Mitgliedermagazin des BVF - HEILPÄDAGOGISCHE FRÜHERZIEHUNG IM WANDEL - DIGITALISIERUNG
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Mitgliedermagazin des BVF NR. 105 – JANUAR 2022 SCHWERPUNKT HEILPÄDAGOGISCHE FRÜHERZIEHUNG IM WANDEL – DIGITALISIERUNG SEITE 9 FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 1/2022
2 Inhaltsverzeichnis Was wir diesmal zum Thema machen: Editorial................................................................................................ 3 Aktuelles aus dem BVF....................................................................... 5 HFE im Wandel – Digitalisierung Wie digital sind wir eigentlich?.......................................................... 9 Messenger, E-Mail, Cloud, Videocall und Co. als digitale Brücke zur Familie............................................................ 12 Bildschirmmedien – mit Kleinkindern einen Umgang finden.............................................. 20 Datenschutz im Arbeitsalltag leben .................................................. 26 Digitale Bildung mit analogen Freispielmaterialien: Bei jungen Kindern im So-tun-als-ob eine aktive Auseinander- setzung zu Themen der Digitalisierung anregen............................... 29 parentu – die App für informierte Eltern........................................... 34 Kontakt auf Distanz und die App Könnerklick.................................. 37 Bundesgesetz zur Entlastung für Eltern von schwer beeinträchtigten Kindern. Solche Gesetze klingen zwar schön, doch wie sieht es mit der Umsetzung aus?....................................... 41 Abkürzungsverzeichnis....................................................................... 46 Vorstand............................................................................................... 48 Geschäftsstelle /Vorschau.................................................................. 49 Vorankündigung.................................................................................. 50 Cartoon................................................................................................ 51 Impressum........................................................................................... 52 FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 1/2022
Editorial 3 Liebe Leserinnen und Leser Sarah Wabnitz «Digitale Transformation» den Begriff las ich jetzigen Kinder. «Kindheit ist Kindheit in der in der ersten Woche des Lockdowns im März digitalen Welt. Die Erfahrungen, die Kinder 2020 auf LinkedIn. Sicher habe ich ihn auch mit den Blumen auf der Wiese und beim Bud- schon zuvor dort oder an anderen Orten ge- deln im Sand machen, sind nicht abgekoppelt lesen, aber wie das Gehirn das macht, als von den Erfahrungen, die sie mit Filmen auf nicht relevant für mich herausgefiltert. Doch dem Smartphone und beim Selfiemachen mit mit Covid-19 traf uns alle die Digitalisierung dem Opa machen. Digitale Kindheit resultiert mit einer enormen Wucht, auch die Heilpäd- aus neuen medialen Formen von Kindsein und agogische Früherziehung. Familiesein.» (Wiesmann et al., 2020, S. 4) Wir erinnern uns, wie in kürzester Zeit ver- Digitale Medien sind für die Kinder ebenso schiedenste Lebensbereiche von uns digitali- «neu» wie alle weiteren Erfahrungen, die sie siert wurden, zu denen wir auch zuvor schon in ihrem ersten Lebensjahr machen. So lernen Zugang gehabt hätten, aber diesen Zugang für sie z.B. An- und Abwesenheit im analogen, uns nicht gewählt haben. Die «digitale Trans- wie auch im digitalen Modus. Was für sie formation» – jetzt war sie da, aber was heisst gleichbedeutend «neu» ist (vgl. auch Greschke, das eigentlich? Was bedeutet dieser Begriff, 2015). wenn er auf unseren Fachbereich der Heilpä- Wenn wir hier von «digitalen Medien» spre- dagogischen Früherziehung (HFE) übertragen chen, so sind diese mittlerweile «Haushalts- wird? Welcher neuen Kompetenzen bedarf es geräte» (Wiesemann und Fürtig, 2018, S. 197) für diesen Wandel von Seiten der HFE und in die sich als Kooperations- und Kommunika- welchen Fachbereichen der HFE wird diese tionssysteme im Familienalltag etabliert haben Transformation relevant? Ein grosses Schlag- und einen zentralen Gestaltungsraum und wort, das nicht nur die Transformation der Kontext von Kindern abbilden. Es entwickeln Arbeitswelt einschliesst, sondern auch die sich individuelle, familiale Medienpraktiken in «digitale Transformation» der gesamten Ge- denen digitale und analoge Praktiken neben- sellschaft. Dies erleben wir bereits im (Ar- einanderstehen und als Ergänzung gesehen beits-)alltag: Nicht nur unser «Working Habi- werden können (Wiesmann et al., 2020). tus» verändert sich, sondern auch der Habitus Dieser bestehende Digitalisierungsprozess unserer Klientel, der Eltern, Familien und Kin- und der damit einhergehende gesellschaftli- der, die wir begleiten (Wiesemann, Eisen- che Wandel lassen sich nicht aufhalten und mann, Fürtig, Lange, Mohn, 2020). Es bilden somit lassen sich «digitale Medien» nicht aus sich neue Realitäten ab, die einer Anpassung dem Familienalltag ausschliessen. Eltern wir- oder «neuen» Handlungsformen der Pädago- ken auch hier als Modelle. Kinder wollen das gik bedürfen. Handeln ihrer Eltern nachahmen und somit Was von uns als Fach- oder Privatpersonen auch die Aktivitäten ihrer Eltern mit «digitalen nun als fortlaufender Neuerungsprozess erlebt Medien» kopieren, aber wie können wir als wird beschreiben Wiesmann et al. (2020) so, Fachpersonen sie und ihre Eltern dabei unter- dass das «neu» geschaffene für unsere Gene- stützen und ein gesundes Aufwachsen mit ration «neu» ist, nicht für die Kindheit unserer «digitalen Medien» begleiten? FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 1/2022
4 Editorial Tilmann und Eder (2019) schreiben in ihrem gen sowie Fachleute Medienbildung als ihre Bericht («Frühkindliche Medienwelten im di- Aufgabe anerkennen und ein passendes und gitalen Zeitalter») für die EKKJ (Eidgenössi- ineinandergreifendes Medienangebot für das sche Kommission für Kinder- und Jugendfra- gesamte Bildungscurriculum des Kindes gen): «Medien bieten so auch für Kinder wich- schaffen (Blömeke, 2000). tige Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung Digitale Transformation erreicht, wie hier dar- und zur kulturellen und gesellschaftlichen gestellt wird, nicht nur unseren Arbeitsalltag Teilhabe, da sie Identifikations-, Orientie- an der Oberfläche, durch neue Abrechnungs- rungs- und Handlungsräume und weitere Bil- und Dokumentationssysteme, smarte Autos, dungsmöglichkeiten schaffen.» Sie weisen dem Tablet in der Tasche und vielem mehr, darauf hin, dass «digitale Medien» aus dem sondern grundlegend unsere pädagogischen Alltag der Kinder nicht ausgeschlossen wer- Kompetenzen und unser Handlungsrepertoire. den sollen/können, da sie die normale Le- Dieser breiten Spanne von Themen wird an- benswirklichkeit der Familie abbilden. Es soll- satzweise versucht in der vorliegenden Fo- te vielmehr die Diskussion um den Medien- rumsnummer Rechnung zu tragen. Schaut rein umgang und dessen Begleitung in den Fokus und scrollt euch durch. gerückt werden. Sie verstehen «Medienerzie- hung» als eine Aufgabe «von Anfang an» und Mit herzlichen Grüssen meinen damit, «dass Kinder in einer von Me- dien geprägten Welt gut begleitet werden und dabei einen kompetenten Umgang mit Medi- en entwickeln können.» (Tilemann und Eder 2019, S. 59) Dabei wird darauf verwiesen, dass ein syste- matischer Aufbau von Medienkompetenzen bei Kindern nur dann möglich ist, wenn neben Sarah Wabnitz den Eltern auch Pädagoginnen und Pädago- Geschäftsleiterin BVF Literaturverzeichnis Blömeke, S. (2000). Medienpädagogische Kompetenz. Theoretische und empirische Fundierung eines zentralen Elements der Lehrerausbildung. München: KoPäd Greschke, H. (2015). «Mama bist Du da?» Zum prekären Status von Anwesenheit in mediatisierten familialen Lebenswelten. In Zeitschrift für Medien + Erziehung. 59 (6): S. 70-80. München: Kopaed Verlagsgmbh Tilemann, F. und Eder, S. (2019). Frühkindliche Medienwelten im digitalen Zeitalter. In EKKJ (Hrsg.), Aufwachsen im digitalen Zeitalter. S. 58-65. Online: file:///C:/Users/49176/OneDrive/Desktop/Bibliothek/Digitalisierung/d_2019_EK- KJ_Bericht_Digitalisierung.pdf. Wiesemann, J. und Fürtig, I. (2018). Kindheit zwischen Smartphone und pädagogischem Schulalltag. In T. Betz et al. (Hrsg.), Institutionalisierungen von Kindheit. Childhood studies zwischen Soziologie und Erziehungswissenschaft. Reihe Kindheiten – Neue Folge (S. 196-212). Weinheim/München: Beltz Juventa. Wiesemann, J., Eisenmann, C., Fürtig, I., Lange, J. und Mohn, B. (2020). Digitale Kindheiten. Kinder – Familien – Medien. In Wiesemann, J., Eisenmann, C., Fürtig, I., Lange, J. und Mohn, B. (Hrsg.), Digitale Kindheit. S. 1-19. Wiesbaden: Springer Verlag FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 1/2022
Aktuelles 5 Aktuelles aus dem BVF Franziska Brüngger und Sarah Wabnitz Spiels aufgezeigt – auch als Instrument zur Entwicklungsförderung in der Heilpädagogi- schen Früherziehung. «Spielen ist eine der bedeutsamsten Lernmöglichkeiten für Kin- der», schreiben Christina Koch und Kolja Ernst (SZH, Jg. 27, 10/2021, S. 23). Oder wie es Sa- rah Wabnitz formuliert: «Das Spiel ist der Dreh- und Angelpunkt der Heilpädagogischen BVF Retraite Früherziehung» (SZH, Jg. 27, 10/2021, S. 44). Ende August traf sich der Vorstand zusammen Was in der Heilpädagogischen Früherziehung mit der Geschäftsleitung zur jährlichen Retrai- schon lange bekannt ist und tagtäglich gelebt te. Dieses Jahr setzte sich der Vorstand mit und umgesetzt wird, wurde in dieser sehr ge- der verbandseigenen Zeitschrift «Forum» aus- lungenen Zeitschrift nochmals aufgezeigt und einander. Was gefällt an unserer Zeitschrift? fachlich vertieft dargestellt. Wir danken allen Was ist uns wichtig und soll weiterhin beste- Autorinnen und Autoren aus dem Feld der hen bleiben? Was könnte man allenfalls ver- Heilpädagogischen Früherziehung, die ihr ändern? Was wäre wünschenswert und inno- Fachwissen in diese Zeitschrift haben einflies- vativ? Aber auch Fragen bezüglich ressour- sen lassen. Die Arbeit und das Wirkungsfeld censchonenden Abläufen und optimierbaren der HFE konnte dadurch einem breiten Pub- Prozessen stellten sich. In einer kreativen likum der Heil- und Sonderpädagogik präsen- Auseinandersetzung wurden nebst Anpassun- tiert werden. gen der Prozessgestaltung vor allem auch neue Ideen und Möglichkeiten für inhaltliche Flyer «Was ist Heilpädagogische Weiterentwicklungen und gestalterische Ver- Früherziehung» änderungen diskutiert und entworfen mit dem Endlich ist er da – unser neuer Flyer «Heilpä- Ziel, weiterhin eine attraktive und fachlich dagogische Früherziehung – Begleitung von kompetente Zeitschrift der Heilpädagogi- Geburt an»! Ihr könnt den neuen Flyer auf der schen Früherziehung bieten zu können. Homepage herunterladen oder in gedruckter Form bestellen. Der Flyer richtet sich in erster Edition SZH – Frühe Bildung: Spiel Linie an Fachpersonen aus angrenzenden Dis- In Kooperation mit der SZH entstand dieses ziplinen oder aus der Politik. Zusätzlich zum Jahr erneut eine gemeinsame Zeitschrift zum Flyer haben wir unsere Graphik zu den «Auf- Thema «Frühe Bildung: Spiel». In unterschied- gabenfeldern und Schnittstellen der HFE» lichen Artikeln wurde die Wichtigkeit des passend zu unserem neuen Karten-Set eben- FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 1/2022
6 Aktuelles falls in Kartenformat drucken lassen. Nun sind 2021, um ein neues Austauschgefäss für den wir bereit, das Feld der HFE in neuen Farben BVF ins Leben zu rufen.» und Formen in die Öffentlichkeit zu tragen. Wie ihr bereits im November in einem Mail erfahren habt, möchte der Verband eine Ver- Öffentlichkeitsarbeit netzungsgruppe zum überkantonalen Aus- Der Verband setzt weitere Massnahmen um, tausch im Berufsfeld der HFE gründen. Ziel die er sich im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit des Organs ist der Austausch über aktuelle für das Jahr 2021 gesetzt hat. In einer Koope- Themenfelder in den Kantonen und das Bilden ration mit parentu wurde den Leistungsanbie- von Synergien, um so eine engere Vernetzung, tenden der Heilpädagogischen Früherziehung mehr Wissenstransfer und eine politische das Angebot gemacht, ihre Institution in der Stärkung der HFE zu schaffen. Dieses Organ App erfassen zu lassen. Was noch alles mit wird sich einmal im Jahr online treffen, orga- parentu möglich ist, lest ihr auf Seite 34. nisiert durch den Verband. Der Wunsch des Verbandes wäre, dass jeder Kanton durch ein Austauschtreffen VHDS (22.09.2021) Mitglied des BVF vertreten ist, um einen flä- und IGFF (05.11.2021) chendeckenden Austausch sicher zu stellen. Im Herbst fanden die Austauschgespräche mit Einige von euch haben sich bereits bei uns den Verbänden des VHDS und der IGFF Bern gemeldet. Herzlichen Dank! Wir sind aber und Zürich statt. nach wie vor auf der Suche nach weiteren Die bereichernden Gespräche zeigen immer Interessierten! Du möchtest Teil dieser Ver- wieder, wie wichtig es ist, unsere Ressourcen netzungsgruppe werden? Dann melde dich zu bündeln und den Wandel im Feld gemein- bei unserer Geschäftsstelle (geschaeftsstel- sam zu beschreiten. Wir danken den Verbän- le@frueherziehung.ch)! den für den wertvollen Austausch. Zooméro Am 08.11.2021 fand wieder ein Zooméro statt. Dieses Mal entschieden wir uns für eine etwas andere Form mit einem Inputreferat von Mat- thias Lütolf zum Thema «Inklusion in der Kita: Gelingensfaktoren und Umsetzung aus Sicht der HFE». Ein herzliches Merci an Matthias Lütolf für den interessanten Input. Und ein weiteres grosses Dankeschön an alle, die da waren und zu einer sehr angeregten Diskussi- on beigetragen haben. Es hat uns sehr gefreut, Austausch und kantonale Vernetzung dass der Zooméro dieses Mal so grossen An- «Mehr Vernetzung, mehr Austausch, mehr klang gefunden hat. Wir sind überzeugt, dass Stärkung von gemeinsamen politischen und der Zooméro eine gute und einfache Form ist, inhaltlichen Themen. Das war der Ausgangs- um sich interkantonal über wichtige und aktu- punkt des Vorstandes der letzten Retraite elle Themen in der HFE austauschen zu kön- FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 1/2022
Aktuelles 7 nen. Der nächste Zooméro findet am 28.04.2022 um 20.00 Uhr statt. Genauere Infos werdet ihr zu gegebenem Zeitpunkt erhalten. Wir freuen uns, wenn ihr mit dabei seid! 2. Nationaler Autismus-Kongress in Bern Dieses Jahr fand im November in Bern der zweite Nationa- Alliance Enfance: «Wissenstransfer le Autismus-Kon- in der frühen Kindheit» gress statt. Der BVF Im Rahmen des Jahrestreffens der Swiss So- war mit einem ciety for early childhood research (SSECR) an Stand vor Ort, um der HfH Zürich organisierte die Alliance Enfan- auf die Wichtigkeit ce eine Session zum Thema «Wissenstransfer der HFE im Bereich in der frühen Kindheit: Wie Forschung, Praxis Autismus aufmerk- und Politik gemeinsam Wissen mobilisieren sam zu machen und um uns zu vernetzten. können». Es wurden drei aktuelle Forschungs- Neben Gesprächen mit anderen Fachperso- projekte aus dem Bereich der Frühen Förde- nen fanden auch spannende Begegnungen mit rung vorgestellt und anschliessend in Gruppen Eltern von Kindern mit Autismus sowie mit Chancen, Nutzen und Möglichkeiten für einen Erwachsenen mit Autismus statt. Immer wie- gelingenden Wissenstransfer zwischen For- der kam dabei die hohe Bedeutung der frühen schung, Praxis und Politik diskutiert. Abgerun- Förderung bei Autismus zur Sprache. Zusätz- det wurde die Session mit einem Referat von lich konnten wir aus den verschiedenen Re- Oskar Jenni (Universitäts-Kinderspital Zürich) feraten interessante Inputs mitnehmen, die wir und einem Podiumsgespräch mit Flavia Was- gerne in nächster Zeit in unterschiedlicher serfallen, Simon Sommer, Benjamin Roduit Form – sei dies im Newsletter, auf der Home- und Andrea Lanfranchi. Der Vorstand und die page oder in einem kommenden «Forum» – an Geschäftsleiterin nahmen aktiv an dieser Ses- euch weitergeben. sion teil, um die Heilpädagogische Früherzie- hung im Feld der Frühen Förderung zu vertre- ten. Einen spannenden Einblick in eines der Forschungsprojekte erhaltet ihr hier in diesem Heft auf Seite 29 im Artikel zum Forschungs- projekt «Spielend IT-Probleme lösen: Konzep- te digitaler Transformation im Freispiel im Kin- dergarten erkunden». Studie «Frühe Sprachförderung» Im Auftrag des Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) wird die Stu- FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 1/2022
8 Aktuelles die «Frühe Sprachförderung» erarbeitet. Diese die Einschätzungen und Erfahrungen von trägt zur Diskussion der Motion von National- Heilpädagogischen Früherzieher*innen und rat Christoph Eymann bei, die anregte zu prü- Heilpädagog*innen. Für den ersten Teil des fen, «wie die frühe Sprachförderung vor Ein- Projektes werden Interviewteilnehmer*innen tritt in den Kindergarten mithilfe des Bundes gesucht. Voraussetzung für die Teilnahme ist im ganzen Land umgesetzt werden kann». Die die Tätigkeit in der HFE und Erfahrung in der Studie soll die wissenschaftlichen Grundlagen heilpädagogischen Förderung und Unter- und die Umsetzungen in Kantonen und Ge- stützung von Kindern mit ASS. Bei Interesse meinden darstellen. Weiter sollen auch die freut sie sich über die Kontaktaufnahme via Perspektiven von Verbänden und Organisati- Mail (katrin.siegwolf@gsr.ch) oder Telefon onen der frühen Kindheit eingeholt und skiz- (076 603 13 77)! ziert werden. Der BVF hat als Interviewpartner in der Vorstudie mitgewirkt und den Verband in einem der Workshops vertreten. Kommende Termine 04.03.–05.03.2022: Promotionsprojekt zum Thema HFE von Münchner Symposium Frühförderung Kindern mit Autismus-Spektrum-Störung (online): Zutrauen-Vertrauen: in der deutschsprachigen Schweiz Kernressourcen in der Frühförderung Zielsetzung des Promotionsprojektes von Katrin Siegwolf (Heilpädagogin, GSR Autis- 31.03.–02.04.2022: muszentrum Aesch (BL)) ist es, die Anforde- Jahrestagung GAIHM (Potsdam und online): rungen an die heilpädagogische Förderung Kinderrechte! Kindgerecht von Anfang an. und Unterstützung von Kindern mit ASS und 28.04.2022: Zooméro BVF ihrem Umfeld zu erfassen. Im Zentrum stehen 20.05.2022: Mitgliederversammlung BVF FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 1/2022
HFE im Wandel – Digitalisierung 9 Wie digital sind wir eigentlich? Den digitalen Wandel im Team aufarbeiten, ausrichten und professionalisieren Sarah Wabnitz So viel wie nötig und so wenig wie möglich? Schule aufgearbeitet (Zentrum Medienbil- Digitalisierung wirkt auf allen Ebenen der Ar- dung und Informatik, PHZH) und es dem Feld beitswelt der Heilpädagogischen Früherzie- zur Anpassung auf ihre Bedürfnisse zur Ver- hung mit. Aber das, was so schleichend in fügung gestellt. Es ist ein Kartenset mit an- unser tägliches Leben getreten ist - ganz sprechenden Bildern und Fragen. Diese Kar- nach dem Motto: vom Analogen zum Digita- ten wurden auf die Heilpädagogische Frü- len -, haben wir das in unserer Arbeitsstelle, herziehung angepasst. Sie stehen zum Down- unserem Team oder der Institution konzep- load in unserem internen Bereich des BVF tionell aufgearbeitet? Wie strukturell und zur Verfügung und sollen dem anregenden strategisch wird das Thema im Feld der Heil- Austausch über Digitalisierung im Feld die- pädagogischen Früherziehung angegangen? nen. Hier ein erster Auszug als Diskussions- Oder wie sehr sind wir nur Reakteure auf den anregung, also schnapp dir dein Team in der äusseren Wandel und damit einhergehende Kaffeepause und lasst die digitalen Gedanken neue Anforderungen, die an uns als Berufs- kreisen. gruppe gestellt werden? Andrea Kern und Thomas Staub haben dieses Thema in ihrem (Mehr Antworten und Ideen finden sich auch «Kompass für den digitalen Wandel» für die hier: https://www.schultools.net/) Lernplattformen, Tools › Welche digitalen Tools nutzen wir für die individuelle Begleitung der Kinder und Fa- milien? › Welche digitalen Angebote nutzen wir für den Aufbau von reproduzierbarem Wissen und Grundfertigkeiten? › Welche Tools nutzen wir, um den Entwick- lungsprozess zu dokumentieren und reflek- tieren? › Welche digitalen Werkzeuge nutzen wir für kreative Aktivitäten und fürs Experimentieren? › Welche digitalen Materialien stehen uns für den Wissenserwerb zur Verfügung? FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 1/2022
10 HFE im Wandel – Digitalisierung Führung › Wie kann die Leitungsperson den digitalen Wandel stützen? › Wie werden Mitarbeitende bei Verände- rungsprozessen miteinbezogen, beteiligt und informiert? › Wie werden die Entwicklungsprozesse der einzelnen Personen unterstützt? › Wie werden Schwerpunkte für die Weiter- bildung festgelegt und kommuniziert? › Wie kann Innovation gefördert werden? Förderarrangements › Wie werden Medien im Fördersetting ein- gesetzt? Gibt es digitale Programme, die als Ganzes eingesetzt werden (z. B. dob)? › Wie werden Medien in der Zusammen- arbeit mit den Eltern eingesetzt? › An welchem Modell orientieren wir uns bei der Planung, Durchführung und Auswer- tung unserer Nutzung der digitalen Me- dien? (Schulbezogen, kann aber angepasst werden: SAMR, Bloom’sche Taxonomie ...) Arbeitsgeräte › Welche Arbeitsgeräte stehen den Familien zur Verfügung? Welche den Mitarbeiten- den? › Wie verteilen/verwalten wir Software? › Welche Apps und Dienste stehen den Fa- milien zur Verfügung? › Wie zufrieden sind wir mit der bisherigen Infrastruktur? › Benötigt es einen Wechsel? Können Syste- me zusammengefügt werden (Abrech- nungssystem und Dokumentationssystem)? FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 1/2022
HFE im Wandel – Digitalisierung 11 Konzept › Existiert ein Medien- und ICT-Konzept? Ist es aktuell? Ist es im Team bekannt und wie wird es gelebt? › Was soll das ICT-Konzept bewirken? › Wer beteiligt sich an der Konzept- entwicklung? Wer hat welche Rolle? › Wie kann ein «Papiertiger» verhindert werden? Grundangebot › Gehört Medienbildung zu unserem Grund- angebot für die Eltern? › Verwenden wir dafür standardisiertes Ma- terial und haben wir eine gemeinsame Hal- tung, die wir den Eltern mitgeben? › Wie treffen wir eine Auswahl von Empfeh- lungen wie z. B. von Apps? › Haben wir gemeinschaftliche Grundlagen dazu im Team? Empfehlen und arbeiten wir mit den gleichen Materialien? Quelle, Inhalt und Bilder A. Kern, T. Staub 2020: Kompass für den digitalen Wandel. Zentrum Medienbildung und Informatik, PHZH (online) Sarah Wabnitz MA Sonderpädagogin Geschäftsleiterin BVF FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 1/2022
12 HFE im Wandel – Digitalisierung Messenger, E-Mail, Cloud, Videocall und Co. als digitale Brücke zur Familie Inspirierende Praxisimpulse für eine zeitgemässe Zusammenarbeit mit Eltern Petra Ulshöfer Der direkte Kontakt mit dem familiären Umfeld des Kindes ist ein zentraler Aspekt unserer Arbeit. Dieser kann aus verschie- densten Gründen erschwert sein und dem- entsprechend alternative Lösungen erfor- dern, um die regelmässige Zusammen- arbeit mit der Familie gewährleisten zu können. Hierbei rückt die Relevanz der Digitalität in den Vordergrund, die es mit- tels verschiedener Methoden und Medien möglich macht mit der Familie in Verbin- dung zu bleiben und sie am Förderprozess partizipieren zu lassen. Abb. 1: «Traversinersteg» in Graubünden Eine kleine Exkursion in die Natur als Einstieg Dieses Foto scheint mir als Sinnbild zum The- • Distanz zur gegenüberliegenden Seite – An- ma der «digitalen Brücke» passend zu sein, näherung nur durch eine behutsame Über- assoziiert mit einzelnen Gedanken zur Zusam- querung möglich menarbeit mit Eltern: • ... und was kommt Dir dazu noch in den • Ein filigranes Netzwerk in einem verfloch- Sinn? tenen System • Stabilität und Tragfähigkeit durch stark ver- Die Zusammenarbeit mit Eltern lebt von der bundene Knotenpunkte persönlichen Begegnung, das ist unumstritten. • Ein Mix aus Materialien, je nach Vorausset- Diese kann jedoch erheblich eingeschränkt zung eine andere Konstruktion sein. Das haben wir in der Praxis spätestens • Beweglichkeit und doch solide durch ein seit der Pandemie im letzten Jahr live erleben stabiles Fundament müssen, nachdem sich von einem Tag auf den • Möglichkeiten für Weitblick, Ausblick und anderen die üblichen Kommunikationswege Einblick drastisch eingeschränkt haben und die digi- FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 1/2022
HFE im Wandel – Digitalisierung 13 talen Kanäle in unserer Arbeit deutlich in den len Weg für eine zuverlässige Kommunikation Fokus gerückt sind. Die Umstellung auf digi- mit den Eltern auf digitaler Ebene passend zu tale Methoden sowohl in der Arbeit mit dem gestalten. Die Kunst besteht darin, kreativ Kind als auch in der Kommunikation mit den nach abgestimmten Lösungen zu suchen, um Eltern war in der Pandemie zwar eine grosse mit Hilfe von digitalen Medien und Tools mit Herausforderung, aber auch Chance, Neues den Eltern in Beziehung zu bleiben, auch oh- daraus entstehen zu lassen, nachhaltig vor ne den regelmässigen Kontakt vor Ort. Je- allem in der Zusammenarbeit mit Eltern. Ne- doch ist zu bedenken, dass die digitalgestütz- ben der Pandemie gibt es noch andere viel- te Form der Zusammenarbeit auf keinen Fall fältige Erfahrungen aus der Praxis, die ein den direkten Kontakt ersetzt, sondern ledig- Umdenken in der Zusammenarbeit mit Eltern lich als Ergänzung und Alternative der Pflege verlangen oder aufzeigen, dass diese in einer und Aufrechterhaltung der Beziehung zum veränderten Form stattfinden müsste. So den- familiären Umfeld des Kindes gesehen werden ke man beispielsweise an Familien, in denen kann. beide Eltern voll berufstätig sind und das Kind fünf Tage pro Woche in der Krippe ist oder Digitale Medien bestimmen zunehmend un- Situationen, in denen die Unterstützung des seren Alltag sowohl im Privaten wie auch in Kindes nicht im Beisein der Familie stattfinden unserem beruflichen Bereich. Die «neuen Me- kann und es daher ein anderes Gefäss für die dien» ermöglichen uns unsere sozialen Kon- Kommunikation mit den Eltern braucht. Aus- takte zu pflegen und miteinander in Verbin- gehend von diesen Situationen, wenn Fa- dung zu bleiben. Ein Grossteil der Kommuni- ce-to-Face Kontakte mit den Eltern nicht kation mit den Eltern läuft heute, ganz selbst- möglich oder eingeschränkt sind, gilt es an- verständlich, auf dem digitalen Weg ab und dere passende Möglichkeiten und Gefässe zu mobile Endgeräte sind dabei unsere ständigen finden, um den gemeinsamen Prozess umset- Begleiter. Wer kennt sie nicht, die Beispiele, zen zu können. die tagtäglich Teil unserer heilpädagogischen Wie also kann der Austausch mit den Eltern Arbeit sind und so die digitalen Medien ins über die physischen Grenzen hinaus gelingen, Zentrum setzen. Da schreibt beispielsweise wie können sie als Mitwirkende in die Förde- Frau Hecht* am Morgen eine kurze SMS, rung des Kindes eingebunden werden und dass ihre Tochter heute krank ist und die För- eine Brücke zwischen der Fachperson Heil- derstunde nicht stattfinden kann, Herr Bär* pädagogische Früherziehung und der Familie fragt per WhatsApp nach, wie das Telefonat geschlagen werden? mit der Schulpsychologin gelaufen ist, die Und hier kommt die Digitalität ins Spiel, als Mutter von Leila* präsentiert per Message mögliche alternative Form der «Beziehungs- stolz ein kleines Video, wie ihre Tochter das pflege auf Distanz», die dank zunehmender erste Mal ein Puzzle zusammensetzt und Fa- Verbreitung und Weiterentwicklung neuer di- milie Miller* schickt per Mail das Bildschirm- gitaler Wege möglich ist. Die Umsetzung er- foto eines amtlichen Formulars, das sie nicht fordert von uns als Fachpersonen der HFE verstehen und von mir übersetzt haben möch- erweiterte Kompetenzen, um den individuel- ten. Auch die Einbindung der Eltern in die FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 1/2022
14 HFE im Wandel – Digitalisierung Diagnostik via Vademecum-App, die gemein- sehr früh beginnt und sie erst spätabends same Auswahl von wichtigen Gebärden für zuhause sind. Aus dieser Ausgangslage her- das Kind mit der Porta App oder die Erstel- aus musste die Durchführung der Heilpäda- lung von kleinen Comic Strips und Tagesab- gogischen Früherziehung in der Kindertages- läufen über verschiedene Apps, sind weitere stätte stattfinden, was zur Folge hatte, dass Beispiele für digitale Wege mit der Familie. ein regelmässiger Kontakt mit der Mutter Die Liste des Einsatzes von digitalen Tools und schwer zu bewerkstelligen war. Zusammen Medien in der Praxis der HFE könnte endlos mit ihr wurden die individuellen Bedürfnisse weitergeführt werden und zeigt deren mittler- geklärt, wie die Elternzusammenarbeit in die- weile hohen Stellenwert in unserer Arbeit auf. sem Kontext stattfinden kann. Die Mutter Gewachsen ist dieser Einsatz mit der sich ent- wünschte sich vor allem Informationen, wie wickelnden Technologie, die in pädagogi- die wöchentlichen Förderstunden mit ihrer schen wie auch heilpädagogischen Berufsfel- Tochter ablaufen, und was wir dort zusam- dern zahlreiche neue Möglichkeiten für eine men machen. Um dies umsetzen zu können, wechselseitige Kommunikation mit den Fami- bedarf es den Einsatz von digitalen Medien. lien eröffnet. Die Überlegung, unsere gemeinsamen För- Digitalität, was eigentlich nichts weiter bedeu- derstunden nur mit Fotos zu dokumentieren, tet als den Einsatz von Technik und den schien mir bei dieser Familie zu wenig aus- Wechsel von analog zu digital, lädt zu einem sagekräftig und zu statisch. Daher fiel die Perspektivenwechsel ein. Es ist im Berufsfeld Wahl auf Videos und so ging ich jede Wo- der HFE ein Umdenken unserer Kommunika- che, ausgerüstet mit einer Videokamera und tion im Sinne einer zeitgemässen Elternzu- einem Stativ in die Krippe von Anora. Am sammenarbeit, via digitale Medien, gefragt. Anfang war sie etwas irritiert von der Kame- Wie das konkret in der Praxis aussehen könn- ra, gewöhnte sich aber schnell daran, dass te, veranschaulichen die folgenden vier Bei- diese unsere ständige «Begleiterin» in der spiele. Stunde war und zu unserer «Ausrüstung» ge- * alle Namen geändert hörte. Aus den Videos wählte ich einzelne schöne Momente aus, die ich der Mutter von «Good Practice» Zeit zu Zeit auf die Vimeo Plattform (https:// digitaler Zusammenarbeit mit Eltern vimeo.com ) hochgeladen habe. Die einzel- nen Sequenzen habe ich mit kurzen Be- 1. Digitale Entwicklungsdokumentation schreibungen zum Film versehen. Per Link und Einblick in die Förderstunde und Passwort konnte die Mutter an unserer Anora* ist ein 3,5 Jahre altes Mädchen mit gemeinsamen Stunde teilhaben und sich die- der Diagnose Autismus-Spektrum-Störung. se Sequenzen zusammen mit ihrer Tochter in Ihre Mutter ist alleinerziehend und daher voll Ruhe anschauen. Ergänzend zum Austausch erwerbstätig, was zur Folge hat, dass Anora der Videos fanden punktuelle persönliche fünf Tage pro Woche in eine Krippe geht. Treffen mit der Mutter statt um den gemein- Das intensive Arbeitspensum der Mutter samen Prozess mit Anora und Anliegen der führt dazu, dass der Tag der beiden bereits Mutter zu besprechen. FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 1/2022
HFE im Wandel – Digitalisierung 15 Wie dieses Beispiel zeigt, sind digitale Medi- heit des Bruders. Daher wurde mit der Mut- en in der heilpädagogischen Arbeit Werkzeu- ter vereinbart, dass mit ihr und Simons ge und Möglichkeiten, um über das Lernen Bruder zusammen das Begrüssungsritual und die Entwicklung des Kindes zunächst stattfindet und sie beide dann Simon am einmal zu informieren, diese zu dokumentie- Ende der Stunde wieder abholen. Um die ren und schliesslich mit den Eltern zu teilen. Mutter bzw. die Eltern dennoch an der För- Das Fördergeschehen wird für sie dadurch derstunde teilhaben zu lassen, werden ein- transparenter und vorstellbarer. Digitale Me- zelne besondere Momente der Stunde als dien dienen quasi als «Transportmittel» der Foto oder kleines Video festgehalten und Inhalte der Förderung in den familiären Alltag. den Eltern auf dem digitalen Weg über den Das Ziel daraus ist, wie es das Beispiel zeigt, sicheren Messenger «Threema» (https:// den Eltern mit Hilfe verschiedener digitaler threema.ch/de ) geschickt. Ein paar kurze Instrumente und Kanäle Einblick zu geben in Zeilen, formuliert aus der Perspektive des die heilpädagogische Förderstunde und sie Kindes, ergänzen die Bilder. Und so ist mit ein Stück weit am Entwicklungsprozess ihres der Zeit eine Art «digitales Tagebuch» ent- Kindes teilhaben zu lassen. Partizipation von standen, das auf einem gemeinsam zugäng- Eltern meint noch eine weitere Komponente, lichen Dropbox-Ordner (https://www.drop- neben nur «dabei zu sein», sollte die Familie box.com ) abgelegt ist. Die Idee dahinter auch die Möglichkeit haben, die Förderung war zum einen, die Familie über die Inhalte mitgestalten zu können, beteiligt und einge- der Förderstunde zu informieren und zum bunden zu sein (vgl. Spreer, Fink & Gebhard, anderen sie darin zu beteiligen, in dem die 2019). Hierzu das folgende Beispiel von Si- Eltern mit Simon zuhause die einzelnen Bil- mon*. der besprechen und so mit ihm gemeinsam * alle Namen geändert die Stunde reflektieren können. Simons Mutter nutzt die Inputs, um einzelne Ideen 2. Digitales «Tagebuch» zum Transfer im Alltag zuhause umzusetzen. Ein kleiner in den Alltag der Familie Tipp dazu: Um die digitale Kommunikation Bei Simon*, einem 2,5-jährigen Jungen, ist wechselseitig zu gestalten, schreibe ich im- der Grund für eine vorwiegend digitale El- mer am Ende der Nachricht eine kurze Fra- ternzusammenarbeit ein anderer. Bei ihm ge an die Mutter wie beispielsweise «Wel- findet, auf Wunsch der Eltern und aufgrund ches Bilderbuch schaut sich Simon denn der aktuellen Familiensituation, die wö- zuhause gerne an?». Damit lade ich die chentliche Förderstunde in meinem Praxis- Eltern ein, sich mit der Beantwortung der raum statt. Simons jüngerer Bruder kam am Frage zu beteiligen. Vereinzelt nutzte dies Anfang mit der Mutter zur Förderstunde die Mutter auch und fotografierte die Akti- mit. Es gab häufig sehr schnell Streitereien onen mit Simon zuhause und schickte sie zwischen den beiden Jungen und Simon an mich, so konnte ich in der nächsten zeigte deutlich durch Hin- und Herrennen, Stunde mit ihm daran anknüpfen. So ent- Schreien oder Umherwerfen der Spielge- stand mit der Zeit ein kleines «Foto-Ping genstände seinen Unmut über die Anwesen- Pong». FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 1/2022
16 HFE im Wandel – Digitalisierung Beispiele der Einträge in das «digitale Tagebuch» von Simon: Eine kleine Anmerkung vorab: Die Bilder wurden zur Anonymisierung für diesen Bei- trag zugeschnitten. Im Original ist das Foto des Kindes im Ganzen zu sehen. (alles eige- ne Fotos) Abb. 2: «Es macht mir grossen Spass mit den bunten Stiften ein Bild zu malen und Klebeband- Abb. 3: «Heute waren meine Autos in der stückchen, die wir zusammen mit der Schere Chriesistei-Kiste versteckt. Ich freue mich, geschnitten haben, auf das Papier zu kleben.» dass ich sie alle finden konnte.» 3. Beratung im «Blended Counseling» Format Ein anderes Beispiel aus meiner Praxis bezieht sich auf die Nutzung digitaler Möglichkeiten der Beratung, das mit dem fachlichen Begriff des «Blended Counseling» bezeichnet wird. Auf der Website der Fachhochschule Nord- westschweiz https://www.blended-counse- ling.ch wird dieser wie folgt definiert: Blended Counseling «umfasst die systematische, kon- zeptionell fundierte, passgenaue Kombination Abb. 4: «Das Bilderbuch mit den Liedern finde verschiedener digitaler und analoger Kommu- ich toll, vor allem das Bild mit dem grossen nikationskanäle in der Beratung». Somit be- Walfisch möchte ich immer wieder anschau- zieht sich «Blended Counseling» auf einen Mix en. Immer wenn ich den Knopf drücke, kommt der Beratung aus direkter Begegnung mit den wieder das lustige Lied, das mir so gefällt.» Eltern kombiniert mit verschiedenen Möglich- FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 1/2022
HFE im Wandel – Digitalisierung 17 keiten der Online-Beratung, die beispielswei- 4. Digitale Pinnwand und andere se über Mail, Chat oder via Videocall stattfin- Möglichkeiten den kann. Wie dieser bunte digitale Bera- Eine vierte Möglichkeit, die in meiner Praxis tungs-Mix in der Praxis konkret aussieht, immer wieder Anwendung findet, ist die Nut- möchte ich mit dem folgenden Beispiel von zung von digitalen Medien als Wissens- und Familie Winter* ,aufzeigen: Informationsquelle beispielsweise in Form einer digitalen Pinnwand. Die Idee dahinter ist Familie Winter wurde mir vor ca. einem Jahr es, ergänzend zu Gesprächen mit den Eltern als reines «Beratungsmandat» zugewiesen. passende Ideen und Vorschläge, beispielswei- Die Eltern von Mirko*, einem fast 4-jährigen se zu Aktivitäten für zu Hause, Literaturtipps, Jungen mit der Verdachtsdiagnose ASS, wa- Fotos von Materialien etc., der Familie zu- ren damals recht belastet und regelrecht am gänglich zu machen. Anschlag mit ihrer herausfordernden Erzie- Auch hierzu ein Beispiel von Familie Jürgens*: hungssituation. Sie hatten diesbezüglich viele Die Eltern der 3-jährigen Belinda* meldeten Fragen zur Bewältigung der oftmals eskalie- sich bei mir, da sie gerne die Floortime Me- renden Alltagssituationen mit Mirko. Da beide thode, über die sie bei der Autismusabklärung Eltern beruflich hoch engagiert und voll ein- informiert wurden und meine Adresse erhalten gespannt sind, war schnell klar, dass neben haben, in der praktischen Anwendung zuhause einzelnen persönlichen Treffen weitere digita- kennenlernen möchten. Da die Familie nicht in le Formen der Beratung zum Einsatz kommen meinem Einzugsgebiet wohnt, finden die Tref- müssen. Neben Mails, in denen die Eltern fen mit den Eltern ausschliesslich online, via schriftlich die schwierigen Momente mit Mir- Skype (https://www.skype.com/de/) und Zoom ko im Alltag mit mir diskutierten, fanden statt. Inhalte dieser Treffen sind Informationen punktuell Zoom-Meetings (https://zoom.us ) über die Theorie von DIRFloortime® (via Pow- mit beiden Eltern statt, um diese zu bespre- er Point Präsentationen), gemeinsame Erstel- chen. Mirkos Eltern waren beide durch ihren lung eines individuellen Profils für ihre Tochter beruflichen Hintergrund technisch sehr ver- als Grundlage der Förderung und Analyse der siert. Dies erleichterte die digitale Zusammen- Videoausschnitte von herausfordernden All- arbeit enorm. Oftmals luden mir die Eltern tagsszenen mit Belinda. Auf einem gemeinsa- vorab kleine Videos der Alltagssituationen auf men Dropbox Ordner kann ich oder können einen freigegebenen Ordner ihrer Dropbox die Eltern einzelne Unterlagen ablegen. Ergän- (https://www.dropbox.com ), sodass ich diese zend wünschten sich die Eltern noch konkrete zur Besprechung in unserem nächsten virtu- Informationen über die Diagnose ASS und ellen Meeting vorbereiten konnte. Gemeinsam suchten noch nach Ideen für die spezifische analysierten wir in der Online-Sitzung via Unterstützung von Belinda im Alltag zuhause. Bildschirmfreigabe die Videosequenzen und Dazu erstellte ich eine Pinnwand mit dem Pad- erarbeiteten gemeinsam Ideen zur Unterstüt- let Programm (https://padlet.com ), die ich zung von Mirko in den anspruchsvollen All- immer wieder ergänzte und den Eltern so hilf- tagssequenzen. reiche Informationen zur Verfügung stellen * alle Namen geändert konnte. * alle Namen geändert FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 1/2022
18 HFE im Wandel – Digitalisierung Beispiel für eine digitale Pinnwand: ist, mit all den verschiedenen Kanälen, Medi- en und Tools. Geradezu passend für den hochagilen und dynamischen HFE Alltag. Di- gitale Medien entsprechen der hohen Flexibi- lität unserer Arbeit und durch die Orts- und Zeitunabhängigkeit kann die Zusammenarbeit mit Eltern und deren Partizipation im Förder- prozess quasi überall, zu jeder Zeit, stattfin- den. Wie die Beispiele zeigen, können digita- le Medien und Tools in der Zusammenarbeit mit Eltern hilfreich und unterstützend sein. Dennoch ist es gut zu überlegen, wie man diese in die Begleitung von Kind und Familie sinnvoll integriert und nutzt. Daher ist deren zielgerichteter Einsatz immer gut zu prüfen. Es gibt nicht das eine Konzept, sondern es muss Abb. 5 für beide Seiten, sowohl für die Fachperson wie auch für die Familie, stimmig sein und Mit Hilfe von Padlets können ganz verschie- individuell auf die Bedürfnisse, Rahmenbe- dene Infowände erstellt werden, beispielswei- dingungen und Voraussetzungen angepasst se bietet es sich auch an Fotos und/oder Vi- werden. deos des Kindes einzubeziehen und damit Ein weiterer wesentlicher Punkt ist die Ge- anhand eines «Storyboards» kleine Entwick- währleistung des Datenschutzes und der Si- lungsgeschichten zu erzählen. Eine weitere cherheit. Es ist enorm wichtig mit den Eltern Möglichkeit wäre die Erstellung einer Fo- die Kriterien dafür klar abzusprechen, ihnen to-Dokumentation der Inhalte und des Ablau- sichere Varianten der Datenübermittlung, wie fes einer Förderstunde. Die Pinnwände kön- beispielsweise die Messenger Threema oder nen beispielsweise mit den Eltern geteilt wer- Signal anstatt WhatsApp, aufzuzeigen und den, so können sie sich an der Erstellung des sinnvollerweise sogar als eine Art kurze Boards beteiligen und eigene Ergänzungen schriftliche Vereinbarung dies alles zu Papier machen. Dementsprechend ist diese Form zu bringen. geeignet als interaktive Möglichkeit der digi- Es ist ohne Frage, dass es von Seiten der talen Elternzusammenarbeit. Fachperson erweiterte Kompetenzen und Ressourcen braucht. Die professionelle Nut- Abschliessende Gedanken und Anstösse zung digitaler Medien und Tools ist sicherlich für die Praxis mit einem erheblichen Mehraufwand verbun- Mit dem Einsatz digitaler Werkzeuge öffnen den, vor allem in der Kennenlern- und Erpro- sich neue Wege und Möglichkeiten. Aus den bungsphase. Es benötigt zu Beginn hohe zeit- vier Beispielen wurde deutlich, dass deren liche Ressourcen, sich mit der Handhabung Anwendung vielfältig und fast unerschöpflich und Technik vertraut zu machen und selbst- FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 1/2022
HFE im Wandel – Digitalisierung 19 kritisch zu prüfen, ob diese den persönlichen Meines Erachtens wäre zu überlegen, digitale Fähigkeiten, Möglichkeiten und Arbeitsme- Tools und Medien für die Elternzusammenar- thoden entsprechen. Ohne Zweifel braucht es beit in das Curriculum von Aus- und Weiter- daneben auch Mut, etwas Neues auszupro- bildung der Heilpädagogischen Früherziehung bieren und sich darauf einzulassen. Ob im zu nehmen, um so «fit» zu werden für eine Selbststudium oder in Form von Kursen emp- zeitgemässe Zusammenarbeit mit Eltern. fiehlt es sich zu: Digitale Zusammenarbeit kann nur gelingen, wenn beide Seiten, sowohl die Fachperson wie auch die Eltern, sich darauf einlassen können. Nicht zu vergessen ist, dass es neben der digitalen Welt auch eine analoge gibt, das heisst, dass das Altbewährte, die persönliche Begegnung und die menschliche Beziehung zu den Eltern durch elektronische Geräte nicht ersetzt werden können. Nicht nach dem Ent- weder-Oder-Prinzip handeln, sondern nach dem Motto «Das eine tun und das andere nicht lassen»! Abb. 6: üben Literaturverzeichnis FHNW (o. J.). Blended Counseling Verfügbar unter https://www.blended-counseling.ch Spreer, M., Fink, A. & Gebhard, B. (2019). Partizipation. Frühförderung interdisziplinär, 38, 214-217. Abb. 1–5: Bilder von Petra Ulshöfer Abb. 6: https://seelenbalancieren.de/wp-content/ uploads/2015/03/%C3%BCben%C3%BCben%C3% BCben-e1427311834158.jpg. Petra Ulshöfer Heruntergeladen am 3.01.2022 Heilpädagogin MA Erziehungswissenschaftlerin Msc praxis 67, Zürich praxis67.ulshoefer@hin.ch FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 1/2022
20 HFE im Wandel – Digitalisierung Bildschirmmedien – mit Kleinkindern einen Umgang finden Gabriela Hofer, Julia Rüdiger Smartphones, Tablets und Fernseher sind sich herum entdecken können. So lernen sie: heute fester Bestandteil unseres Alltags. das Gras ist weich und feucht, wenn ich es Schon die Kleinsten beobachten, wie anfasse, der Löffel schmeckt kalt und hart im Eltern und Geschwister Bildschirmmedien Mund. Diese Erfahrungen in der realen Welt nutzen. Wie alles, was sie nicht kennen, können durch keine App und kein Filmchen wecken diese Geräte ihre Neugier. Auch ersetzt werden. Im zweiten Lebensjahr lernt sie wollen entdecken, was so spannend ist das Kind sprechen, wobei Sprache vor allem und so viel Aufmerksamkeit bekommt. in der Interaktion mit anderen Menschen er- Wie gehen Eltern damit um? Ab wann ist lernt wird. die Nutzung dieser Geräte für Kleinkinder Fühlen sich Kleinkinder wohl, können sie überhaupt sinnvoll? auch ihre Kompetenzen erweitern. Sie wollen ihre Umwelt entdecken. Dazu brauchen sie Gesunde Entwicklung in der frühen Kindheit eine anregende Umgebung, die ihrem Alter Kinder lernen täglich Neues, Schritt für Schritt. und Entwicklungsstand angepasst ist und sie Bereits ab Geburt haben sie eine Vorliebe für nicht überfordert. Kleinkinder lernen in den Gesichter und die menschliche Stimme. Ab ersten Monaten und auch später vor allem dem zweiten Monat zeigen sie ihr erstes so- von ihren Bezugspersonen. Dank den Spie- ziales Lächeln, laden ihre Mitmenschen zu gelneuronen haben schon Babys die Fähig- einer Interaktion ein und sind zunehmend keit, Verhalten und Worte nachzuahmen. frustriert, wenn niemand auf sie reagiert. Eine sichere Bindung und stabile Beziehungen zu Voraussetzungen für Medienkompetenz Erwachsenen bilden die Grundlage für das Damit sich Kinder in der digitalen Welt kom- kindliche Lernen. Die ersten Lebensjahre sind petent und sicher bewegen können, brauchen dabei von zentraler Bedeutung für eine gesun- sie eine Vielzahl von Fähigkeiten, die sie lau- de Entwicklung. fend lernen müssen. Diese Kompetenzen bau- Kleine Kinder brauchen eine Vielzahl von Er- en aufeinander auf, wie die Stockwerke eines fahrungen, damit die neuronalen Vernetzun- Turms. gen im Gehirn geknüpft werden können. Im Dabei bilden das Zusammenführen von Sin- ersten Lebensjahr ist es besonders wichtig, neseindrücken (Sensorik) und Bewegung dass Kinder mit all ihren Sinnen die Welt um (Motorik) das Fundament. Im zweiten Stock- FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 1/2022
HFE im Wandel – Digitalisierung 21 Auswirkungen von Bildschirmmedien auf die Entwicklung von Kleinkindern Immer mehr Studien belegen, dass sich der Konsum von Bildschirmmedien bei den ganz Kleinen negativ auf ihre Entwicklung auswirkt. Im ersten Lebensjahr können Kinder selbst einfachste Videos noch nicht erfassen, weil die Bilder viel zu schnell wechseln. Das Gehirn eines einjährigen Kindes ist mit den digitalen Reizen schlicht überfordert. Gleichzeitig wer- den andere Sinne, wie das Tasten, das Schme- cken oder das Riechen zu wenig stimuliert, was zu Defiziten führen kann. Hinzu kommt, dass Kleinkinder Inhalte von Filmen nicht von der Wirklichkeit unterscheiden können. Bis zu einem Alter von ca. fünf Jahren identifizieren Turm der Medienmündigkeit im Bau sich Kinder voll und ganz mit den Figuren am (Quelle: P. Bleckmann, Medienmündig, 2014) Bildschirm. Fiktion und Realität verschmelzen. Dies kann zu Ängsten und Verunsicherung führen. werk geht es um die Fähigkeit, andere Men- schen wahrzunehmen und sich mit ihnen zu Diverse Studien, die zwischen 2005 und 2012 verständigen (Kommunikationsfähigkeit). Auf durchgeführt wurden, belegen zudem, dass der nächsten Ebene geht es um die Fähigkeit, sich der Konsum von Bildschirmmedien bei selbst zu gestalten (Produktionsfähigkeit) und Kleinkindern negativ auf ihre körperliche, so- das vierte Stockwerk ermöglicht, zu verarbei- zio-emotionale sowie kognitive Entwicklung ten und zu verstehen (Reflexionsfähigkeit). Der auswirkt. Dies umso eindeutiger, je jünger die oberste Baustein des Turms stellt die Medi- Kinder sind. Die kindliche Nutzung von Bild- enkompetenz dar. Sie ist gegeben, wenn In- schirmmedien ist ein eigenständiger, aber halte reflektiert und kritisch hinterfragt werden nicht der einzige Erklärungsfaktor für später können. auftretende negative Folgen. Eindeutig nach- Je höher der Turm werden soll, desto breiter gewiesen sind Auswirkungen wie Sprachent- und stabiler muss das Fundament sein. Der wicklungsstörungen, Hyperaktivität, Überge- Bau dieses Turms dauert ein Leben lang, wicht, eine tiefe Frustrationstoleranz und auch Erwachsene lernen in den oberen Einschlafstörungen. Letztere kommen nicht Stockwerken ständig dazu. Das Fundament zuletzt vom Blauanteil im Lichtspektrum, wel- jedoch, muss in den ersten Lebensjahren ge- ches von den Bildschirmen ausgeht. Dieses baut werden. Die sensomotorischen Fähig- Licht unterdrückt die Ausschüttung des Kör- keiten können später nur erschwert nachge- perhormons Melatonin, welches den Schlaf holt werden. bestimmt. FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 1/2022
22 HFE im Wandel – Digitalisierung Der Medienkonsum der Eltern hat ebenfalls wachsenen die Grundlage für eine gesunde Auswirkungen auf die Gesundheit der Kinder. Entwicklung. Das Kleinkind braucht vertraute Die BLIKK-Studie von 2017 zeigt, dass Säug- Menschen, die ihm die volle Aufmerksamkeit linge Fütterungs- und Einschlafstörungen auf- schenken, mit ihm sprechen und sich mit ihm weisen, wenn die Mutter während dem Stillen beschäftigen. Es geht darum, direkte Kontak- zu oft am Smartphone ist oder der Vater beim te mit anderen Menschen, realen Dingen und Schoppen geben Bildschirmmedien konsu- der Natur zu ermöglichen. Die spielerische miert. Entdeckung der Welt mit allen Sinnen, in der Die erwähnten Daten beziehen sich allerdings Kinder hören, riechen, ertasten, schmecken mehrheitlich auf Kinder zwischen vier und und sehen, kann keine App ersetzen. Von An- sechs Jahren oder älter. Dass Kleinkinder fang an sollten Kinder die Möglichkeit be- Bildschirmmedien konsumieren, ist ein eher kommen, sich frei zu bewegen. Damit werden jüngeres Phänomen, welches erst wenig er- der Gleichgewichtssinn und ein gutes Körper- forscht ist. Nach dem heutigen Stand der For- gefühl gefördert. schung haben Kinder unter drei Jahren lang- fristig keinen Nutzen, wenn sie Bildschirmme- Verantwortungsbewusste Medienerziehung dien konsumieren. Die Erfahrungen in der Grundsätzlich empfehlen Fachpersonen in realen Welt, die sie in dieser Anfangszeit ma- den ersten zwei bis drei Lebensjahren auf chen können, sind viel wertvoller und können Bildschirmmedien möglichst zu verzichten. in späteren Jahren kaum nachgeholt werden. Danach können Erwachsene ihr Kind mit ge- Kinder lernen sehr schnell mit digitalen Gerä- zielten, kurzen Sequenzen an die digitale Welt ten umzugehen. Sie verpassen nichts, wenn heranführen. Dies geschieht mit Medien, die sie erst später damit konfrontiert werden. Ge- dem Alter und dem Entwicklungsstand des rade für die Sprachentwicklung ist die Inter- Kindes entsprechen. Geeignet für das erste aktion mit nahen Bezugspersonen unersetz- Entdecken sind zum Beispiel Bilder oder Fil- bar. Die digitale Umgebung kann diese Person me des Kindes, die man gemeinsam anschaut. und die Beziehung zu ihr nicht ersetzen. Dies So bietet sich die Gelegenheit, darüber zu wird ebenfalls in Studien betont. sprechen, sich an schöne, gemeinsame Mo- mente zu erinnern und so einen Bezug zum Empfehlungen – Was bedeutet das für den Kind und zur realen Welt herzustellen. Da das Umgang mit Bildschirmmedien? Kind selbst erlebt hat, was es sieht, ist der Es ist schwierig, Empfehlungen zur Nutzung Inhalt nicht fremd und für das Kind gut zu von Bildschirmmedien zu machen, welche für verarbeiten. jedes Alter und jeden Entwicklungsstand des Doch wie oft und wie lange soll ein Kleinkind Kindes gelten. Es gibt jedoch ein paar allge- in den Bildschirm schauen? Es ist schwierig, meine Grundsätze, die zu beachten sind. allgemeingültige Empfehlungen für Bild- schirmzeiten zu machen, da jedes Kind indi- Erfahrungen in der realen Welt viduell ist. Vielmehr geht es darum, es Schritt In der frühen Kindheit bilden eine sichere Bin- für Schritt an die digitalen Medien heranzu- dung und verlässliche Beziehungen zu Er- führen. Dies bedeutet in erster Linie, dass Er- FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 1/2022
HFE im Wandel – Digitalisierung 23 wachsene kleine Kinder begleiten und sie nachgeben oder standhaft bleiben? Hier hilft nicht allein vor dem Bildschirm lassen. So vor allem eines, sich bewusst Zeit nehmen haben Erwachsene die Möglichkeit, das Kind und den Kleinen die volle, ungeteilte Aufmerk- zu beobachten. Wirkt es verängstigt, nervös, samkeit schenken. Dazu gehört auch, das unkonzentriert oder abgelenkt ist dies ein Zei- Smartphone vermehrt auf die Seite zu legen. chen, das Gerät auszuschalten. Gerade bei Wird dem Kind auf eine liebevolle und den- Kindern mit besonderen Bedürfnissen ist dies noch bestimmte Art klargemacht, dass es speziell wichtig. Bei Kleinkindern unter drei nicht damit spielen darf, lernt das Kind, das Jahren sollten Bildschirmmedien eine Aus- Gerät gehört Mami oder Papi. Weil Kinder nahme bleiben. Werden sie ab und zu genutzt, sehr viel durch Nachahmen lernen, ist es sollte dies nicht länger als eine halbe Stunde wichtig, dass Bezugspersonen selbst einen sein. Generell eignen sich Bildschirme nicht bewussten Medienkonsum vorleben. Dies er- als Babysitter. leichtert es den Eltern auch, später gemein- sam Regeln auszuhandeln, wenn der Nach- Eltern sind Vorbilder wuchs älter ist und selbst ein Smartphone Viele Eltern sind sich nicht bewusst, dass die besitzt. Art und Weise, die Häufigkeit und die Inten- sität ihrer Mediennutzung einen direkten Ein- Die Rolle der Fachpersonen fluss auf die Entwicklung ihres Kindes haben. Die Zusammenarbeit mit Eltern ist ein wichti- Es ist deshalb wichtig, dass junge Eltern in- ges Aufgabenfeld der Heilpädagogischen Frü- formiert und über den Stand der Forschung herziehung. Ressourcen und Kompetenzen aufgeklärt werden. Es ist sinnvoll, den eigenen der Kinder, Familien und des Umfeldes wer- Medienkonsum zu reflektieren und den Um- den genutzt und erweitert. Pädagogische gang mit dem Smartphone in der Paarbezie- Fachpersonen sind damit verlässliche und hung zu thematisieren. Abmachungen, wie unterstützende Bezugspersonen von Eltern zum Beispiel das Smartphone nicht im Bett zu und Kindern. Sie fördern positive Eltern – Kind nutzen und nachts auszuschalten oder wäh- – Interaktionen und erweitern die Möglichkei- rend Essenszeiten darauf zu verzichten, kön- ten der Eltern, die Bedürfnisse ihres Kindes nen helfen, einen bewussteren Umgang zu wahrzunehmen und einen entwicklungsunter- entwickeln. Hilfreich kann es auch sein, sich stützenden Alltag zu gestalten. zu überlegen, welche Apps wirklich wichtig Genau hier setzt die Unterstützung bei der sind und welche besonders viel Zeit fressen Medienerziehung an. Fachpersonen der Heil- ohne zu befriedigen. pädagogischen Früherziehung kennen das Kleinkinder interessieren sich schon früh für Kind und seinen Entwicklungsstand und sind digitale Geräte. Wenn sich Eltern mit ihrem in regelmässigem Austausch mit den Eltern. Smartphone beschäftigen, weckt das die Dadurch haben sie die Möglichkeit, Eltern Neugierde der Kleinen. Was so interessant zu für einen kompetenten Umgang mit Bild- sein scheint, möchten sie ebenfalls erfor- schirmmedien zu sensibilisieren und zu un- schen. Soll man dem Verlangen des Kindes terstützen. FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 1/2022
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