Musikalische Begabung - Begabungsförderung in der Musik
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Institut für Begabungsforschung in der Musik Heiner Gembris Musikalische Begabung – Begabungsförderung in der Musik iPEGE - International Panel of Experts for Gifted Education - Symposium II 13. Sept. 2012 Begabtenförderung in den Fachdidaktiken der Geisteswissenschaften
Institut für Begabungsforschung in der Musik 1. Was versteht man unter Begabung in der jeweiligen Disziplin?
Institut für Begabungsforschung in der Musik „Wie compliciert ist dieser Begriff! (….) – in mir ist Alles Chaos.“ (Theodor Billroth, 1888, in einem Brief an Johannes Brahms)
Institut für Begabungsforschung in der Musik Definitionsprobleme… • Keine einheitliche Definition von Musik „Eine Enzyklopädie, die über 40 Stichwörter bietet, in denen die Begriffe Musik oder musica enthalten sind (…), kann sich einer als allgemein gültig gesetzten Definition des Phänomens nur enthalten.“ (Riethmüller 1997, in MGG, Bd. 6, Sp. 1195) • Keine einheitliche Definition von Begabung – Vielzahl von konkurrierenden Begabungsmodellen in der Psychologie – Begabung als Konstrukt wird grundsätzlich kritisiert und in Frage gestellt
Institut für Begabungsforschung in der Musik Kritik am Begabungsbegriff • Begabungsbegriff ist – diffus und unklar – ideologisch vorbelastet (betont z.B. angeborene Anlagen) – kaum operationalisierbar / messbar – einseitig an westlicher Klassischer Musik orientiert – berücksichtigt die Vielfältigkeit musikalischer Kulturen nicht – hängt von subjektiven / ästhetischen Wertvorstellungen ab – Etc…. • Begabungsbegriff ist daher – nur eingeschränkt (z.B. de la Motte-Haber, 1985; Kleinen, 2003) oder – gar nicht (z.B. Krampe, 2006) wissenschaftlich brauchbar
Institut für Begabungsforschung in der Musik Impulse aus der Expertiseforschung: Übung statt Begabung • Ericsson, Krampe & Tesch-Römer (1993): Evidenter Zusammenhang zwischen zeitlichem Aufwand an zielgerichteter Übung (deliberate practice) und Grad musikalischer Leistung • Höchstleistungen (Expertenleistungen) sind durch jahrelange, frühzeitige und zielgerichtete Übung erklärbar, Konzept der Begabung ist überflüssig • Leistungsunterschiede sind auf Unterschiede in der Übung zurückzuführen • Die Idee einer (angeborenen) Begabung wurde von einigen Forschern in das Reich der „Volksmythologie“ verwiesen.
Institut für Begabungsforschung in der Musik „Deliberate Practice“ statt Begabung… „Die Straße zum Erfolg besteht aus einem jahrelangen, zielstrebigen Üben. Auf den Mythos der Begabung kann man daher verzichten.“ (Kleinen, 2003, S. 92)
Institut für Begabungsforschung in der Musik Pädagogische Relevanz der Expertiseforschung • Niemand wird als unbegabt abgestempelt. • Es unterstreicht die Erreichbarkeit u. Machbarkeit von hohen Leistungen, wenn man bereit ist, ausreichend Übung zu investieren. • Schüler, Eltern u. Lehrer werden ermutigt, dass sie durch gezieltes Training viel erreichen können. • Die Eigenverantwortlichkeit für erreichte Leistungen wird unterstrichen. • Nachteil: Expertise-Ansatz erlaubt keine Prognosen / frühzeitige Identifizierung von künftigen Leistungsträgern / Talenten
Institut für Begabungsforschung in der Musik Bewertung der Expertiseforschung • Wichtiger Anstoß zur Diskussion des Begabungskonzeptes • Erzeugte teilweise Euphorie unter einigen Wissenschaftlern, überwiegend Ablehnung in Musikpraxis (Musiker, Musikpädagogen) • Das Konzept der Begabung ist heute nach wie vor zentral in Musikpraxis, Musikpädagogik, Institutionen musikalischer Bildung, Wissenschaft
Institut für Begabungsforschung in der Musik Probleme mit dem Begabungsbegriff in der Musik bleiben… Fakt: – Es gibt unterschiedliche Musikkulturen, unterschiedliche Domänen musikalischer Leistung, unterschiedliche domänenspezifische Leistungsprofile – Musikbegriff, ästhetische Wertvorstellungen, kulturelle Kontexte befinden sich in stetigem Wandel – Begabungsbegriff hängt ab von Wertvorstellungen, Weltanschauungen, gesellschaftlichen Interessen, wissenschaftlichen Paradigmen etc. Konsequenz: – Ein einheitliches oder verbindliches Konzept (musikalischer) Begabung ist weder vorhanden noch möglich – Koexistenz unterschiedlicher Begabungsbegriffe ist unvermeidbar! – Pluralität der Begabungsbegriffe ist notwendig und berechtigt!
Institut für Begabungsforschung in der Musik Eine Arbeitsdefinition musikalischer Begabung… Musikalische Begabung ist das • jedem Mensch in unterschiedlichem Maße angeborene, • durch die Umwelt beeinflusste und • durch Übung zu entwickelnde Potential, • Musik emotional zu erleben, • geistig zu verstehen und • durch Singen, Spielen, Komponieren, Improvisieren schaffen zu können. (Gembris, 2009)
Institut für Begabungsforschung in der Musik Eine Arbeitsdefinition musikalischer Begabung… Musikalische Begabung zeigt sich in • universellen und kulturspezifischen musikalischen Fähigkeiten (z.B. musikalische Wahrnehmungs- und Erlebnisfähigkeit, Singen, Ausdrucksfähigkeiten auf einem Instrument etc. ) • co-musikalischen (Begleit-) Eigenschaften: z.B. Bedürfnis nach Musik, intrinsische Motivation, Hartnäckigkeit in der Verfolgung musikalischer Ziele / Interessen, Gestaltungswille etc. (Gembris, 2009)
Institut für Begabungsforschung in der Musik Es gibt keine „unmusikalischen“ Menschen... • Musikalische Begabung gehört zur angeborenen Grundausstattung des Menschen • Das Maß an musikalischer Begabung ist individuell unterschiedlich • Jeder Mensch ist musikalisch begabt – es gibt keine völlig unmusikalischen Menschen! (Ausnahme: krankhafte Amusie) • Die musikalische Begabung eines jeden Menschen ist – förderungsfähig – förderungswürdig
Institut für Begabungsforschung in der Musik Extremvarianten musikalischer Begabung • Hochbegabung: – Keine allgemeine Definition vorhanden – Feststellung durch musikalische Experten aufgrund verschiedener Performanz- Kriterien – Mehr oder weniger subjektive Urteile • Minderbegabung: – Keine allgemeine Definition vorhanden – Feststellung durch musikalische Experten aufgrund verschiedener Performanz- Kriterien – Mehr oder weniger subjektive Urteile • Amusie: – Pathologische Störung musikalischer Erlebnis- und Produktionsmöglichkeit – Diagnostizierbar durch neurologische Untersuchung – Extrem selten
Institut für Begabungsforschung in der Musik Allgemeine Definitionen Begabung und Hochbegabung • Hochbegabung ist das individuelle Fähigkeitspotential für herausragende Leistungen (Heller, 2003) • Talentiert ist, wer zu den 10% Besten in einem Fähigkeitsbereich / Leistungsbereich gehört (Gagné, 2003) • Differenzierung nach Gagné (2003, zit. nach Oerter & Lehmann, 2008, S. 98): – Hochbegabte (Verhältnis in der Population: 1 : 1000) – außerordentlich Begabten (1 : 10.000) – extrem Hochbegabte (1 : 100.000)
Institut für Begabungsforschung in der Musik Problematik der Kriterien für musikalische Begabung und Hochbegabung • Theoretische Definitionen, statistische Normen oder messbare (Grenz-) Werte sind in musikalischer Praxis nicht anwendbar • Definition von musikalischer (Hoch-)begabung variiert in Abhängigkeit von – Subjektiven Urteilen und Wertmaßstäben – Kulturell variablen Maßstäben, ästhetischen Normen etc. • Folge: keine eindeutigen, allgemeine und objektiv messbare Kriterien musikalischer Hochbegabung in der Praxis • Übergangszonen zwischen „normaler“ Begabung und Hochbegabung sind fließend, keine Trennwerte („cutt off“-Werte) definierbar
Institut für Begabungsforschung in der Musik 2. Gibt es Indikatoren für spezielle Begabungen in der jeweiligen Disziplin?
Institut für Begabungsforschung in der Musik Musikalische Hochbegabung: Praxiskriterien • Als musikalisch hochbegabt gilt.,wer nach dem Urteil von musikalischen Experten im Vergleich zu den Altersgenossen z.B. – ungewöhnlich hohe Leistungen auf einem Instrument erbringt – sehr schnell lernt und „trainierbar“ ist – ein hohes Leistungsentwicklungstempo zeigt • Beispiel: Kriterien des Netzwerk Amadé zur Förderung musikalische Hochbegabung (Mannheim) – Preisträger/in im Landeswettbewerb/Bundeswettbewerb Jugend musiziert – Nominierung als hochbegabt durch (Instrumental-) Lehrer/in
Institut für Begabungsforschung in der Musik Beispiel: Aufnahmekriterien Musikgymnasium Schloss Belvedere Weimar „Aufgenommen werden Schülerinnen und Schüler ab Klasse 5, die bereits erfolgreich ein Instrument erlernen, über ein entsprechendes gymnasiales Niveau verfügen und die Eignungsprüfung bestanden haben. Die Eignungsprüfung besteht aus drei Teilen: 1. Vorspiel auf dem Instrument (… ) 2. Überprüfung der allgemeinen Musikalität und der musikalischen Denkfähigkeit in den Bereichen Musiktheorie und Gehörbildung 3. Gespräch über Familie, Schule und Internat“ Quelle: http://www.musikgymnasium-belvedere.de/bewerbung.html
Institut für Begabungsforschung in der Musik Beispiel: Aufnahmekriterien Musikgymnasium Carl-Phillip-Emanuel-Bach Berlin „In der Regel wird der Vortrag von zwei bis drei Stücken unterschiedlicher Stil- Epochen erwartet und es erfolgt eine Überprüfung des Gehörs sowie der Kenntnisse in Musiktheorie. Neben dem notwendigen instrumentalen Leistungsstand zählen insbesondere überdurchschnittliche Neigung zum Musizieren, Darstellungswille und allgemeines musikalisches Interesse.“ (Unterstreichungen: H.G.) Quelle: http://www.musikgymnasium-berlin.de/anmeldung.htm
Institut für Begabungsforschung in der Musik 3. Gibt es eine spezielle Fachdidaktik für Begabte (oder ist guter Unterricht bereits begabtenfördernd)?
Institut für Begabungsforschung in der Musik ….spezielle Fachdidaktik für Begabte ? • Jede/r ist musikalisch begabt! • Guter Unterricht auf dem Instrument, in Gehörbildung, Musiktheorie etc. ist an sich begabungsfördernd • Für besonders Begabte kann der Unterricht beschleunigt werden und durch weitere musikalische Fächer angereichert werden (Musiktheorie etc.) • Spezielle Fachdidaktik scheint nicht erforderlich (zumindest wird ihr Fehlen m.W. nicht beklagt), allerdings erfordert die Förderung besonders Begabter besondere Rücksichten (s.u.)
Institut für Begabungsforschung in der Musik Didaktische Konzeptionen Hochbegabungsförderung in der Musik Beispiel: Die Konzeption des Ausbildung am Detmolder Jungstudierenden Institut (DJI) • Interdisziplinärer Ansatz, d.h. Lehrende unterschiedlicher Fächer arbeiten eng zusammen • Hochqualifizierte instrumentale Ausbildung und Entwicklung allgemeiner musikalischer Kompetenz • Stärkung der Sozialkompetenz und Ensemble-Erfahrung durch Angebot von Kammermusik, Orchester- und Chorarbeit • Schwerpunkt auf ganzheitlicher Persönlichkeitsbildung • Selbstmanagement (Umgang mit Lampenfieber bzw. Bewusstsein für Gesundheit und Prävention im Musikerberuf) • Vorbereitung auf das Musikstudium • Aufzeigen von Möglichkeiten bei Berufswunsch "professioneller Musiker" Quelle: http://www.hfm-detmold.de/portrait/institutionen/detmolder-jungstudierenden-institut)
Institut für Begabungsforschung in der Musik 4. Gibt es didaktische/methodische Aspekte, die man im Fachunterricht für Hochbegabte unbedingt vermeiden sollte?
Institut für Begabungsforschung in der Musik Was man vermeiden sollte…. • Zu viel über „Hochbegabung“ zu reden • Zu viel Leistungsdruck, einseitige Konzentration auf Leistung • Die Person mit ihren psycho-sozialen, emotionalen Bedürfnissen, Sorgen und Ängsten zu übersehen • Vernachlässigung der Gesundheit • Einseitige Konzentration auf Musik / musikalische Aspekte • Vernachlässigung der Schule • Vernachlässigung von allgemeinem (Welt-)Wissen / Bildung • Unrealistische Erwartungen über die zukünftige Karriere zu erzeugen!
Institut für Begabungsforschung in der Musik 5. Wie müsste die fachdidaktische Ausbildung für Lehrer/innen aussehen, damit Lehrer/innen Begabte fördern können?
Institut für Begabungsforschung in der Musik Implikation für (Instrumental-)Lehrerausbildung • Erwerb von allgemeinem Wissen zum Themenfeld musikalische Begabung und Begabungsförderung sollte zum Studium gehören • Kenntnis von Möglichkeiten zur allgemeinen und speziellen Information (z.B. www.miz.org. ) • Kenntnis von Fördermöglichkeiten (Programme an öffentliche Musikschulen und Musikhochschule, Wettbewerbe etc.) • Sensibilisierung dafür, das musikalisch besonders Begabte in der Schule Freiräume brauchen, um zu üben, sich auf Wettbewerbe und Konzerte vorzubereiten, Reisen (Unterricht, Kurse, Konzerte etc.) zu können • Sensibilisierung für die Beziehungen / das Verhalten der Schüler untereinander um z.B. Mobbing und Diskriminierung entgegen zu wirken
Institut für Begabungsforschung in der Musik 6. Welches Fachverständnis (Bildungsauftrag, Forschungsdisziplin, Schulfach) impliziert welche Form der Begabtenförderung?
Institut für Begabungsforschung in der Musik Formen / Institutionen der Begabungsförderung in der Musik Schulisch Ausserschulisch • Allgemeiner schulischer • Instrumentalunterricht ab ca. 6 Jahre Musikunterricht (vielfach fachfremd (Privatlehrer, Musikschule) erteilt, relativ geringer Stellenwert im • Wettbewerbe (z.B. Jugend musiziert) Vergleich zu anderen Fächern, für • Spezielle Förderkurse (Musiktheorie, besonders Begabte völlig Gehörbildung) an Musikschulen unterfordernd) • Hochbegabten-Einrichtungen an • Musikklassen an Gymnasien Musikhochschulen • AG‘s und Schul-Ensembles • Akademien / Orchester (z.B. Landes - • Gymnasien mit Schwerpunkt Musik /Bundesjugendorchester) • Spezialschulen für Musik, • Stipendien, (wertvolle) Musikgymnasien (Weimar, Berlin, Leihinstrumente Dresden…mit und ohne Internat)
Institut für Begabungsforschung in der Musik Formen / Institutionen der Begabungsförderung in der Musik • Mit der Ausbreitung der Ganztagsschulen / Nachmittagsunterricht wird die Begabungsförderung in der Musik erheblich beeinträchtigt: – Wahrnehmung von Unterricht an öffentlichen Musikschulen wird erheblich eingeschränkt, Kinder und Jugendliche müssen vom Unterricht abgemeldet werden – Weniger Möglichkeiten zum Üben – Weniger Möglichkeiten zum Musizieren in Ensembles / Chören – Die mittel- /langfristigen Schäden für musikalische Breitenbildung / Hochbegabungsförderung und Musikkultur sind derzeit noch nicht abschätzbar
Institut für Begabungsforschung in der Musik Die Lebenszeitperspektive muss bei der Förderung musikalisch besonders Begabter (mehr) berücksichtigt werden! • (Hoch-)Begabungsförderung in der Musik hat in der Regel die Ausbildung zu professionellen Musikern zum Ziel • Die Ausbildung / Förderung denkt zu selten oder gar nicht über die Zeit der Förderung hinaus: was kommt nach der (Begabungs- )Förderung? • Der Übergang Ausbildung/ Förderung zum Beruf ist problematisch: Viele hochqualifizierte und sehr einseitig ausgebildete Musiker treffen auf einen problematischen Arbeitsmarkt: – Zu hohe Erwartungen / Hoffnungen auf eine glanzvolle (Solisten-) Karriere – Wenige feste Stellen in Orchestern / öffentlichen Musikschulen – Schlecht bezahlte freiberufliche Tätigkeit – Häufig schlechte Passung zwischen Qualifikationen und Anforderungen des Arbeitsmarkts – Kaum Vorbereitung auf Musikerarbeitsmarkt in Zeiten des Internets – Kaum Vorbereitung auf die Anforderungen oft jahrzehntelanger Tätigkeit als professioneller Musiker, kaum Vorbereitung auf einen „Plan B“ und Berufswechsel
Institut für Begabungsforschung in der Musik Danke für Ihre Aufmerksamkeit!
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