Nach der Wahl zum Europäischen Parlament - mehr Europa oder weniger? - Wirtschaftsdienst
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
DOI: 10.1007/s10273-019-2463-3 Zeitgespräch Nach der Wahl zum Europäischen Parlament – mehr Europa oder weniger? Die Wahl zum Europäischen Parlament Ende Mai 2019 hat einige Entwicklungen gezeigt: Die Wahlbeteiligung ist deutlich gestiegen, die großen Volksparteien haben Verluste erlitten, aber der befürchtete Siegeszug der europaskeptischen und populistischen Parteien blieb aus. Angesichts der auf Staaten bezogenen Wahllisten und der degressiven Proportionalität stellt sich zwar die Frage nach der demokratischen Legitimität. Die Ergebnisse der Wahl werden aber breit akzeptiert. Wie die einzelnen Fraktionen des Europäischen Parlaments dann tatsächlich abstimmen, lässt sich nicht immer eindeutig der Parteifarbe zuordnen. Hier gibt es die unterschiedlichsten Koalitionen. An Aufgaben fehlt es in Zukunft allerdings nicht. Die Agenda des neuen Parlaments reicht von der Industriepolitik, über Arbeitnehmerfragen bis zu einer sozial gerechten Klimapolitik. Gabriel Felbermayr Wie haben sich die Kräfteverhältnisse im Europäischen Parlament verändert? Am 26. Mai 2019 endete die langjährige faktische große vischen und holländischen Liberalen vereinbar sind, lässt Koalition zwischen der Europäischen Volkspartei und den sich bezweifeln. Vor diesem Hintergrund ist der Macht- Sozialdemokraten im Europäischen Parlament. Die bei- gewinn der Liberalen weniger eindrucksvoll. Außerdem den bisher mächtigsten Gruppen haben zusammen mehr würden weitere 16 Sitze von ALDE durch das Ausschei- als 9 Prozentpunkte verloren und kommen nur mehr auf den Großbritanniens aus der EU verloren gehen. Gleich- 44 % der Sitze in Straßburg und Brüssel. Wer hat die 68 wohl bleibt auch ohne Berücksichtigung Frankreichs und Sitze gewonnen, die die beiden immer noch bei weitem im Falle eines Brexits der Befund richtig, dass ALDE im größten Blöcke im 751 Sitze umfassenden Europäischen neuen Parlament eine bedeutendere Rolle spielen können Parlament gemeinsam verloren haben? Auf den ersten wird als im alten. Blick sind das drei Gruppen: einerseits ALDE, die Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa, die um 37 Sitze Besondere mediale Aufmerksamkeit hat in Deutschland zugelegt hat, andererseits die Grünen, die im neuen Par- der Stimmenzuwachs der Grünen im Europäischen Parla- lament 21 Sitze gewonnen haben, und dann verschiedene ment erhalten. Ganz zu Recht, denn die Grünen konnten Parteien an den Rändern des Parteienspektrums, wobei ihren Stimmenanteil fast verdoppeln. Nur in Irland hat die vor allem rechtspopulistische Kräfte stärker geworden Partei mehr zugelegt. Auch in Frankreich, Belgien, den sind. Niederlanden und vor allem in Großbritannien kam es zu starken Gewinnen. In anderen Ländern hingegen muss- Ein genauerer Blick enthüllt aber, dass mehr als die Hälf- ten die Grünen Verluste hinnehmen, teilweise deutliche; te, nämlich 21, der von ALDE gewonnenen Sitze auf die so z. B. in Schweden. Und immer noch entsenden 13 der französische Koalition Renaissance unter Führung der 28 EU-Staaten überhaupt keine grünen Abgeordneten in Bewegung von Präsident Macron zurückzuführen ist. Ob das Europäische Parlament. Italien und die neuen Mit- die Positionen von La République En Marche ohne weite- gliedstaaten der Union entsenden gemeinsam gerade res mit jenen der FDP in Deutschland oder der skandina- einmal drei grüne Abgeordnete. In Summe sind die Grü- ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft 379
Zeitgespräch Abbildung 1 Abbildung 2 Machtverhältnisse im „alten“ und „neuen“ Zustimmung zu Freihandelsabkommen nach Europäischen Parlament Fraktionen Anteile der Fraktionen % % EVP – Europäische Volksparteien, 28,8 99 24,0 ALDE (Liberale) Christdemokraten 26,5 S&D – Progressive Allianz 24,7 EKR (Konservative) 98 20,4 der Sozialdemokraten 21,1 9,2 EVP (Christdemokraten) 98 ALDE – Allianz der Liberalen und 14,1 Demokraten für Europa 13,3 S&D (Sozialdemokraten) 74 6,9 Grüne/Freie Europäische Allianz 9,7 9,1 Sonstige/Fraktionslose 37 EKR – Europäische Konservative 10,3 8,3 EFDD (EU-Skeptiker) 35 und Reformer 8,6 ENF – Europa der Nationen 4,8 7,7 ENF (Rechtspopulisten) 13 und der Freiheit 8,6 EFDD – Europa der Freiheit und 5,6 Grüne/EFA (Grüne) 8 7,2 der direkten Demokratie 3,7 Vereinigte Europäische Linke/ 6,9 GUE/NGL (Linke) 1 5,2 Nordische Grüne Linke 5,6 2,7 Durchschnitte über Abstimmungen zum CETA-Abkommen mit Kanada Andere 2,5 und den Freihandelsabkommen mit Japan und Singapur. 3,5 Quelle: Votewatch Europe; eigene Berechnungen und Darstellung. 2014 bis 2019 2019 bis 2024 2019 bis 2024, ohne Großbritannien Legislaturperiode 2014 bis 2019 in der Zusammensetzung des Europäi- schen Parlaments im April 2019. Geschätzte Anteile der Fraktionen ohne mals im alten Parlament dadurch ausgezeichnet, dass Großbritannien (nach vollzogenem Brexit) berücksichtigen nicht die ge- plante (geringfügige) Neuverteilung der Sitze unter den EU-Mitgliedstaa- sie als einzige Fraktionen gegen an sich sehr konsensu- ten. ale Vorhaben gestimmt haben, wie z. B. beim EU-US-Ab- Quelle: Europäisches Parlament; eigene Berechnungen. kommen zur prudenziellen Überwachung von Versiche- rungen und Rückversicherungen.1 Ein Brexit würde übrigens den schwarz-roten Block im Europäischen Parlament wieder deutlich stärken; er kä- nen also nur wenig stärker geworden: Ihr Anteil an Sitzen me dann ungefähr auf 48 % der Sitze, also fast auf eine im Parlament hat sich von ca. 7 % auf 10 % erhöht. Käme Mehrheit, denn die Briten entsenden in das neue Parla- der Brexit, dann würde der Anteil wieder auf 9 % sinken. ment nur zehn Sozialdemokraten und keine Mitglieder der Aber mehr als jede andere Gruppe mit Stimmengewinnen EVP, aber 63 Mitglieder anderer Blöcke (vgl. Abbildung 1). scheint es, dass die Grünen ihr Potenzial noch nicht voll Der Herfindahl-Index,2 ein Maß für die Konzentration po- ausschöpfen und das Momentum auf ihrer Seite haben. litischer Macht, liegt im neuen Parlament bei 15,0 % (mit Brexit: 16,1 %) nach vormals 17,9 %. Die Macht im neuen Wenn man die europakritischen Parteien betrachtet, so Europäischen Parlament ist also weniger stark konzent- zeigt sich, dass diese sehr heterogen aufgestellt sind. Es riert, was eine größere Vielfalt potenzieller Koalitionen er- ist nicht immer leicht, ihr wirtschaftspolitisches Profil klar möglicht, deren Bildung aber erschwert. Die Veränderung festzulegen, gerade in Bezug auf europapolitische Agen- des Index, der zwischen 1/751 und 1 variieren kann, ist den. Sie eint meist nur eine hohe Skepsis gegenüber der aber relativ klein. Verlagerung von Kompetenzen nach Europa, nicht aber ein konkreter Plan, wie Politik auszugestalten ist. Addiert Was bedeuten diese neuen Machtverhältnisse für wich- man die Sitzanteile der Parteien Europäische Konserva- tige wirtschaftspolitische Entscheidungen im Europäi- tive und Reformer (EKR), Europa der Nationen und der schen Parlament? In der Folge wird ein kurzer Blick auf Freiheit (ENF) und Europa der Freiheit und der direkten Demokratie (EFDD), so entfallen auf diese im neuen Par- lament ca. 23,2 % der Sitze nach bisher 20,7 %. Treten 1 Die Resolution wurde im März 2018 mit 90% der Stimmen angenom- men. die Briten aus der EU aus, so sinkt der Anteil der drei 2 Der Herfindahl-Index ist definiert als Summe der quadrierten Stim- Fraktionen auf 20,8 %. ENF und EFDD haben sich mehr- menanteile. Wirtschaftsdienst 2019 | 6 380
Zeitgespräch Zeitgespräch die Handelspolitik, die Umweltpolitik und die Finanzpoli- Autoren des Zeitgesprächs tik geworfen. Die Analyse bleibt notwendigerweise kurz und unvollständig. Sie bestätigt aber eine Hypothese: Das neue Parlament ist politisch dem alten sehr ähnlich. Prof. Gabriel Felbermayr, Ph. D., ist Präsident des Instituts für Weltwirt- Handelsabkommen schaft (IfW) in Kiel. Das Europäische Parlament spielt beim Abschluss von Handelsabkommen der EU eine wichtige Rolle, weil es diese ratifizieren muss, damit sie in Kraft treten können. Bei Abkommen, die ausschließliche Kompetenzen der EU betreffen, ist das Europäische Parlament das einzige Par- lament in der EU, dessen Zustimmung erforderlich ist. Bei sogenannten gemischten Abkommen ist für ihre endgülti- Dr. Nicolai von Ondarza ist stellver- ge Inkraftsetzung auch eine Ratifizierung durch die Parla- tretender Forschungsgruppenleiter mente der Mitgliedstaaten erforderlich. Das Europäische bei der SWP – Stiftung Wissenschaft Parlament kann die Erteilung von Verhandlungsmandaten und Politik am Deutschen Institut für durch den Rat an die Kommission und auch den Prozess Internationale Politik und Sicherheit in der Verhandlungen selbst beeinflussen, indem es Resolu- Berlin. tionen verabschiedet, die zwar rechtlich nicht verbindlich sind, aber die zu erwartende Position des Parlaments bei der Ratifikation erkenntlich macht. Abbildung 2 zeigt, wie die Fraktionen im Europäischen Dr. Daniel Gros ist Direktor des Cen- Parlament in der letzten Legislaturperiode für die von der tre for European Policy Studies (CEPS) Kommission ausverhandelten Vertragstexte gestimmt ha- in Brüssel, Belgien. ben. Im Durchschnitt ergab sich im alten Europäischen Parlament eine Zustimmung zu wichtigen Freihandelsver- trägen (CETA, EU-Japan, EU-Singapur) von 70 %. Unter- stellt man, dass die Fraktionen im neuen Parlament das gleiche Abstimmungsverhalten aufweisen, dann ergibt das neue Kräfteverhältnis eine erwartete Zustimmungs- rate von 66 %. Nimmt man an, dass die Bewegung des Dr. Andrew Watt ist Referatsleiter französischen Präsidenten, die der ALDE-Gruppe beige- Europäische Wirtschaftspolitik und treten ist, ein Wahlverhalten aufweist wie die Sozialdemo- stellvertretender Direktor des Instituts kraten – was auf der Basis des Wahlkampfes der Bewe- für Makroökonomie und Konjunktur- gung zu erwarten ist – dann sinkt die Zustimmungsrate forschung (IMK) der Hans-Böckler- im neuen Parlament auf 65 %. Der Brexit hingegen würde Stiftung in Düsseldorf. das Parlament wieder geringfügig freihandelsfreundlicher machen, weil die traditionell liberale konservative Partei nur sehr wenige Abgeordnete nach Brüssel bzw. Straß- burg sendet. Prof. Dr. Mario Pianta ist Professor Es wird also in der kommenden Legislaturperiode etwas an der Università di Urbino Carlo Bo in schwieriger werden, Mehrheiten für eine Handelspolitik, Italien. wie sie in den letzten Jahren betrieben wurde, zu finden. Gleichwohl würden CETA, EU-Japan oder EU-Singapur wohl aber auch im neuen Parlament ratifiziert worden sein. Vor dem Hintergrund des Erfolgs vor allem der grü- nen Parteien aber ist zu erwarten, dass sich das Europä- ische Parlament noch stärker als bisher auf Bestimmun- gen zum Schutz der Umwelt, zum Tierwohl, zum Schutz von Konsumenten und Arbeitern in Freihandelsverträgen einsetzen wird. ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft 381
Zeitgespräch Brexit die Koalition aus Sozialdemokraten, Grünen und Linken, die die Resolution eingebracht hatten, ist zwar insgesamt Was den möglichen Austritt Großbritanniens aus der EU schwächer geworden, die in sich sehr einigen Grünen aber angeht, so hat sich das alte Europäische Parlament in ei- stärker. Das Abstimmungsverhalten bei der Resolution ner Entschließung vom März 2018 für die Zeit nach dem zeigt ebenfalls sehr deutlich, dass die rechtspopulistischen Vollzug des Austrittsabkommens für ein Assoziierungs- Parteien entweder keine Meinung zu haben scheinen (ein abkommen der EU mit dem Inselreich ausgesprochen. hoher Anteil der Abgeordneten enthielt sich oder nahm Eine solche Vereinbarung würde bedeuten, dass Groß- gar nicht an der Abstimmung teil) oder gespalten sind. Das britannien weiterhin die EU-Normen in den Bereichen neue Parlament ist nicht amerikanophiler als das alte, und Umwelt, Klimawandel, Bekämpfung der Steuerhinterzie- man muss davon ausgehen, dass jeder von der Europäi- hung und -vermeidung, fairer Wettbewerb, Handel und schen Kommission und der US-Regierung ausgehandelte Sozialpolitik berücksichtigt, aber die „vier Freiheiten“ der Vertrag bei seiner Ratifikation im Europäischen Parlament EU untrennbar miteinander verbunden seien. Zu dieser mit offenem Ausgang geprüft werden würde. Entschließung gab es eine große, fraktionsübergreifende Übereinstimmung; nur die Abgeordneten von EFDD und Das Europäische Parlament zu Russland ENF stimmten dagegen. Sie vertreten eine insgesamt lo- sere EU und eine Aufweichung der Verbindung der „vier Die Russlandpolitik der EU ist umstritten. Sollen die nun- Freiheiten“. Diese Ansicht wird im neuen Parlament deut- mehr seit ca. fünf Jahren geltenden Sanktionen weiterge- licher zu hören sein; aber die Abstimmung im März 2018 führt, oder gar, bei mangelhaften Fortschritten in der Ostu- würde wohl, wenn sie heute wiederholt würde, mit einem kraine weiter verschärft werden? Die meisten rechtspopu- ähnlichen Ergebnis enden, vor allem, wenn die Briten im listischen Parteien haben eine wenig Russland-skeptische Europäischen Parlament mit abstimmen. Sicht. Das Gleiche gilt für die Linken. Die Sozialdemokra- ten sind relativ gespalten. Das zeigte auch das Abstim- Haltung des Europäischen Parlaments gegenüber mungsverhalten im März 2019, als eine relative scharfe wichtigen Partnerländern Resolution verabschiedet wurde, die Russland den Status eines strategischen Partners aberkennt und die EU auffor- Hinsichtlich der Positionierung des Parlaments gegen- dert, sich gegebenenfalls für neue Sanktionen bereit zu über wichtigen Handelspartnern dürfte sich insgesamt machen. Die Resolution wurde mit 402 gegen 132 Stim- wenig verändert haben, aber ein genauer Blick in das Ab- men angenommen, d. h. ca. 25 % der Abgeordneten spra- stimmungsverhalten des alten Parlaments und was die- chen sich gegen den relativ unbeugsamen Ansatz des ses mit den neuen Kräfteverhältnissen bedeutet hätte, ist Europäischen Parlaments gegenüber Russland aus. Im auch in diesem Kontext interessant. neuen Parlament wäre dieser Anteil etwas höher, bei 27 % gelegen; ohne die Stimmen Großbritanniens bei 26 %. Das Europäische Parlament zur USA Das Europäische Parlament zu China Im März 2019 stimmte das Parlament über eine Resolution zur Aufnahme von Verhandlungen zu einem Freihandelsab- Das alte Europäische Parlament hat sich wiederholt China- kommen mit den USA ab. Das Hauptargument war, dass kritisch geäußert. Das betraf sowohl die Menschenrechts- man nicht verhandeln könne, solange die ungerechtfer- situation im Reich der Mitte als auch die Wirtschaftspolitik. tigten Zölle (gegen Stahl- und Aluminiumprodukte aus der In der letzten Legislaturperiode stand die Frage im Raum, EU) in Kraft sind und US-Präsident Donald Trump Autozöl- ob man China handelspolitisch als Marktwirtschaft be- le nicht ausschließt. Allerdings ist der derzeit geltende Waf- handeln solle – dies hätte wichtige Folgen für die Berech- fenstillstand im transatlantischen Handelskonflikt, den EU- nung von Anti-Dumping-Zöllen. Im Mai 2016 sprach sich Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und der US- eine große Mehrheit von insgesamt 546 Abgeordneten Präsident im Juli 2018 vereinbart haben, an die Aufnahme gegen den Marktwirtschaftsstatus aus. Das ist ein Anteil von Verhandlungen zu einem Abbau von Industriezöllen von 84 % der anwesenden Volksvertreter. Es gab einen geknüpft. Die Abstimmung war knapp: 193 Abgeordne- breiten Konsens über ein relativ hartes Vorgehen gegen- te stimmten für, 223 gegen die Annahme der Resolution. über China. Die einzige Fraktion, die nicht für den Antrag Somit verweigerte das Parlament dem Rat und der Kom- gestimmt hatte, war ENF – dies hatte aber wohl andere mission die Gefolgschaft. Mit den neuen Kräfteverhältnis- als inhaltliche Gründe. Bei den Linken gab es einen sehr sen wäre es zu einer etwas weniger starken Ablehnung, in hohen Anteil an Enthaltungen. Auch in neueren Abstim- einem Parlament ohne Großbritannien zu einer deutlicher mungen, z. B. im April 2019 über die Situation religiöser ausgeprägten Ablehnung gekommen. Die Verschiebun- und ethnischer Minderheiten in China, offenbarte sich ein gen wären aber in beiden Fällen wenig ausgeprägt, denn ähnliches Abstimmungsverhalten. In beiden Fällen zeigt Wirtschaftsdienst 2019 | 6 382
Zeitgespräch sich, dass die Differenzen nicht entlang von Parteilinien, richtet. Hierzu hat das alte Europäische Parlament immer sondern zwischen den Mitgliedstaaten liegen, wobei auf- wieder Stellung bezogen. Die Abstimmung im März 2019 fällt, dass ein relativ hoher Anteil von Abgeordneten aus zur Errichtung eines European Monetary Fund (EMF) ist ganz bestimmten Ländern zu China-Abstimmungen gar exemplarisch, weil sie die Bruchlinien im Parlament auf- nicht im Parlament sind. Es sind damit nur zum Teil EU- zeigt. Die Kernfrage ist, ob der Mechanismus, der mit Mitglieder, die der sogenannten 16+1-Gruppe des China- Staatsschuldenkrisen in der Eurozone umgehen soll, Mittel-Ost-Europa-Gipfels angehören, z. B. Griechenland. zentralistisch – als Einrichtung der EU selbst – oder in- Zypern und Italien gehören der Gruppe aber nicht an. Inte- tergouvernemental (wie bisher) aufgestellt sein soll. Das ressanterweise haben auch 38 % der britischen Abgeord- Europäische Parlament hat sich mit 237 gegen 152 Stim- neten gar nicht an der Abstimmung teilgenommen oder men (18 Enthaltungen) für eine zentrale Lösung – den sich enthalten. Der Brexit wird wohl an der Position des EMF – und gegen die mehrheitlich skeptische Position Parlaments in China-Fragen wenig ändern. Es bleibt bei des Rates ausgesprochen. Dabei zeigte sich, dass die einem parteiübergreifenden China-kritischen Konsens. EVP-, S&D- und ALDE-Fraktionen ziemlich geschlossen für den EMF, alle anderen Fraktionen ebenso geschlos- Das neue Europäische Parlament ist nicht wirklich sen dagegen votierten. Die Beweggründe mögen sich in grüner … der Gruppe der Gegner zwischen Rechtspopulisten und Linken unterscheiden; die Trennlinien verlaufen gleich- Die im neuen Europäischen Parlament gestärkten Europa- wohl sehr scharf. Im neuen Europäischen Parlament wür- skeptischen Parteien stimmen eher nicht für grüne Initia- de auch diese Abstimmung wohl nicht anders ausgehen: tiven. Am Beispiel der Glyphosat-Abstimmung vom Okto- Lag noch im März 2019 die Mehrheit von EVP, S&D und ber 2017 sieht man, dass – unter der Annahme konstanten ALDE bei ca. 58 %, würde sie jetzt bei 56 % und nach Abstimmungsverhaltens der Fraktionen – im neuen Parla- einem Ausstieg der Briten wieder bei 58 % liegen. Auch ment 31,5 % der Abgeordneten gegen die Verlängerung hier zeigt sich: plus ça change, plus c‘est la même chose der Zulassung von Glyphosat gestimmt hätten, während … es im alten Parlament 30,5 % waren. Und die neuen, stren- geren Abgasnormen für Autos, die im Oktober 2018 zur Fazit zu den Kräfteverhältnissen des Europäischen Abstimmung standen und mit ca. 62 % der Stimmen ver- Parlaments 2019 abschiedet wurden, würden im neuen Parlament eine ganz ähnliche Zustimmungsrate erhalten. Zwar sind die Grünen, Im neuen Europäischen Parlament mögen die EVP und die dem Vorschlag enthusiastisch zugestimmt haben, ge- die S&D ihre gemeinsame Mehrheit verloren haben. Die stärkt, aber die Sozialdemokraten, ebenfalls starke Be- Machtverhältnisse haben sich trotzdem nicht maßgeb- fürworter, sind geschwächt, und die rechtspopulistischen lich verschoben. Zu vielen wichtigen Themen würde sich Parteien, geeint in ihrer Gegnerschaft strengerer Abgas- das Abgeordnetenhaus heute ganz ähnlich verhalten wie normen, haben im neuen Parlament ein höheres Gewicht. in der vergangenen Legislaturperiode. Klar ist aber auch: Vor allem die Grünen, aber auch die Liberalen haben mehr Reform der europäischen Finanzordnung Gewicht und werden dieses auch einsetzen. Weil sie aber oft genug entgegengesetzte Positionen vertreten, können Schließlich sei ein Blick auf die laufenden Bemühungen sie das Parlament nicht substanziell in neue Richtungen zur Neuordnung der europäischen Staatsfinanzen ge- schieben. Nicolai von Ondarza Europawahl 2019: Umbrüche, aber kein Beben im politischen System der EU Im Vorfeld wurden die Wahlen zum Europäischen Parla- den zweiten Blick zeigen sich dennoch gewichtige Um- ment 2019 als „Schicksalswahl“ tituliert. Doch das ganz brüche im europäischen Parteiengefüge, die sich auch dramatische politische Beben ist ausgeblieben, die pro- auf die politischen Richtungsentscheidungen in und das europäischen Parteien haben ihre Mehrheit im Parlament Zusammenspiel zwischen den EU-Institutionen auswir- klar behalten, die EU wird handlungsfähig bleiben. Auf ken werden. Insbesondere haben die beiden bislang do- ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft 383
Zeitgespräch minierenden Parteien links und rechts der Mitte, die Eu- Vor diesem Hintergrund hat sich bei den Europawahlen ropäische Volkspartei (EVP) und die europäischen Sozi- 2019 eine bemerkenswerte Entwicklung ereignet. Zum aldemokraten (SPE) erstmals ihre gemeinsame Mehrheit einen ist die Wahlbeteiligung in fast allen Mitgliedstaaten im Europäischen Parlament verloren. Die europäischen gestiegen, zum Teil deutlich. EU-übergreifend erreichte Liberalen, nun gemeinsam mit der Partei des französi- sie mit 50,95 % den höchsten Wert seit 1994. Insbeson- schen Präsidenten Macron, und/oder die europäischen dere in Mittel- und Osteuropa stieg das Interesse an den Grünen werden zu Königsmachern. EU-kritischen Par- Europawahlen, mit einer Verdopplung der Beteiligung in teien ist es hingegen (bisher) nicht gelungen, eine ge- Polen und in mehreren anderen Staaten der höchsten meinsame große Fraktion aufzubauen, auch wenn sie in Beteiligung seit ihrem Beitritt (Tschechien, Ungarn, Kro- einzelnen EU-Staaten größere Erfolge erzielen konnten. atien, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Litauen). Auch Angesichts dieser fragmentierten Mehrheitsverhältnisse in Deutschland erreichte die Beteiligung mit 61,4 % den droht nun ein dreifacher Machtkampf über die Besetzung höchsten Wert seit 1989. Auf der anderen Seite dominier- der EU-Führungspositionen. Dieser Machtkampf wird ten zwar in vielen Mitgliedstaaten weiterhin nationale The- auch entscheiden, ob sich die EU auf eine Ära wechseln- men, aber es gab mehr gemeinsame europäische The- der Mehrheiten oder eine stabile pro-europäische Koali- men als bei vergangenen Europawahlen. Hierzu gehörten tion hin bewegt. etwa die Migrationspolitik, die Klima- und Energiepolitik, die Zukunft der Eurozone und der Umgang mit den USA. 28 nationale Wahlen, eine europäische Wahl Angesichts dieses gestiegenen Interesses und der deut- lich höheren Wahlbeteiligung ist das Europäische Parla- Die erste bemerkenswerte Entwicklung bei den Euro- ment zunächst als Ganzes demokratisch gestärkt aus der pawahlen 2019 war die deutlich gestiegene Wahlbeteili- Europawahl hervorgegangen. gung. Traditionell gelten die Wahlen zum Europäischen Parlament als „Wahlen zweiter Ordnung“ mit nur geringer Umbrüche im Europäischen Parteiensystem Beteiligung, bei denen die Bürgerinnen und Bürger ihr Votum primär aufgrund nationaler statt europäischer po- Die Handlungsfähigkeit und die politische Ausrichtung litischer Präferenzen abgeben. In der Vergangenheit ist des nächsten Europäischen Parlaments werden vor al- die Wahlbeteiligung daher trotz wachsender Kompeten- lem von der Zusammenarbeit der Fraktionen abhängen. zen des Parlaments bei jeder Europawahl kontinuierlich Bis dato war das Europäische Parlament von einer infor- gesunken. Im Vergleich zu nationalen Wahlen konnten mellen „großen Koalition“ dominiert. Seit der ersten Di- dabei Protest- und/oder Oppositionsparteien besonders rektwahl 1979 hatten die beiden großen europäischen gut abschneiden, während Regierungsparteien in der Parteienfamilien, EVP und SPE, jeweils gemeinsam im- Regel abgestraft wurden. mer die absolute Mehrheit inne. Zwar gibt es auf euro- päischer Ebene keine formelle Regierungskoalition mit Hinzu kommt, dass die Europawahl nach wie vor im klarer Teilung in Regierungs- und Oppositionsfraktionen, Grunde eine Aneinanderreihung von (noch) 28 nationa- aber bei großen Entscheidungen – Besetzung der EU- len Wahlen ist. Sie finden je nach nationalen Traditionen Führungspositionen, Verabschiedung des EU-Haushalts, über vier Tage verteilt statt und zur Wahl stehen jeweils Richtungsentscheidungen in der EU-Gesetzgebung – ausschließlich die nationalen Parteien. Auch die Wahler- konnten EVP und die zur SPE zugehörige Parlaments- gebnisse werden pro Mitgliedstaat ausgezählt, sodass fraktion S&D immer eine stabile Mehrheit organisieren. sich die Zusammensetzung des nächsten Europäischen In der ablaufenden Legislaturperiode haben beide große Parlaments nur aus der Kombination von den 28 natio- Fraktionen in 73,4 % der Voten gemeinsam abgestimmt. nalen Wahlen ergibt. Erst auf europäischer Ebene set- Trotz acht Fraktionen war das Europäische Parlament zen sich die nationalen Parteien zu ihren europäischen damit im Zweifelsfall immer in der Lage eine handlungs- Fraktionen im Europäischen Parlament zusammen, fähige Mehrheit zu finden. wobei es auch nach der Wahl durchaus noch größere Wechsel gibt. Weiterhin bleibt festzuhalten, dass in den Diese Dominanz ist nach den Europawahlen 2019 vorbei, meisten Mitgliedstaaten auch nach fast zehn Jahren weil beide großen Parteienfamilien europaweit an Unter- Dauerkrise auf europäischer Ebene nationale Themen stützung verloren haben. Dies gilt auf der einen Seite für beim Wahlkampf im Vordergrund standen. In Frankreich die Europäische Volkspartei, welche die europäische Po- etwa dominierte der Wettstreit zwischen Macron und Le litik im letzten Jahrzehnt dominiert hat. Im ablaufenden Pen den Europawahlkampf, in Italien stand Salvini und Europäischen Parlament war die EVP mit 221 Abgeord- seine Lega im Mittelpunkt, in Polen war die Europawahl neten (29,4 %) klar stärkste Kraft (vgl. Tabelle 1), stellt den ein Test für die im Oktober anstehende Parlamentswahl Präsidenten der EU-Kommission (Jean-Claude Juncker), usw. 13 weitere der 28 Kommissionsmitglieder sowie den Prä- Wirtschaftsdienst 2019 | 6 384
Zeitgespräch sidenten des Europäischen Rates (Donald Tusk). Im neu- Tabelle 1 en Europäischen Parlament kommt die EVP jedoch nur Sitzverteilung im neuen Europäischen Parlament vor noch auf 183 Abgeordnete (24,4 %, -38 Sitze), wobei sie und nach dem Brexit ihre Stellung als größte Fraktion verteidigen konnte. Noch Sitze unklar ist weiterhin die Zukunft der ungarischen Fidesz- Partei, die aus der EVP-Partei zwar suspendiert ist, aber EP 2019 bis EP 2014 bis EP 2019 bis 2024 weiterhin in der EVP-Fraktion sitzt. Ohne die 13 Fidesz- 2019 2024 Post-Brexit Abgeordneten würde die EVP noch weiter zurückfallen. EVP 221 183 187 Hinzu kommt, dass die EVP im Laufe der aktuellen Le- S&D 191 146 141 gislaturperiode in vielen EU-Mitgliedstaaten die Regie- rungsverantwortung verloren hat, und zuletzt bei der Zahl EKR 70 63 62 der geführten Regierungen sogar hinter die liberale ALDE Renew Europe (vorher: ALDE) 67 113 102 zurückgefallen ist. GUE/NGL 52 41 40 Ein ähnliches Bild ergibt sich bei den europäischen So- Grüne/EFA 50 78 72 zialdemokraten (vgl. Tabelle 1). Von 191 Sitzen (25,4 %) ID (vorher: ENF) 37 73 77 sind sie auf 146 zurückgefallen (19,4 %, -45 Sitze). Dabei EFDD 48 0 0 konnten die SPE-Parteien neben einigen deutlichen Ver- Fünf-Sterne-Bewegung lusten in früheren Hochburgen wie Deutschland (SPD), und Alliierte1 0 15 15 Großbritannien (Labour), Italien (PD) oder Frankreich (PS) Brexit Party1 0 29 0 auch in einigen EU-Staaten wieder zulegen. So stellt die Fraktionslos 15 10 9 spanische PSOE mittlerweile die größte Gruppe in der S&D-Fraktion, in den Niederlanden konnte die PvdA mit Gesamt 751 751 705 Hilfe des europäischen Spitzenkandidaten Frans Tim- Anmerkung: Weitere Fraktionswechsel noch möglich. 1 Noch keine Frak- mermans überraschend stärkste Kraft werden. Nach tionszuordnung. jüngsten Wahlen konnten zudem sozialdemokratische Quelle: Europe Elects, Stand vom 13.6.2019. Parteien Regierungen in Spanien, Finnland und (voraus- sichtlich) Dänemark gewinnen, sodass die europäischen Sozialdemokraten ihren Negativtrend insgesamt – auf niedrigem Level – stoppen konnten. schen Präsidenten Macrons, dessen Gruppe sich nach langem Zögern der ALDE angeschlossen hat. Mitte Juni Es bleibt aber festzuhalten: Gemeinsam stellen EVP und 2019 hat sich die Gruppe in „Renew Europe“ umbenannt S&D nur 43,8 % der Abgeordneten und sind daher weit und verhandelt noch über weitere Zuwächse. Durch die von ihrer früheren absoluten Mehrheit entfernt. Für alle stärkere Präsenz im Europäischen Rat – gerade durch Entscheidungen im Europäischen Parlament ist daher Macron – ist die ALDE/Renew Europe damit zu einem nunmehr die Zusammenarbeit von mindestens drei Frak- echten Machtfaktor in der europäischen Politik geworden. tionen erforderlich. Der zweite große Gewinner der Europawahl 2019 waren Von dieser Situation können vor allem zwei europäische die Grünen, die im Europäischen Parlament gemeinsam Parteien profitieren: Die liberale ALDE und/oder die eu- mit regionalistischen Parteien in der Grünen/Europäi- ropäischen Grünen. Die ALDE war schon in der letzten sche-Frei-Allianz-(EFA)-Fraktion sitzen. Sie konnten ihren Legislaturperiode in einer Position zwischen Königsma- Sitzanteil von 50 auf 78 Abgeordnete (10,4 %) steigern cher und fünftem Rad am Wagen der großen Koalition. und sind aktuell noch vor den EU-Skeptikern viert-stärks- Als viertgrößte Fraktion mit 67 Abgeordneten konnte sie te Kraft. Die Zuwächse der Grünen beschränken sich etwa in Personalentscheidungen von EVP und S&D über- aber weitgehend auf West- und Nordeuropa, allein deut- gangen werden, sich in Sachfragen aber immer wieder sche Abgeordnete der Grünen und drei kleinerer Partei- als Zünglein an der Waage zwischen den beiden großen en (ÖDP, Die Partei, Piraten) stellen gemeinsam 25 der 78 Fraktionen durchsetzen. So konnte sie 88 % der Abstim- Abgeordneten der Grünen/EFA-Fraktion. Anders als die mungen im Europäischen Parlament gewinnen, das ist ALDE-Parteien führen grüne Parteien (bis dato) in keinem mehr als die EVP und die S&D. Im neuen Parlament ist die EU-Staat die Regierung an, sodass die europäischen ALDE der erste große Gewinner und konnte ihre Sitze auf Grünen nicht direkt im Europäischen Rat vertreten sind. 113 (15,1 %) erweitern. Sie ist damit klar zur drittstärksten Sie haben daher vor allem einen gestiegenen Einfluss auf Kraft aufgestiegen. Dies verdankt die ALDE vor allem ei- Sachfragen im Europäischen Parlament, Renew Europe ner Zusammenarbeit mit der LREM-Partei des französi- dürfte aber eher zum dritten Machtfaktor auf europäi- ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft 385
Zeitgespräch scher Ebene aufsteigen als die Grünen. Die Europäische sammensetzung noch ändern kann. Die EFDD hat sich Linke (GUE/NGL-Fraktion) hat von 52 auf 41 Sitze etwa vorerst aufgelöst. In der aktuellen Zusammensetzung ein Fünftel ihrer Abgeordneten verloren und wird für die wäre die ID mit 73 Abgeordneten fünftgrößte Fraktion Machtbalance im Europäischen Parlament voraussicht- knapp hinter den Grünen/EFA, die EKR mit 63 Abge- lich keine Rolle spielen. ordneten noch kleiner. Den Ton im Europäischen Par- lament werden daher weiterhin die vier großen pro- (K)ein Siegeszug der EU-Gegner europäischen Fraktionen angeben. Stark im Fokus im Vorfeld der Wahlen waren EU-skepti- • Auf der anderen Seite waren EU-skeptische Partei- sche Gruppierungen. Nicht zuletzt Stephen Bannon, frü- en aber in vier der sechs größten EU-Staaten jeweils herer Berater von US-Präsident Trump, machte Schlag- stärkste Kraft – in Italien (Lega, 34,3 %), in Frankreich zeilen mit seiner Ankündigung, EU-skeptische Parteien (RN, 23,3 %), in Großbritannien (The Brexit Party, vereinen und zur stärksten Fraktion im Europäischen 30,7 %) und in Polen (PiS, 45,4 %), wobei letztere deut- Parlament machen zu wollen. Dieses Ziel ist klar verfehlt lich moderater als die ersten drei ist. Insbesondere worden. Dennoch gibt es zwei unterschiedliche Perspek- in zentralen EU-Staaten werden EU-skeptische Par- tiven, die Erfolge EU-skeptischer Parteien bei den Wah- teien also nationale Politik stark mitbestimmen. Hin- len zum Europäischen Parlament 2019 zu betrachten: zukommt, dass innerhalb des EU-skeptischen Spek- trums eine Verschiebung hin zu den Extremen statt- • Auf der einen Seite ist der große Siegeszug ausge- gefunden hat. Die moderatere EKR-Fraktion, die in der blieben. Schon in der ablaufenden Legislaturperio- Vergangenheit in Sachfragen konstruktiv im Europäi- de konnten EU-skeptische Parteien 20,6 % der Sitze schen Parlament mitgearbeitet hat, musste Einbußen hinter sich vereinen. Aber sie waren in drei Fraktionen hinnehmen, während die fundamental EU-kritischen gespalten: Der moderat EU-skeptischen Fraktion der Parteien in der ENF bzw. jetzt ID-Fraktion an Sitzen Europäischen Konservativen und Reformer (EKR), die und Einfluss gewonnen hat. zwar weitere EU-Integration ablehnen, aber etwa am Binnenmarkt festhalten wollen, der Fraktion Europa Sonderfall Großbritannien und die Auswirkungen des der Freiheit und Direkten Demokratie (EFDD), ange- Brexits führt von der UK Independence Party von Nigel Fa- rage und der italienischen Fünf-Sterne-Bewegung, Ein Sonderfall stellt bei den Wahlen und auch der wei- sowie zuletzt die nationalistische Fraktion Europa teren Einschätzung der Sitzverteilung im Europäischen der Nationen und Freiheit (ENF) um die französische Parlament der Brexit dar. Nach zweifacher Verlängerung Rassemblement Nationale (früher: Front National) von ist der britische Austritt aus der EU aktuell für den 31. Ok- Marine Le Pen und die italienische Lega von Matteo tober 2019 geplant. Bis dahin bleibt Großbritannien Mit- Salvini. Vor der Wahl war das erklärte Ziel etwa von glied der EU mit allen Rechten und Pflichten. Fast drei Salvini, diese verschiedenen Strömungen zu vereinen Jahre nach dem ursprünglichen Brexit-Votum hat sich und auch noch Parteien wie die Fidesz von Viktor Or- das Land verpflichtet, als Teil der Einigung über die Ver- ban aus der EVP für sich zu gewinnen. Nach der Wahl längerung, im Mai 2019 die Wahlen zum Europäischen hingegen ist beides ausgeblieben: Zum einen blieben Parlament durchzuführen, auch wenn die gewählten die Zugewinne von EU-skeptischen Parteien insge- Abgeordneten potenziell nur wenige Monate im Europä- samt moderat. Die italienische Lega ausgenommen ischen Parlament sitzen werden. Nach angekündigtem konnten viele EU-skeptische Parteien ihre Sitze im Rücktritt von Theresa May als Premierministerin und Vergleich zu 2014 nicht substanziell vergrößern, ge- der fortgesetzten Blockade im britischen Parlament sind meinsam kommen sie nunmehr auf 24 % der Sitze. weiterhin alle Optionen offen – ein Austritt mit Abkom- Vor allem ist es ihnen aber bisher nicht gelungen, eine men im Oktober, ein ungeordneter No-Deal-Brexit oder gemeinsame Fraktion aufzubauen. Zu unterschiedlich weitere Verlängerung(en). sind die Positionen etwa in Bezug auf die Zukunft der EU, Migrationspolitik oder gegenüber Russland. So Wie für die EU insgesamt bedeutet diese Situation auch gibt es auch weiterhin mindestens zwei EU-skeptische für das Europäische Parlament zusätzliche Unsicherheit. Fraktionen, den EKR sowie die neu gegründete Frak- Sobald Großbritannien die EU verlässt – ob mit oder oh- tion Identität und Demokratie (ID), der Nachfolger der ne Abkommen – müssen auch die britischen Abgeordne- ENF. Die neue „Brexit Party“ von Nigel Farage und die ten das Europäische Parlament verlassen. Hinzu kommt, italienische Fünf-Sterne-Bewegung, zwei der größten dass die 73 britischen Sitze mit Aussicht auf den geplan- nationalen Gruppen im Europäischen Parlament, ha- ten Brexit im März 2019 bereits zum Teil weiter verteilt ben noch keine Fraktion gewählt, sodass sich die Zu- wurden. 27 Sitze wurden auf verschiedene Mitgliedstaa- Wirtschaftsdienst 2019 | 6 386
Zeitgespräch ten verteilt, um die Repräsentanz im Europäischen Parla- haben diese vier Parteien im Juni 2019 eine Art Koaliti- ment zu verbessern, 46 sollen freigehalten werden. Diese onsgespräch begonnen, um eine politische Basis für eine 27 Abgeordnete wurden nun mitgewählt, werden ihren gemeinsame Mehrheit auszuhandeln. Sitz aber erst bekommen, sobald bzw. falls Großbritanni- en die EU verlässt. Das Parlament insgesamt würde da- Der erste Test für diese Zusammenarbeit wird die Beset- mit von 751 auf 705 Abgeordnete verkleinert. zung der EU-Führungspositionen über den Sommer 2019 sein. Zu Beginn des neuen institutionellen Zyklus der Die damit verbundenen Verschiebungen werden die EU müssen gleich fünf Positionen neu besetzt werden: Machtverhältnisse im Europäischen Parlament zwar Die Präsidentin bzw. der Präsident von EU-Kommission, nicht entscheidend, aber dennoch spürbar beeinflussen. Europäischem Rat, Europäischer Zentralbank, Europäi- Größter relativer Gewinner eines Brexits wäre die EVP, schem Parlament sowie der oder die Hohe Vertreterin der da sie seit Austritt der britischen Konservativen 2009 EU für Außen- und Sicherheitspolitik. Um die Besetzung keine Partei mehr in Großbritannien hat; ihr Sitzanteil dieser Posten ranken sich gleich drei parallele Macht- würde von 24,4 % auf 26,5 % steigen. Die S&D könnte kämpfe in der EU: ihre Stellung ungefähr halten; auch nach dem Brexit ver- fehlen beide Fraktionen eine gemeinsame Mehrheit klar. Der erste Machtkampf findet zwischen den Parteien im Renew Europe (-11 Sitze) und die Grünen/EFA (-6 Sitze) Europäischen Parlament statt, wer von ihnen eine Mehr- müssen hingegen Einbußen hinnehmen. Größte Auswir- heit organisieren kann. 2014 war die Situation noch klar: kungen gibt es im EU-skeptischen Spektrum, in dem die Die EVP war stärkste Kraft, und gemeinsam mit der S&D aktuell noch unabhängige Brexit Party (29 Sitze) weg- hatte sie eine absolute Mehrheit. Nun verhandeln die vier fällt, während die fundamental EU-skeptische ID durch größten Fraktionen, EVP, S&D, Renew Europe und Grü- die Nachbesetzungen voraussichtlich noch einmal vier ne/EFA über ein gemeinsames Programm. Die EVP ist Abgeordnete gewinnt und an den Grünen vorbei zieht. dabei zwar wieder die größte Fraktion, gemeinsam ha- Insgesamt wäre das EU-skeptische Spektrum aber ben die anderen pro-europäischen Fraktionen links der durch den Wegfall der Brexit Party nach dem Brexit mit Mitte aber mehr Abgeordnete. Hier ist noch völlig offen, 21,8 % wieder fast auf dem Niveau der letzten Legisla- ob man sich auch auf ein gemeinsames Programm oder turperiode. ausschließlich auf einen bzw. eine gemeinsame Kandida- tin für das Amt des Kommissionspräsidenten einigt, und Bleibt es beim Brexit zum 31. Oktober 2019, so werden dann je nach Sachfrage wechselnde Mehrheiten verhan- die britischen Abgeordneten nur begrenzten Einfluss delt werden. nehmen können. In dieser Zeit stehen „nur“ die Wahl des Kommissionspräsidenten bzw. der -präsidentin und der Der zweite Machtkampf findet zwischen Parlament und EU-Kommission an. Sollte der Brexit aber noch einmal den Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat verschoben werden, werden die britischen Abgeordne- statt. Gemäß Art. 17 des EU-Vertrags wird der Kommis- ten auch wieder an wichtigen Sach- und Haushaltsent- sionspräsident bzw. die Kommissionspräsidentin zwar scheidungen beteiligt sein. vom Parlament gewählt, allerdings auf Vorschlag des Europäischen Rats. Dieser muss dabei das Ergebnis der Drei Machtkämpfe über die zukünftige EU Europawahl berücksichtigen. Die europäischen Parteien haben 2014 erstmals eigene Spitzenkandidaten aufge- Aus dieser Gemengelage ergibt sich ein komplexes Bild stellt und sich das Europäische Parlament mit der Sicht- über die zukünftige politische Ausrichtung der EU. Blickt weise durchgesetzt, dass der Spitzenkandidat der dann man auf die Mehrheitsverhältnisse im Europäischen Par- größten Fraktion, Jean-Claude Juncker von der EVP, lament, so ist zunächst klar, dass es keine EU-skepti- Kommissionspräsident werden sollte. Bereits im Vorfeld sche Mehrheit gibt. Aber nicht nur die informelle große der Wahlen haben die Staats- und Regierungschefs aber Koalition von EVP und S&D hat ihre Mehrheit verloren, deutlich gemacht, dass es für 2019 keinen „Automatis- auch links und rechts der Mitte ist keine eigene Mehrheit mus“ gäbe, einen der Spitzenkandidaten zu nominieren. möglich, selbst falls links der Mitte S&D, Renew Europe, Angesichts der unklaren Mehrheitsverhältnisse, bei der Grüne/EFA und sogar Europäische Linke (GUE/NGL) zu- keine Partei für sich in Anspruch nehmen kann, die Wah- sammenarbeiten würden oder die EVP mit den EU-skep- len gewonnen zu haben, entfaltet sich nun auch ein die tischen Parteien rechts von ihr gemeinsam abstimmen Institutionen übergreifender Machtkampf. So lehnt bei- würde. Eine stabile Mehrheit erfordert daher eine Zu- spielsweise der französische Präsident Macron das Spit- sammenarbeit von mindestens drei Fraktionen, am wahr- zenkandidatenprinzip ab, und hat für die Ablehnung auch scheinlichsten wieder EVP und S&D plus Renew Europe die erstarkte Renew-Europe-Fraktion gewonnen. Die und/oder Grüne/EFA. Erstmals in der Entwicklung der EU EVP hingegen fordert das Amt des Kommissionspräsi- ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft 387
Zeitgespräch denten für ihren Spitzenkandidaten Manfred Weber, und Ausblick wird dabei unter anderem von der deutschen Bundes- kanzlerin Merkel unterstützt. Die Europawahlen haben das politische Gefüge in der EU nachhaltig verändert und ihre Auswirkungen werden noch Der dritte Machtkampf findet zwischen den Mitgliedstaa- lange in der Politik nachhallen. Die beiden großen europä- ten selbst statt, die jeweils daran interessiert sind, ihrem ischen Parteienfamilien haben ihre absolute Mehrheit ver- Einfluss möglichst umfassend Geltung zu verschaffen. So loren. Dafür gibt es aber zumindest übergreifend keinen fordern beispielsweise die Visegrád-Staaten, dass min- Siegeszug der EU-Skeptiker, sondern ein fragmentierte- destens eine der Führungspositionen an eine Person aus res Europäisches Parlament, in dem Liberale und Grüne Mittel- und Osteuropa gehen sollte, während zwischen an der Mehrheitsbildung beteiligt werden müssen. Das Deutschland und Frankreich nicht nur die Besetzung der nächste EU-Führungsteam wird daher auch partei-poli- Kommissionsspitze, sondern auch die Nachfolge von tisch bunter und die Verhandlungen über die europäische EZB-Präsident Mario Draghi strittig ist. Gesetzgebung noch komplexer werden. Daniel Gros Hat die Europäische Union jetzt eine echte Volksvertretung? Die Wahl zum Europäischen Parlament der letzten Mai- wesentlich an Terrain gewonnen haben. Mit einer Aus- Woche 2019 hat eine Reihe von Überraschungen ge- nahme (Italien) haben sie in vielen Fällen sehr viel weniger bracht. Die erste, vielleicht wichtigste Überraschung war, Stimmen erreicht, als ursprünglich erwartet. Dies gilt für dass es in Europa eine „stille Mehrheit“ gibt, eine pro- Deutschland, wo die AfD nicht zulegen konnte, und auch europäische. Meinungsumfragen haben seit einiger Zeit für Frankreich, wo Le Pen zwar knapp mehr Stimmen als gezeigt, dass das Vertrauen in die EU und ihre Institutio- Präsident Macron, aber immer noch weniger als sie bei nen in den letzten Jahren stark angestiegen ist und eine der letzten Europawahl von 2014 erreichen konnte. historisch hohen Stand erreicht hat. Dies musste jedoch durch Wahlen bestätigt werden. Die Wahlbeteiligung ist Das pro-europäische Zentrum hat also seine Position in um fast ein Fünftel gestiegen und liegt europaweit bei etwa gehalten; es ist aber zunehmend zersplittert. Im Eu- 50 %; in Deutschland sogar leicht über 60 %. Dies ist im- ropäischen Parlament ist nunmehr eine Koalition von min- mer noch weniger als für die meisten nationalen Wahlen, destens drei Parteien für eine Mehrheit erforderlich. Dies aber mehr als die Beteiligung an den (Zwischen-)Wahlen spiegelt die Ergebnisse auf nationaler Ebene gut wider: zum US-amerikanischen Parlament (Congress). In vielen Ländern, so auch in Deutschland, erhielten die beiden größten Parteien zusammen weit weniger als die Wahlen zum Europäischen Parlament galten früher als Hälfte der Stimmen. Wahlen zweiter Ordnung (nationale Wahlen als die erster Ordnung). Vielleicht könnte man jetzt die Wahlen zum Eu- Innerhalb des Europäischen Parlaments wird die derzei- ropäischen Parlament als „1,5. Ordnung“ betrachten. Die tige „informelle“ große Koalition der „pro-europäischen“ Verwendung der Mehrzahl „Wahlen“ ist weiterhin ange- Parteien weiterhin dominieren. Sie verfügt immer noch messen, da die Wahlkämpfe in den verschiedenen Mit- über ca. zwei Drittel aller Abgeordneten. Dies bedeutet gliedsländern ganz unterschiedlich verlaufen sind und die Stabilität, aber auch eine Gefahr. Wie bei jeder „großen Ergebnisse weitestgehend vom nationalen Kontext be- Koalition“ besteht das Risiko darin, dass die Wähler den stimmt wurden. Dies sollte nicht überraschen. Es bestä- Eindruck haben, dass sich die Politik, unabhängig von der tigt das alte Sprichwort: „Alle Politik ist lokal“. Die „euro- Partei, für die sie stimmen, nicht ändert. päische Frage“ fehlte jedoch nicht ganz. In vielen Ländern spielten europäische Themen eine wichtige Rolle und re- Ein drittes wichtiges, aber vielleicht weniger überraschen- levante tagespolitische Themen wurden zunehmend in ei- des Ergebnis ist, dass die entscheidende Trennlinie in den nen europäischen Kontext gestellt. Dies gilt insbesondere meisten Ländern nicht mehr zwischen rechts und links für Umweltfragen und Migration. verläuft, sondern vielmehr beim Thema Migration und Einwanderung. Dies ist ein hoch emotionales Thema, das Eine zweite Überraschung ist, dass die verschiedenen die EU in eine schwierige Situation bringt. Generell steht populistischen und „Euro-skeptischen“ Parteien nicht die europäische Integration für offene Grenzen, was es Wirtschaftsdienst 2019 | 6 388
Zeitgespräch Abbildung 1 Wahlen zum Europäischen Parlament 2019 Abbildung 1a Abbildung 1b Das Gewicht der großen Fraktionen im Europäischen Tatsächliche und proportionale Sitzverteilung Parlament: Tatsächliche und proportionale Verteilung % der Abgeordneten Aktuelle Sitze minus Sitze einer fiktiven europäischen Liste 25 60 Proportionales Gewicht Tatsächliches Gewicht 50 20 40 30 15 20 10 10 0 5 -10 -20 0 -30 P D R + L DD P re FA P D R + L DD P re FA G DE EV N EC S& G DE EV N EK de S& de /E N EA /E EF N EA EF AL An E/ AL An ne E/ ne F/ F/ U U rü rü I& EN I& EN G G G G N N e, e, eu eu N N EVP = Europäische Volkspartei, S&D = Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament, ECR = Fraktion der Europä- ischen Konservativen und Reformer, ALDE+ = Fraktion der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa, GUE/NGL = Konföderale Fraktion der Ver- einten Europäischen Linken/Nordischen Grünen Linken, Grüne/EFA = Fraktion Die Grünen/Europäische Freie Allianz, EFDD = Europa der Freiheit und der direkten Demokratie, EANP = Europäische Allianz der Völker und Nationen, NI = Fraktionslose. Quelle: eigene Berechnungen auf Grundlage der amtlichen Wahlergebnisse (Europäisches Parlament). den Pro-Europäern instinktiv erschwert, Zäune zu errich- sein, in dem die EU-Binnenwanderung nicht als anders ten. Aber genau dies scheint die Bevölkerung in einigen und weitaus akzeptabler angesehen wird als die Einwan- Ländern zu fordern. derung aus Drittländern. Es bleibt aber ein grundsätzli- ches Problem, das besonders in Deutschland oft als ein Europäische Identität Hindernis auf dem Weg des Europäischen Parlaments zu einer vollwertigen Vertretung des europäischen Volkes Hier scheint sich im Ansatz eine „europäische Identität“ angesehen wird. zu entwickeln. Es ist in erster Linie die Einwanderung von außerhalb der EU, also die Flüchtlinge aus der arabischen Degressive Proportionalität oder islamischen Welt, gegen die sich das Unbehagen in der Bevölkerung richtet. Das „wir“ gegen „sie“ ist somit Die Zahl der Sitze im Europäischen Parlament, die in je- implizit europäisiert worden. Es bedeutet zunehmend, dem Mitgliedstaat zur Wahl stehen, folgt dem Grundsatz „wir Europäer“, gegen „sie, die Nicht-Europäer“. Nur we- der „degressiven Proportionalität“. Dieses Oxymoron nige der rechten Parteien spielen noch die Karte: „Wir, bedeutet, dass die Zahl der Personen, die einen Abge- aus diesem Land (Deutsche, Franzosen)“ gegen „sie, al- ordneten wählen können, in den kleineren Mitgliedstaaten le anderen“. Die erfolgreicheren Populisten setzen sich geringer ist. Für die großen Mitgliedstaaten wie Deutsch- jetzt implizit für ein „stärkeres Europa“ ein. Für sie be- land, Italien oder Frankreich beträgt das Verhältnis von deutet dies ein Europa mit Zäunen, aber es ist interes- Abgeordneten zur Bevölkerung etwa 1 zu 800 000. Das sant, dass sie den Zaun im Großen und Ganzen an der andere Extrem sind die kleinsten Mitgliedstaaten mit we- europäischen Außengrenze und nicht an den nationalen niger als einer halben Million Einwohnern und immer noch Grenzen errichten wollen. Großbritannien stellt hier eine 6 Abgeordneten, was dazu führt, dass weniger als 100 000 Ausnahme dar. Es scheint das einzige wichtige Land zu Personen einen Abgeordneten wählen. Eine Stimme in ei- ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft 389
Zeitgespräch nem kleinen Land kann also etwa zehnmal so viel wiegen Die Diskrepanz zwischen den erhaltenen Stimmen und der wie eine Stimme in einem großen Land. Besonders das Zahl der Abgeordneten ist besonders groß für die nächs- Bundesverfassungsgericht hat in einem wichtigen Urteil ten beiden wichtigen Fraktionen, nämlich die Liberalen die demokratische Legitimierung des Europäischen Par- (ALDE) und die Grünen (Greens): Die ersteren haben viel laments deswegen infrage gestellt. mehr Abgeordnete in Straßburg, aber weniger Stimmen. Die genaue Zusammensetzung der Faktionen ist noch Eine erste Frage, die man stellen kann, ist nach den nicht vollständig geklärt, doch ALDE zählt derzeit etwa konkreten Auswirkungen dieser „degressiven Proporti- 110 Abgeordnete, gegenüber nur etwa 70 für die Grünen. onalität“. Sie bedeutet, dass in kleineren Mitgliedstaa- Bei der Gesamtzahl der Stimmen ist das Verhältnis umge- ten erfolgreichere Parteien im Europäischen Parlament kehrt: Die mit ALDE verbundenen Parteien erhielten eu- tendenziell überrepräsentiert sind: Sie werden mehr Ab- ropaweit nur etwa 12,5 Mio. Stimmen, gegenüber fast 20 geordnete haben, als ihr Anteil an der Gesamtzahl der Mio. für die Grünen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass abgegebenen Stimmen rechtfertigen würde. Hat dieser die Grünen in kleineren Ländern tendenziell schwächer Mechanismus die Zusammensetzung des Europäischen sind. Sie haben in 13 (meist kleinen Mitgliedstaaten) keine Parlaments maßgeblich beeinflusst? Sitze erhalten, und ein großer Teil ihrer Stimmen kam von ihrem großen Erfolg in Deutschland, wo für einen Abge- Für eine Antwort kann man die Zahl der Abgeordneten, ordneten viele Stimmen nötig sind. Die Liberalen dagegen welche die großen politischen Parteien(-Familien) erreicht erzielten Sitze in fast allen (25) Mitgliedstaaten. Wenn es haben, mit der Zahl der Abgeordneten vergleichen, die sie europäische Listen gäbe, hätten die Grünen mehr Abge- erhalten hätten, wenn es nur europaweite Listen gegeben ordnete (88) als die Liberalen (56). hätte. In diesem Fall hätte jeder Wähler das gleiche Ge- wicht, unabhängig davon, ob er oder sie in einem kleinen Die große Diskrepanz zwischen der relativen Stärke in oder großen Land wohnt. Die Abbildung 1a zeigt für jede Bezug auf die Gesamtstimmen und den Abgeordneten der wichtigsten Parteienfamilien oder Fraktionen das Ge- im Europäischen Parlament zwischen den Grünen und wicht im Europäischen Parlament (d. h. der prozentuale den Liberalen ist auch auf die sehr unterschiedliche Anteil der Abgeordneten dieser Gruppe im Verhältnis zur Wahlbeteiligung in verschiedenen Ländern zurückzu- Gesamtzahl von 751) sowie den Anteil an der Gesamtzahl führen. Bei geringer Beteiligung sind weniger Stimmen der europaweit abgegebenen Stimmen. In Abbildung 1b ist pro MdEP erforderlich. Die geringe Zahl der Europa-Ab- dann wiederum für die größeren Fraktionen nur die Diffe- geordneten der Grünen ist auch darauf zurückzuführen, renz zwischen der tatsächlichen Zahl der Abgeordneten dass die Grünen die meisten Stimmen in einem großen und der Zuteilung dargestellt, die sich aus dem Anteil an Land mit hoher Wahlbeteiligung (Deutschland) erhalten der Gesamtzahl der abgegebenen Stimmen ergeben hätte. haben. Im Gegensatz dazu erzielten die Liberalen in ei- nigen kleinen Ländern mit geringer Wahlbeteiligung gute Die erste Abbildung zeigt nur kleinere Veränderungen bei Ergebnisse. den großen politischen Parteien. Die EVP ist die Partei mit der größten Zahl von Sitzen, 181 gegenüber 160 für die Demokratische Legitimität des Europäischen nächstgrößere Partei, die Sozialisten (S&D). In Bezug auf Parlaments die Gesamtzahl der abgegebenen Stimmen ist der Ab- stand jedoch sehr gering. Die EVP (bzw. die der EVP an- Die Abweichung von dem Prinzip „ein Mann, eine Stim- geschlossenen Paritäten) erhielt rund 23 % aller Stimmen, me“ hat also einen gewissen Einfluss auf die Zusam- gegenüber 21,5 % für die S&D. Wäre die Zahl der Abge- mensetzung des Europäischen Parlaments gehabt. Dies ordneten proportional zu den gesamten Wählerstimmen, impliziert aber nicht sofort, dass das Europäische Par- würde der Unterschied zwischen der EVP und der S & D lament nicht demokratisch legitimiert ist. Das Prinzip auf weniger als 10 Abgeordnete schrumpfen. Dies kommt „degressive Proportionalität“ beruht auf der doppelten daher, dass die EVP in vielen kleinen Ländern stärker ist, Legitimität der EU, also sowohl einer Union gleicherma- während die S&D in einigen wenigen großen Ländern ßen souveräner Staaten als auch einer Union der Völker. (Spanien, Italien, Großbritannien) einen großen Teil ihrer Diese doppelte politische Grundlage spiegelt sich auch Stimmen erhielt. Wenn das ungarische Mitglied der EVP direkt in den Abstimmungsregeln des Europäischen Ra- (Fidesz) die Fraktion in Straßburg verlassen würde, würde tes wider, die eine doppelte Mehrheit in Bezug auf die die EVP über 10 Mitglieder des Europäischen Parlaments Zahl der Mitgliedstaaten und auf die Bevölkerungszahl (MdEP) verlieren, aber nur wenige Wählerstimmen, da Un- erfordern. garn ein kleines Land ist. Die Zahl der Abgeordneten einer „EVP ohne Fidesz“ würde ihren Anteil an der Volksabstim- Die entscheidende Frage ist aber nicht die theoretische mung besser widerspiegeln. Grundlage der demokratischen Legitimität des Europäi- Wirtschaftsdienst 2019 | 6 390
Sie können auch lesen