Nach der Wahl zum Europäischen Parlament - mehr Europa oder weniger? - Wirtschaftsdienst

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DOI: 10.1007/s10273-019-2463-3                                                                        Zeitgespräch

Nach der Wahl zum Europäischen Parlament –
mehr Europa oder weniger?
Die Wahl zum Europäischen Parlament Ende Mai 2019 hat einige Entwicklungen gezeigt: Die
Wahlbeteiligung ist deutlich gestiegen, die großen Volksparteien haben Verluste erlitten, aber
der befürchtete Siegeszug der europaskeptischen und populistischen Parteien blieb aus.
Angesichts der auf Staaten bezogenen Wahllisten und der degressiven Proportionalität stellt
sich zwar die Frage nach der demokratischen Legitimität. Die Ergebnisse der Wahl werden aber
breit akzeptiert. Wie die einzelnen Fraktionen des Europäischen Parlaments dann tatsächlich
abstimmen, lässt sich nicht immer eindeutig der Parteifarbe zuordnen. Hier gibt es die
unterschiedlichsten Koalitionen. An Aufgaben fehlt es in Zukunft allerdings nicht. Die Agenda
des neuen Parlaments reicht von der Industriepolitik, über Arbeitnehmerfragen bis zu einer sozial
gerechten Klimapolitik.

Gabriel Felbermayr
Wie haben sich die Kräfteverhältnisse im Europäischen Parlament
verändert?

Am 26. Mai 2019 endete die langjährige faktische große       vischen und holländischen Liberalen vereinbar sind, lässt
Koalition zwischen der Europäischen Volkspartei und den      sich bezweifeln. Vor diesem Hintergrund ist der Macht-
Sozialdemokraten im Europäischen Parlament. Die bei-         gewinn der Liberalen weniger eindrucksvoll. Außerdem
den bisher mächtigsten Gruppen haben zusammen mehr           würden weitere 16 Sitze von ALDE durch das Ausschei-
als 9 Prozentpunkte verloren und kommen nur mehr auf         den Großbritanniens aus der EU verloren gehen. Gleich-
44 % der Sitze in Straßburg und Brüssel. Wer hat die 68      wohl bleibt auch ohne Berücksichtigung Frankreichs und
Sitze gewonnen, die die beiden immer noch bei weitem         im Falle eines Brexits der Befund richtig, dass ALDE im
größten Blöcke im 751 Sitze umfassenden Europäischen         neuen Parlament eine bedeutendere Rolle spielen können
Parlament gemeinsam verloren haben? Auf den ersten           wird als im alten.
Blick sind das drei Gruppen: einerseits ALDE, die Allianz
der Liberalen und Demokraten für Europa, die um 37 Sitze     Besondere mediale Aufmerksamkeit hat in Deutschland
zugelegt hat, andererseits die Grünen, die im neuen Par-     der Stimmenzuwachs der Grünen im Europäischen Parla-
lament 21 Sitze gewonnen haben, und dann verschiedene        ment erhalten. Ganz zu Recht, denn die Grünen konnten
Parteien an den Rändern des Parteienspektrums, wobei         ihren Stimmenanteil fast verdoppeln. Nur in Irland hat die
vor allem rechtspopulistische Kräfte stärker geworden        Partei mehr zugelegt. Auch in Frankreich, Belgien, den
sind.                                                        Niederlanden und vor allem in Großbritannien kam es zu
                                                             starken Gewinnen. In anderen Ländern hingegen muss-
Ein genauerer Blick enthüllt aber, dass mehr als die Hälf-   ten die Grünen Verluste hinnehmen, teilweise deutliche;
te, nämlich 21, der von ALDE gewonnenen Sitze auf die        so z. B. in Schweden. Und immer noch entsenden 13 der
französische Koalition Renaissance unter Führung der         28 EU-Staaten überhaupt keine grünen Abgeordneten in
Bewegung von Präsident Macron zurückzuführen ist. Ob         das Europäische Parlament. Italien und die neuen Mit-
die Positionen von La République En Marche ohne weite-       gliedstaaten der Union entsenden gemeinsam gerade
res mit jenen der FDP in Deutschland oder der skandina-      einmal drei grüne Abgeordnete. In Summe sind die Grü-

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                                                                                                                          379
Zeitgespräch

      Abbildung 1                                                                    Abbildung 2
      Machtverhältnisse im „alten“ und „neuen“                                       Zustimmung zu Freihandelsabkommen nach
      Europäischen Parlament                                                         Fraktionen
      Anteile der Fraktionen

                                          %                                                                       %
      EVP – Europäische Volksparteien,                                        28,8                                                                      99
                                                                         24,0                   ALDE (Liberale)
                    Christdemokraten                                        26,5
              S&D – Progressive Allianz                                   24,7               EKR (Konservative)                                         98
                                                                     20,4
                 der Sozialdemokraten                                 21,1
                                                       9,2                           EVP (Christdemokraten)                                             98
       ALDE – Allianz der Liberalen und                       14,1
               Demokraten für Europa                         13,3                    S&D (Sozialdemokraten)                                   74
                                                   6,9
        Grüne/Freie Europäische Allianz                 9,7
                                                       9,1                               Sonstige/Fraktionslose                  37
       EKR – Europäische Konservative                    10,3
                                                      8,3                                  EFDD (EU-Skeptiker)                   35
                        und Reformer                  8,6
            ENF – Europa der Nationen           4,8
                                                    7,7                                  ENF (Rechtspopulisten)           13
                      und der Freiheit                8,6
        EFDD – Europa der Freiheit und            5,6                                        Grüne/EFA (Grüne)        8
                                                    7,2
              der direkten Demokratie          3,7
          Vereinigte Europäische Linke/            6,9                                        GUE/NGL (Linke)     1
                                                 5,2
                  Nordische Grüne Linke           5,6
                                              2,7                                    Durchschnitte über Abstimmungen zum CETA-Abkommen mit Kanada
                                Andere        2,5                                    und den Freihandelsabkommen mit Japan und Singapur.
                                               3,5
                                                                                     Quelle: Votewatch Europe; eigene Berechnungen und Darstellung.
           2014 bis 2019         2019 bis 2024               2019 bis 2024,
                                                             ohne Großbritannien

      Legislaturperiode 2014 bis 2019 in der Zusammensetzung des Europäi-
      schen Parlaments im April 2019. Geschätzte Anteile der Fraktionen ohne         mals im alten Parlament dadurch ausgezeichnet, dass
      Großbritannien (nach vollzogenem Brexit) berücksichtigen nicht die ge-
      plante (geringfügige) Neuverteilung der Sitze unter den EU-Mitgliedstaa-
                                                                                     sie als einzige Fraktionen gegen an sich sehr konsensu-
      ten.                                                                           ale Vorhaben gestimmt haben, wie z. B. beim EU-US-Ab-
      Quelle: Europäisches Parlament; eigene Berechnungen.                           kommen zur prudenziellen Überwachung von Versiche-
                                                                                     rungen und Rückversicherungen.1

                                                                                     Ein Brexit würde übrigens den schwarz-roten Block im
                                                                                     Europäischen Parlament wieder deutlich stärken; er kä-
      nen also nur wenig stärker geworden: Ihr Anteil an Sitzen                      me dann ungefähr auf 48 % der Sitze, also fast auf eine
      im Parlament hat sich von ca. 7 % auf 10 % erhöht. Käme                        Mehrheit, denn die Briten entsenden in das neue Parla-
      der Brexit, dann würde der Anteil wieder auf 9 % sinken.                       ment nur zehn Sozialdemokraten und keine Mitglieder der
      Aber mehr als jede andere Gruppe mit Stimmengewinnen                           EVP, aber 63 Mitglieder anderer Blöcke (vgl. Abbildung 1).
      scheint es, dass die Grünen ihr Potenzial noch nicht voll                      Der Herfindahl-Index,2 ein Maß für die Konzentration po-
      ausschöpfen und das Momentum auf ihrer Seite haben.                            litischer Macht, liegt im neuen Parlament bei 15,0 % (mit
                                                                                     Brexit: 16,1 %) nach vormals 17,9 %. Die Macht im neuen
      Wenn man die europakritischen Parteien betrachtet, so                          Europäischen Parlament ist also weniger stark konzent-
      zeigt sich, dass diese sehr heterogen aufgestellt sind. Es                     riert, was eine größere Vielfalt potenzieller Koalitionen er-
      ist nicht immer leicht, ihr wirtschaftspolitisches Profil klar                  möglicht, deren Bildung aber erschwert. Die Veränderung
      festzulegen, gerade in Bezug auf europapolitische Agen-                        des Index, der zwischen 1/751 und 1 variieren kann, ist
      den. Sie eint meist nur eine hohe Skepsis gegenüber der                        aber relativ klein.
      Verlagerung von Kompetenzen nach Europa, nicht aber
      ein konkreter Plan, wie Politik auszugestalten ist. Addiert                    Was bedeuten diese neuen Machtverhältnisse für wich-
      man die Sitzanteile der Parteien Europäische Konserva-                         tige wirtschaftspolitische Entscheidungen im Europäi-
      tive und Reformer (EKR), Europa der Nationen und der                           schen Parlament? In der Folge wird ein kurzer Blick auf
      Freiheit (ENF) und Europa der Freiheit und der direkten
      Demokratie (EFDD), so entfallen auf diese im neuen Par-
      lament ca. 23,2 % der Sitze nach bisher 20,7 %. Treten                         1     Die Resolution wurde im März 2018 mit 90% der Stimmen angenom-
                                                                                           men.
      die Briten aus der EU aus, so sinkt der Anteil der drei                        2     Der Herfindahl-Index ist definiert als Summe der quadrierten Stim-
      Fraktionen auf 20,8 %. ENF und EFDD haben sich mehr-                                 menanteile.

                                                                                                                               Wirtschaftsdienst 2019 | 6
380
Zeitgespräch
                                                                                          Zeitgespräch

die Handelspolitik, die Umweltpolitik und die Finanzpoli-    Autoren des Zeitgesprächs
tik geworfen. Die Analyse bleibt notwendigerweise kurz
und unvollständig. Sie bestätigt aber eine Hypothese: Das
neue Parlament ist politisch dem alten sehr ähnlich.                       Prof. Gabriel Felbermayr, Ph. D., ist
                                                                           Präsident des Instituts für Weltwirt-
Handelsabkommen                                                            schaft (IfW) in Kiel.

Das Europäische Parlament spielt beim Abschluss von
Handelsabkommen der EU eine wichtige Rolle, weil es
diese ratifizieren muss, damit sie in Kraft treten können.
Bei Abkommen, die ausschließliche Kompetenzen der EU
betreffen, ist das Europäische Parlament das einzige Par-
lament in der EU, dessen Zustimmung erforderlich ist. Bei
sogenannten gemischten Abkommen ist für ihre endgülti-                     Dr. Nicolai von Ondarza ist stellver-
ge Inkraftsetzung auch eine Ratifizierung durch die Parla-                  tretender Forschungsgruppenleiter
mente der Mitgliedstaaten erforderlich. Das Europäische                    bei der SWP – Stiftung Wissenschaft
Parlament kann die Erteilung von Verhandlungsmandaten                      und Politik am Deutschen Institut für
durch den Rat an die Kommission und auch den Prozess                       Internationale Politik und Sicherheit in
der Verhandlungen selbst beeinflussen, indem es Resolu-                     Berlin.
tionen verabschiedet, die zwar rechtlich nicht verbindlich
sind, aber die zu erwartende Position des Parlaments bei
der Ratifikation erkenntlich macht.

Abbildung 2 zeigt, wie die Fraktionen im Europäischen                      Dr. Daniel Gros ist Direktor des Cen-
Parlament in der letzten Legislaturperiode für die von der                 tre for European Policy Studies (CEPS)
Kommission ausverhandelten Vertragstexte gestimmt ha-                      in Brüssel, Belgien.
ben. Im Durchschnitt ergab sich im alten Europäischen
Parlament eine Zustimmung zu wichtigen Freihandelsver-
trägen (CETA, EU-Japan, EU-Singapur) von 70 %. Unter-
stellt man, dass die Fraktionen im neuen Parlament das
gleiche Abstimmungsverhalten aufweisen, dann ergibt
das neue Kräfteverhältnis eine erwartete Zustimmungs-
rate von 66 %. Nimmt man an, dass die Bewegung des
                                                                           Dr. Andrew Watt ist Referatsleiter
französischen Präsidenten, die der ALDE-Gruppe beige-
                                                                           Europäische Wirtschaftspolitik und
treten ist, ein Wahlverhalten aufweist wie die Sozialdemo-
                                                                           stellvertretender Direktor des Instituts
kraten – was auf der Basis des Wahlkampfes der Bewe-
                                                                           für Makroökonomie und Konjunktur-
gung zu erwarten ist – dann sinkt die Zustimmungsrate
                                                                           forschung (IMK) der Hans-Böckler-
im neuen Parlament auf 65 %. Der Brexit hingegen würde
                                                                           Stiftung in Düsseldorf.
das Parlament wieder geringfügig freihandelsfreundlicher
machen, weil die traditionell liberale konservative Partei
nur sehr wenige Abgeordnete nach Brüssel bzw. Straß-
burg sendet.
                                                                           Prof. Dr. Mario Pianta ist Professor
Es wird also in der kommenden Legislaturperiode etwas                      an der Università di Urbino Carlo Bo in
schwieriger werden, Mehrheiten für eine Handelspolitik,                    Italien.
wie sie in den letzten Jahren betrieben wurde, zu finden.
Gleichwohl würden CETA, EU-Japan oder EU-Singapur
wohl aber auch im neuen Parlament ratifiziert worden
sein. Vor dem Hintergrund des Erfolgs vor allem der grü-
nen Parteien aber ist zu erwarten, dass sich das Europä-
ische Parlament noch stärker als bisher auf Bestimmun-
gen zum Schutz der Umwelt, zum Tierwohl, zum Schutz
von Konsumenten und Arbeitern in Freihandelsverträgen
einsetzen wird.

ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft
                                                                                                                      381
Zeitgespräch

      Brexit                                                           die Koalition aus Sozialdemokraten, Grünen und Linken,
                                                                       die die Resolution eingebracht hatten, ist zwar insgesamt
      Was den möglichen Austritt Großbritanniens aus der EU            schwächer geworden, die in sich sehr einigen Grünen aber
      angeht, so hat sich das alte Europäische Parlament in ei-        stärker. Das Abstimmungsverhalten bei der Resolution
      ner Entschließung vom März 2018 für die Zeit nach dem            zeigt ebenfalls sehr deutlich, dass die rechtspopulistischen
      Vollzug des Austrittsabkommens für ein Assoziierungs-            Parteien entweder keine Meinung zu haben scheinen (ein
      abkommen der EU mit dem Inselreich ausgesprochen.                hoher Anteil der Abgeordneten enthielt sich oder nahm
      Eine solche Vereinbarung würde bedeuten, dass Groß-              gar nicht an der Abstimmung teil) oder gespalten sind. Das
      britannien weiterhin die EU-Normen in den Bereichen              neue Parlament ist nicht amerikanophiler als das alte, und
      Umwelt, Klimawandel, Bekämpfung der Steuerhinterzie-             man muss davon ausgehen, dass jeder von der Europäi-
      hung und -vermeidung, fairer Wettbewerb, Handel und              schen Kommission und der US-Regierung ausgehandelte
      Sozialpolitik berücksichtigt, aber die „vier Freiheiten“ der     Vertrag bei seiner Ratifikation im Europäischen Parlament
      EU untrennbar miteinander verbunden seien. Zu dieser             mit offenem Ausgang geprüft werden würde.
      Entschließung gab es eine große, fraktionsübergreifende
      Übereinstimmung; nur die Abgeordneten von EFDD und               Das Europäische Parlament zu Russland
      ENF stimmten dagegen. Sie vertreten eine insgesamt lo-
      sere EU und eine Aufweichung der Verbindung der „vier            Die Russlandpolitik der EU ist umstritten. Sollen die nun-
      Freiheiten“. Diese Ansicht wird im neuen Parlament deut-         mehr seit ca. fünf Jahren geltenden Sanktionen weiterge-
      licher zu hören sein; aber die Abstimmung im März 2018           führt, oder gar, bei mangelhaften Fortschritten in der Ostu-
      würde wohl, wenn sie heute wiederholt würde, mit einem           kraine weiter verschärft werden? Die meisten rechtspopu-
      ähnlichen Ergebnis enden, vor allem, wenn die Briten im          listischen Parteien haben eine wenig Russland-skeptische
      Europäischen Parlament mit abstimmen.                            Sicht. Das Gleiche gilt für die Linken. Die Sozialdemokra-
                                                                       ten sind relativ gespalten. Das zeigte auch das Abstim-
      Haltung des Europäischen Parlaments gegenüber                    mungsverhalten im März 2019, als eine relative scharfe
      wichtigen Partnerländern                                         Resolution verabschiedet wurde, die Russland den Status
                                                                       eines strategischen Partners aberkennt und die EU auffor-
      Hinsichtlich der Positionierung des Parlaments gegen-            dert, sich gegebenenfalls für neue Sanktionen bereit zu
      über wichtigen Handelspartnern dürfte sich insgesamt             machen. Die Resolution wurde mit 402 gegen 132 Stim-
      wenig verändert haben, aber ein genauer Blick in das Ab-         men angenommen, d. h. ca. 25 % der Abgeordneten spra-
      stimmungsverhalten des alten Parlaments und was die-             chen sich gegen den relativ unbeugsamen Ansatz des
      ses mit den neuen Kräfteverhältnissen bedeutet hätte, ist        Europäischen Parlaments gegenüber Russland aus. Im
      auch in diesem Kontext interessant.                              neuen Parlament wäre dieser Anteil etwas höher, bei 27 %
                                                                       gelegen; ohne die Stimmen Großbritanniens bei 26 %.
      Das Europäische Parlament zur USA
                                                                       Das Europäische Parlament zu China
      Im März 2019 stimmte das Parlament über eine Resolution
      zur Aufnahme von Verhandlungen zu einem Freihandelsab-           Das alte Europäische Parlament hat sich wiederholt China-
      kommen mit den USA ab. Das Hauptargument war, dass               kritisch geäußert. Das betraf sowohl die Menschenrechts-
      man nicht verhandeln könne, solange die ungerechtfer-            situation im Reich der Mitte als auch die Wirtschaftspolitik.
      tigten Zölle (gegen Stahl- und Aluminiumprodukte aus der         In der letzten Legislaturperiode stand die Frage im Raum,
      EU) in Kraft sind und US-Präsident Donald Trump Autozöl-         ob man China handelspolitisch als Marktwirtschaft be-
      le nicht ausschließt. Allerdings ist der derzeit geltende Waf-   handeln solle – dies hätte wichtige Folgen für die Berech-
      fenstillstand im transatlantischen Handelskonflikt, den EU-       nung von Anti-Dumping-Zöllen. Im Mai 2016 sprach sich
      Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und der US-             eine große Mehrheit von insgesamt 546 Abgeordneten
      Präsident im Juli 2018 vereinbart haben, an die Aufnahme         gegen den Marktwirtschaftsstatus aus. Das ist ein Anteil
      von Verhandlungen zu einem Abbau von Industriezöllen             von 84 % der anwesenden Volksvertreter. Es gab einen
      geknüpft. Die Abstimmung war knapp: 193 Abgeordne-               breiten Konsens über ein relativ hartes Vorgehen gegen-
      te stimmten für, 223 gegen die Annahme der Resolution.           über China. Die einzige Fraktion, die nicht für den Antrag
      Somit verweigerte das Parlament dem Rat und der Kom-             gestimmt hatte, war ENF – dies hatte aber wohl andere
      mission die Gefolgschaft. Mit den neuen Kräfteverhältnis-        als inhaltliche Gründe. Bei den Linken gab es einen sehr
      sen wäre es zu einer etwas weniger starken Ablehnung, in         hohen Anteil an Enthaltungen. Auch in neueren Abstim-
      einem Parlament ohne Großbritannien zu einer deutlicher          mungen, z. B. im April 2019 über die Situation religiöser
      ausgeprägten Ablehnung gekommen. Die Verschiebun-                und ethnischer Minderheiten in China, offenbarte sich ein
      gen wären aber in beiden Fällen wenig ausgeprägt, denn           ähnliches Abstimmungsverhalten. In beiden Fällen zeigt

                                                                                                       Wirtschaftsdienst 2019 | 6
382
Zeitgespräch

sich, dass die Differenzen nicht entlang von Parteilinien,   richtet. Hierzu hat das alte Europäische Parlament immer
sondern zwischen den Mitgliedstaaten liegen, wobei auf-      wieder Stellung bezogen. Die Abstimmung im März 2019
fällt, dass ein relativ hoher Anteil von Abgeordneten aus    zur Errichtung eines European Monetary Fund (EMF) ist
ganz bestimmten Ländern zu China-Abstimmungen gar            exemplarisch, weil sie die Bruchlinien im Parlament auf-
nicht im Parlament sind. Es sind damit nur zum Teil EU-      zeigt. Die Kernfrage ist, ob der Mechanismus, der mit
Mitglieder, die der sogenannten 16+1-Gruppe des China-       Staatsschuldenkrisen in der Eurozone umgehen soll,
Mittel-Ost-Europa-Gipfels angehören, z. B. Griechenland.     zentralistisch – als Einrichtung der EU selbst – oder in-
Zypern und Italien gehören der Gruppe aber nicht an. Inte-   tergouvernemental (wie bisher) aufgestellt sein soll. Das
ressanterweise haben auch 38 % der britischen Abgeord-       Europäische Parlament hat sich mit 237 gegen 152 Stim-
neten gar nicht an der Abstimmung teilgenommen oder          men (18 Enthaltungen) für eine zentrale Lösung – den
sich enthalten. Der Brexit wird wohl an der Position des     EMF – und gegen die mehrheitlich skeptische Position
Parlaments in China-Fragen wenig ändern. Es bleibt bei       des Rates ausgesprochen. Dabei zeigte sich, dass die
einem parteiübergreifenden China-kritischen Konsens.         EVP-, S&D- und ALDE-Fraktionen ziemlich geschlossen
                                                             für den EMF, alle anderen Fraktionen ebenso geschlos-
Das neue Europäische Parlament ist nicht wirklich            sen dagegen votierten. Die Beweggründe mögen sich in
grüner …                                                     der Gruppe der Gegner zwischen Rechtspopulisten und
                                                             Linken unterscheiden; die Trennlinien verlaufen gleich-
Die im neuen Europäischen Parlament gestärkten Europa-       wohl sehr scharf. Im neuen Europäischen Parlament wür-
skeptischen Parteien stimmen eher nicht für grüne Initia-    de auch diese Abstimmung wohl nicht anders ausgehen:
tiven. Am Beispiel der Glyphosat-Abstimmung vom Okto-        Lag noch im März 2019 die Mehrheit von EVP, S&D und
ber 2017 sieht man, dass – unter der Annahme konstanten      ALDE bei ca. 58 %, würde sie jetzt bei 56 % und nach
Abstimmungsverhaltens der Fraktionen – im neuen Parla-       einem Ausstieg der Briten wieder bei 58 % liegen. Auch
ment 31,5 % der Abgeordneten gegen die Verlängerung          hier zeigt sich: plus ça change, plus c‘est la même chose
der Zulassung von Glyphosat gestimmt hätten, während         …
es im alten Parlament 30,5 % waren. Und die neuen, stren-
geren Abgasnormen für Autos, die im Oktober 2018 zur         Fazit zu den Kräfteverhältnissen des Europäischen
Abstimmung standen und mit ca. 62 % der Stimmen ver-         Parlaments 2019
abschiedet wurden, würden im neuen Parlament eine ganz
ähnliche Zustimmungsrate erhalten. Zwar sind die Grünen,     Im neuen Europäischen Parlament mögen die EVP und
die dem Vorschlag enthusiastisch zugestimmt haben, ge-       die S&D ihre gemeinsame Mehrheit verloren haben. Die
stärkt, aber die Sozialdemokraten, ebenfalls starke Be-      Machtverhältnisse haben sich trotzdem nicht maßgeb-
fürworter, sind geschwächt, und die rechtspopulistischen     lich verschoben. Zu vielen wichtigen Themen würde sich
Parteien, geeint in ihrer Gegnerschaft strengerer Abgas-     das Abgeordnetenhaus heute ganz ähnlich verhalten wie
normen, haben im neuen Parlament ein höheres Gewicht.        in der vergangenen Legislaturperiode. Klar ist aber auch:
                                                             Vor allem die Grünen, aber auch die Liberalen haben mehr
Reform der europäischen Finanzordnung                        Gewicht und werden dieses auch einsetzen. Weil sie aber
                                                             oft genug entgegengesetzte Positionen vertreten, können
Schließlich sei ein Blick auf die laufenden Bemühungen       sie das Parlament nicht substanziell in neue Richtungen
zur Neuordnung der europäischen Staatsfinanzen ge-            schieben.

Nicolai von Ondarza
Europawahl 2019: Umbrüche, aber kein Beben im politischen
System der EU

Im Vorfeld wurden die Wahlen zum Europäischen Parla-         den zweiten Blick zeigen sich dennoch gewichtige Um-
ment 2019 als „Schicksalswahl“ tituliert. Doch das ganz      brüche im europäischen Parteiengefüge, die sich auch
dramatische politische Beben ist ausgeblieben, die pro-      auf die politischen Richtungsentscheidungen in und das
europäischen Parteien haben ihre Mehrheit im Parlament       Zusammenspiel zwischen den EU-Institutionen auswir-
klar behalten, die EU wird handlungsfähig bleiben. Auf       ken werden. Insbesondere haben die beiden bislang do-

ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft
                                                                                                                         383
Zeitgespräch

      minierenden Parteien links und rechts der Mitte, die Eu-    Vor diesem Hintergrund hat sich bei den Europawahlen
      ropäische Volkspartei (EVP) und die europäischen Sozi-      2019 eine bemerkenswerte Entwicklung ereignet. Zum
      aldemokraten (SPE) erstmals ihre gemeinsame Mehrheit        einen ist die Wahlbeteiligung in fast allen Mitgliedstaaten
      im Europäischen Parlament verloren. Die europäischen        gestiegen, zum Teil deutlich. EU-übergreifend erreichte
      Liberalen, nun gemeinsam mit der Partei des französi-       sie mit 50,95 % den höchsten Wert seit 1994. Insbeson-
      schen Präsidenten Macron, und/oder die europäischen         dere in Mittel- und Osteuropa stieg das Interesse an den
      Grünen werden zu Königsmachern. EU-kritischen Par-          Europawahlen, mit einer Verdopplung der Beteiligung in
      teien ist es hingegen (bisher) nicht gelungen, eine ge-     Polen und in mehreren anderen Staaten der höchsten
      meinsame große Fraktion aufzubauen, auch wenn sie in        Beteiligung seit ihrem Beitritt (Tschechien, Ungarn, Kro-
      einzelnen EU-Staaten größere Erfolge erzielen konnten.      atien, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Litauen). Auch
      Angesichts dieser fragmentierten Mehrheitsverhältnisse      in Deutschland erreichte die Beteiligung mit 61,4 % den
      droht nun ein dreifacher Machtkampf über die Besetzung      höchsten Wert seit 1989. Auf der anderen Seite dominier-
      der EU-Führungspositionen. Dieser Machtkampf wird           ten zwar in vielen Mitgliedstaaten weiterhin nationale The-
      auch entscheiden, ob sich die EU auf eine Ära wechseln-     men, aber es gab mehr gemeinsame europäische The-
      der Mehrheiten oder eine stabile pro-europäische Koali-     men als bei vergangenen Europawahlen. Hierzu gehörten
      tion hin bewegt.                                            etwa die Migrationspolitik, die Klima- und Energiepolitik,
                                                                  die Zukunft der Eurozone und der Umgang mit den USA.
      28 nationale Wahlen, eine europäische Wahl                  Angesichts dieses gestiegenen Interesses und der deut-
                                                                  lich höheren Wahlbeteiligung ist das Europäische Parla-
      Die erste bemerkenswerte Entwicklung bei den Euro-          ment zunächst als Ganzes demokratisch gestärkt aus der
      pawahlen 2019 war die deutlich gestiegene Wahlbeteili-      Europawahl hervorgegangen.
      gung. Traditionell gelten die Wahlen zum Europäischen
      Parlament als „Wahlen zweiter Ordnung“ mit nur geringer     Umbrüche im Europäischen Parteiensystem
      Beteiligung, bei denen die Bürgerinnen und Bürger ihr
      Votum primär aufgrund nationaler statt europäischer po-     Die Handlungsfähigkeit und die politische Ausrichtung
      litischer Präferenzen abgeben. In der Vergangenheit ist     des nächsten Europäischen Parlaments werden vor al-
      die Wahlbeteiligung daher trotz wachsender Kompeten-        lem von der Zusammenarbeit der Fraktionen abhängen.
      zen des Parlaments bei jeder Europawahl kontinuierlich      Bis dato war das Europäische Parlament von einer infor-
      gesunken. Im Vergleich zu nationalen Wahlen konnten         mellen „großen Koalition“ dominiert. Seit der ersten Di-
      dabei Protest- und/oder Oppositionsparteien besonders       rektwahl 1979 hatten die beiden großen europäischen
      gut abschneiden, während Regierungsparteien in der          Parteienfamilien, EVP und SPE, jeweils gemeinsam im-
      Regel abgestraft wurden.                                    mer die absolute Mehrheit inne. Zwar gibt es auf euro-
                                                                  päischer Ebene keine formelle Regierungskoalition mit
      Hinzu kommt, dass die Europawahl nach wie vor im            klarer Teilung in Regierungs- und Oppositionsfraktionen,
      Grunde eine Aneinanderreihung von (noch) 28 nationa-        aber bei großen Entscheidungen – Besetzung der EU-
      len Wahlen ist. Sie finden je nach nationalen Traditionen    Führungspositionen, Verabschiedung des EU-Haushalts,
      über vier Tage verteilt statt und zur Wahl stehen jeweils   Richtungsentscheidungen in der EU-Gesetzgebung –
      ausschließlich die nationalen Parteien. Auch die Wahler-    konnten EVP und die zur SPE zugehörige Parlaments-
      gebnisse werden pro Mitgliedstaat ausgezählt, sodass        fraktion S&D immer eine stabile Mehrheit organisieren.
      sich die Zusammensetzung des nächsten Europäischen          In der ablaufenden Legislaturperiode haben beide große
      Parlaments nur aus der Kombination von den 28 natio-        Fraktionen in 73,4 % der Voten gemeinsam abgestimmt.
      nalen Wahlen ergibt. Erst auf europäischer Ebene set-       Trotz acht Fraktionen war das Europäische Parlament
      zen sich die nationalen Parteien zu ihren europäischen      damit im Zweifelsfall immer in der Lage eine handlungs-
      Fraktionen im Europäischen Parlament zusammen,              fähige Mehrheit zu finden.
      wobei es auch nach der Wahl durchaus noch größere
      Wechsel gibt. Weiterhin bleibt festzuhalten, dass in den    Diese Dominanz ist nach den Europawahlen 2019 vorbei,
      meisten Mitgliedstaaten auch nach fast zehn Jahren          weil beide großen Parteienfamilien europaweit an Unter-
      Dauerkrise auf europäischer Ebene nationale Themen          stützung verloren haben. Dies gilt auf der einen Seite für
      beim Wahlkampf im Vordergrund standen. In Frankreich        die Europäische Volkspartei, welche die europäische Po-
      etwa dominierte der Wettstreit zwischen Macron und Le       litik im letzten Jahrzehnt dominiert hat. Im ablaufenden
      Pen den Europawahlkampf, in Italien stand Salvini und       Europäischen Parlament war die EVP mit 221 Abgeord-
      seine Lega im Mittelpunkt, in Polen war die Europawahl      neten (29,4 %) klar stärkste Kraft (vgl. Tabelle 1), stellt den
      ein Test für die im Oktober anstehende Parlamentswahl       Präsidenten der EU-Kommission (Jean-Claude Juncker),
      usw.                                                        13 weitere der 28 Kommissionsmitglieder sowie den Prä-

                                                                                                   Wirtschaftsdienst 2019 | 6
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Zeitgespräch

sidenten des Europäischen Rates (Donald Tusk). Im neu-          Tabelle 1
en Europäischen Parlament kommt die EVP jedoch nur              Sitzverteilung im neuen Europäischen Parlament vor
noch auf 183 Abgeordnete (24,4 %, -38 Sitze), wobei sie         und nach dem Brexit
ihre Stellung als größte Fraktion verteidigen konnte. Noch      Sitze
unklar ist weiterhin die Zukunft der ungarischen Fidesz-
Partei, die aus der EVP-Partei zwar suspendiert ist, aber                                                               EP 2019 bis
                                                                                            EP 2014 bis   EP 2019 bis      2024
weiterhin in der EVP-Fraktion sitzt. Ohne die 13 Fidesz-                                       2019          2024       Post-Brexit
Abgeordneten würde die EVP noch weiter zurückfallen.
                                                                EVP                            221            183          187
Hinzu kommt, dass die EVP im Laufe der aktuellen Le-
                                                                S&D                            191            146          141
gislaturperiode in vielen EU-Mitgliedstaaten die Regie-
rungsverantwortung verloren hat, und zuletzt bei der Zahl       EKR                             70            63            62

der geführten Regierungen sogar hinter die liberale ALDE        Renew Europe
                                                                (vorher: ALDE)                  67            113          102
zurückgefallen ist.
                                                                GUE/NGL                         52             41           40

Ein ähnliches Bild ergibt sich bei den europäischen So-         Grüne/EFA                       50            78            72
zialdemokraten (vgl. Tabelle 1). Von 191 Sitzen (25,4 %)        ID (vorher: ENF)                37            73            77
sind sie auf 146 zurückgefallen (19,4 %, -45 Sitze). Dabei      EFDD                            48             0             0
konnten die SPE-Parteien neben einigen deutlichen Ver-
                                                                Fünf-Sterne-Bewegung
lusten in früheren Hochburgen wie Deutschland (SPD),            und Alliierte1                    0            15           15
Großbritannien (Labour), Italien (PD) oder Frankreich (PS)
                                                                Brexit Party1                     0           29             0
auch in einigen EU-Staaten wieder zulegen. So stellt die
                                                                Fraktionslos                     15            10            9
spanische PSOE mittlerweile die größte Gruppe in der
S&D-Fraktion, in den Niederlanden konnte die PvdA mit           Gesamt                         751            751          705

Hilfe des europäischen Spitzenkandidaten Frans Tim-             Anmerkung: Weitere Fraktionswechsel noch möglich. 1 Noch keine Frak-
mermans überraschend stärkste Kraft werden. Nach                tionszuordnung.
jüngsten Wahlen konnten zudem sozialdemokratische               Quelle: Europe Elects, Stand vom 13.6.2019.
Parteien Regierungen in Spanien, Finnland und (voraus-
sichtlich) Dänemark gewinnen, sodass die europäischen
Sozialdemokraten ihren Negativtrend insgesamt – auf
niedrigem Level – stoppen konnten.                              schen Präsidenten Macrons, dessen Gruppe sich nach
                                                                langem Zögern der ALDE angeschlossen hat. Mitte Juni
Es bleibt aber festzuhalten: Gemeinsam stellen EVP und          2019 hat sich die Gruppe in „Renew Europe“ umbenannt
S&D nur 43,8 % der Abgeordneten und sind daher weit             und verhandelt noch über weitere Zuwächse. Durch die
von ihrer früheren absoluten Mehrheit entfernt. Für alle        stärkere Präsenz im Europäischen Rat – gerade durch
Entscheidungen im Europäischen Parlament ist daher              Macron – ist die ALDE/Renew Europe damit zu einem
nunmehr die Zusammenarbeit von mindestens drei Frak-            echten Machtfaktor in der europäischen Politik geworden.
tionen erforderlich.
                                                                Der zweite große Gewinner der Europawahl 2019 waren
Von dieser Situation können vor allem zwei europäische          die Grünen, die im Europäischen Parlament gemeinsam
Parteien profitieren: Die liberale ALDE und/oder die eu-         mit regionalistischen Parteien in der Grünen/Europäi-
ropäischen Grünen. Die ALDE war schon in der letzten            sche-Frei-Allianz-(EFA)-Fraktion sitzen. Sie konnten ihren
Legislaturperiode in einer Position zwischen Königsma-          Sitzanteil von 50 auf 78 Abgeordnete (10,4 %) steigern
cher und fünftem Rad am Wagen der großen Koalition.             und sind aktuell noch vor den EU-Skeptikern viert-stärks-
Als viertgrößte Fraktion mit 67 Abgeordneten konnte sie         te Kraft. Die Zuwächse der Grünen beschränken sich
etwa in Personalentscheidungen von EVP und S&D über-            aber weitgehend auf West- und Nordeuropa, allein deut-
gangen werden, sich in Sachfragen aber immer wieder             sche Abgeordnete der Grünen und drei kleinerer Partei-
als Zünglein an der Waage zwischen den beiden großen            en (ÖDP, Die Partei, Piraten) stellen gemeinsam 25 der 78
Fraktionen durchsetzen. So konnte sie 88 % der Abstim-          Abgeordneten der Grünen/EFA-Fraktion. Anders als die
mungen im Europäischen Parlament gewinnen, das ist              ALDE-Parteien führen grüne Parteien (bis dato) in keinem
mehr als die EVP und die S&D. Im neuen Parlament ist die        EU-Staat die Regierung an, sodass die europäischen
ALDE der erste große Gewinner und konnte ihre Sitze auf         Grünen nicht direkt im Europäischen Rat vertreten sind.
113 (15,1 %) erweitern. Sie ist damit klar zur drittstärksten   Sie haben daher vor allem einen gestiegenen Einfluss auf
Kraft aufgestiegen. Dies verdankt die ALDE vor allem ei-        Sachfragen im Europäischen Parlament, Renew Europe
ner Zusammenarbeit mit der LREM-Partei des französi-            dürfte aber eher zum dritten Machtfaktor auf europäi-

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                                                                                                                                       385
Zeitgespräch

      scher Ebene aufsteigen als die Grünen. Die Europäische        sammensetzung noch ändern kann. Die EFDD hat sich
      Linke (GUE/NGL-Fraktion) hat von 52 auf 41 Sitze etwa         vorerst aufgelöst. In der aktuellen Zusammensetzung
      ein Fünftel ihrer Abgeordneten verloren und wird für die      wäre die ID mit 73 Abgeordneten fünftgrößte Fraktion
      Machtbalance im Europäischen Parlament voraussicht-           knapp hinter den Grünen/EFA, die EKR mit 63 Abge-
      lich keine Rolle spielen.                                     ordneten noch kleiner. Den Ton im Europäischen Par-
                                                                    lament werden daher weiterhin die vier großen pro-
      (K)ein Siegeszug der EU-Gegner                                europäischen Fraktionen angeben.

      Stark im Fokus im Vorfeld der Wahlen waren EU-skepti-       • Auf der anderen Seite waren EU-skeptische Partei-
      sche Gruppierungen. Nicht zuletzt Stephen Bannon, frü-        en aber in vier der sechs größten EU-Staaten jeweils
      herer Berater von US-Präsident Trump, machte Schlag-          stärkste Kraft – in Italien (Lega, 34,3 %), in Frankreich
      zeilen mit seiner Ankündigung, EU-skeptische Parteien         (RN, 23,3 %), in Großbritannien (The Brexit Party,
      vereinen und zur stärksten Fraktion im Europäischen           30,7 %) und in Polen (PiS, 45,4 %), wobei letztere deut-
      Parlament machen zu wollen. Dieses Ziel ist klar verfehlt     lich moderater als die ersten drei ist. Insbesondere
      worden. Dennoch gibt es zwei unterschiedliche Perspek-        in zentralen EU-Staaten werden EU-skeptische Par-
      tiven, die Erfolge EU-skeptischer Parteien bei den Wah-       teien also nationale Politik stark mitbestimmen. Hin-
      len zum Europäischen Parlament 2019 zu betrachten:            zukommt, dass innerhalb des EU-skeptischen Spek-
                                                                    trums eine Verschiebung hin zu den Extremen statt-
      • Auf der einen Seite ist der große Siegeszug ausge-          gefunden hat. Die moderatere EKR-Fraktion, die in der
        blieben. Schon in der ablaufenden Legislaturperio-          Vergangenheit in Sachfragen konstruktiv im Europäi-
        de konnten EU-skeptische Parteien 20,6 % der Sitze          schen Parlament mitgearbeitet hat, musste Einbußen
        hinter sich vereinen. Aber sie waren in drei Fraktionen     hinnehmen, während die fundamental EU-kritischen
        gespalten: Der moderat EU-skeptischen Fraktion der          Parteien in der ENF bzw. jetzt ID-Fraktion an Sitzen
        Europäischen Konservativen und Reformer (EKR), die          und Einfluss gewonnen hat.
        zwar weitere EU-Integration ablehnen, aber etwa am
        Binnenmarkt festhalten wollen, der Fraktion Europa        Sonderfall Großbritannien und die Auswirkungen des
        der Freiheit und Direkten Demokratie (EFDD), ange-        Brexits
        führt von der UK Independence Party von Nigel Fa-
        rage und der italienischen Fünf-Sterne-Bewegung,          Ein Sonderfall stellt bei den Wahlen und auch der wei-
        sowie zuletzt die nationalistische Fraktion Europa        teren Einschätzung der Sitzverteilung im Europäischen
        der Nationen und Freiheit (ENF) um die französische       Parlament der Brexit dar. Nach zweifacher Verlängerung
        Rassemblement Nationale (früher: Front National) von      ist der britische Austritt aus der EU aktuell für den 31. Ok-
        Marine Le Pen und die italienische Lega von Matteo        tober 2019 geplant. Bis dahin bleibt Großbritannien Mit-
        Salvini. Vor der Wahl war das erklärte Ziel etwa von      glied der EU mit allen Rechten und Pflichten. Fast drei
        Salvini, diese verschiedenen Strömungen zu vereinen       Jahre nach dem ursprünglichen Brexit-Votum hat sich
        und auch noch Parteien wie die Fidesz von Viktor Or-      das Land verpflichtet, als Teil der Einigung über die Ver-
        ban aus der EVP für sich zu gewinnen. Nach der Wahl       längerung, im Mai 2019 die Wahlen zum Europäischen
        hingegen ist beides ausgeblieben: Zum einen blieben       Parlament durchzuführen, auch wenn die gewählten
        die Zugewinne von EU-skeptischen Parteien insge-          Abgeordneten potenziell nur wenige Monate im Europä-
        samt moderat. Die italienische Lega ausgenommen           ischen Parlament sitzen werden. Nach angekündigtem
        konnten viele EU-skeptische Parteien ihre Sitze im        Rücktritt von Theresa May als Premierministerin und
        Vergleich zu 2014 nicht substanziell vergrößern, ge-      der fortgesetzten Blockade im britischen Parlament sind
        meinsam kommen sie nunmehr auf 24 % der Sitze.            weiterhin alle Optionen offen – ein Austritt mit Abkom-
        Vor allem ist es ihnen aber bisher nicht gelungen, eine   men im Oktober, ein ungeordneter No-Deal-Brexit oder
        gemeinsame Fraktion aufzubauen. Zu unterschiedlich        weitere Verlängerung(en).
        sind die Positionen etwa in Bezug auf die Zukunft der
        EU, Migrationspolitik oder gegenüber Russland. So         Wie für die EU insgesamt bedeutet diese Situation auch
        gibt es auch weiterhin mindestens zwei EU-skeptische      für das Europäische Parlament zusätzliche Unsicherheit.
        Fraktionen, den EKR sowie die neu gegründete Frak-        Sobald Großbritannien die EU verlässt – ob mit oder oh-
        tion Identität und Demokratie (ID), der Nachfolger der    ne Abkommen – müssen auch die britischen Abgeordne-
        ENF. Die neue „Brexit Party“ von Nigel Farage und die     ten das Europäische Parlament verlassen. Hinzu kommt,
        italienische Fünf-Sterne-Bewegung, zwei der größten       dass die 73 britischen Sitze mit Aussicht auf den geplan-
        nationalen Gruppen im Europäischen Parlament, ha-         ten Brexit im März 2019 bereits zum Teil weiter verteilt
        ben noch keine Fraktion gewählt, sodass sich die Zu-      wurden. 27 Sitze wurden auf verschiedene Mitgliedstaa-

                                                                                                  Wirtschaftsdienst 2019 | 6
386
Zeitgespräch

ten verteilt, um die Repräsentanz im Europäischen Parla-    haben diese vier Parteien im Juni 2019 eine Art Koaliti-
ment zu verbessern, 46 sollen freigehalten werden. Diese    onsgespräch begonnen, um eine politische Basis für eine
27 Abgeordnete wurden nun mitgewählt, werden ihren          gemeinsame Mehrheit auszuhandeln.
Sitz aber erst bekommen, sobald bzw. falls Großbritanni-
en die EU verlässt. Das Parlament insgesamt würde da-       Der erste Test für diese Zusammenarbeit wird die Beset-
mit von 751 auf 705 Abgeordnete verkleinert.                zung der EU-Führungspositionen über den Sommer 2019
                                                            sein. Zu Beginn des neuen institutionellen Zyklus der
Die damit verbundenen Verschiebungen werden die             EU müssen gleich fünf Positionen neu besetzt werden:
Machtverhältnisse im Europäischen Parlament zwar            Die Präsidentin bzw. der Präsident von EU-Kommission,
nicht entscheidend, aber dennoch spürbar beeinflussen.       Europäischem Rat, Europäischer Zentralbank, Europäi-
Größter relativer Gewinner eines Brexits wäre die EVP,      schem Parlament sowie der oder die Hohe Vertreterin der
da sie seit Austritt der britischen Konservativen 2009      EU für Außen- und Sicherheitspolitik. Um die Besetzung
keine Partei mehr in Großbritannien hat; ihr Sitzanteil     dieser Posten ranken sich gleich drei parallele Macht-
würde von 24,4 % auf 26,5 % steigen. Die S&D könnte         kämpfe in der EU:
ihre Stellung ungefähr halten; auch nach dem Brexit ver-
fehlen beide Fraktionen eine gemeinsame Mehrheit klar.      Der erste Machtkampf findet zwischen den Parteien im
Renew Europe (-11 Sitze) und die Grünen/EFA (-6 Sitze)      Europäischen Parlament statt, wer von ihnen eine Mehr-
müssen hingegen Einbußen hinnehmen. Größte Auswir-          heit organisieren kann. 2014 war die Situation noch klar:
kungen gibt es im EU-skeptischen Spektrum, in dem die       Die EVP war stärkste Kraft, und gemeinsam mit der S&D
aktuell noch unabhängige Brexit Party (29 Sitze) weg-       hatte sie eine absolute Mehrheit. Nun verhandeln die vier
fällt, während die fundamental EU-skeptische ID durch       größten Fraktionen, EVP, S&D, Renew Europe und Grü-
die Nachbesetzungen voraussichtlich noch einmal vier        ne/EFA über ein gemeinsames Programm. Die EVP ist
Abgeordnete gewinnt und an den Grünen vorbei zieht.         dabei zwar wieder die größte Fraktion, gemeinsam ha-
Insgesamt wäre das EU-skeptische Spektrum aber              ben die anderen pro-europäischen Fraktionen links der
durch den Wegfall der Brexit Party nach dem Brexit mit      Mitte aber mehr Abgeordnete. Hier ist noch völlig offen,
21,8 % wieder fast auf dem Niveau der letzten Legisla-      ob man sich auch auf ein gemeinsames Programm oder
turperiode.                                                 ausschließlich auf einen bzw. eine gemeinsame Kandida-
                                                            tin für das Amt des Kommissionspräsidenten einigt, und
Bleibt es beim Brexit zum 31. Oktober 2019, so werden       dann je nach Sachfrage wechselnde Mehrheiten verhan-
die britischen Abgeordneten nur begrenzten Einfluss          delt werden.
nehmen können. In dieser Zeit stehen „nur“ die Wahl des
Kommissionspräsidenten bzw. der -präsidentin und der        Der zweite Machtkampf findet zwischen Parlament und
EU-Kommission an. Sollte der Brexit aber noch einmal        den Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat
verschoben werden, werden die britischen Abgeordne-         statt. Gemäß Art. 17 des EU-Vertrags wird der Kommis-
ten auch wieder an wichtigen Sach- und Haushaltsent-        sionspräsident bzw. die Kommissionspräsidentin zwar
scheidungen beteiligt sein.                                 vom Parlament gewählt, allerdings auf Vorschlag des
                                                            Europäischen Rats. Dieser muss dabei das Ergebnis der
Drei Machtkämpfe über die zukünftige EU                     Europawahl berücksichtigen. Die europäischen Parteien
                                                            haben 2014 erstmals eigene Spitzenkandidaten aufge-
Aus dieser Gemengelage ergibt sich ein komplexes Bild       stellt und sich das Europäische Parlament mit der Sicht-
über die zukünftige politische Ausrichtung der EU. Blickt   weise durchgesetzt, dass der Spitzenkandidat der dann
man auf die Mehrheitsverhältnisse im Europäischen Par-      größten Fraktion, Jean-Claude Juncker von der EVP,
lament, so ist zunächst klar, dass es keine EU-skepti-      Kommissionspräsident werden sollte. Bereits im Vorfeld
sche Mehrheit gibt. Aber nicht nur die informelle große     der Wahlen haben die Staats- und Regierungschefs aber
Koalition von EVP und S&D hat ihre Mehrheit verloren,       deutlich gemacht, dass es für 2019 keinen „Automatis-
auch links und rechts der Mitte ist keine eigene Mehrheit   mus“ gäbe, einen der Spitzenkandidaten zu nominieren.
möglich, selbst falls links der Mitte S&D, Renew Europe,    Angesichts der unklaren Mehrheitsverhältnisse, bei der
Grüne/EFA und sogar Europäische Linke (GUE/NGL) zu-         keine Partei für sich in Anspruch nehmen kann, die Wah-
sammenarbeiten würden oder die EVP mit den EU-skep-         len gewonnen zu haben, entfaltet sich nun auch ein die
tischen Parteien rechts von ihr gemeinsam abstimmen         Institutionen übergreifender Machtkampf. So lehnt bei-
würde. Eine stabile Mehrheit erfordert daher eine Zu-       spielsweise der französische Präsident Macron das Spit-
sammenarbeit von mindestens drei Fraktionen, am wahr-       zenkandidatenprinzip ab, und hat für die Ablehnung auch
scheinlichsten wieder EVP und S&D plus Renew Europe         die erstarkte Renew-Europe-Fraktion gewonnen. Die
und/oder Grüne/EFA. Erstmals in der Entwicklung der EU      EVP hingegen fordert das Amt des Kommissionspräsi-

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                                                                                                                        387
Zeitgespräch

      denten für ihren Spitzenkandidaten Manfred Weber, und            Ausblick
      wird dabei unter anderem von der deutschen Bundes-
      kanzlerin Merkel unterstützt.                                    Die Europawahlen haben das politische Gefüge in der EU
                                                                       nachhaltig verändert und ihre Auswirkungen werden noch
      Der dritte Machtkampf findet zwischen den Mitgliedstaa-           lange in der Politik nachhallen. Die beiden großen europä-
      ten selbst statt, die jeweils daran interessiert sind, ihrem     ischen Parteienfamilien haben ihre absolute Mehrheit ver-
      Einfluss möglichst umfassend Geltung zu verschaffen. So           loren. Dafür gibt es aber zumindest übergreifend keinen
      fordern beispielsweise die Visegrád-Staaten, dass min-           Siegeszug der EU-Skeptiker, sondern ein fragmentierte-
      destens eine der Führungspositionen an eine Person aus           res Europäisches Parlament, in dem Liberale und Grüne
      Mittel- und Osteuropa gehen sollte, während zwischen             an der Mehrheitsbildung beteiligt werden müssen. Das
      Deutschland und Frankreich nicht nur die Besetzung der           nächste EU-Führungsteam wird daher auch partei-poli-
      Kommissionsspitze, sondern auch die Nachfolge von                tisch bunter und die Verhandlungen über die europäische
      EZB-Präsident Mario Draghi strittig ist.                         Gesetzgebung noch komplexer werden.

      Daniel Gros
      Hat die Europäische Union jetzt eine echte Volksvertretung?
      Die Wahl zum Europäischen Parlament der letzten Mai-             wesentlich an Terrain gewonnen haben. Mit einer Aus-
      Woche 2019 hat eine Reihe von Überraschungen ge-                 nahme (Italien) haben sie in vielen Fällen sehr viel weniger
      bracht. Die erste, vielleicht wichtigste Überraschung war,       Stimmen erreicht, als ursprünglich erwartet. Dies gilt für
      dass es in Europa eine „stille Mehrheit“ gibt, eine pro-         Deutschland, wo die AfD nicht zulegen konnte, und auch
      europäische. Meinungsumfragen haben seit einiger Zeit            für Frankreich, wo Le Pen zwar knapp mehr Stimmen als
      gezeigt, dass das Vertrauen in die EU und ihre Institutio-       Präsident Macron, aber immer noch weniger als sie bei
      nen in den letzten Jahren stark angestiegen ist und eine         der letzten Europawahl von 2014 erreichen konnte.
      historisch hohen Stand erreicht hat. Dies musste jedoch
      durch Wahlen bestätigt werden. Die Wahlbeteiligung ist           Das pro-europäische Zentrum hat also seine Position in
      um fast ein Fünftel gestiegen und liegt europaweit bei           etwa gehalten; es ist aber zunehmend zersplittert. Im Eu-
      50 %; in Deutschland sogar leicht über 60 %. Dies ist im-        ropäischen Parlament ist nunmehr eine Koalition von min-
      mer noch weniger als für die meisten nationalen Wahlen,          destens drei Parteien für eine Mehrheit erforderlich. Dies
      aber mehr als die Beteiligung an den (Zwischen-)Wahlen           spiegelt die Ergebnisse auf nationaler Ebene gut wider:
      zum US-amerikanischen Parlament (Congress).                      In vielen Ländern, so auch in Deutschland, erhielten die
                                                                       beiden größten Parteien zusammen weit weniger als die
      Wahlen zum Europäischen Parlament galten früher als              Hälfte der Stimmen.
      Wahlen zweiter Ordnung (nationale Wahlen als die erster
      Ordnung). Vielleicht könnte man jetzt die Wahlen zum Eu-         Innerhalb des Europäischen Parlaments wird die derzei-
      ropäischen Parlament als „1,5. Ordnung“ betrachten. Die          tige „informelle“ große Koalition der „pro-europäischen“
      Verwendung der Mehrzahl „Wahlen“ ist weiterhin ange-             Parteien weiterhin dominieren. Sie verfügt immer noch
      messen, da die Wahlkämpfe in den verschiedenen Mit-              über ca. zwei Drittel aller Abgeordneten. Dies bedeutet
      gliedsländern ganz unterschiedlich verlaufen sind und die        Stabilität, aber auch eine Gefahr. Wie bei jeder „großen
      Ergebnisse weitestgehend vom nationalen Kontext be-              Koalition“ besteht das Risiko darin, dass die Wähler den
      stimmt wurden. Dies sollte nicht überraschen. Es bestä-          Eindruck haben, dass sich die Politik, unabhängig von der
      tigt das alte Sprichwort: „Alle Politik ist lokal“. Die „euro-   Partei, für die sie stimmen, nicht ändert.
      päische Frage“ fehlte jedoch nicht ganz. In vielen Ländern
      spielten europäische Themen eine wichtige Rolle und re-          Ein drittes wichtiges, aber vielleicht weniger überraschen-
      levante tagespolitische Themen wurden zunehmend in ei-           des Ergebnis ist, dass die entscheidende Trennlinie in den
      nen europäischen Kontext gestellt. Dies gilt insbesondere        meisten Ländern nicht mehr zwischen rechts und links
      für Umweltfragen und Migration.                                  verläuft, sondern vielmehr beim Thema Migration und
                                                                       Einwanderung. Dies ist ein hoch emotionales Thema, das
      Eine zweite Überraschung ist, dass die verschiedenen             die EU in eine schwierige Situation bringt. Generell steht
      populistischen und „Euro-skeptischen“ Parteien nicht             die europäische Integration für offene Grenzen, was es

                                                                                                       Wirtschaftsdienst 2019 | 6
388
Zeitgespräch

Abbildung 1
Wahlen zum Europäischen Parlament 2019

Abbildung 1a                                                                        Abbildung 1b
Das Gewicht der großen Fraktionen im Europäischen                                   Tatsächliche und proportionale Sitzverteilung
Parlament: Tatsächliche und proportionale Verteilung

% der Abgeordneten                                                                   Aktuelle Sitze minus Sitze einer fiktiven europäischen Liste
25                                                                                   60
                                                  Proportionales Gewicht
                                                  Tatsächliches Gewicht              50
20                                                                                   40
                                                                                     30
15
                                                                                     20
                                                                                     10
10
                                                                                      0
 5                                                                                  -10
                                                                                    -20
 0                                                                                  -30

                                                                                           P

                                                                                                 D

                                                                                                         R

                                                                                                                  +

                                                                                                                              L

                                                                                                                                             DD

                                                                                                                                                           P

                                                                                                                                                                    re
                                                                                                                                       FA
      P

            D

                   R

                            +

                                        L

                                                        DD

                                                                      P

                                                                               re
                                                  FA

                                                                                                                          G
                                                                                                               DE
                                                                                          EV

                                                                                                                                                       N
                                                                                                      EC
                                                                                               S&
                                    G
                        DE
     EV

                                                                  N
                 EK

                                                                                                                                                                de
          S&

                                                                           de

                                                                                                                                   /E
                                                                                                                          N

                                                                                                                                                      EA
                                                 /E

                                                                                                                                            EF
                                    N

                                                                 EA
                                                       EF

                                                                                                             AL

                                                                                                                                                               An
                                                                                                                        E/
                       AL

                                                                          An

                                                                                                                                  ne
                                 E/

                                             ne

                                                                                                                                                  F/
                                                             F/

                                                                                                                      U
                                U

                                                                                                                              rü
                                            rü

                                                                                                                                                           I&
                                                                                                                                                 EN
                                                                      I&
                                                            EN

                                                                                                                    G
                             G

                                                                                                                              G
                                        G

                                                                                                                                                           N
                                                                  N

                                                                                                                                                       e,
                                                                 e,

                                                                                                                                                      eu
                                                             eu

                                                                                                                                                  N
                                                             N

EVP = Europäische Volkspartei, S&D = Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament, ECR = Fraktion der Europä-
ischen Konservativen und Reformer, ALDE+ = Fraktion der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa, GUE/NGL = Konföderale Fraktion der Ver-
einten Europäischen Linken/Nordischen Grünen Linken, Grüne/EFA = Fraktion Die Grünen/Europäische Freie Allianz, EFDD = Europa der Freiheit und der
direkten Demokratie, EANP = Europäische Allianz der Völker und Nationen, NI = Fraktionslose.

Quelle: eigene Berechnungen auf Grundlage der amtlichen Wahlergebnisse (Europäisches Parlament).

den Pro-Europäern instinktiv erschwert, Zäune zu errich-                            sein, in dem die EU-Binnenwanderung nicht als anders
ten. Aber genau dies scheint die Bevölkerung in einigen                             und weitaus akzeptabler angesehen wird als die Einwan-
Ländern zu fordern.                                                                 derung aus Drittländern. Es bleibt aber ein grundsätzli-
                                                                                    ches Problem, das besonders in Deutschland oft als ein
Europäische Identität                                                               Hindernis auf dem Weg des Europäischen Parlaments zu
                                                                                    einer vollwertigen Vertretung des europäischen Volkes
Hier scheint sich im Ansatz eine „europäische Identität“                            angesehen wird.
zu entwickeln. Es ist in erster Linie die Einwanderung von
außerhalb der EU, also die Flüchtlinge aus der arabischen                           Degressive Proportionalität
oder islamischen Welt, gegen die sich das Unbehagen in
der Bevölkerung richtet. Das „wir“ gegen „sie“ ist somit                            Die Zahl der Sitze im Europäischen Parlament, die in je-
implizit europäisiert worden. Es bedeutet zunehmend,                                dem Mitgliedstaat zur Wahl stehen, folgt dem Grundsatz
„wir Europäer“, gegen „sie, die Nicht-Europäer“. Nur we-                            der „degressiven Proportionalität“. Dieses Oxymoron
nige der rechten Parteien spielen noch die Karte: „Wir,                             bedeutet, dass die Zahl der Personen, die einen Abge-
aus diesem Land (Deutsche, Franzosen)“ gegen „sie, al-                              ordneten wählen können, in den kleineren Mitgliedstaaten
le anderen“. Die erfolgreicheren Populisten setzen sich                             geringer ist. Für die großen Mitgliedstaaten wie Deutsch-
jetzt implizit für ein „stärkeres Europa“ ein. Für sie be-                          land, Italien oder Frankreich beträgt das Verhältnis von
deutet dies ein Europa mit Zäunen, aber es ist interes-                             Abgeordneten zur Bevölkerung etwa 1 zu 800 000. Das
sant, dass sie den Zaun im Großen und Ganzen an der                                 andere Extrem sind die kleinsten Mitgliedstaaten mit we-
europäischen Außengrenze und nicht an den nationalen                                niger als einer halben Million Einwohnern und immer noch
Grenzen errichten wollen. Großbritannien stellt hier eine                           6 Abgeordneten, was dazu führt, dass weniger als 100 000
Ausnahme dar. Es scheint das einzige wichtige Land zu                               Personen einen Abgeordneten wählen. Eine Stimme in ei-

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Zeitgespräch

      nem kleinen Land kann also etwa zehnmal so viel wiegen        Die Diskrepanz zwischen den erhaltenen Stimmen und der
      wie eine Stimme in einem großen Land. Besonders das           Zahl der Abgeordneten ist besonders groß für die nächs-
      Bundesverfassungsgericht hat in einem wichtigen Urteil        ten beiden wichtigen Fraktionen, nämlich die Liberalen
      die demokratische Legitimierung des Europäischen Par-         (ALDE) und die Grünen (Greens): Die ersteren haben viel
      laments deswegen infrage gestellt.                            mehr Abgeordnete in Straßburg, aber weniger Stimmen.
                                                                    Die genaue Zusammensetzung der Faktionen ist noch
      Eine erste Frage, die man stellen kann, ist nach den          nicht vollständig geklärt, doch ALDE zählt derzeit etwa
      konkreten Auswirkungen dieser „degressiven Proporti-          110 Abgeordnete, gegenüber nur etwa 70 für die Grünen.
      onalität“. Sie bedeutet, dass in kleineren Mitgliedstaa-      Bei der Gesamtzahl der Stimmen ist das Verhältnis umge-
      ten erfolgreichere Parteien im Europäischen Parlament         kehrt: Die mit ALDE verbundenen Parteien erhielten eu-
      tendenziell überrepräsentiert sind: Sie werden mehr Ab-       ropaweit nur etwa 12,5 Mio. Stimmen, gegenüber fast 20
      geordnete haben, als ihr Anteil an der Gesamtzahl der         Mio. für die Grünen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass
      abgegebenen Stimmen rechtfertigen würde. Hat dieser           die Grünen in kleineren Ländern tendenziell schwächer
      Mechanismus die Zusammensetzung des Europäischen              sind. Sie haben in 13 (meist kleinen Mitgliedstaaten) keine
      Parlaments maßgeblich beeinflusst?                             Sitze erhalten, und ein großer Teil ihrer Stimmen kam von
                                                                    ihrem großen Erfolg in Deutschland, wo für einen Abge-
      Für eine Antwort kann man die Zahl der Abgeordneten,          ordneten viele Stimmen nötig sind. Die Liberalen dagegen
      welche die großen politischen Parteien(-Familien) erreicht    erzielten Sitze in fast allen (25) Mitgliedstaaten. Wenn es
      haben, mit der Zahl der Abgeordneten vergleichen, die sie     europäische Listen gäbe, hätten die Grünen mehr Abge-
      erhalten hätten, wenn es nur europaweite Listen gegeben       ordnete (88) als die Liberalen (56).
      hätte. In diesem Fall hätte jeder Wähler das gleiche Ge-
      wicht, unabhängig davon, ob er oder sie in einem kleinen      Die große Diskrepanz zwischen der relativen Stärke in
      oder großen Land wohnt. Die Abbildung 1a zeigt für jede       Bezug auf die Gesamtstimmen und den Abgeordneten
      der wichtigsten Parteienfamilien oder Fraktionen das Ge-      im Europäischen Parlament zwischen den Grünen und
      wicht im Europäischen Parlament (d. h. der prozentuale        den Liberalen ist auch auf die sehr unterschiedliche
      Anteil der Abgeordneten dieser Gruppe im Verhältnis zur       Wahlbeteiligung in verschiedenen Ländern zurückzu-
      Gesamtzahl von 751) sowie den Anteil an der Gesamtzahl        führen. Bei geringer Beteiligung sind weniger Stimmen
      der europaweit abgegebenen Stimmen. In Abbildung 1b ist       pro MdEP erforderlich. Die geringe Zahl der Europa-Ab-
      dann wiederum für die größeren Fraktionen nur die Diffe-      geordneten der Grünen ist auch darauf zurückzuführen,
      renz zwischen der tatsächlichen Zahl der Abgeordneten         dass die Grünen die meisten Stimmen in einem großen
      und der Zuteilung dargestellt, die sich aus dem Anteil an     Land mit hoher Wahlbeteiligung (Deutschland) erhalten
      der Gesamtzahl der abgegebenen Stimmen ergeben hätte.         haben. Im Gegensatz dazu erzielten die Liberalen in ei-
                                                                    nigen kleinen Ländern mit geringer Wahlbeteiligung gute
      Die erste Abbildung zeigt nur kleinere Veränderungen bei      Ergebnisse.
      den großen politischen Parteien. Die EVP ist die Partei mit
      der größten Zahl von Sitzen, 181 gegenüber 160 für die        Demokratische Legitimität des Europäischen
      nächstgrößere Partei, die Sozialisten (S&D). In Bezug auf     Parlaments
      die Gesamtzahl der abgegebenen Stimmen ist der Ab-
      stand jedoch sehr gering. Die EVP (bzw. die der EVP an-       Die Abweichung von dem Prinzip „ein Mann, eine Stim-
      geschlossenen Paritäten) erhielt rund 23 % aller Stimmen,     me“ hat also einen gewissen Einfluss auf die Zusam-
      gegenüber 21,5 % für die S&D. Wäre die Zahl der Abge-         mensetzung des Europäischen Parlaments gehabt. Dies
      ordneten proportional zu den gesamten Wählerstimmen,          impliziert aber nicht sofort, dass das Europäische Par-
      würde der Unterschied zwischen der EVP und der S & D          lament nicht demokratisch legitimiert ist. Das Prinzip
      auf weniger als 10 Abgeordnete schrumpfen. Dies kommt         „degressive Proportionalität“ beruht auf der doppelten
      daher, dass die EVP in vielen kleinen Ländern stärker ist,    Legitimität der EU, also sowohl einer Union gleicherma-
      während die S&D in einigen wenigen großen Ländern             ßen souveräner Staaten als auch einer Union der Völker.
      (Spanien, Italien, Großbritannien) einen großen Teil ihrer    Diese doppelte politische Grundlage spiegelt sich auch
      Stimmen erhielt. Wenn das ungarische Mitglied der EVP         direkt in den Abstimmungsregeln des Europäischen Ra-
      (Fidesz) die Fraktion in Straßburg verlassen würde, würde     tes wider, die eine doppelte Mehrheit in Bezug auf die
      die EVP über 10 Mitglieder des Europäischen Parlaments        Zahl der Mitgliedstaaten und auf die Bevölkerungszahl
      (MdEP) verlieren, aber nur wenige Wählerstimmen, da Un-       erfordern.
      garn ein kleines Land ist. Die Zahl der Abgeordneten einer
      „EVP ohne Fidesz“ würde ihren Anteil an der Volksabstim-      Die entscheidende Frage ist aber nicht die theoretische
      mung besser widerspiegeln.                                    Grundlage der demokratischen Legitimität des Europäi-

                                                                                                   Wirtschaftsdienst 2019 | 6
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