Neuartige modulare Geh orthese zur leistungsfähigen Korrektur von Gangabweichungen bei neurologisch bedingten Gehstörungen
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Orthetik J.-H. Schröder, G. A. Barandun, P. Leimer, R. Morand, B. Göpfert, E. Rutz Neuartige modulare Gehorthese zur leistungsfähigen Korrektur von Gangabweichungen bei neurologisch bedingten Gehstörungen Novel Modular Walking Orthosis for Powerful Correction of Gait Deviations with a Neurological Cause Die Orthesenversorgung von Men devices more efficiently in a multi der Fortbewegung nur reduziert oder schen mit Lähmungen, insbesonde disciplinary team. gar nicht mehr unterstützen. Die Ur- re bei Zerebralparese, ist komplex. sache dafür liegt häufig in komplet- Der Artikel stellt in diesem Zusam Key words: pes equinus, drop foot, ten oder inkompletten Lähmungen menhang ein neuartiges integrier cerebral palsy, hemiplegia, neuro- in Verbindung mit Spastizität und/ tes Versorgungskonzept vor, bei orthopaedics, simulation technique, oder Gelenkkontrakturen. Aus medi- dem mittels fortschrittlicher Tech FEM, carbon spring, digital manufac- zinischer Sicht gilt es dabei zwischen nologien innerhalb einer komplett turing, 3D printing, ankle-foot orthosis schlaffen und spastischen Lähmun- digitalen Prozesskette eine modula gen zu unterscheiden. In Bezug auf re Orthese produziert wird, bei der Besondere Heraus den Gangzyklus wirkt sich dies in der von vornherein alle Parameter für Regel wie folgt aus: den jeweiligen Versorgungsfall be forderungen der orthe- rücksichtigt werden. Aus Sicht der tischen Versorgung bei – Problem in der Standphase (in der Autoren sind solche neuen Versor Lähmungen Regel durch Spastizität mit ver- gungskonzepte vielversprechend mehrter Aktivität der Plantarfle- und werden helfen, eine effizientere Die Anpassung bedarfsgerechter or- xoren und daraus resultierendem Versorgung in einem multidiszipli thopädietechnischer Hilfsmittel er- Spitzfuß) oder nären Team zu erstellen. fordert ein systematisches Vorgehen. – Problem in der Schwungphase In der Beinprothetik wird diesem Er- (in der Regel durch eine Schwäche Schlüsselwörter: Spitzfuß, Fallfuß, fordernis seit Jahren entsprochen und bzw. Lähmung der Dorsalextenso- Zerebralparese, Hemiplegie, Neuro ein großer technischer und finanziel- ren im Oberen Sprunggelenk und orthopädie, Simulationstechnik, FEM, ler Aufwand getrieben – sowohl sei- daraus resultierendem Fallfuß). Carbonfeder, Digitale Fertigung, tens der Forschung als auch der In- 3D-Druck, Unterschenkelorthese dustrie. Die biomechanischen Eigen- Das Ziel jeder Orthesenversorgung schaften der prothetischen Passteile eines Patienten mit neurologisch be- Fitting orthoses for people with pa wurden in den vergangenen Jahr- dingten Gehstörungen sollte die Ver- ralysis, especially those with cere zehnten immer klarer definiert; da- besserung oder sogar Wiederherstel- bral palsy, is complex. This article durch können sie exakt auf das jewei- lung der physiologischen Geh- und presents an innovative integrated lige Amputationsniveau der zu Versor- Stehfähigkeit sein. Dabei gilt es zwi- concept for this in which a modular genden, ihr Gewicht, ihre Aktivitäten schen Stand- und Schwungphasen- orthosis is produced using advanced und die Einsatzbereiche der Prothese problematik zu unterscheiden, weil technologies within a completely zugeschnitten werden. sich dies auf die Konzeption der Or- digital process chain, for which all Die orthetische Versorgung hin- these und deren Funktionen ent- parameters for the respective case gegen steht vor komplexeren Heraus- scheidend auswirkt. Um hierüber ge- are taken into consideration from forderungen: Die zu versorgende Ex- naue Entscheidungen treffen zu kön- the start. The authors believe that tremität ist im Unterschied zur Am- nen, sind eine adäquate Anamnese new treatment concepts such as this putation zwar weiterhin vorhanden, und Diagnose wichtig. Dazu im Ein- are promising and will help provide kann aber die eigentliche Funktion zelnen: 2 ORTHOPÄDIE TECHNIK 04/22
Orthetik Anamnese Das Ergebnis hängt dabei aber im rungen unterstützen – und zwar in- Wesentlichen von der Erfahrung des nerhalb einer digitalen Prozesskette Um die erforderlichen Funktionen ei- jeweiligen Technikers ab. Dabei lässt von der Begutachtung und Planung ner Orthese genau festlegen zu kön- sich nur schwer beurteilen, ob die über die Abgabe der Orthese bis hin nen, ist eine exakte Anamnese und betroffene Person wirklich optimal zur engmaschigen Nachkontrolle und eine genaue körperliche Untersu- versorgt wird. Wünschenswert wäre lückenlosen Dokumentation. chung der betroffenen Person durch es, wenn es ein Versorgungssystem Ein solches Konzept wird ermög- das Versorgungsteam unabdingbar. auf der Grundlage objektiver Daten licht durch die Nutzung des sogenann- Dabei ist die Untersuchung folgender gäbe, bei dem alle Lösungen im Prin- ten „Machine Learning“, mit dem die Aspekte besonders wichtig: zip die gleiche Qualität aufweisen, Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge unabhängig vom Versorgenden und bei einer Versorgung automatisch – motorische Ausfälle, passend für die jeweiligen Anforde- erkannt und simuliert werden kön- – nutzbare Restfunktion der Musku- rungen. nen [2] (Abb. 1). Ein System basie- latur, rend auf dieser Technologie ist das – Freiheitsgrade der Gelenke und „Mowa“ – ein systema- „Mowa“-Konzept („Modular Wal- – Achsabweichungen des Knie- bzw. king“), das während der letzten fünf Knöchelgelenkes. tisches Versorgungskon- Jahre entwickelt wurde und zurzeit zept zur digitalen Erstel- (Stand: März 2022) europaweit einge- Zudem müssen die speziellen Cha- lung wirksamer Orthesen führt wird. Das System wurde anhand rakteristika, Bedürfnisse und Fähig- von Daten aus Patientenanalysen und keiten der betroffenen Person erfasst Nach der Überzeugung der Autoren aus Verlaufsdokumentationen bezüg- werden; für einen Hemiplegie-Pati- liegt die Zukunft der Orthetik auf- lich der Klassifizierung und Erstellung enten beispielsweise gilt, dass er seine grund der vielen zu berücksichtigen- von Orthesen gleichsam „angelernt“. Unterschenkelorthese nur mit einer den Faktoren in einer möglichst weit- Die genutzten Daten stammen von Hand anziehen und schließen kön- gehenden Verzahnung der Produkti- Kunden der Orthopunkt AG und der nen muss. Solche speziellen Anforde- on mit moderner Informations- und Mowa Healthcare AG, die der Analyse rungen geben wichtige Hinweise für Kommunikationstechnik; in solchen ihrer Daten zustimmten. das zukünftige Orthesendesign. Zusammenhängen wird häufig der Durch Auswertung der vom Tech- Begriff „Industrie 4.0“ verwendet. niker am jeweiligen Patienten erho- Diagnostik Bezogen auf eine Orthesenver- benen Daten kann das System eine Goldstandard für die Diagnostik einer sorgung bei neurologisch bedingten konkrete Versorgungsempfehlung Gangstörung ist eine dreidimensiona- Gehstörungen müsste ein solches erstellen und die entsprechende Pro- le Ganganalyse, die jedoch nicht im- Konzept also die interdisziplinären duktionsvorlage erzeugen. Die Orthe- mer verfügbar ist. Dabei können die Versorgerteams bei der Erstellung se wird dann aus einer Kombination exakten Gelenkwinkel in allen drei orthetischer Hilfsmittel für Patientin- vorgefertigter Spezialpassteile mit in- Ebenen gemessen und die dazugehö- nen und Patienten jeder Altersgruppe dividuell per 3D-Druck gefertigten rigen Kräfte berechnet werden. mit neurologisch bedingten Gehstö- Elementen in modularer Form gefer- Problemstellung Aktuell existieren Orthesen am Markt in unterschiedlichsten Ausführun- gen, die abhängig vom Design und vom Material verschiedene Unterstüt- zungsstufen bieten. Ein auf wissen- schaftlichen Daten beruhender Kon- sens bezüglich der Auswahl einer zur jeweiligen Indikation passenden Or- thesenausführung existiert im ortho- pädietechnischen Bereich bislang je- doch nicht [1]. Das führt aus der Erfahrung der Autoren heraus oftmals dazu, dass Patienten eher nach einem „Trial- and-Error-Prinzip“ versorgt werden: Entweder sie erhalten eine vorgefer- tigte Orthese, die mehr oder weniger gut passt, oder es wird eine Orthese per Gipsabdruck individuell herge- stellt, deren Ausführung zwar – bei- spielsweise mit oder ohne Gelenk – Abb. 1 Testversorgung im Ganglabor des UKBB und Screenshot des digitalen FEM- auf den Patienten abgestimmt wird. Modells mit Markerübertragung an den Punkten A bis F. 3 ORTHOPÄDIE TECHNIK 04/22
Orthetik Abb. 2 Schematisch dargestellter Versor- gungsablauf mit dem „Mowa“-System. tigt. Das System entstand in Zusam- Aufbau des Systems vorkonfigurierten Carbonteilen in menarbeit zwischen den folgenden verschiedenen Ausführungen und schweizerischen Unternehmen: Um eine vollintegrierte Versorgung Härtegraden (Unterteilung in Er- mit einer Orthese entlang aller Schrit- wachsene und Kinder, rechts und – Orthopunkt AG – Zentrum für te innerhalb einer digitalen Prozess- links, 4 Härtegrade pro Carbon technische Orthopädie, Solothurn kette abwickeln zu können, besteht steg-Größe, 3 Härtegrade pro Sohle, – Mowa Healthcare AG, Solothurn das „Mowa“-System aus mehreren 3 Absatzhöhen, 4 Anlageformen: – Composites Busch SA, Porrentruy Komponenten (Abb. 2): 1. ventral-medial, 2. ventral-lateral, 3. dorsal-medial, 4. dorsal-lateral), Die Forschungsarbeit wurde unter- 1. einem Ganganalyse-Tool, bei dem zum anderen aus individuell per stützt durch Innosuisse – Schweizeri- mit Hilfe von Inertialsensoren die 3D-Druck hergestellten Passteilen, sche Agentur für Innovationsförde- Ausrichtungen der einzelnen Bein- die schließlich vom Techniker mon- rung (Projekt-Nr. 44221.1 IP-LS). segmente mit hauseigener Software tiert und eingestellt werden. geschätzt werden; dies ermöglicht dann die Berechnung der Gelenk- Im Folgenden werden die einzel- winkel zwischen zwei Segmenten nen Elemente des Systems genauer er- während des Laufens; läutert. 2. einem handelsüblichen 3D-Scan- ner (z. B. „Structure Sensor“, „Artec Ganganalyse-Tool und Eva“, „Shining 3D EinScan“) zur Er- fassung des betroffenen Körperteils; 3D-Scanner 3. einer 3D-Shape-Software (CAD- Bei der Bewegung eines Patienten be- Morphing-Software), die die ent- stimmen die Sensoren des Gangana- sprechenden Daten visualisiert und lyse-Tools die auftretenden Beschleu- das Körperteil bemaßt; diese ist nigungen in die drei Raumachsen so- integraler Bestandteil der Simulati- wie die Rotationsbewegungen. Das ons-App; „Mowa“-Ganganalyse-Tool, das auf 4. einer cloudbasierten Plattform als IMU-Technologie (IMU = Inertial Backend, auf der die notwendigen Measurement Unit) basiert, ist zurzeit Kalkulationen auf der Basis eines (Stand: März 2022) in der Entwick- Abgleichs mit entsprechenden Da- lung und wird der Orthopädietechni- tenbanken durchgeführt werden kerin bzw. dem Orthopädietechniker Abb. 3 Schematische Darstellung der und die Orthese konfiguriert wird; erlauben, eine objektive Ganganalyse platzierten Inertialsensoren für das 5. der Produktion der eigentlichen ortsunabhängig durchzuführen, ohne Ganganalyse-Tool von „Mowa“. Orthese, bestehend zum einen aus auf ein Ganglabor angewiesen zu sein 4 ORTHOPÄDIE TECHNIK 04/22
Orthetik (Abb. 3). Des Weiteren kann ein han- delsüblicher 3D-Scanner zum Erfassen des betroffenen Körperteils eingesetzt werden; die daraus erstellten Daten können im Anschluss in den gängigs- ten Scan-Dateiformaten in die App zur automatisierten Weiterverarbeitung geladen werden. 3D-Shape-Software Bei der 3D-Shape-Software handelt es Abb. 4 „Mowa“- sich um eine sogenannte Morphing- Orthese mit ventral- Software. Damit können computer- medialer (1) und generierte Bauteile in Echtzeit anwen- mit dorsal-medialer dungsgerecht an zuvor am Patienten (2) Anlage. erhobene reine Maße oder/und an 3D-Scandaten angepasst werden. Cloudbasierte Plattform ten mit Kauergang empfiehlt die Simu- Schnelle Anpassung bei Mit der cloudbasierten Simulations- lations-App beispielsweise eine vorde- Veränderungen App kann bereits aus den Daten zwei- re Anlage im Orthesendesign. Bei ei- er an derselben Extremität fixierter nem Patienten mit Genu recurvatum Eine Orthese muss so ausgelegt wer- Sensoren der zeitliche Verlauf der wird unter Berücksichtigung aller rele- den, dass nicht nur die mechanischen Gelenkwinkel ermittelt werden. So vanten Faktoren eher eine hintere An- Anforderungen über ihre Lebens kann beispielsweise aus einem Sen- lage empfohlen (Abb. 4). Folgende vier dauer hinweg erfüllt, sondern auch sor am Oberschenkel und einem Anlageformen sind möglich: die Komfortanforderungen der Pati- Sensor am Unterschenkel zeitaufge- enten (insbesondere bezüglich Wand- löst der Winkel des Kniegelenks im – ventral-medial, stärke und Gewicht) berücksichtigt Gangzyklus ermittelt werden. Durch – ventral-lateral, werden. Dank der modularen Bauwei- einen automatischen Datenvergleich – dorsal-medial sowie se der „Mowa“-Orthese handelt es sich mit Normdaten nicht bewegungsein- – dorsal-lateral. um ein aktiv mitwachsendes System: geschränkter Personen (34 Personen, Bei Veränderungen können Bestand- 262 Trials mit mindestens 2 vollstän- Neuartig ist dabei die genau auf teile einfach ausgetauscht werden (es digen Gangzyklen) und durch Ver- den Patienten abgestimmte Materi- ist also keine komplette Fertigung ei- gleich des linken Beins mit dem rech- alstärke der einzelnen Elemente. Die ner neuen Orthese notwendig), was ten Bein können so Abweichungen dem Patienten übergebenen Orthe- einerseits dem Patienten lange War- im Gangverhalten erkannt werden. sen werden in regelmäßigen Abstän- tezeiten erspart und andererseits Res- Die Bestimmung der optimalen Di- den überprüft und bei Veränderun- sourcen des Versorgers schont. mensionen und Anlageform der Or- gen – beispielsweise durch Wachstum Die Auslegung des Carbonstegs these erfolgt automatisch anhand bedingt – durch einen einfachen Aus- (der Feder) der Orthese basiert auf den von Klassifizierungen wie: tausch von dynamischen Carbonbau- am Patienten erhobenen Daten. Das teilen neu konfiguriert. Die Auswahl bedeutet, dass je nach notwendiger – der MAS-Ashworth-Skala [8], der jeweils geeigneten Teile findet mit- Unterstützung eine andere Konfigu- – der Muskelkrafterfassung nach tels einer Simulation statt, die die Soft- ration aus Steg und Sohle inklusive Janda [9], ware selbstständig durchführt, wäh- verschiedener Absatzhöhen durch die – der Amsterdam Gait Classifica rend im Normalfall die Abschätzung Simulations-App ausgewählt werden tion [10], der mechanischen Eigenschaften der kann. Bei allen Teilen stehen sowohl – des GMFCS-Levels [11] sowie Carbon elemente der Erfahrung des Kinder- als auch Erwachsenenausfüh- – den Werten aus der Ganganalyse. Orthopädietechnikers bzw. der Ortho- rungen zur Verfügung. Die Carbon pädietechnikerin überlassen bleibt. stege werden in vier Unterstützungs- klassen eingeteilt („soft“, „flex“, Endprodukt Vorteile des „Mowa“- „hard“, „strong“). Die Sohlen gibt es Das Endprodukt ist eine modular auf- in drei Härtestufen und drei Absatz- gebaute, verklebungsfreie Unterschen- Systems gegenüber her- höhen, die zwischen Kindern und Er- kelorthese, bestehend aus einer Kom- kömmlichen Orthesen- wachsenen variieren. bination aus individuell nach Aus- versorgungen Erhöhung der Lebensdauer führung und Härtegrad abgestimm- ten vorkonfigurierten Carbonbautei- In mehrerlei Hinsicht bietet das Während bei Orthesen nach dem üb- len in Verbindung mit angepassten „Mowa“-System Vorteile gegenüber lichen „Trial-and-Error-Prinzip“ häu- 3D-Druckteilen. Das System ermög- herkömmlichen Versorgungen, auf fig schon frühzeitig Schädigungen in licht bis zu vier Anlageformen, je nach die im Folgenden genauer eingegan- Form von Delaminierungen und Brü- Anforderungsprofil. Bei einem Patien- gen wird. chen der Carbonelemente auftreten 5 ORTHOPÄDIE TECHNIK 04/22
Orthetik Abb. 5 Untersuchung ten Stand- und Schwungphasenpro im Ganglabor des bleme. Dadurch kann eine hohe Pati- UKBB mit „Mowa“- entencompliance erreicht werden. Orthese und gleich- Der Techniker hat im Gesamtpro- zeitiger Ganganalyse zess die Möglichkeit, jederzeit über ei- mit „Mowa“-Inertial nen sogenannten Expertenmodus die sensoren. vorgeschlagenen Ergebnisse zu verifi- zieren oder gegebenenfalls anzupas- sen. Fallbeispiel Ein 13-jähriger Junge (GMFCS 1) mit unilateraler spastischer Zerebral parese (Hemiparese) rechts (Gewicht: 42 kg, Größe: 151 cm, Beinlängendif- ferenz rechts: 1 cm) wurde von den Autoren mit einer „Mowa“-Orthese versorgt (Abb. 5). Ohne Orthesenver- sorgung kam es bei diesem Patien- ten zu regelmäßigen Stürzen mit in- termittierenden Fußschmerzen. Der Patient war zuvor mit einer dynami- schen vorgefertigten Carbonorthese mit vorderer Anlage versorgt. Bei der 3D-Ganganalyse ergab sich (z. B. aufgrund der unzureichenden le vermieden werden. Entsprechend folgendes Gangbild: Beim Barfuß Berücksichtigung dauerhaft wirken- werden schon vor der Produktion ei- gehen war der Kraftanstieg nach dem der Kräfte bei den einzelnen Patien- ner „Mowa“-Orthese die passenden Bodenkontakt für beide Füße sehr ten), ist die neuartige modulare Orthe- Dimensionen der Orthese und die ge- groß (Abb. 6a u. d). Dies kann zu hö- se für eine Einsatzdauer von mindes- eignete Anlageform mit der „Mowa“- heren Belastungsspitzen des Bewe- tens zwei Jahren ausgelegt. App automatisiert ermittelt. Das Er- gungsapparates führen. Bei der Ver- gebnis zeichnet sich dadurch aus, sorgung mit der vorgefertigten Or- Intelligente Orthesenauswahl dass der Funktionsausgleich für die these sank der Kraftanstieg auf beiden Um Patientinnen und Patienten mit beeinträchtigte Muskulatur weder Seiten (Abb. 6b, c, e, f). Dies könnte minimaler Lagerhaltung und mög- über- noch unterdimensioniert ist. einerseits durch die Dämpfung der lichst geringem Zeitaufwand bei der Ziel ist die Wiederherstellung einer Schuhe begründet sein, andererseits Anprobe versorgen zu können, soll maximalen symmetrischen und phy- durch die Unterstützung der Orthese ein mehrmaliges Anprobieren und siologischen Geh- und Stehfähigkeit bei der Gehbewegung. Des Weiteren Testen verschiedener Orthesenbautei- unter Berücksichtigung der ermittel- zeigte sich eine Seitenasymmetrie in Abb. 6a–f Vergleich zwischen Barfuß- a. b. c. gehen (a, d), Standardversorgung (b, e) und „Mowa“-Versorgung (d, f). Verti- kale Linie bei ca. 60 %: Fuß verlässt den Boden. Die vertikale Bodenreaktions- kraft zeigt auf der betroffenen Seite beim Barfußgehen einen sehr steilen Kraftan- stieg (a). Dieser ist bei beiden Orthe- d. e. f. senversorgungen kleiner. Jedoch ist die maximale Bodenreaktionskraft bei der Standardversorgung höher (b) als beim Barfußgehen (a) und mit der „Mowa“- Versorgung (c). Weiter zeigt die Bodenre- aktionskraft während der Standphase bei der „Mowa“-Versorgung einen ähnlichen Verlauf wie bei gesunden Personen (c). 6 ORTHOPÄDIE TECHNIK 04/22
Orthetik der Größe der ersten Kraftspitze bei Geplant ist, die „Mowa“-Orthese in in Kinderorthopädie der Universität der Standardversorgung (Abb. 6b u. e) naher Zukunft mit einem sogenann- Melbourne, Australien, erhalten. Au- im Vergleich zum Barfußgehen ten Smart-Sensor auszurüsten, um ßerdem bedankt sich Erich Rutz bei (Abb. 6a u. d) und zur „Mowa“-Versor beispielweise ein ärztlich verordnetes den Orthopädietechnikern des Royal gung (Abb. 6c u. f). Dieser U nterschied Therapieprogramm zu begleiten oder Children’s Hospital, Melbourne, Aus- könnte auf ein asymmetrisches Gang- den täglichen Bewegungsradius des Pa- tralien, für die gute klinische Zusam- bild hinweisen, das Patienten oft- tienten zu messen und ihn bei Bedarf menarbeit und den wertvollen Aus- mals als störend empfinden und das zu mehr Bewegung zu motivieren. tausch. zu zusätzlichen Belastungen im Be- wegungsapparat führen könnte. Hin- Danksagungen Interessenkonflikt gegen zeigte sich bei der „Mowa“- Die Autoren danken der Innosuisse, Der Hauptautor ist Mitarbeiter der Or- Orthesenversorgung, dass die erste Schweizer Agentur für Innovations- thopunkt AG sowie Gründer und CEO Kraftspitze für beide Seiten eine ähnli- förderung, Bern, der Be-Advanced AG, der Mowa Healthcare AG. che Anstiegsform und einen ähnlichen Bern, der STI-Stiftung für technolo- maximalen Wert (Abb. 6c u. f) auf- gische Innovation, Biel, der Europä- wies. Zudem näherte sich der Verlauf ischen Kommission für Forschung Für die Autoren: der Bodenreaktion bei der „Mowa“- und Innovation, dem Switzerland In- Jan-Hagen Schröder Versorgung eher dem Kraftverlauf von novation Park in Biel, der BFH in Bern, Gründer und CEO Normalprobanden an als bei der Stan- dem Ganglabor des Universitäts-Kin- Mowa Healthcare AG dardversorgung. derspitals beider Basel (UKBB) und Schöngrünstrasse 35 Auch auf der nicht betroffenen Sei- dem IWK-Institut für Werkstofftech- CH-4500 Solothurn te war erkennbar, dass der Unterschied nik und Kunststoffverarbeitung der Schweiz zwischen den beiden Kraftspitzen Ostschweizer Fachhochschule in Rap- jan-hagen.schroeder@mowa.com während der Standphase beim Bar- perswil. fußgehen (Abb. 6a) und mit der Stan- Erich Rutz hat Unterstützung dardversorgung (Abb. 6b) größer war durch das Bob Dickens Fellowship Begutachteter Beitrag/reviewed paper als bei der „Mowa“-Orthesenversor- gung (Abb. 6c). Daraus kann geschlos- sen werden, dass der Patient mit der „Mowa“-Versorgung weniger Kraft Literatur: aufwenden muss, um sich abzusto- ßen. Das deutet zudem auf einen et- [1] Krieger A, Matyssek S, Capanni F. Systematische Übersichtsarbeit zur Erstel- was geringeren Energieaufwand beim lung einer indikationsgerechten Auswahlguideline für die orthopädietechni- sche Versorgung mit Unterschenkelorthesen. Orthopädie Technik, 2021; 72 (11): Gehen hin und könnte sich positiv auf 32–45 den Gangkomfort auswirken. [2] Kluess D, Hurschler C, Voigt C, Hölzer A, Stoffel M. Einsatzgebiete der Nume- rischen Simulation in der muskuloskelettalen Forschung und ihre Bedeutung für die Orthopädische Chirurgie. Orthopäde, 2013; 42 (4): 220–231 Fazit und Ausblick [3] Perry J, Oster W, Wiedenhöfer B, Berweck S (Hrsg.). Ganganalyse. Norm und Dank der Modularität der „Mowa“- Pathologie des Gehens. München: Urban & Fischer, 2003 Orthese und angesichts der ersten Er- [4] Pirker W, Katzenschlager R. Gait disorders in adults and the elderly: A clinical kenntnisse aus den bereits durchge- guide. Wien Klin Wochenschr, 2017; 129 (3-4): 81–95. doi: 10.1007/s00508-016- 1096-4 führten Patientenversorgungen sind die Autoren der Ansicht, dass mit die- [5] Muro-de-la-Herran A, Garcia-Zapirain B, Mendez-Zorrilla A. Gait a nalysis methods: an overview of wearable and non-wearable systems, highlighting sem System die Bedürfnisse der Pati- clinical applications. Sensors (Basel), 2014; 14 (2): 3362–3394. doi:10.3390/ enten besser berücksichtigt werden s140203362 können, insbesondere weil eine bes- [6] Klein B. FEM. Grundlagen und Anwendungen der Finite-Element-Methode im sere Annäherung an ein natürliches Maschinen- und Fahrzeugbau. Wiesbaden: Springer Vieweg, 2012 und symmetrisches Gangbild mög- [7] Sabbagh D, Fior J, Gentz R. Klassifizierung von Gangtypen bei Schlaganfall zur lich ist. Dies ist für die Patienten ne- Standardisierung der orthetischen Versorgung. Orthopädie Technik, 2015; 66 (3): 52–57 ben der Mobilität im Alltag oftmals ein persönliches Bedürfnis. „Mowa“ [8] Bohannon R, Smith M. Interrater reliability of a modified Asworth scale of muscle spasticity. Phys Ther, 1987; 67 (2): 206–207 ist jederzeit an sich verändernde kör- perliche Situationen anpassbar – was [9] Smolenski U-C, Buchmann J, Beyer L, Harke G. Janda Manuelle Muskelfunk- tionsdiagnostik – Theorie und Praxis. Müchnen/Jena: Urban & Fischer/Elsevier, vor allem bei Kindern mit neuro 2020 gener Gangstörung wichtig ist. Ziel ist [10] Grund S. Geh-Orthesen bei Kindern mit Cerebralparese. Paediatrica, 2007; es, das „Mowa“-Versorgungskonzept 18: 30–34 durch partnerschaftliche Kooperatio- [11] Russell DJ, Rosenbaum PL, Avery LM, Lane M, Heinen F. GMFM und GMFCS – nen und den Einsatz von Technologi- Messung und Klassifikation motorischer Funktionen. Bern: Hans Huber, 2006 en wie Machine Learning und Cluste- [12] Bernhardt KA, Kaufmann KR. Loads on the uprights of a knee-ankle-foot ring so weiterzuentwickeln, dass kei- orthosis. Prosthet Orthot Int, 2011; 35: 106–112 ne nachträglichen Modellanpassun- gen mehr notwendig werden. 7 ORTHOPÄDIE TECHNIK 04/22
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