Wissenschaft, Lehrkunst und Technologie: Bemerkungen zum pädagogischen - Ingenta Connect
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PR 2021, 75. Jahrgang, S. 495-506 © 2021 Gabriele Strobel-Eisele - DOI https://doi.org/10.3726/PR052021.0048 Gabriele Strobel-Eisele Wissenschaft, Lehrkunst und Technologie: Bemerkungen zum pädagogischen Grundwissen1 Die Kernthemen der Pädagogik bezie- zum Technologieverständnis in der Erzie- hen sich auf die Fragen, was Erziehung, hung schließen sich an. Dabei steht die guter Unterricht, was eine gute Schule ist evidenzbasierte, empirische Forschung und natürlich auch darauf, mit welchen mit ihrem unterschwellig mitgeführten kau- Maßnahmen, Mitteln oder Techniken wir salen Technologieverständnis im Fokus erziehen, unterrichten und wie wir Schu- (2). Abschließend wird am Beispiel eines le gestalten. Dafür hat die pädagogische aktuellen Digitalisierungskonzepts für die Disziplin ein umfangreiches, wissenschaft- Schule auf vergessene pädagogische Tat- lich fundiertes Wissen entwickelt und es bestände aufmerksam gemacht (3). einem ständigen Reformprozess unterzo- gen. Erziehungsziele, Reformprogramme und Probleme werden unter der Perspek- 1. Differenz zwischen tive der Frage betrachtet: Wie macht man Wissenschaft und Lehrkunst das? Wie erreicht man die gewünschten Wirkungen? Mit diesen Fragen haben wir Johann Friedrich Herbart ist der erste, der einen Sachverhalt vorliegen, für dessen die Pädagogik auf ein wissenschaftliches Bearbeitung die Pädagogik Begriffe wie Fundament gestellt hat. Er nimmt eine Wissenschaft, Lehrkunst und eben auch Sonderstellung ein, insofern er der wis- Technologie verwendet. Jeder der drei senschaftlichen Fundierung der Pädago- Begriffe stößt auf unterschiedliche Denk- gik einen zentralen Stellenwert in seinem traditionen bei Pädagogen und damit auf Gesamtwerk einräumt und Erziehungs- weniger oder mehr Akzeptanz auf der fragen nicht wie z.B. Kant und Hegel als disziplinären Ebene. Obwohl diese The- Nebenthemen ihrer Philosophie thema- matik seit langem in immer wieder neuen tisiert. Herbarts berühmter Satz aus der Termini aufgenommen und reflektiert wird, Allgemeinen Pädagogik von 1806 lautet: beobachten wir eher eine Art engagierter „Pädagogik ist die Wissenschaft, deren „Dauerreflexion“ als das Bemühen um eine der Erzieher für sich bedarf“2. Sein Anlie- Standardisierung des Fachwissens darü- gen zu seiner Zeit betrachtet lag durchaus ber. Die folgenden Ausführungen haben im Trend, denn im 18. Jahrhundert hatte das Ziel, an die Einheit der Differenz von die Aufklärung in vielen anderen Gebieten Wissenschaft und Lehrkunst zu erinnern, bereits zu theoretischen Fundierungen ge- wie sie von Johann Friedrich Herbart ent- führt3 und mit Traditions- und Autoritätsbin- wickelt wurde (1). Begriffliche Klärungen dungen gebrochen. Auch unterscheidet 5 / 2021 Pädagogische Rundschau 495 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
er sich von der Ratgeberliteratur seiner Wissenschaften der Fall ist. Herbarts Über- Zeit, etwa der Erziehungslehre August legungen sind als Schritte zu lesen, wie Herrmann Niemeyers von 1796; aber man von der praktischen zur theoreti- auch von romanhaften Darstellungen wie schen Einstellung gelangt und damit zur Rousseaus „Emile“ oder Goethes Wilhelm wissenschaftlichen Haltung. Man stellt Meisters Lehrjahre. Herbarts vorrangiges vertraute Gewohnheiten und Verfahren Anliegen ist es, eine wissenschaftliche unter Verdacht oder sieht sie als Hemm- Einstellung bei den Erziehern zu entwi- nisse für das Erkennen neuer Möglich- ckeln. Diese besteht zunächst darin, vom keiten an. Routinen und Erfahrungen sind eigenen Erleben und von persönlichen Er- nicht grundlegend zu verwerfen, denn sie fahrungen Abstand zu nehmen. Sich von schützen vor Irritationen und Unsicherheit. der eigenen Berufsgeschichte zu distan- Aber, so Herbart, sie werden erst durch zieren, die besonders zur Begründung der Reflexion und Begründung zu Stützen für getroffenen Maßnahmen und Strategien die berufliche Praxis. dient, fällt nicht leicht. Für Herbart gehört Neben die Wissensgenerierung durch das Absehen davon aber zu der Bedin- Wissenschaft tritt aber noch eine weitere gung, um überhaupt eine wissenschaftli- wichtige Einsicht. Herbart betont, dass che Haltung entwickeln zu können. Nur so auch das theoretische, wissenschaftliche kann es gelingen, von dem „Schlendrian“ Wissen nicht einfach in die Praxis verlän- loszukommen, den der 90jährige Dorf- gert werden kann. Theoretisches Wissen schullehrer hat4. Diese berühmte Stelle ist ist zu allgemein und die Erfordernisse zu einem Topos geworden für willkürliches der Erziehungspraxis zu speziell: Theore- und unwissenschaftliches Erzieherverhal- tisches Wissen trifft nie umfänglich und ten. Allerdings ist hier anzumerken, dass stringent auf den besonderen erzieheri- das Wort ‚Schlendrian‘ damals auch eine schen Fall zu. Es gibt „Überschüsse“ der andere Bedeutung hatte. Es meint nicht Theorie und unvorhersehbare Besonder- Schlamperei oder Faulheit, sondern steht heiten des praktischen Falls: „In der Schu- für Gewohnheiten, Routinen oder eben le der Wissenschaft wird daher für die „Erfahrungswissen“ aus der eigenen Pra- Praxis immer zugleich zu viel und zu wenig xis. Man kommt damit möglicherweise in gelernt“6. Der Übergang vom Wissen zum der Praxis zurecht, aber es genügt nicht Handeln oder der Übergang der Theorie für die Wissenschaft bzw. für eine wissen- in das Leben, wie es Goethe nannte, ist schaftliche Einstellung. nicht stetig oder logisch. Es gibt, wissen- Was meint Herbart mit Wissenschaft? schaftlich gesprochen, keine „Theorie“ Dazu lenkt er den Blick auf andere Erfah- oder Regel, die zwischen Wissen und An- rungswissenschaften wie die Physik und wendung stetig vermittelt. Nicht die Regel sagt sinngemäß: Man kann dort lernen, oder der empirische Befund vermittelt zwi- dass es auf wiederholte Versuche und Be- schen Theorie und Praxis: Herbart sieht obachtungen ankommt und man aus einer diese Überbrückungshilfe in der Kunst, einzigen Erfahrung und aus zerstreuter die dafür eine Verbindung mit der Wissen- Beobachtung nichts lernen kann im Sinne schaft eingeht. der Gewinnung allgemeiner Lehrsätze und Was Herbart hier im Sinn hat, klärt sich Regeln5. Um etwas wissenschaftlich zu er- weiter in seinem Konzept des pädagogi- kennen und zu wissen, wie man zu verfah- schen Takts. „Es gibt eine Vorbereitung ren hat, kommt es also auf systematische der Kunst durch die Wissenschaft, eine Beobachtung, Vergleich und wiederholte Vorbereitung des Verstandes und des Her- Versuche an, so wie es in den anderen zens vor Antretung des Geschäfts …“7. 496 Pädagogische Rundschau 5 / 2021 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Die Verbindung von Kunst und Wissen- ein unmögliches Unterfangen, weil jeder schaft leistet der pädagogische Takt. In Erziehungsversuch als einmaliger, nicht ihm verbinden sich beide Elemente mit wiederholbarer Akt gesehen wurde. Der dem Ziel, das praktische Handeln theorie- Beitrag von Schloz10 illustriert den Diskurs geleitet zu beobachten und auf die Anfor- darüber und sieht den eigentlichen Grund derungen und spezifischen Bedingungen in der Unverfügbarkeit der Menschlichkeit der jeweiligen erzieherischen Situation und der Freiheit des Individuums. Wilhelm sozusagen „nach allen Regeln der Kunst“ Flitner spitzte diese Position noch einmal anzuwenden8. Kunst impliziert ein Können zu, indem er die Frage stellt: Ist Erziehung und darum geht es in der Erziehungs- sittlich erlaubt?11. Beim Übergang in die kunst: Um ein den Regeln der Kunst ent- Praxis hat das pädagogische Handeln mit sprechendes, fachgerechtes Können, um Motivation und Verstehensproblemen zu Formen und Handlungsweisen, die für das tun. Im ersten Fall geht es um die Kunst, Erziehen und Unterrichten grundlegend Schüler für Themen zu gewinnen, für die sind und die der Erzieher dafür braucht sie noch kein Interesse haben, im zweiten und anwendet. Der Grund für die Beto- Fall um Themen und Lerngegenständen, nung der Kunst ist dabei in der Erfahrung die die Lernenden verstehen sollen. Die der Wirkungsunsicherheit alles Erziehens Frage lautet also: Wie gelingt es, mit wel- zu sehen. Ihr kommt die Aufgabe zu, die chen Maßnahmen und Techniken, den Ler- Vermittlung von Sache und lernendem nenden so zu motivieren und ihm etwas so Subjekt sensibel und kreativ zu justieren, zu zeigen, dass er es verstehen und selbst denn es bedarf stets einer angemessenen, wieder zeigen kann? klugen, eben „kunstvollen“ Anwendung Obwohl die erzieherischen Praxen und von Regeln oder wissenschaftlichem Wis- Praktiken zu allen Zeiten genügend Anlass sen auf den jeweiligen Fall. D.h., zwischen lieferten, an der jeweiligen Kunstfertigkeit der Erziehungswissenschaft, die in empiri- begründet zu zweifeln, lässt sich an der scher und kritischer Hinsicht den Prozess Entwicklung der Pädagogik als wissen- der Erziehung untersucht, artikuliert sowie schaftliche Disziplin belegen, dass sie auf den Begriff bringt und dem Erziehen trotz dieser Skepsis und den offensichtli- vor Ort vermittelt die Erziehungs- bzw. die chen Misserfolgen in der Erziehung ihren Lehrkunst. Aufgabenkern gerade darin gesehen hat, Diese Sachlage sollte man sich klar das „Unmögliche“ doch möglich zu ma- machen, ehe man pädagogisch-wissen- chen oder seine Eintrittswahrscheinlich- schaftliche Theorie und pädagogische keit zu erhöhen. Dieser „take-off“ lässt Praxis aufeinander bezieht und sich Ge- sich sehr eindrucksvoll an den Ergebnis- danken über ihre Organisation macht. sen dieser Bemühungen ablesen: an den Darin spiegelt sich auch die Differenz von vielen Handbüchern und Kompendien der Lehren und Lernen bzw. die Einsicht, dass Pädagogik, den klassischen Erziehungs- es entsprechend auch keine direkte Ver- theorien oder den nach Schlüsselwerken bindung von Erziehen und Lernen gibt, des Erziehens aufgereihten Programmati- sondern von einer prinzipiellen Differenz ken12; ebenso an der großen Anzahl von zwischen beiden Bereichen9 auszuge- speziell auf Schule und Unterricht bezogen hen ist. Diese Differenz wurde mit immer allgemeinen Theorien und Modellen der neuen Bezeichnungen beschrieben und Didaktik13, aber auch an jener pädagogi- fand ganz unterschiedliche Akzentuierun- schen Fachliteratur, die die Kluft zwischen gen. Manche Pädagogen hielten schon die den didaktischen Großformen und den Planungsbemühungen des Erziehens für bloßen Rezepten für den Schulunterricht 5 / 2021 Pädagogische Rundschau 497 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
zu überbrücken versucht. Hier sind die Kommunikation und Interaktion zu tun. Hier „Bauformen des Unterrichts“ (1986) von können die Subjekte selbst wählen, wie sie Klaus Prange zu nennen14. Was unter mo- reagieren wollen. Wir wenden uns z. B. mit derner Lehrkunst gefasst wird, ist sehr kommunikativen Techniken an Personen, differenziert und anhand von Beispielen um sie dazu zu bewegen, uns ins Kino oder dargestellt. So kann Unterricht auf drei Konzert zu begleiten und stellen fest, dass unterschiedliche Weisen artikuliert wer- sie unsere Einladung ablehnen. Derartige den, die bis heute als grundlegende For- Misserfolgserlebnisse überraschen in der men gelten: Als pragmatisches Modell, Regel nicht, weil man stets mit der Un- als lektions- bzw. instruktionsbasiertes gewissheit des Ausgangs rechnen muss. Modell und als erlebnisbezogenes Modell. Auch im pädagogischen Handeln setzen Jedes Modell offerierte und beschreibt Erzieher Techniken, Praktiken und Hand- eine besondere Form der Überbrückung lungsformen ein, um die gewünschten er- von Erziehung, Lehre und Lernen. Weitere zieherischen Absichten zu erreichen, wohl Vorschläge sind in der Lehrkunstdidaktik wissend, dass diese die gewünschten von Berg15 beschrieben oder in den Lehr- Erfolge nicht verbürgen. Der letzte große modellen von Gruschka16. Diskurs darüber war die von Luhmann und Mit den didaktischen Modellen, For- Schorr 1979 angestoßene Debatte um das men und Figuren der Lehrkunst ist stets Technologiedefizit der Erziehung und die das Wissen über die Unsicherheit des Aus- Selbstreferentialität ihrer Adressaten. Aber gangs verbunden. D.h., Lehrkunst impli- aus den vielen richtigen Defizitbeschrei- ziert, dass es sich nicht um mechanisches bungen folgt nicht, dass es überhaupt Wissen handelt oder eine direkte Umset- keine Strategien, Maßnahmen und Regeln zung möglich ist. Diese Haltung ist bei der gibt, nach denen Erzieher handeln resp. er- empirischen Bildungsforschung, insbe- ziehen oder dass man angesichts von nicht sondere der evidenzbasierten Forschung, zu vermeidenden Misserfolgen das Erzie- nicht immer zu erkennen. Gerade die expe- hen und Lehren gleich lassen sollte. Auch rimentellen empirischen Forschungsstudi- Luhmann und Schorr bringen „Kausal- en haben den Anspruch, in ihren Befunden pläne“ im Sinne von Softtechnologien ins ein Wirkungswissen bereitzustellen, das erzieherische Spiel zurück, weil das päd- eine effektive Praxis sicherstellen kann. agogische Handeln „kausal“ orientiert sein Dies lässt sich als unterschwellige Tech- muss, wenn es um bestimmte und nicht nologieannahme deuten, die im Extremfall irgendwelche Intentionen geht und die keiner Lehrkunst mehr bedarf. entsprechenden Wirkungen erzielt werden sollen17. D.h., Absichten verlangen nach Technologien, daher muss der Erzieher un- 2. Technologie und terstellen, dass seine Techniken oder Prak- evidenzbasiertes tiken das Ziel erreichen und gleichzeitig empirisches Wissen damit rechnen, dass der Erfolg ausbleibt. Diese grundsätzlich unsichere Vermittlung Der Terminus Technologie hat seinen Ur- von Psychischem und Sozialem findet im sprung in den Ingenieurswissenschaften Beitrag von Kraft „Operative Triangulierung und ist auf ein mechanisches Wissen be- und didaktische Emergenz“ eine weiterfüh- zogen, wie es bei der Konstruktion von rende Erläuterung18. Maschinen der Fall ist. In der Erziehung Mit der Veränderung der Erziehungswis- bewegen wir uns dagegen in mensch- senschaft zu einer stärker empirisch-ana- lichen Verhältnissen und haben es mit lytisch geprägten Wissenschaft setzt sie 498 Pädagogische Rundschau 5 / 2021 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
gewissermaßen den Weg fort, den Herbart Belege entsprechend verhalten wird, eingeschlagen hat. Insofern stellt sich die wenn man sie nur konsequent anwendet. Frage Herbarts nach der Verbindung von Dagegen ist einzuwenden, dass in Wissenschaft und Lehre bzw. Lehrkunst der nur schwer vorhersehbaren komple- neu. Dies wird nun bezogen auf die evidenz- xen Realität einer pädagogischen Praxis basierte Forschung reflektiert, weil sie in der wie der des Schulunterrichts, sich auch Erziehungswissenschaft inzwischen eine empirisch-experimentelles Wissen nie herausgehobene Stellung einnimmt19. Dem nur einfach anwenden lässt. Im Rahmen Selbstverständnis dieser Forschungstech- einer komplexen pädagogischen Praxis nik nach stellt das so generierte Wissen ein beobachtet und reflektiert der Lehrer die Steuerungswissen bereit, d.h., ein „siche- konkreten Bedingungen. Er kennt den indi- res“, propositionales Wissen, dem direkte viduellen Fall, er hat Erfahrungen darüber, Umsetzbarkeit und Effektivität zugeschrie- wie die Lerngruppe wahrscheinlich reagie- ben werden. Mit dieser Annahme kommt ren wird, was klappen kann, was nicht, es dem kausalen Technologieverständnis wieviel Offenheit der Lernende „verträgt“, relativ nahe und zieht die Frage nach sich, wo und wann er Instruktion und Anleitung ob Lehrkunst dann noch nötig ist. braucht, wann Fremdkontrolle und unter Das evidenzbasierte pädagogische welchen Bedingungen selbstorganisiertes Wissen wird über randomized controlled Lernen und Selbstkontrolle eher nicht zum trials (RCT) - Forschungsdesigns ge- Ziel führen werden. Dieses Wissen wird wonnen und gilt als „Goldstandard“ der aus Erfahrung und Reflexion gewonnen. empirischen Forschung20. Sein Ansehen „Der von der evidenzbasierten Pädagogik ist höher als alle anderen Standards und erhobene Anspruch auf ein Wissen, das seine empirischen Belege haben einen hö- die Bedingungen exakt bezeichnet, unter heren wissenschaftlichen „Impact“ als alle denen pädagogische Zielzustände inter- anderen empirischen Evidenzklassen, wie ventionistisch erreicht werden, wäre selbst z. B. reflektiertes Erfahrungswissen oder dann nicht einlösbar, wenn die Erziehungs- Expertenwissen. Wie die Bezeichnung wissenschaft ganz auf experimentelle For- „controlled“ schon besagt, stellt die evi- schung umstellen würde“21. Das ist das denzbasierte Forschung ein Kontrollwis- Feld der Lehrkunst und daher sind weder sen bereit. Es handelt sich um Befunde, die Ergebnisse der experimentellen For- die jene Bedingungen nennen, die sicher- schung noch dieses Forschungsdesign stellen, dass Maßnahme A die Wirkung B an sich das Maß aller Dinge, wie Hechler22 hervorruft. Über die experimentelle For- sehr überzeugend ausgeführt hat. Vieles schung sollen gültige, verbriefte Aussagen spricht dafür, dass aus der Sicht der Lehr- oder Gesetzlichkeiten festgestellt werden, kunst das evidenzbasierte Wissen und das die dann Unterrichtsprozesse effizienter empirische Erfahrungswissen der Lehrer anleiten und effektiver verfügbar machen. als funktional äquivalent anzusehen sind. Schon an dieser Stelle wird deutlich, dass Auch das experimentell generierte Wissen sich diese Forschung im Fahrwasser kau- ist eben nur ein Wissen, auf das die Er- saler Technologieerwartungen bewegt. ziehungs- bzw. Lehrkunst sich je nach den Stützt der Lehrer sein Handeln auf jene situativen und individuellen Bedingungen Befunde, die über diese quasi-experimen- der Praxis stützen kann oder auch nicht. tellen Studien und Kontrollgruppendesigns Andere innovative Maßnahmen, die aus der gewonnen wurden, so soll begründet er- eigenen Unterrichtserfahrung oder aus di- wartet werden dürfen, dass die konkrete daktischen Artikulationstheorien und Lehr- Praxis sich der Logik dieser empirischen modellen bezogen werden, können sich je 5 / 2021 Pädagogische Rundschau 499 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
nach Ziel und Absicht als erfolgreichere Lehrerzentrierter und offener Unterricht, Alternativen erweisen. Ein „Goldstandard“ Kooperatives Lernen und Klassenfüh- in diesem Sinne findet sich z.B. in erlebnis- rung, Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis, basierten Unterrichtsformen, in denen die effektives Üben oder Feedback u.v.m. Die Schönheit eines Gedichts nachhaltig ver- Befunde bieten ein vielfältiges, gut ver- mittelt wird: So kann ein Lerngang in einen ständliches Orientierungswissen bei der Blumengarten die richtige Maßnahme Planung z.B. zu kooperativen Lernformen. sein, wenn es um das Verständnis von lyri- Aber auch hier ist zu beachten, dass sich schen Bildern in einem Gedicht geht: Was grundsätzliche didaktische Überlegungen sind „taubetropfte“ Blätter? Wie sehen in der konkreten Praxis ergeben, ange- sie aus? Der Goldstandard wäre hier der sichts derer sich evidenzbasierte Befunde morgendliche Lerngang in die Natur, um als irrelevant erweisen können. So kann den Morgentau und den Blumenduft noch z.B. ein Lehrer einen Gruppenunterricht sehen und riechen zu können. mit dem Ziel planen, seinen Schülern die Auch in Schulromanen finden wir Erfahrung eines gemeinschaftlichen Mit- häufig Erinnerungen an unvergesse- einanders erleben zu lassen. Dabei ent- ne „Goldstandards“. So berichtet Cees scheidet er sich, auf leistungsbezogene Nooteboom von einem Altphilologen, der Elemente zu verzichten, weil diese – z.B. den Tod Sokrates´ auf eine so nachhaltige aufgrund der besonderen Klassensituation Weise inszenieren konnte, dass selbst die - dem Ziel abträglich sein könnten. Damit Kollegen berichteten, es habe in der Stun- wären weder die Gruppenrallye noch ein de danach noch totale Ruhe unter den Gruppenpuzzle passend, obwohl sie zu Schülern geherrscht: „… ich konnte … den Goldstandards unter den kooperati- Sokrates mit einer Würde sterben lassen, ven Lernformen zählen25. die sie (die Schüler, G. S-E) in ihrem kur- Bei John Hatties vorgelegter Meta- zen und langen Leben nie mehr vergessen Studie26 geben die quantifizierten empiri- würden“23. Aber auch ein sehr kleinschrit- schen Belege teilweise sogar fehlerhafte tiges, über vielerlei anschauliches Materi- Orientierungen. Seinen Effektstärken-Mes- al dargestelltes und eng am Lernprozess sungen zufolge weist z. B. der Faktor Klas- des Schülers orientiertes Lehrverfahren sengröße nur 0.21 auf. Zwischen kleinen kann für jenen Lernenden goldrichtig sein, Klassen und großen besteht demnach dem selbstorganisiertes Lernen schwer- kaum ein signifikanter Unterschied. Diese fällt und es als demotivierend erlebt. Befunde stehen im Widerspruch zu den Unter Lehrkunst wird somit keine auf bloß Erfahrungen der Lehrerschaft, die der schöpferischer Eingabe und Künstlertum Klassengröße eine viel größere Bedeu- basierende Lehre verstanden. tung zuschreibt, vor allem, wenn ein eng Diese Überlegungen stellen keinesfalls am Lernen der Schüler orientierter Unter- in Abrede, dass die empirischen Befunde richt geplant wird und auf die individuel- zum Lehren und Lernen und zu Aussagen len Lernprobleme reagiert werden soll27. über die Wirksamkeit unterrichtlicher Maß- Im Grunde kann weder aus einem niedri- nahmen nicht hilfreich sein können. Die Zu- gen noch einem hohen Effektstärkenwert sammenfassung von Martin Wellenreuther direkt etwas für die Praxis gefolgert wer- in seinem Buch: Lehren und Lernen – den28. Diese Probleme und Widersprüche aber wie?24 gibt Lehramtsstudierenden geben Anlass, das Erfahrungswissen der und Lehrern einen umfassenden Einblick Lehrerschaft nicht gering zu schätzen. in empirisch gestützte Belege zu wichti- Die Erziehungswissenschaft sollte sich gen Gebieten von Schule und Unterricht: angesichts der vielen bereits geführten 500 Pädagogische Rundschau 5 / 2021 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Diskurse darauf einigen, empirische Be- 3. Digitale Lerntechnologien – lege als das zu nehmen, was sie sind: Lernen ohne Lehrer? Stützen für die Lehrkunst, Anlässe zur Steigerung der Reflexionskompetenz der Dass aus der Umwelt des Bildungssystems Lehrkräfte und Anregungen, ihre Tech- (OECD, Wirtschaft, Politik) häufig Anstöße niken, Routinen und Erfahrungen zu hin- zur Reform des Schulsystems kommen, terfragen und zu erweitern. Aber es ist überrascht seit langem nicht mehr. Aktuell problematisch, dieser Wissensform per se sind das Digitalisierungsforderungen, ge- eine höhere Bedeutung zuzusprechen als puscht durch die Corona-Pandemie. Die dem aus praktischem Handeln und dessen Programmschrift „Schule 5.0: Die Zukunft Reflexion gewonnenen Wissen. Es spricht von Schule erfinden“31 fasst wesentliche viel dafür, von gleichberechtigten Wissens- Annahmen und Forderungen zusammen. formen auszugehen. Diese Einschätzung Ausgangspunkt ist: Schule sei ineffektiv, bekräftigt Willke: „Wissenschaft unter- weil sie zu viel menschliche Ressourcen scheidet sich von anderen Formen der binde und zu viel Zeit in Anspruch nehme. Systematisierung von Wissen nur durch Daher sollen intelligente Bildungstechnolo- die Regeln der Systematisierung“29. Wir gien bereitgestellt werde, die das Lernen haben nach Willke eher eine Krise bezüg- weitaus besser individualisieren können als lich der Bedeutung des Wissens als eine Lehrkräfte und dafür sorgen, dass Lernen- Krise der Wissenschaften an sich. Und in de in kurzer Zeit mehr als doppelt so schnell der pädagogischen Praxis bestätigt sich lernen würden. „Im Kontext der Digitalisie- dieser Sachverhalt besonders eindrück- rung treten neue Akteure, vor allem Start- lich, weil ihr „Gegenstand“ ein Subjekt ist, up Unternehmen und Technologiefirmen, das sich jederzeit der Kontrollierbarkeit auf den Bildungsmarkt, die Schulen und entziehen kann oder dem das Verstehen traditionellen Unterrichtsformen und Bil- komplexer Sachthemen schwerfällt. In- dungsangeboten zunehmend Konkurrenz sofern ist Erziehen als ein Handwerk zu machen, indem sie individuell zugeschnit- sehen oder auch als ein Kunsthandwerk30, tene, unterhaltsame (digitale) Lernange- bei dem erprobte und geprüfte Verfahren bote machen“32. Die Programme erheben und Techniken das pädagogisch-profes- den Anspruch, jedem Schüler auf der sionelle Handeln stützen, diese aber nicht Basis seines aktuellen Kenntnisstandes, als eine Art „mechanische“ Technologie ohne dass der Lehrer involviert ist, indivi- gesehen werden. Die Kunst des Lehrens duell passende Lernangebote zu machen. geht im Wesentlichen dort verloren, wo „Adaptive Lerntechnologien ermöglichen das pädagogische Handeln durch evi- es, Lerninhalte, -formen und –tempi indi- denzbasierte Programme, didaktische viduell an Schüler/-innen anzupassen. Da- Vorschriften zur Methodenwahl oder struk- durch können individuelle Lernerfolge und turelle Zwänge gegängelt wird. Freude am Lernen maßgeblich gesteigert Die Digitalisierung des schulischen Ler- werden“33 Digitale Bildungstechnologien nens geht hinsichtlich Technologieerwar- scheinen damit gleichermaßen Motivations- tungen noch einen Schritt weiter: Digitale und Individualisierungsansprüche einlösen Lernprogramme wollen im Idealfall ohne zu können. Für die Lehrerschaft bedeutet Lehrer und damit auch ohne Lehrkunst bei das eine Freistellung von den Kernaufga- der Wissensvermittlung auskommen. Das ben der Wissensvermittlung. Sie sollen zugrundeliegende Technologieverständnis sich auf die Organisation sozialer Projek- darf als kausal bezeichnet werden. te konzentrieren und Teamfähigkeit sowie Kommunikation fördern. Ihre neue Aufgabe 5 / 2021 Pädagogische Rundschau 501 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
ist die eines Kurators34, indem sie aus den unter den Strich geschrieben wurde. Der digitalen Angeboten die besten auswählen. Schüler hat richtig gerechnet, aber die Hier offenbart sich eine bedenkliche Logik des Zehnersystems nicht beachtet. Unkenntnis der pädagogischen Diskus- Bei der Subtraktion B wendet der Schüler sion: Unterricht und Erziehung sind völlig das Kommutativgesetz der Addition auf die getrennt, die pädagogische Beziehung Einer und Zehner an. Welche Logik steckt kommt in der Wissensvermittlung gar nicht hinter der Lösung C? Hat der Schüler sich mehr vor. In den folgenden drei Punkten bei den Einern einfach verrechnet oder werden daher die Fragen thematisiert, fälschlicherweise das Kommutativgesetz ob die Konzepte ihre hohen Ansprüche der Addition angewandt? Hat er bei den bezüglich Individualisierung und Motiva- Zehnern nur den Übertrag auf den Hun- tion auch einlösen können. Abschließend derter vergessen und damit das falsche wird auf den vergessenen pädagogischen Ergebnis erzielt? Oder hat er einfach Bezug hingewiesen. 82-24 gerechnet? Im folgenden Fall zeigte sich, dass es 3.1 Individualisierung: Digitale Lern- einer Schülerin einer 2. Grundschulklasse programme nehmen für sich in Anspruch, nicht gelang, einen Zugang zu folgender adaptiv zu sein. Sie bieten den Lernenden Aufgabe herzustellen und sie zu lösen. je nach deren Kompetenzniveaus pas- Das Beispiel stammt aus einer Lern-App. sende Aufgaben und Übungsmaterialien ◻x 7+1x7=6x7 sowie Rückmeldungen an. Die Aufgaben ◻+◻=◻ lassen sich durch Klicks sehr schnell auf den jeweiligen Bildschirm laden. Individu- Sie konnte in der ersten Gleichung das alisierung heißt hier: flexible Zuordnung Kästchen nicht ausfüllen. Bezüglich der des nach Kompetenzniveau gestuften zweiten Gleichung bemerkte sie: „Woher Arbeitsmaterials zu dem vom Schüler er- soll ich das wissen, da kann ich ja alles reichten Lernniveau durch Maschinen, die reinschreiben“. Zu dieser Aussage kam auf Algorithmen basieren. Innerhalb des sie wohl, weil sie beide Gleichungen als gewählten Programms sind dann die vor- zwei getrennte Aufgaben betrachtete. Sie gegebenen Schritte zu bearbeiten. Die gab auf. Das Programm reagiert darauf mit Lernprogramme reagieren auf die Häu- dem Hinweis „falsch“, versuche es noch figkeit von Fehlern oder nicht beendeten einmal. Nach einigen Versuchen präsen- Programmen mit Blinken oder anderen tiert das Programm die richtige Lösung. Es Warnhinweisen. Nicht geklärt ist aller- wird nicht erklärt, weshalb das die richti- dings die Frage, inwiefern sie spezifische ge Lösung ist. Nachdem der digitale Ver- individuelle Fehler-Logiken der Lernenden such gescheitert war, griff ein didaktisch tatsächlich erkennen und ihnen auch erklä- und mathematisch geschulter Lehrer ein. ren können, was und weshalb sie falsch Die Frage, ob sie überhaupt etwas rech- gerechnet oder geschrieben haben. Einige nen könnte, beantwortete die Schülerin mit Beispiele aus der Grundschule35: 6x7=42 und 1x7=7. Die Versuche, das 1. A 133 B 743 C 821 Kästchen auszufüllen, scheiterten wieder, +278 -256 -246 weil die „Punkt vor Strich Regel“ nicht 31011 513 585 bekannt war. Nach einer längeren Pause lenkte der Lehrer die Aufmerksamkeit der Erfahrene Lehrer erkennen, dass bei der Schülerin auf die leeren Kästchen der 2. Additionsaufgabe A das Ergebnis der Gleichung und deren Anordnung. Dies Einer (11) und der Zehner (10) einfach brachte die Schülerin zu der Bemerkung: 502 Pädagogische Rundschau 5 / 2021 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
„Gehören da die Ergebnisse rein?“ Die vorlegen zu können, darf man begründet Aufforderung brachte die Schülerin zu der davon ausgehen, dass dann, wenn die Gleichung: []+7=42. Die Gleichung konn- anfängliche Faszination der neuen Tech- te sie durch die Umkehraufgabe 42-7=[] nik verflogen ist, das digitale Lernen dem lösen. Damit war klar, dass die untere Glei- gleichen Motivationsdefizit ausgesetzt ist chung 35+7=42 heißt. Der nächste Schritt wie das übliche schulische Lernen: Dabei zur Gleichung: 35=[]x7 bedurfte eines wei- geht es um die kulturelle Verantwortung teren Lehrgesprächs, in dem auf die Glei- der Schule, auf das Erlernen von Themen chung 6x7=42 und 1x7=7 hingewiesen zu dringen, deren Vermittlung nicht darauf wurde. Danach sagte die Schülerin: Dann warten kann, bis sich die Schülerinnen muss die letzte Aufgabe []x7=35 heißen. und Schüler dafür interessieren. Willkür- Damit war die Aufgabe gelöst. liche und langfristige Aufmerksamkeit für In der Schulsituation, allein vor dem nicht selbstbestimmte Themen, Übungs- Computer, wäre die Aufgabe für sie nicht bereitschaft und die Akzeptanz von Leis- lösbar gewesen. Sie hätte wahrscheinlich tungsbeurteilungen fallen mit Sicherheit aufgegeben oder einen Mitschüler nach auch im digitalisierten Lernen als zentrale der Lösung gefragt. Das Programm hätte Probleme an. Daher bleibt die Aufgabe der sie dann gelobt. Die Frage ist, ob das Pro- Lehrkunst bestehen, Schüler immer wie- gramm diese Fehler-Logiken erkennen und der mit besonderen didaktischen Maßnah- erklären kann: Kann man einem Algorith- men und Lernformen zu überraschen und mus alle denkbaren Fehlkonzepte einge- zu motivieren, um ihre Lernbereitschaft für ben und dieser dann die entsprechenden Themen anzuregen, die ihnen fremd sind Erklärungen dem Schüler so verständlich und für die sie noch kein Interesse haben. vermitteln, wie es in einem Lehrgespräch Ein grundsätzliches Problem digitaler möglich ist? Ob die zukünftige Entwicklung Lernformate ist es, dass die Lernenden einer KI zielgenau das Lehrer-Schüler-Ge- direkt mit den Themen konfrontiert und pä- spräch abbilden kann, bedarf der Klärung. dagogische Beziehungen zwischen Schü- lern und Lehrern an den Rand gedrängt 3.2 Motivation: Ob die unterstellte werden. Dies verletzt den Tatbestand der Lernfreude und Motiviertheit anhält, wenn Pädagogik, wonach für Erziehungs- und die Lernenden immer öfter Fehler machen Bildungsprozesse personale Beziehungen und von vorn beginnen müssen, ist frag- grundlegend sind. lich. Wer Grundschüler beim Arbeiten mit der Lern-App Anton beobachtet, stellt häu- fig fest: Das Interesse am digitalen Lernen 4. Pädagogischer Bezug lässt auch dann nach, wenn Lob-Klingeltö- ne und purzelbaumschlagende Jubelmänn- Persönliche Wertschätzung, gegenseitiges chen nach dem erfolgreichen Abschluss Vertrauen und emotionale Unterstützung einer Aufgabe erklingen. Oft sind die Lern- sind Merkmale pädagogischer Beziehun- programmhäppchen noch mit Zeitlimits gen. Pädagogisches Handeln basiert auf verbunden: Das Programm kann jedoch personalen Beziehungen36. Mit den Kin- nicht entscheiden, ob der Lernende sich dern und Jugendlichen ein Thema in einem langweilt, weil er so lange bei Aufgaben Lernsetting zu erarbeiten und gemeinsam verharrt oder weil er sie nicht versteht und Lösungen zu finden, sie zu loben, auch zu Hilfe braucht. Mit dem Verlust der Moti- tadeln, aber in jedem Fall an ihrem Lern- vation geht auch die Konzentration verlo- prozess interessiert teilzunehmen, ist die ren. Auch ohne evidenzbasierte Belege Basis pädagogischer Beziehungen. Nicht 5 / 2021 Pädagogische Rundschau 503 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
vergessen werden dürfen dabei auch die Gleichzeitig weist er aber darauf hin, dass sozialen Beziehungen zu Klassenkamera- wissenschaftliches Wissen sich nicht ein- den, die ebenso für die persönliche Ent- fach in die Praxis verlängern lässt. Die wicklung unverzichtbar sind. Damit Kinder Brücke zur Anwendung und Umsetzung in und Jugendliche selbstständig werden, die Praxis leistet bis heute die Lehrkunst. brauchen sie Erwachsene, die sich ihnen Diese speist sich nicht nur aus wissen- zuwenden und mit ihnen eine Bindung ein- schaftlichen Befunden, sondern auch gehen, sie bestärken und ermuntern. Aus aus praktischer, reflektierter Erfahrung, eigener Kraft und allein vor ihren Tablets aus didaktischer Phantasie, anregenden schaffen sie das nicht. Dazu merkt Ahrbeck Lehrmodellen und Artikulationsformen. In an: „Es ist schon erstaunlich, wie sehr sich dieser Funktion kann sie auch die mit der die Sehnsucht über Jahrzehnte gehalten Generierung empirisch-analytischen Wis- hat, Kinder könnten sich aus sich selbst he- sens mitgelieferte Überzeugung einer kau- raus am besten entwickeln …“37. Die Ver- salen Technologie zurückweisen. Vor allem fasser des Konzepts Schule 5.0 scheinen die evidenzbasierte Forschung hält die der Idee dieser Selbstentfaltungstheorie Erfahrungen der Praktiker nicht mehr für anzuhängen. Je jünger die Lernenden sind, nötig, weil sie die Implementierung ihrer desto mehr brauchen sie aber beim schu- experimentell-empirischen Befunde als lischen Lernen Lehrkräfte, die ihnen dafür ausreichend effizient und zielführend sieht. die entsprechende Unterstützung geben. Damit pädagogisches Handeln überhaupt Im dem vorliegenden Digitalisierungskon- zustande kommt, müssen Lehrer zwar zept, so darf man resümieren, „rückt die auch planen und Techniken bzw. Techno- grundlegende Dimension der Pädagogik logien anwenden, um die beabsichtigte in den Hintergrund und lässt geschehen, Ziele zu erreichen, aber sich immer be- dass die interpersonalen Bezüge, die Bil- wusst sein, dass sie aus verschiedenen dung ausmachen und ermöglichen, einem Gründen an der Selbstreferentialität der falsch verstandenen Selbstmanagement Schüler scheitern können. Pädagogisches der Schüler/innen preisgegeben wer- Handeln wird zu Unrecht auf das bloß me- den“38. Es ist daher dringend zu klären, chanische Anwenden von evidenzbasier- was es heißt „menschliche Ressourcen“ tem Wissen reduziert. können eingespart werden, damit das Ver- Die Digitalisierung von Lehren und hältnis von Nähe und Distanz nicht einsei- Lernen in der Schule führt ebenso ein tig auf die Seite der Distanz kippt39. Diese Technologieversprechen mit sich. Es geht Klärung ist gerade deshalb nötig, weil sogar noch darüber hinaus, indem Lehrer Computer billiger sind als professionelle von der Wissensvermittlung freigestellt Lehrkräfte. Die Basis der Lehrkunst bilden werden und andere Aufgaben zugewie- in besonderem Maße die pädagogischen sen bekommen. Wie an wenigen Beispie- Beziehungen einer Lehrkraft zu ihren Schü- len aufgezeigt wurde, gelingt es auf dem lerinnen und Schülern: In der Beziehung derzeitigen digitalen Entwicklungsstand Mensch-Maschine fehlt diese Basis. nicht, in den Fehlern der Lernenden deren „Logik“ zu antizipieren und entsprechende Zusammenfassung Lernhilfen zu geben. Das klassische Lehr- gespräch bleibt daher die angemessene Wissenschaftlich generierte Erkenntnisse Form und bietet zudem die Basis für die sind bis heute notwendige und hilfreiche personale Beziehung, wie die Pädagogik Wissensformen um Praxis zu gestalten. sie in ihrem zentralen Terminus, dem päda- Darauf hat Herbart aufmerksam gemacht. gogischen Bezug, beschreibt. 504 Pädagogische Rundschau 5 / 2021 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Das Ziel des Beitrags ist es, auf Wis- 12 Stellvertretend soll auf die Erziehungstheo- sensbestände des Faches hinzuweisen, rien pädagogischer Klassiker hingewiesen werden, die von E. Tenorth 2003 heraus- die im Blick auf den Zusammenhang von gegeben wurden und auf die nach pädago- Wissenschaft und Lehrkunst vorliegen gischen Schlüsselwerken systematisierten und den Tatbestand der Technologie aus zwei Bände von K. Prange 2009. pädagogischer Perspektive zu klären. Die 13 Kron, F. W. (1994): Grundwissen Didaktik, Erziehungswissenschaft als Disziplin darf bes. Kap. 3 und 4. 2. Aufl. München, Basel: hinter dieses erziehungswissenschaftliche Ernst Reinhardt Verlag. Grundwissen nicht ständig wieder zurück- 14 Prange, K. (1986): Bauformen des Unter- richts. Eine Didaktik für Lehrer, bes. Kapitel fallen, wenn sie ein Interesse an ihrer eige- III. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 2. Aufl. nen Weiterentwicklung hat. 15 Noch immer bietet das 1949 erschienene Buch „Unterrichtslektion als Kunstform“ von R. Seyfert (Worms) einen illustrativen Einblick sowohl in die Grundlagen als auch in die vie- Anmerkungen len Unterrichtsbeispiele zur Lehrkunstdidak- tik. Zur Aktualität der Lehrkunstdidaktik vgl. 1 Im Text wird von der Möglichkeit Gebrauch H. Chr. Berg u.a. (2009): Die Werkdimension gemacht, das generische Maskulinum zu be- im Bildungsprozess – Das Konzept der Lehr- nutzen. kunstdidaktik. Bern. 2 Herbart, J. F. (1806): Allgemeine Pädagogik 16 Gruschka, A. (2014): Lehren. Reihe Pä- aus dem Zweck der Erziehung abgeleitet. In: dagogische Praktiken. Kap. 6. Stuttgart: Die Pädagogik Herbarts. Hrsg. v. H. Nohl, Kohlhammer. E. Weniger, G. Geissler, Reihe Kleine Päd- 17 Luhmann, N. & Schorr, K. E. (1979): Das agogische Texte. Heft 25, S. 11. Weinheim, Technologiedefizit der Erziehung und die Pä- Berlin, o.J. dagogik. In: ZfPäd., 25. Jg. Nr. 3, S. 345-365. 3 Ein ähnliches Muster war Herbart aus dem 18 Kraft, V. (2009): Pädagogisches Selbstbe- Gebiet der Wirtschaft bekannt: Adam Smith wusstsein. Studie zum Konzept des Pädago- hat 1776 sein Werk „Wealth of Nations“ vor- gischen Selbst. Kap. 5. Paderborn, München, gelegt, das eine Theorie der Funktionsweise Wien, Zürich: Schöningh. der Wirtschaft beschreibt. 19 Bellmann, J. & Müller, Th. (2011) (Hrsg.): 4 Herbart, J. F. (1806): Allgemeine Pädagogik Wissen, was wirkt. Kritik evidenzbasierter aus dem Zweck der Erziehung abgeleitet. S. 8. Pädagogik. Wiesbaden: VS Verlag S.10. 5 ebd. S. 8f. Ebenso K. Koch: Ankunft im Alltag – Evidenz- 6 Herbart, J. F. (1802): Zwei Vorlesungen basierte Pädagogik in der Sonderpädagogik, über Pädagogik. In: J.F. Herbart, Sämtliche S. 9-41. In: Ahrbeck, B., Ellinger, St., Hech- Werke. Hrsg. v. K. Kehrbach u. Otto Flügel, ler, O., Koch, K. & Schad, G. (2016) (Hrsg.): Bd. 1. Aalen 1989, S. 284. Evidenzbasierte Pädagogik. Sonderpädago- 7 ebd. S. 286. gische Einwände. Stuttgart: Kohlhammer.. 8 Prange, K. (2007): Die Funktion des pädago- 20 Hechler, D. (2016): Evidenzbasierte Päda- gischen Takts im Lichte des Technologiepro- gogik – Von der verlorenen Kunst des Erzie- blems der Erziehung, S. 126. In: B. Fuchs & hens. S. 42. In: Ahrbeck u.a. 2016. Ch. Schönherr (2007): Urteilskraft und Päda- 21 Herzog, W. (2011): Eingeklammerte Praxis – gogik. Würzburg: Königshausen & Neumann. ausgeklammerte Profession. Eine Kritik der 9 Prange, K. & Strobel-Eisele, G. (2015): Die evidenzbasierten Pädagogik, S. 136. In: Bell- Formen des pädagogischen Handelns. 2. mann, J. & Müller, Th. (2011) (Hrsg.): Wissen, Aufl. Stuttgart: Kohlhammer. was wirkt. Kritik evidenzbasierter Pädagogik. 10 vgl. dazu die sehr umfassende Darstellung zu S. 125-145. Wiesbaden: VS Verlag. diesem Diskurs von Wolfgang Schloz: Über 22 Hechler, O. (2016), ebd. S. 42. die Nichtplanbarkeit in der Erziehung. Wies- 23 Nooteboom, C. (1991): Die folgende Ge- baden, 1966, Deutscher Fachschriftenverlag. schichte. S. 109, Frankfurt: Suhrkamp. 11 Flitner, W. (1979): Ist Erziehung sittlich er- 24 Wellenreuther, M. (2013): Lehren und Ler- laubt? In: ZfPäd., 25. Jg. S. 499-504. nen – aber wie? Empirisch-experimentelle 5 / 2021 Pädagogische Rundschau 505 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Forschungen zum Lehren und Lernen im Un- 34 ebd. S. 3. terricht. Bd. 50, Grundlagen der Schulpäd- 35 vgl. Bobrowski, S. (2003): Schriftliches Ad- agogik. 6. Auf. Baltmannsweiler: Schneider. dieren und Subtrahieren. In: Praxis Grund- 25 ebd. S. 448ff. schule: Mit Fehlern umgehen. In: Heft 2 / 26 Hattie, J. (2013): Lernen sichtbar machen. März 2003. Überarb. dt. Ausgabe von „Visible Learning“. 36 Die Bedeutung des pädagogischen Bezugs, besorgt v. W. Beywl und K. Zierer. Balt- der von Herman Nohl geprägt wurde, wurde mannsweiler: Schneider. von Dorle Klika begrifflich differenziert und 27 Eine Studie aus Tennessee stützt die Erfah- erläutert: Klika, D. (2013): Herman Nohls rungen der Lehrer: Die STAR-Studie stellt >>Pädagogischer Bezug
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