den Ergebnis-
danken über ihre Organisation macht.                        sen dieser Bemühungen ablesen: an den
Darin spiegelt sich auch die Differenz von                  vielen Handbüchern und Kompendien der
Lehren und Lernen bzw. die Einsicht, dass                   Pädagogik, den klassischen Erziehungs-
es entsprechend auch keine direkte Ver-                     theorien oder den nach Schlüsselwerken
bindung von Erziehen und Lernen gibt,                       des Erziehens aufgereihten Programmati-
sondern von einer prinzipiellen Differenz                   ken12; ebenso an der großen Anzahl von
zwischen beiden Bereichen9 auszuge-                         speziell auf Schule und Unterricht bezogen
hen ist. Diese Differenz wurde mit immer                    allgemeinen Theorien und Modellen der
neuen Bezeichnungen beschrieben und                         Didaktik13, aber auch an jener pädagogi-
fand ganz unterschiedliche Akzentuierun-                    schen Fachliteratur, die die Kluft zwischen
gen. Manche Pädagogen hielten schon die                     den didaktischen Großformen und den
Planungsbemühungen des Erziehens für                        bloßen Rezepten für den Schulunterricht

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zu überbrücken versucht. Hier sind die                      Kommunikation und Interaktion zu tun. Hier
„Bauformen des Unterrichts“ (1986) von                      können die Subjekte selbst wählen, wie sie
Klaus Prange zu nennen14. Was unter mo-                     reagieren wollen. Wir wenden uns z. B. mit
derner Lehrkunst gefasst wird, ist sehr                     kommunikativen Techniken an Personen,
differenziert und anhand von Beispielen                     um sie dazu zu bewegen, uns ins Kino oder
dargestellt. So kann Unterricht auf drei                    Konzert zu begleiten und stellen fest, dass
unterschiedliche Weisen artikuliert wer-                    sie unsere Einladung ablehnen. Derartige
den, die bis heute als grundlegende For-                    Misserfolgserlebnisse überraschen in der
men gelten: Als pragmatisches Modell,                       Regel nicht, weil man stets mit der Un-
als lektions- bzw. instruktionsbasiertes                    gewissheit des Ausgangs rechnen muss.
Modell und als erlebnisbezogenes Modell.                    Auch im pädagogischen Handeln setzen
Jedes Modell offerierte und beschreibt                      Erzieher Techniken, Praktiken und Hand-
eine besondere Form der Überbrückung                        lungsformen ein, um die gewünschten er-
von Erziehung, Lehre und Lernen. Weitere                    zieherischen Absichten zu erreichen, wohl
Vorschläge sind in der Lehrkunstdidaktik                    wissend, dass diese die gewünschten
von Berg15 beschrieben oder in den Lehr-                    Erfolge nicht verbürgen. Der letzte große
modellen von Gruschka16.                                    Diskurs darüber war die von Luhmann und
    Mit den didaktischen Modellen, For-                     Schorr 1979 angestoßene Debatte um das
men und Figuren der Lehrkunst ist stets                     Technologiedefizit der Erziehung und die
das Wissen über die Unsicherheit des Aus-                   Selbstreferentialität ihrer Adressaten. Aber
gangs verbunden. D.h., Lehrkunst impli-                     aus den vielen richtigen Defizitbeschrei-
ziert, dass es sich nicht um mechanisches                   bungen folgt nicht, dass es überhaupt
Wissen handelt oder eine direkte Umset-                     keine Strategien, Maßnahmen und Regeln
zung möglich ist. Diese Haltung ist bei der                 gibt, nach denen Erzieher handeln resp. er-
empirischen Bildungsforschung, insbe-                       ziehen oder dass man angesichts von nicht
sondere der evidenzbasierten Forschung,                     zu vermeidenden Misserfolgen das Erzie-
nicht immer zu erkennen. Gerade die expe-                   hen und Lehren gleich lassen sollte. Auch
rimentellen empirischen Forschungsstudi-                    Luhmann und Schorr bringen „Kausal-
en haben den Anspruch, in ihren Befunden                    pläne“ im Sinne von Softtechnologien ins
ein Wirkungswissen bereitzustellen, das                     erzieherische Spiel zurück, weil das päd-
eine effektive Praxis sicherstellen kann.                   agogische Handeln „kausal“ orientiert sein
Dies lässt sich als unterschwellige Tech-                   muss, wenn es um bestimmte und nicht
nologieannahme deuten, die im Extremfall                    irgendwelche Intentionen geht und die
keiner Lehrkunst mehr bedarf.                               entsprechenden Wirkungen erzielt werden
                                                            sollen17. D.h., Absichten verlangen nach
                                                            Technologien, daher muss der Erzieher un-
2. Technologie und                                         terstellen, dass seine Techniken oder Prak-
    evidenzbasiertes                                        tiken das Ziel erreichen und gleichzeitig
    empirisches Wissen                                      damit rechnen, dass der Erfolg ausbleibt.
                                                            Diese grundsätzlich unsichere Vermittlung
Der Terminus Technologie hat seinen Ur-                     von Psychischem und Sozialem findet im
sprung in den Ingenieurswissenschaften                      Beitrag von Kraft „Operative Triangulierung
und ist auf ein mechanisches Wissen be-                     und didaktische Emergenz“ eine weiterfüh-
zogen, wie es bei der Konstruktion von                      rende Erläuterung18.
Maschinen der Fall ist. In der Erziehung                         Mit der Veränderung der Erziehungswis-
bewegen wir uns dagegen in mensch-                          senschaft zu einer stärker empirisch-ana-
lichen Verhältnissen und haben es mit                       lytisch geprägten Wissenschaft setzt sie

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gewissermaßen den Weg fort, den Herbart                     Belege entsprechend verhalten wird,
eingeschlagen hat. Insofern stellt sich die                 wenn man sie nur konsequent anwendet.
Frage Herbarts nach der Verbindung von                          Dagegen ist einzuwenden, dass in
Wissenschaft und Lehre bzw. Lehrkunst                       der nur schwer vorhersehbaren komple-
neu. Dies wird nun bezogen auf die evidenz-                 xen Realität einer pädagogischen Praxis
basierte Forschung reflektiert, weil sie in der             wie der des Schulunterrichts, sich auch
Erziehungswissenschaft inzwischen eine                      empirisch-experimentelles Wissen nie
herausgehobene Stellung einnimmt19. Dem                     nur einfach anwenden lässt. Im Rahmen
Selbstverständnis dieser Forschungstech-                    einer komplexen pädagogischen Praxis
nik nach stellt das so generierte Wissen ein                beobachtet und reflektiert der Lehrer die
Steuerungswissen bereit, d.h., ein „siche-                  konkreten Bedingungen. Er kennt den indi-
res“, propositionales Wissen, dem direkte                   viduellen Fall, er hat Erfahrungen darüber,
Umsetzbarkeit und Effektivität zugeschrie-                  wie die Lerngruppe wahrscheinlich reagie-
ben werden. Mit dieser Annahme kommt                        ren wird, was klappen kann, was nicht,
es dem kausalen Technologieverständnis                      wieviel Offenheit der Lernende „verträgt“,
relativ nahe und zieht die Frage nach sich,                 wo und wann er Instruktion und Anleitung
ob Lehrkunst dann noch nötig ist.                           braucht, wann Fremdkontrolle und unter
     Das evidenzbasierte pädagogische                       welchen Bedingungen selbstorganisiertes
Wissen wird über randomized controlled                      Lernen und Selbstkontrolle eher nicht zum
trials (RCT) - Forschungsdesigns ge-                        Ziel führen werden. Dieses Wissen wird
wonnen und gilt als „Goldstandard“ der                      aus Erfahrung und Reflexion gewonnen.
empirischen Forschung20. Sein Ansehen                       „Der von der evidenzbasierten Pädagogik
ist höher als alle anderen Standards und                    erhobene Anspruch auf ein Wissen, das
seine empirischen Belege haben einen hö-                    die Bedingungen exakt bezeichnet, unter
heren wissenschaftlichen „Impact“ als alle                  denen pädagogische Zielzustände inter-
anderen empirischen Evidenzklassen, wie                     ventionistisch erreicht werden, wäre selbst
z. B. reflektiertes Erfahrungswissen oder                   dann nicht einlösbar, wenn die Erziehungs-
Expertenwissen. Wie die Bezeichnung                         wissenschaft ganz auf experimentelle For-
„controlled“ schon besagt, stellt die evi-                  schung umstellen würde“21. Das ist das
denzbasierte Forschung ein Kontrollwis-                     Feld der Lehrkunst und daher sind weder
sen bereit. Es handelt sich um Befunde,                     die Ergebnisse der experimentellen For-
die jene Bedingungen nennen, die sicher-                    schung noch dieses Forschungsdesign
stellen, dass Maßnahme A die Wirkung B                      an sich das Maß aller Dinge, wie Hechler22
hervorruft. Über die experimentelle For-                    sehr überzeugend ausgeführt hat. Vieles
schung sollen gültige, verbriefte Aussagen                  spricht dafür, dass aus der Sicht der Lehr-
oder Gesetzlichkeiten festgestellt werden,                  kunst das evidenzbasierte Wissen und das
die dann Unterrichtsprozesse effizienter                    empirische Erfahrungswissen der Lehrer
anleiten und effektiver verfügbar machen.                   als funktional äquivalent anzusehen sind.
Schon an dieser Stelle wird deutlich, dass                  Auch das experimentell generierte Wissen
sich diese Forschung im Fahrwasser kau-                     ist eben nur ein Wissen, auf das die Er-
saler Technologieerwartungen bewegt.                        ziehungs- bzw. Lehrkunst sich je nach den
Stützt der Lehrer sein Handeln auf jene                     situativen und individuellen Bedingungen
Befunde, die über diese quasi-experimen-                    der Praxis stützen kann oder auch nicht.
tellen Studien und Kontrollgruppendesigns                   Andere innovative Maßnahmen, die aus der
gewonnen wurden, so soll begründet er-                      eigenen Unterrichtserfahrung oder aus di-
wartet werden dürfen, dass die konkrete                     daktischen Artikulationstheorien und Lehr-
Praxis sich der Logik dieser empirischen                    modellen bezogen werden, können sich je

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nach Ziel und Absicht als erfolgreichere                    Lehrerzentrierter und offener Unterricht,
Alternativen erweisen. Ein „Goldstandard“                   Kooperatives Lernen und Klassenfüh-
in diesem Sinne findet sich z.B. in erlebnis-               rung, Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis,
basierten Unterrichtsformen, in denen die                   effektives Üben oder Feedback u.v.m. Die
Schönheit eines Gedichts nachhaltig ver-                    Befunde bieten ein vielfältiges, gut ver-
mittelt wird: So kann ein Lerngang in einen                 ständliches Orientierungswissen bei der
Blumengarten die richtige Maßnahme                          Planung z.B. zu kooperativen Lernformen.
sein, wenn es um das Verständnis von lyri-                  Aber auch hier ist zu beachten, dass sich
schen Bildern in einem Gedicht geht: Was                    grundsätzliche didaktische Überlegungen
sind „taubetropfte“ Blätter? Wie sehen                      in der konkreten Praxis ergeben, ange-
sie aus? Der Goldstandard wäre hier der                     sichts derer sich evidenzbasierte Befunde
morgendliche Lerngang in die Natur, um                      als irrelevant erweisen können. So kann
den Morgentau und den Blumenduft noch                       z.B. ein Lehrer einen Gruppenunterricht
sehen und riechen zu können.                                mit dem Ziel planen, seinen Schülern die
     Auch in Schulromanen finden wir                        Erfahrung eines gemeinschaftlichen Mit-
häufig Erinnerungen an unvergesse-                          einanders erleben zu lassen. Dabei ent-
ne „Goldstandards“. So berichtet Cees                       scheidet er sich, auf leistungsbezogene
Nooteboom von einem Altphilologen, der                      Elemente zu verzichten, weil diese – z.B.
den Tod Sokrates´ auf eine so nachhaltige                   aufgrund der besonderen Klassensituation
Weise inszenieren konnte, dass selbst die                   - dem Ziel abträglich sein könnten. Damit
Kollegen berichteten, es habe in der Stun-                  wären weder die Gruppenrallye noch ein
de danach noch totale Ruhe unter den                        Gruppenpuzzle passend, obwohl sie zu
Schülern geherrscht: „… ich konnte …                        den Goldstandards unter den kooperati-
Sokrates mit einer Würde sterben lassen,                    ven Lernformen zählen25.
die sie (die Schüler, G. S-E) in ihrem kur-                     Bei John Hatties vorgelegter Meta-
zen und langen Leben nie mehr vergessen                     Studie26 geben die quantifizierten empiri-
würden“23. Aber auch ein sehr kleinschrit-                  schen Belege teilweise sogar fehlerhafte
tiges, über vielerlei anschauliches Materi-                 Orientierungen. Seinen Effektstärken-Mes-
al dargestelltes und eng am Lernprozess                     sungen zufolge weist z. B. der Faktor Klas-
des Schülers orientiertes Lehrverfahren                     sengröße nur 0.21 auf. Zwischen kleinen
kann für jenen Lernenden goldrichtig sein,                  Klassen und großen besteht demnach
dem selbstorganisiertes Lernen schwer-                      kaum ein signifikanter Unterschied. Diese
fällt und es als demotivierend erlebt.                      Befunde stehen im Widerspruch zu den
Unter Lehrkunst wird somit keine auf bloß                   Erfahrungen der Lehrerschaft, die der
schöpferischer Eingabe und Künstlertum                      Klassengröße eine viel größere Bedeu-
basierende Lehre verstanden.                                tung zuschreibt, vor allem, wenn ein eng
     Diese Überlegungen stellen keinesfalls                 am Lernen der Schüler orientierter Unter-
in Abrede, dass die empirischen Befunde                     richt geplant wird und auf die individuel-
zum Lehren und Lernen und zu Aussagen                       len Lernprobleme reagiert werden soll27.
über die Wirksamkeit unterrichtlicher Maß-                  Im Grunde kann weder aus einem niedri-
nahmen nicht hilfreich sein können. Die Zu-                 gen noch einem hohen Effektstärkenwert
sammenfassung von Martin Wellenreuther                      direkt etwas für die Praxis gefolgert wer-
in seinem Buch: Lehren und Lernen –                         den28. Diese Probleme und Widersprüche
aber wie?24 gibt Lehramtsstudierenden                       geben Anlass, das Erfahrungswissen der
und Lehrern einen umfassenden Einblick                      Lehrerschaft nicht gering zu schätzen.
in empirisch gestützte Belege zu wichti-                        Die Erziehungswissenschaft sollte sich
gen Gebieten von Schule und Unterricht:                     angesichts der vielen bereits geführten

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Diskurse darauf einigen, empirische Be-                     3. Digitale Lerntechnologien –
lege als das zu nehmen, was sie sind:                           Lernen ohne Lehrer?
Stützen für die Lehrkunst, Anlässe zur
Steigerung der Reflexionskompetenz der                      Dass aus der Umwelt des Bildungssystems
Lehrkräfte und Anregungen, ihre Tech-                       (OECD, Wirtschaft, Politik) häufig Anstöße
niken, Routinen und Erfahrungen zu hin-                     zur Reform des Schulsystems kommen,
terfragen und zu erweitern. Aber es ist                     überrascht seit langem nicht mehr. Aktuell
problematisch, dieser Wissensform per se                    sind das Digitalisierungsforderungen, ge-
eine höhere Bedeutung zuzusprechen als                      puscht durch die Corona-Pandemie. Die
dem aus praktischem Handeln und dessen                      Programmschrift „Schule 5.0: Die Zukunft
Reflexion gewonnenen Wissen. Es spricht                     von Schule erfinden“31 fasst wesentliche
viel dafür, von gleichberechtigten Wissens-                 Annahmen und Forderungen zusammen.
formen auszugehen. Diese Einschätzung                       Ausgangspunkt ist: Schule sei ineffektiv,
bekräftigt Willke: „Wissenschaft unter-                     weil sie zu viel menschliche Ressourcen
scheidet sich von anderen Formen der                        binde und zu viel Zeit in Anspruch nehme.
Systematisierung von Wissen nur durch                       Daher sollen intelligente Bildungstechnolo-
die Regeln der Systematisierung“29. Wir                     gien bereitgestellt werde, die das Lernen
haben nach Willke eher eine Krise bezüg-                    weitaus besser individualisieren können als
lich der Bedeutung des Wissens als eine                     Lehrkräfte und dafür sorgen, dass Lernen-
Krise der Wissenschaften an sich. Und in                    de in kurzer Zeit mehr als doppelt so schnell
der pädagogischen Praxis bestätigt sich                     lernen würden. „Im Kontext der Digitalisie-
dieser Sachverhalt besonders eindrück-                      rung treten neue Akteure, vor allem Start-
lich, weil ihr „Gegenstand“ ein Subjekt ist,                up Unternehmen und Technologiefirmen,
das sich jederzeit der Kontrollierbarkeit                   auf den Bildungsmarkt, die Schulen und
entziehen kann oder dem das Verstehen                       traditionellen Unterrichtsformen und Bil-
komplexer Sachthemen schwerfällt. In-                       dungsangeboten zunehmend Konkurrenz
sofern ist Erziehen als ein Handwerk zu                     machen, indem sie individuell zugeschnit-
sehen oder auch als ein Kunsthandwerk30,                    tene, unterhaltsame (digitale) Lernange-
bei dem erprobte und geprüfte Verfahren                     bote machen“32. Die Programme erheben
und Techniken das pädagogisch-profes-                       den Anspruch, jedem Schüler auf der
sionelle Handeln stützen, diese aber nicht                  Basis seines aktuellen Kenntnisstandes,
als eine Art „mechanische“ Technologie                      ohne dass der Lehrer involviert ist, indivi-
gesehen werden. Die Kunst des Lehrens                       duell passende Lernangebote zu machen.
geht im Wesentlichen dort verloren, wo                      „Adaptive Lerntechnologien ermöglichen
das pädagogische Handeln durch evi-                         es, Lerninhalte, -formen und –tempi indi-
denzbasierte Programme, didaktische                         viduell an Schüler/-innen anzupassen. Da-
Vorschriften zur Methodenwahl oder struk-                   durch können individuelle Lernerfolge und
turelle Zwänge gegängelt wird.                              Freude am Lernen maßgeblich gesteigert
     Die Digitalisierung des schulischen Ler-               werden“33 Digitale Bildungstechnologien
nens geht hinsichtlich Technologieerwar-                    scheinen damit gleichermaßen Motivations-
tungen noch einen Schritt weiter: Digitale                  und Individualisierungsansprüche einlösen
Lernprogramme wollen im Idealfall ohne                      zu können. Für die Lehrerschaft bedeutet
Lehrer und damit auch ohne Lehrkunst bei                    das eine Freistellung von den Kernaufga-
der Wissensvermittlung auskommen. Das                       ben der Wissensvermittlung. Sie sollen
zugrundeliegende Technologieverständnis                     sich auf die Organisation sozialer Projek-
darf als kausal bezeichnet werden.                          te konzentrieren und Teamfähigkeit sowie
                                                            Kommunikation fördern. Ihre neue Aufgabe

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ist die eines Kurators34, indem sie aus den                 unter den Strich geschrieben wurde. Der
digitalen Angeboten die besten auswählen.                   Schüler hat richtig gerechnet, aber die
    Hier offenbart sich eine bedenkliche                    Logik des Zehnersystems nicht beachtet.
Unkenntnis der pädagogischen Diskus-                        Bei der Subtraktion B wendet der Schüler
sion: Unterricht und Erziehung sind völlig                  das Kommutativgesetz der Addition auf die
getrennt, die pädagogische Beziehung                        Einer und Zehner an. Welche Logik steckt
kommt in der Wissensvermittlung gar nicht                   hinter der Lösung C? Hat der Schüler sich
mehr vor. In den folgenden drei Punkten                     bei den Einern einfach verrechnet oder
werden daher die Fragen thematisiert,                       fälschlicherweise das Kommutativgesetz
ob die Konzepte ihre hohen Ansprüche                        der Addition angewandt? Hat er bei den
bezüglich Individualisierung und Motiva-                    Zehnern nur den Übertrag auf den Hun-
tion auch einlösen können. Abschließend                     derter vergessen und damit das falsche
wird auf den vergessenen pädagogischen                      Ergebnis erzielt? Oder hat er einfach
Bezug hingewiesen.                                          82-24 gerechnet?
                                                                Im folgenden Fall zeigte sich, dass es
     3.1 Individualisierung: Digitale Lern-                 einer Schülerin einer 2. Grundschulklasse
programme nehmen für sich in Anspruch,                      nicht gelang, einen Zugang zu folgender
adaptiv zu sein. Sie bieten den Lernenden                   Aufgabe herzustellen und sie zu lösen.
je nach deren Kompetenzniveaus pas-                         Das Beispiel stammt aus einer Lern-App.
sende Aufgaben und Übungsmaterialien                                      ◻x 7+1x7=6x7
sowie Rückmeldungen an. Die Aufgaben                                      ◻+◻=◻
lassen sich durch Klicks sehr schnell auf
den jeweiligen Bildschirm laden. Individu-                  Sie konnte in der ersten Gleichung das
alisierung heißt hier: flexible Zuordnung                   Kästchen nicht ausfüllen. Bezüglich der
des nach Kompetenzniveau gestuften                          zweiten Gleichung bemerkte sie: „Woher
Arbeitsmaterials zu dem vom Schüler er-                     soll ich das wissen, da kann ich ja alles
reichten Lernniveau durch Maschinen, die                    reinschreiben“. Zu dieser Aussage kam
auf Algorithmen basieren. Innerhalb des                     sie wohl, weil sie beide Gleichungen als
gewählten Programms sind dann die vor-                      zwei getrennte Aufgaben betrachtete. Sie
gegebenen Schritte zu bearbeiten. Die                       gab auf. Das Programm reagiert darauf mit
Lernprogramme reagieren auf die Häu-                        dem Hinweis „falsch“, versuche es noch
figkeit von Fehlern oder nicht beendeten                    einmal. Nach einigen Versuchen präsen-
Programmen mit Blinken oder anderen                         tiert das Programm die richtige Lösung. Es
Warnhinweisen. Nicht geklärt ist aller-                     wird nicht erklärt, weshalb das die richti-
dings die Frage, inwiefern sie spezifische                  ge Lösung ist. Nachdem der digitale Ver-
individuelle Fehler-Logiken der Lernenden                   such gescheitert war, griff ein didaktisch
tatsächlich erkennen und ihnen auch erklä-                  und mathematisch geschulter Lehrer ein.
ren können, was und weshalb sie falsch                      Die Frage, ob sie überhaupt etwas rech-
gerechnet oder geschrieben haben. Einige                    nen könnte, beantwortete die Schülerin mit
Beispiele aus der Grundschule35:                            6x7=42 und 1x7=7. Die Versuche, das 1.
  A  133                B 743             C 821             Kästchen auszufüllen, scheiterten wieder,
     +278                -256              -246             weil die „Punkt vor Strich Regel“ nicht
    31011                 513               585             bekannt war. Nach einer längeren Pause
                                                            lenkte der Lehrer die Aufmerksamkeit der
Erfahrene Lehrer erkennen, dass bei der                     Schülerin auf die leeren Kästchen der 2.
Additionsaufgabe A das Ergebnis der                         Gleichung und deren Anordnung. Dies
Einer (11) und der Zehner (10) einfach                      brachte die Schülerin zu der Bemerkung:

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                             wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
„Gehören da die Ergebnisse rein?“ Die                       vorlegen zu können, darf man begründet
Aufforderung brachte die Schülerin zu der                   davon ausgehen, dass dann, wenn die
Gleichung: []+7=42. Die Gleichung konn-                     anfängliche Faszination der neuen Tech-
te sie durch die Umkehraufgabe 42-7=[]                      nik verflogen ist, das digitale Lernen dem
lösen. Damit war klar, dass die untere Glei-                gleichen Motivationsdefizit ausgesetzt ist
chung 35+7=42 heißt. Der nächste Schritt                    wie das übliche schulische Lernen: Dabei
zur Gleichung: 35=[]x7 bedurfte eines wei-                  geht es um die kulturelle Verantwortung
teren Lehrgesprächs, in dem auf die Glei-                   der Schule, auf das Erlernen von Themen
chung 6x7=42 und 1x7=7 hingewiesen                          zu dringen, deren Vermittlung nicht darauf
wurde. Danach sagte die Schülerin: Dann                     warten kann, bis sich die Schülerinnen
muss die letzte Aufgabe []x7=35 heißen.                     und Schüler dafür interessieren. Willkür-
Damit war die Aufgabe gelöst.                               liche und langfristige Aufmerksamkeit für
    In der Schulsituation, allein vor dem                   nicht selbstbestimmte Themen, Übungs-
Computer, wäre die Aufgabe für sie nicht                    bereitschaft und die Akzeptanz von Leis-
lösbar gewesen. Sie hätte wahrscheinlich                    tungsbeurteilungen fallen mit Sicherheit
aufgegeben oder einen Mitschüler nach                       auch im digitalisierten Lernen als zentrale
der Lösung gefragt. Das Programm hätte                      Probleme an. Daher bleibt die Aufgabe der
sie dann gelobt. Die Frage ist, ob das Pro-                 Lehrkunst bestehen, Schüler immer wie-
gramm diese Fehler-Logiken erkennen und                     der mit besonderen didaktischen Maßnah-
erklären kann: Kann man einem Algorith-                     men und Lernformen zu überraschen und
mus alle denkbaren Fehlkonzepte einge-                      zu motivieren, um ihre Lernbereitschaft für
ben und dieser dann die entsprechenden                      Themen anzuregen, die ihnen fremd sind
Erklärungen dem Schüler so verständlich                     und für die sie noch kein Interesse haben.
vermitteln, wie es in einem Lehrgespräch                        Ein grundsätzliches Problem digitaler
möglich ist? Ob die zukünftige Entwicklung                  Lernformate ist es, dass die Lernenden
einer KI zielgenau das Lehrer-Schüler-Ge-                   direkt mit den Themen konfrontiert und pä-
spräch abbilden kann, bedarf der Klärung.                   dagogische Beziehungen zwischen Schü-
                                                            lern und Lehrern an den Rand gedrängt
     3.2 Motivation: Ob die unterstellte                    werden. Dies verletzt den Tatbestand der
Lernfreude und Motiviertheit anhält, wenn                   Pädagogik, wonach für Erziehungs- und
die Lernenden immer öfter Fehler machen                     Bildungsprozesse personale Beziehungen
und von vorn beginnen müssen, ist frag-                     grundlegend sind.
lich. Wer Grundschüler beim Arbeiten mit
der Lern-App Anton beobachtet, stellt häu-
fig fest: Das Interesse am digitalen Lernen                 4. Pädagogischer Bezug
lässt auch dann nach, wenn Lob-Klingeltö-
ne und purzelbaumschlagende Jubelmänn-                      Persönliche Wertschätzung, gegenseitiges
chen nach dem erfolgreichen Abschluss                       Vertrauen und emotionale Unterstützung
einer Aufgabe erklingen. Oft sind die Lern-                 sind Merkmale pädagogischer Beziehun-
programmhäppchen noch mit Zeitlimits                        gen. Pädagogisches Handeln basiert auf
verbunden: Das Programm kann jedoch                         personalen Beziehungen36. Mit den Kin-
nicht entscheiden, ob der Lernende sich                     dern und Jugendlichen ein Thema in einem
langweilt, weil er so lange bei Aufgaben                    Lernsetting zu erarbeiten und gemeinsam
verharrt oder weil er sie nicht versteht und                Lösungen zu finden, sie zu loben, auch zu
Hilfe braucht. Mit dem Verlust der Moti-                    tadeln, aber in jedem Fall an ihrem Lern-
vation geht auch die Konzentration verlo-                   prozess interessiert teilzunehmen, ist die
ren. Auch ohne evidenzbasierte Belege                       Basis pädagogischer Beziehungen. Nicht

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vergessen werden dürfen dabei auch die                      Gleichzeitig weist er aber darauf hin, dass
sozialen Beziehungen zu Klassenkamera-                      wissenschaftliches Wissen sich nicht ein-
den, die ebenso für die persönliche Ent-                    fach in die Praxis verlängern lässt. Die
wicklung unverzichtbar sind. Damit Kinder                   Brücke zur Anwendung und Umsetzung in
und Jugendliche selbstständig werden,                       die Praxis leistet bis heute die Lehrkunst.
brauchen sie Erwachsene, die sich ihnen                     Diese speist sich nicht nur aus wissen-
zuwenden und mit ihnen eine Bindung ein-                    schaftlichen Befunden, sondern auch
gehen, sie bestärken und ermuntern. Aus                     aus praktischer, reflektierter Erfahrung,
eigener Kraft und allein vor ihren Tablets                  aus didaktischer Phantasie, anregenden
schaffen sie das nicht. Dazu merkt Ahrbeck                  Lehrmodellen und Artikulationsformen. In
an: „Es ist schon erstaunlich, wie sehr sich                dieser Funktion kann sie auch die mit der
die Sehnsucht über Jahrzehnte gehalten                      Generierung empirisch-analytischen Wis-
hat, Kinder könnten sich aus sich selbst he-                sens mitgelieferte Überzeugung einer kau-
raus am besten entwickeln …“37. Die Ver-                    salen Technologie zurückweisen. Vor allem
fasser des Konzepts Schule 5.0 scheinen                     die evidenzbasierte Forschung hält die
der Idee dieser Selbstentfaltungstheorie                    Erfahrungen der Praktiker nicht mehr für
anzuhängen. Je jünger die Lernenden sind,                   nötig, weil sie die Implementierung ihrer
desto mehr brauchen sie aber beim schu-                     experimentell-empirischen Befunde als
lischen Lernen Lehrkräfte, die ihnen dafür                  ausreichend effizient und zielführend sieht.
die entsprechende Unterstützung geben.                      Damit pädagogisches Handeln überhaupt
Im dem vorliegenden Digitalisierungskon-                    zustande kommt, müssen Lehrer zwar
zept, so darf man resümieren, „rückt die                    auch planen und Techniken bzw. Techno-
grundlegende Dimension der Pädagogik                        logien anwenden, um die beabsichtigte
in den Hintergrund und lässt geschehen,                     Ziele zu erreichen, aber sich immer be-
dass die interpersonalen Bezüge, die Bil-                   wusst sein, dass sie aus verschiedenen
dung ausmachen und ermöglichen, einem                       Gründen an der Selbstreferentialität der
falsch verstandenen Selbstmanagement                        Schüler scheitern können. Pädagogisches
der Schüler/innen preisgegeben wer-                         Handeln wird zu Unrecht auf das bloß me-
den“38. Es ist daher dringend zu klären,                    chanische Anwenden von evidenzbasier-
was es heißt „menschliche Ressourcen“                       tem Wissen reduziert.
können eingespart werden, damit das Ver-                        Die Digitalisierung von Lehren und
hältnis von Nähe und Distanz nicht einsei-                  Lernen in der Schule führt ebenso ein
tig auf die Seite der Distanz kippt39. Diese                Technologieversprechen mit sich. Es geht
Klärung ist gerade deshalb nötig, weil                      sogar noch darüber hinaus, indem Lehrer
Computer billiger sind als professionelle                   von der Wissensvermittlung freigestellt
Lehrkräfte. Die Basis der Lehrkunst bilden                  werden und andere Aufgaben zugewie-
in besonderem Maße die pädagogischen                        sen bekommen. Wie an wenigen Beispie-
Beziehungen einer Lehrkraft zu ihren Schü-                  len aufgezeigt wurde, gelingt es auf dem
lerinnen und Schülern: In der Beziehung                     derzeitigen digitalen Entwicklungsstand
Mensch-Maschine fehlt diese Basis.                          nicht, in den Fehlern der Lernenden deren
                                                            „Logik“ zu antizipieren und entsprechende
Zusammenfassung                                             Lernhilfen zu geben. Das klassische Lehr-
                                                            gespräch bleibt daher die angemessene
Wissenschaftlich generierte Erkenntnisse                    Form und bietet zudem die Basis für die
sind bis heute notwendige und hilfreiche                    personale Beziehung, wie die Pädagogik
Wissensformen um Praxis zu gestalten.                       sie in ihrem zentralen Terminus, dem päda-
Darauf hat Herbart aufmerksam gemacht.                      gogischen Bezug, beschreibt.

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Das Ziel des Beitrags ist es, auf Wis-                 12    Stellvertretend soll auf die Erziehungstheo-
sensbestände des Faches hinzuweisen,                              rien pädagogischer Klassiker hingewiesen
                                                                  werden, die von E. Tenorth 2003 heraus-
die im Blick auf den Zusammenhang von
                                                                  gegeben wurden und auf die nach pädago-
Wissenschaft und Lehrkunst vorliegen                              gischen Schlüsselwerken systematisierten
und den Tatbestand der Technologie aus                            zwei Bände von K. Prange 2009.
pädagogischer Perspektive zu klären. Die                    13    Kron, F. W. (1994): Grundwissen Didaktik,
Erziehungswissenschaft als Disziplin darf                         bes. Kap. 3 und 4. 2. Aufl. München, Basel:
hinter dieses erziehungswissenschaftliche                         Ernst Reinhardt Verlag.
Grundwissen nicht ständig wieder zurück-                    14    Prange, K. (1986): Bauformen des Unter-
                                                                  richts. Eine Didaktik für Lehrer, bes. Kapitel
fallen, wenn sie ein Interesse an ihrer eige-
                                                                  III. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 2. Aufl.
nen Weiterentwicklung hat.                                  15    Noch immer bietet das 1949 erschienene
                                                                  Buch „Unterrichtslektion als Kunstform“ von
                                                                  R. Seyfert (Worms) einen illustrativen Einblick
                                                                  sowohl in die Grundlagen als auch in die vie-
Anmerkungen                                                       len Unterrichtsbeispiele zur Lehrkunstdidak-
                                                                  tik. Zur Aktualität der Lehrkunstdidaktik vgl.
1    Im Text wird von der Möglichkeit Gebrauch                    H. Chr. Berg u.a. (2009): Die Werkdimension
     gemacht, das generische Maskulinum zu be­-                   im Bildungsprozess – Das Konzept der Lehr-
     nutzen.                                                      kunstdidaktik. Bern.
2    Herbart, J. F. (1806): Allgemeine Pädagogik            16    Gruschka, A. (2014): Lehren. Reihe Pä-
     aus dem Zweck der Erziehung abgeleitet. In:                  dagogische Praktiken. Kap. 6. Stuttgart:
     Die Pädagogik Herbarts. Hrsg. v. H. Nohl,                    Kohlhammer.
     E. Weniger, G. Geissler, Reihe Kleine Päd-             17    Luhmann, N. & Schorr, K. E. (1979): Das
     agogische Texte. Heft 25, S. 11. Weinheim,                   Technologiedefizit der Erziehung und die Pä-
     Berlin, o.J.                                                 dagogik. In: ZfPäd., 25. Jg. Nr. 3, S. 345-365.
3    Ein ähnliches Muster war Herbart aus dem               18    Kraft, V. (2009): Pädagogisches Selbstbe-
     Gebiet der Wirtschaft bekannt: Adam Smith                    wusstsein. Studie zum Konzept des Pädago-
     hat 1776 sein Werk „Wealth of Nations“ vor-                  gischen Selbst. Kap. 5. Paderborn, München,
     gelegt, das eine Theorie der Funktionsweise                  Wien, Zürich: Schöningh.
     der Wirtschaft beschreibt.                             19    Bellmann, J. & Müller, Th. (2011) (Hrsg.):
4    Herbart, J. F. (1806): Allgemeine Pädagogik                  Wissen, was wirkt. Kritik evidenzbasierter
     aus dem Zweck der Erziehung abgeleitet. S. 8.                Pädagogik. Wiesbaden: VS Verlag S.10.
5    ebd. S. 8f.                                                  Ebenso K. Koch: Ankunft im Alltag – Evidenz-
6    Herbart, J. F. (1802): Zwei Vorlesungen                      basierte Pädagogik in der Sonderpädagogik,
     über Pädagogik. In: J.F. Herbart, Sämtliche                  S. 9-41. In: Ahrbeck, B., Ellinger, St., Hech-
     Werke. Hrsg. v. K. Kehrbach u. Otto Flügel,                  ler, O., Koch, K. & Schad, G. (2016) (Hrsg.):
     Bd. 1. Aalen 1989, S. 284.                                   Evidenzbasierte Pädagogik. Sonderpädago-
7    ebd. S. 286.                                                 gische Einwände. Stuttgart: Kohlhammer..
8    Prange, K. (2007): Die Funktion des pädago-            20    Hechler, D. (2016): Evidenzbasierte Päda-
     gischen Takts im Lichte des Technologiepro-                  gogik – Von der verlorenen Kunst des Erzie-
     blems der Erziehung, S. 126. In: B. Fuchs &                  hens. S. 42. In: Ahrbeck u.a. 2016.
     Ch. Schönherr (2007): Urteilskraft und Päda-           21    Herzog, W. (2011): Eingeklammerte Praxis –
     gogik. Würzburg: Königshausen & Neumann.                     ausgeklammerte Profession. Eine Kritik der
9    Prange, K. & Strobel-Eisele, G. (2015): Die                  evidenzbasierten Pädagogik, S. 136. In: Bell-
     Formen des pädagogischen Handelns. 2.                        mann, J. & Müller, Th. (2011) (Hrsg.): Wissen,
     Aufl. Stuttgart: Kohlhammer.                                 was wirkt. Kritik evidenzbasierter Pädagogik.
10   vgl. dazu die sehr umfassende Darstellung zu                 S. 125-145. Wiesbaden: VS Verlag.
     diesem Diskurs von Wolfgang Schloz: Über               22    Hechler, O. (2016), ebd. S. 42.
     die Nichtplanbarkeit in der Erziehung. Wies-           23    Nooteboom, C. (1991): Die folgende Ge-
     baden, 1966, Deutscher Fachschriftenverlag.                  schichte. S. 109, Frankfurt: Suhrkamp.
11   Flitner, W. (1979): Ist Erziehung sittlich er-         24    Wellenreuther, M. (2013): Lehren und Ler-
     laubt? In: ZfPäd., 25. Jg. S. 499-504.                       nen – aber wie? Empirisch-experimentelle

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Forschungen zum Lehren und Lernen im Un-             34    ebd. S. 3.
      terricht. Bd. 50, Grundlagen der Schulpäd-           35    vgl. Bobrowski, S. (2003): Schriftliches Ad-
      agogik. 6. Auf. Baltmannsweiler: Schneider.                dieren und Subtrahieren. In: Praxis Grund-
25    ebd. S. 448ff.                                             schule: Mit Fehlern umgehen. In: Heft 2 /
26    Hattie, J. (2013): Lernen sichtbar machen.                 März 2003.
      Überarb. dt. Ausgabe von „Visible Learning“.         36    Die Bedeutung des pädagogischen Bezugs,
      besorgt v. W. Beywl und K. Zierer. Balt-                   der von Herman Nohl geprägt wurde, wurde
      mannsweiler: Schneider.                                    von Dorle Klika begrifflich differenziert und
27    Eine Studie aus Tennessee stützt die Erfah-                erläutert: Klika, D. (2013): Herman Nohls
      rungen der Lehrer: Die STAR-Studie stellt                  >>Pädagogischer Bezug
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