"Nichts ist verschwunden" - Diva Portal

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"Nichts ist verschwunden" - Diva Portal
„Nichts ist verschwunden“
                 Eine Analyse des Zusammenwirkens
              von Dokumentarischem und Literarischem
                    in Martin Jankowskis Roman
         Rabet oder Das Verschwinden einer Himmelsrichtung

                      Helena Rödholm Siegrist

Institutionen för Moderna språk
Uppsala Universitet
E-uppsats
Handledare: Frank Thomas Grub
Abstract
“Nothing has vanished” An analysis of documentary and literary aspects in Martin
Jankowski’s novel Rabet oder Das Verschwinden einer Himmelsrichtung
This analysis of Martin Jankowski’s Rabet oder Das Verschwinden einer Himmelsrichtung
explores the construction of a literary fiction, which consists of a documentary and corrective
contribution to the remembrance discourse of the Peaceful Revolution in the German
Democratic Republic in 1989. Along with a description of themes which gain relevance through
the fictional, metaphorical and dialogical features of the narration, the study undertakes an
analysis of stylistic devises such as metaphors, irony, concealment, intertextual references and
transformations. Besides an interpretation of the literary narration, the study examines the
novel’s emphasis on the influence of past events on contemporary society and private
relationships.

Diese Analyse von Martin Jankowskis Roman Rabet oder Das Verschwinden einer
Himmelsrichtung untersucht die Konstruktion einer literarischen Fiktion, die durch die
dokumentarische Schilderung der friedlichen Revolution in Leipzig 1989 einen korrigierenden
Beitrag zum Erinnerungsdiskurs leistet. Im Aufsatz werden Themen beschrieben, die durch das
Fiktive, Metaphorische und Dialogische der Romanerzählung für die Gegenwart relevant
gemacht werden. Dazu wird die Anwendung von literarischen Stilmitteln wie Metaphern,
Ironie, Verschweigen, intertextuellen Referenzen und Transformationen analysiert. Neben der
Interpretation des fiktionalen Erzählens, werden im Roman hervorgehobene und angedeutete
Vorkommnisse untersucht, die noch heute sowohl auf gesellschaftliche Prozesse als auch auf
private Beziehungen einwirken.

Key words/Suchwörter
Martin Jankowski, Peaceful Revolution, Leipzig, German Democratic Republic, 9. October
1989, opposition, democracy, Stasi, repression, resistance, nonviolent action churches, Edgar
Platen, remembrance, fiction, transculturalism, literature of the German ‘Wende’,
intertextuality, irony, metaphor, transformation, remembrance culture

Martin Jankowski, Friedliche Revolution, Leipzig, DDR, 9. Oktober 1989, Opposition,
Demokratie, Gewaltlosigkeit, Widerstand, Stasi, Zersetzung, kulturelle Freiräume, Kirche,
Thomas Frank Grub, Wendeliteratur, Wenderoman, Edgar Platen, erinnerndes Erzählen,
Transkulturalität,   Intertextualität,   literarische   Projektionsräume,   Ironie,   Metaphern,
Transformation, Erinnerungskultur

                                                 1
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung                                                                    4
   1.1   Fragestellungen und Ziele                                               4
   1.2 Begriffe                                                                  5
   1.2.1 ‚Kulturelles Gedächtnis‘ und ‚Erinnerungskultur‘                        5
   1.2.2 ‚Intertextualität‘ und ‚Transformation‘                                 6
   1.2.3 ‚Transkulturell‘ und ‚transtemporal‘                                    6
   1.2.4 ‚Kirche‘, ‚Gruppen‘, ‚Opposition‘ und ‚Bürgerrechtler‘                  7

2. Der Roman Rabet: Disposition, Erzählperspektive, Handlung und Protagonisten   7
   2.1 Rahmenhandlung                                                            7
   2.2 Gang der Handlung                                                         9
   2.3 Der Protagonist und seine Antagonistin                                    13

3. Merkmale und Funktion des erinnernden Erzählens                               15
   3.1 Die ethische Qualität des Ästhetischen im fiktiven Erzählen               16
   3.2 Metaphorisches und Dialogisches im fiktiven Erzählen                      16

4. Zum Begriff ‚Wende‘: ‚Wendeliteratur‘ und die Erinnerungskultur               17
   4.1 Problematisierung des Begriffs ‚Wende‘                                    17
   4.2 Der ‚Wenderoman‘ im Zusammenhang mit der Erinnerungskultur                18
   4.3 Martin Jankowskis ‚wendeliterarische Texte‘                               20
   4.4 Die Einengung des Erwartungshorizonts                                     22

5. Analyse ausgewählter Aspekte im Roman Rabet                                   25
   5.1 Verortung im Leipziger Alltag und in der zeitnahen und zeitlosen Kultur   25
   5.2 Leerstellen                                                               27
   5.2.1 Die unbekannte Tochter                                                  28
   5.2.2 Die verschwundene Antagonistin                                          28
   5.3 Ding-, Zeit- und Raumsymbole als sich transformierende Metaphern          29
   5.3.1 Der Montag                                                              30
   5.3.2 Silvester                                                               30
   5.3.3.Der Käfig                                                               30
   5.3.4 Die Gitarre                                                             31
   5.3.5 Die weißen Schuhe als MacGuffin                                         32
   5.4 Ironie als Stilmittel                                                     34
   5.4.1 Die „roten Heftchen“                                                    35
   5.4.2 Ironisierender Sprachgebrauch                                           35
   5.5 Intertextualität und Intermedialität                                      37

                                                        2
5.5.1 Der blaue Koffer in Jerusalem                                                 37
  5.5.2 Franz Kafkas drei Herren und kafkaeske Prozesse                               38
  5.6 Projektionsräume und Transformationen von Zeit und Raum                         38
  5.6.1 Marcel Prousts Madeleines                                                     38
  5.6.2 Klassik und Romantik: literarische Projektionsräume und Metaphersteinbrüche   39
  5.6.3 Klassik und Marxismus: Plenzdorf, Goethe und Bahro.                           40
  5.6.4 Faust in den Leipziger 1980er Jahren                                          42
  5.6.4.1 Die Hunde                                                                   44
  5.6.4.2 Die Zauberlehrlinge                                                         44
  5.6.4.3 Vereinnahmung der Klassiker                                                 44
  5.6.4.4 Eine Warnung von Brecht und Goethe                                          45
  5.6.5 Novalis: Zahlen und Zauber                                                    45
  5.6.6 Eichendorffs Taugenichts                                                      46
  5.6.7 Westmusik als Steinbruch für transformierte Kultur                            48
  5.6.8 Reinhard Lettaus Himmelsrichtungen                                            52

6. Erzählerisches Korrektiv und Komplemente zum Erinnerungsdiskurs                    53
  6.1 Demokratische Kultur                                                            54
  6.1.2 Umformulierung der Narrative von ‚Wir‘ und ‚Volk‘                             55
  6.1.3 Erlösen der Vereinnahmten und Entlarven der Mächtigen mittels Ironie          57
  6.1.4 Spontane Aktionskunst als Provokation gegen die Stabilität                    58
  6.2 Transkulturelle Erfahrungen                                                     59
  6.3 Leipzig als Erinnerungsort                                                      60
  6.4 Einigung als Option                                                             61
  6.5 „Wir sind das Volk“, Vereinnahmungen und Erinnerungskultur                      62
  6.6 Langzeitwirkungen der Zersetzungsmaßnahmen                                      64

7. Schlussbemerkungen                                                                 66

Literaturverzeichnis                                                                  69
  Primärliteratur                                                                     69
  Sekundärliteratur                                                                   69

                                                     3
1. Einleitung
Martin Jankowskis 1999 erschienene Roman Rabet oder Das Verschwinden einer
Himmelsrichtung1 (im Folgenden auch Rabet genannt) ist ein Dokumentarbericht in fiktiver
Form, dessen Schilderung der friedlichen Revolution in Leipzig im Herbst 1989 als erzählendes
Korrektiv zur Erinnerungskultur gelesen werden kann. Gleichzeitig beschreibt der Roman die
Entwicklung des Protagonisten und seiner Beziehungen, auch nach der sogenannten ‚Wende‘.
Im Roman werden sowohl existenzielle wie politische Fragestellungen aufgegriffen, die auch
nach mehr als 30 Jahren nach der friedlichen Revolution aktuell sind.
         Zur literarischen Gestaltung der gesellschaftlichen und persönlichen Transformation
entwirft Martin Jankowski einen Plot, der von der oppositionellen Arbeit einer Gruppe von
fiktiven Personen und ihren Freundschaftsbeziehungen ausgeht. Intertextuelle Referenzen und
Metaphern bereichern die Interpretationsmöglichkeiten, insbesondere, da Symbolinhalte und
strukturelle Vorlagen während der Erzählung Veränderungen durchmachen, die mit der
beschriebenen Transformation der Gesellschaft korrespondieren. Das Dokumentarische und
das Literarische wird somit im Roman Rabet eng verknüpft. Die erinnernde, fiktive Erzählung
von einem realen Geschehen eignet sich gut als Teil eines Erinnerungsdiskurses, in dem
Erinnertes für Gegenwart und Zukunft erlebbar und relevant gemacht wird. In diesem Aufsatz
wird das Dokumentarische und das Literarische des Romans untersucht und über die
Möglichkeiten des Romans, die Erinnerungskultur zu bereichern, reflektiert.

1.1 Fragestellungen und Ziele
Die zentrale Fragestellung dieses Aufsatzes lautet: Wie wird im Roman Rabet oder Das
Verschwinden einer Himmelsrichtung das dokumentarische Thema der friedlichen Revolution
in Leipzig, das zum deutsch-europäischen Erinnerungsdiskurs gehört, mit der fiktiven
Erzählung über die menschlichen Beziehungen verbunden?
         In den folgenden Abschnitten wird auf im Aufsatz wichtige Begriffe eingegangen.
Kapitel 2 ist der Präsentation der inhaltlichen Aspekte des Romans gewidmet. In Kapitel 3
stehen Überlegungen zum erinnernden Erzählen im Fokus. In Kapitel 4 werden die Begriffe
‚Wende‘, und ‚Wenderoman‘ problematisiert. Dazu wird über den Zusammenhang von
Erinnerungskultur und ‚Wenderomanen‘ reflektiert. In Kapitel 5 werden ausgewählte Aspekte
der literarischen Gestaltung analysiert, während in Kapitel 6 auf die Beiträge des Romans zum
Erinnerungsdiskurs eingegangen wird.

1
    Martin Jankowski: Rabet oder Das Verschwinden einer Himmelsrichtung. Scheidegg 1999.

                                                      4
1.2 Begriffe
Die Überlegungen zum fiktiven Erzählen bauen weitgehend auf Edgar Platens Buch
Perspektiven literarischer Ethik. Erinnern und Erfinden in der Literatur der Bundesrepublik.2
Die Begriffe aus Platens Studie, die ich in diesem Aufsatz benutze, werden in Kapitel 3
erläutert. Die Begriffe ‚Wende‘, ‚Wendeliteratur‘ und ‚Wenderoman‘ werden in Kapitel 4
diskutiert. Auf ‚Ironie‘ als Stilmittel wird im Abschnitt 5.4 eingegangen. Andere Begriffe, die
im Aufsatz vorkommen, werden im Folgenden kurz erklärt.

1.2.1 ‚Kulturelles Gedächtnis‘ und ‚Erinnerungskultur‘
Der Begriff ‚kulturelles Gedächtnis‘ wird anhand von Aleida Assmanns3 Texten als
Bezeichnung für ein überindividuelles und überzeitliches, kollektives Gedächtnis benutzt,
dessen Ausdrücke in Form von Erinnerungsorten, Bildung und mediale Darstellungen die
sinnschaffenden Komponenten einer Kultur, Gesellschaft oder Gemeinschaft festhalten und
weitergeben.
       Die Begriffe ‚Erinnerungskultur‘ und ‚Erinnerungsdiskurs‘ gebrauche ich, wenn es
darum geht, bewusstes Aneignen von unterschiedlichen Aspekten, die das kulturelle
Gedächtnis und die kollektiven Identitäten bereichern können, zu fördern.4 Obwohl die
Erinnerungskultur als Teil einer staatlichen Geschichtspolitik unterstützt werden kann, ist sie
vorwiegend ein Anliegen der Zivilgesellschaft. Sie manifestiert sich im Zusammenhang mit
Erinnerungsorten und Jahrestagen, in den Medien, in Literatur, in Unterrichtsmaterial, in
Dokumentationen und im übrigen Bildungsangebot. Zur Gestaltung einer gemeinschaftlichen
Erinnerungskultur gehören neben Korrektiven zur Mythenbildung auch ein bewusstes
Wahrnehmen unterschiedlicher Erinnerungskulturen,5 damit ein Erinnerungsdiskurs entstehen
kann, der auch Dissonanzen erträgt.6

2
  vgl. Edgar Platen: Perspektiven literarischer Ethik. Erinnern und Erfinden in der Literatur der Bundesrepublik.
Tübingen und Basel 2001.
3
  vgl. Aleida Assmann: Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München
2006; Aleida Assmann, Michael Köhler: Aleida Assmann über kulturelles Gedächtnis. Zusammenleben braucht
eine gemeinsame Geschichte. 30.07.2018. Zugänglich unter: https://www.deutschlandfunk.de/aleida-assmann-
ueber-kulturelles-gedaechtnis-zusammenleben.691.de.html?dram:article_id=424169.
44
   Ebd.
5
  vgl. Thomas Wünsch: Erinnerungskultur. 07.03.2013. Zugänglich unter: ome-lexikon.uni-
oldenburg.de/54014.html
6
  vgl. Charlotte Misselwitz, Cornelia Siebeck (Hrsg.): Introduction. In: Dissonant Memories – Fragmented
Present. Exchanging Young Discourses between Israel and Germany. Bielefeld, 2009.

                                                       5
1.2.2 ‚Intertextualität‘ und ‚Transformation‘
‚Intertextualität‘ wird als allgemeiner Begriff für Anspielungen eines Textes auf einen anderen
Text gebraucht. Solche Anspielungen treten nicht nur in Form von mehr oder weniger offenen
Allusionen und Referenzen auf, sondern auch als ein Aufgreifen von Motiven, die als Topoi in
anderen Werken auftreten.
      Den Begriff ‚Transformation‘ verwende ich sowohl für gesellschaftliche als auch für
literarische Verwandlungsprozesse, da solche Prozesse in der untersuchten Erzählung
miteinander verwoben sind. Bei der Beschreibung von literarischen Stilmitteln entspricht der
Begriff ‚Transformation‘ die von Gérard Genette definierte ‚Hypertextualität‘. ‚Hypertext‘
steht bei Genette als Bezeichnung für einen Text, der durch die Umwandlung des Stiles oder
des Themas eines anderen Textes – des Hypotexts – entsteht.7 Im hier untersuchten Romantext
beinhalten solche Transformationen häufig ein Verlassen der Handlungslinien des
aufgegriffenen Ursprungsthemas, was Genette ‚emanzipierte‘ thematische Transposition
nennt.8 Auch für Metaphern, deren Symbolinhalt im Laufe der Erzählung verändert wird,
gebrauche ich den Begriff ‚Transformation‘.

1.2.3 ‚Transkulturell‘ und ‚transtemporal‘
Die Begriffe ‚transkulturell‘ und ‚transtemporal‘ benutze ich im Sinne Ottmar Ettes als
ständige, freiwillige oder aufgezwungene, geographische und gedankenhafte Bewegungen
zwischen Kulturen und Zeiten.9 Im gegebenen Moment entstehen durch die Hin-und-Her-
Bewegung neue Erfahrungen, die nicht eindeutig der einen oder anderen Kultur oder Zeit
zuzuschreiben sind. Zur Anwendung der Begriffe ‚transkulturell‘ und ‚Transkulturalität‘ in
diesem Aufsatz gehört jedoch Edgar Platens Ergänzung, dass es sich nicht nur um eine
Mischung von kulturellen Erfahrungen unterschiedlicher Nationen geht, sondern dass Kunst
und Kultur, ohne Rücksicht auf Grenzen und Nationen, per Definition transkulturell sind.10
Deshalb gibt es auch in jeder Nation eine „‚eigenkulturelle‘ Transkulturalität“11, die erkundet
werden kann, was nicht mit dem illusionären Versuch, sie in Einzelteile zu zerlegen,
gleichzustellen ist. Menschliche Erfahrungen sind immer in einem Körper, und damit in einer
bestimmten Zeit und an einem bestimmten Platz verortet. Aber die Kunst, die Literatur und jede

7
  Genette, Gérard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt am Main 1993. 403–431.
8
  Ebd., S. 419–420.
9
  vgl. Ottmar Ette: ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz. Berlin 2005.
10
   vgl. Edgar Platen: „…über Zeiten und Grenzen hinweg…“ Transkulturelle Bewegungen in der
deutschsprachigen Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur. München 2019.
11
   Ebd. 12.

                                                      6
andere Kultur, die zu der Erfahrungswelt des Menschen gehört, unterliegen einem
Relativitätsprinzip, das, unabhängig von Zeit und Ort der Entstehung, den existenziellen Inhalt
gegenwärtig macht.

1.2.4 ‚Kirche‘, ‚Gruppen‘, ‚Opposition‘ und ‚Bürgerrechtler‘
Wenn in diesem Aufsatz von der ‚Kirche‘ gesprochen wird, sind häufig die Gemeinden der
evangelischen Landeskirchen in der DDR gemeint. Es wird jedoch nicht zwischen dem Bund
der Evangelischen Kirchen und anderen Kirchen, wie der Katholischen Kirche, dem Bund freier
evangelischen Gemeinden und anderen Freikirchen unterschieden. Wenn die demokratische
Basisarbeit der Kirchen erwähnt wird, handelt es sich um die ökumenische Arbeit in Gruppen,
Kreisen und Seminaren, die sich mit Fragen der Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der
Schöpfung auseinandersetzten.12 Die Bezeichnungen ‚Opposition‘ und ‚Bürgerrechtler‘
verwende ich für Gruppen innerhalb und außerhalb der Kirche, die sich zur Erarbeitung dieser
Themen eingesetzt haben und die mit ihren Aktivitäten ein Stück Zivilgesellschaft und
Demokratie in der Diktatur gestaltet haben.

2. Der Roman Rabet: Disposition, Erzählperspektive, Handlung und Protagonisten
2.1 Rahmenhandlung
Im Zentrum der Romanhandlung steht die friedliche Revolution in Leipzig. Die Ereignisse
werden zehn Jahre später aus der Perspektive des fiktiven Charakters Benjamin Grasmann
beschrieben. Benjamin, Ben genannt, der damals als Bürgerrechtler aktiv war, vermittelt seine
Sicht sowohl auf seine eigenen Erfahrungen als auch auf die Gesellschaftsentwicklung von

12
  vgl. Joachim Garstecki: Gewaltfreiheit politisch denken. Anstöße zur Friedensdebatte in Ost und West 1981-
2012. Berlin 2013; Gabriele Kammerer: Aktion Sühnezeichen Friedensdienste. Göttingen 2008; Markus Meckel,
Martin Gutzeit: Opposition in der DDR. Zehn Jahre kirchliche Friedensarbeit – kommentierende Quelltexte.
Köln 1994; Markus Meckel: Zu wandeln die Zeiten. Erinnerungen. Leipzig 2020; Maria Magdalena Verburg:
Ostdeutsche Dritte-Welt-Gruppen vor und nach 1989/90. Göttingen 2012; Christliches Friedensseminar
Königswalde: Übersicht der Seminarthemen von 1973 bis 1990. Zugänglich unter:
http://www.friedensseminar.de/index.php?nr=4&goto=Archiv2.htm; Friedenskreis Pankow: Geschichte.
Zugänglich unter: http://www.alt-pankow.de/friedenskreis/geschichte.html; Ökumenische FriedensDekade: Die
Entwicklung in der DDR. Zugänglich unter: https://www.friedensdekade.de/ueber-uns/geschichte/entwicklung-
in-der-ddr/; Ein Zeitzeugen-TV-Interview mit Ruth und Hans Misselwitz gibt ein Bild von der Kirche als
Spielraum, von der bewusst gelebten Freiheit und der Gestaltung von demokratischen Strukturen, von Protesten
gegen die Mittelstreckraketen, von den Zersetzungsmethoden der Stasi bis Ende 1989 und von der westgeprägten
Verzerrung der Perspektiven seit 1990. Thomas Grimm: Mut zum Aussteigen aus Feindbildern. 15.01.2021.
Zugänglich unter: https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/325647/mut-zum-aussteigen-
aus-feindbildern; Videoaufnahmen mit Zeitzeugen der friedlichen Revolution in Leipzig, darunter Martin
Jankowski, vermitteln einen Einblick in die kulturell geprägte Arbeit der Gruppen in Leipzig. Kathrin Lemcke:
Interviews mit Zeitzeugen. 2021 Zugänglich unter:. https://www.pöge-
haus.de/de/projekte/alle_unsere_traeume/interviews/.

                                                     7
1985 bis 1990. Die auf den 30. und 31. Dezember 1999 datierte Einleitung13 und der auf den 1.
Januar 2000 datierte Abschluss14 stellen als Briefteile mit direkter Anrede die Rahmenhandlung
für die Erzählung über die friedlichen Revolution dar. Der Brief, dessen Hauptteil aus der
Erzählung besteht, ist die Antwort des in Jerusalem lebenden Vaters auf einen Brief seiner in
New York lebenden, neunjährigen Tochter Sophie Adriana. Vater und Tochter haben sich seit
einer kurzen Begegnung direkt nach der Geburt der Tochter in Leipzig 1990 nicht mehr
gesehen.
      Der Brief der Tochter löst beim Vater einen Prozess des Erinnerns aus. Er sieht ein, dass
seine Antwort Auskunft über die Namen der Tochter und über die Trennung der Eltern geben
muss, was ihn vor das Dilemma stellt, die „komplizierte Wahrheit“15 einem Kind zu erklären,
dem diese Wahrheit „unannehmbar“16 sein muss. Seine Lösung besteht darin, ihr eine
Geschichte zu erzählen, „eine seltsame, lange“17, die er aber nicht abschicken, sondern in einem
Umschlag mit dem Namen der Tochter im blauen Koffer unter seinem Bett verstauen und
vergessen will.18 Dabei rechnet der Absender damit, dass die Antwort, „dem geheimen Gesetz
der offenen Fragen folgend“, vom Wind zur Tochter getragen wird.19
      Der Brief, und somit auch der Roman, fängt mit dem Satz an: „Sophie: plötzlich frage ich
mich, wie es dazu kommen konnte, dass wir so gut wie nichts voneinander wissen und uns nie
mehr gesehen haben.“20 Schon in der Einleitung wird ausgesprochen, dass ein Grund, weshalb
der Vater seinem Kind nicht alles erzählen kann, ist, dass er „die undurchschaubaren
Entscheidungen“ der Mutter respektieren will.21 Obwohl er also einiges auslässt, vermittelt der
Protagonist im Laufe der Erzählung genug Anhaltspunkte, um die Tochter – sollte sie den Brief
je erhalten – einsehen zu lassen, dass es auch Fragen gibt, die an die Mutter gerichtet werden
müssten. Gleichzeitig bieten die Leerstellen, die durch Auslassungen und vage Andeutungen
entstehen, dem Leser die Möglichkeit, sich einer schmerzlichen Einsicht zu nähern: Eventuell
hatte das Verschwinden der Freundin mit Motiven zu tun, die für den Protagonisten womöglich
noch schmerzlicher sind als das Faktum, dass sie ihm damals nicht zutraute, die Vaterrolle zu
erfüllen, Geld zu verdienen und bei der Gestaltung eines besseren Lebens zu kooperieren.

13
   Martin Jankowski: Rabet oder Das Verschwinden einer Himmelsrichtung. Scheidegg 1999, S. 4–10.
14
   Ebd., S. 247.
15
   Ebd., S. 9.
16
   Ebd., S. 10.
17
   Ebd.
18
   Ebd.
19
   Ebd.
20
   Ebd., S. 4.
21
   Ebd., S. 9.

                                                    8
In der Erzählung zwischen den beiden Briefteilen erzählt der Ich-Erzähler in
Vergangenheitsform mit interner Fokalisierung, also so, als würde er alles simultan mit den
erzählten Ereignissen erleben. Die Perspektive anderer Personen werden durch Gespräche,
Telefonate oder Ansichtskarten vermittelt. Der Verzicht auf Kommentare aus der späteren
Perspektive des Protagonisten heraus bewirkt, dass der Protagonist den Motiven anderer
Menschen gegenüber weniger wachsam und misstrauisch ist als der Leser, der an manchen
Stellen versteht, dass Mitarbeiter des Ministeriums für Staatsicherheit (Stasi) in Aktion sind.
Diese Spannung, die zwischen dem Unwissen des Protagonisten und den Vermutungen des
Lesers entsteht, wirkt als effektives Stilmittel, indem es dem Leser ermöglicht,
Sinnzusammenhänge herzustellen, die zwar in den Briefteilen angedeutet, in der Erzählung
jedoch nicht explizit ausgedrückt werden. Damit lädt der Autor den Leser dazu ein, aktiv an der
Interpretation mitzuwirken.

2.2 Gang der Handlung
Hier folgt eine Zusammenfassung der Binnenhandlung, die zwischen den einrahmenden
Briefteilen mit direkter Anrede an die Tochter in 10 Kapiteln erzählt wird.22 Ziel der
Zusammenfassung ist es, die Hauptteile des dokumentarischen Inhalts zu präsentieren und
einen Hintergrund zur Untersuchung des Literarischen zu schaffen (vgl. Kapitel 5 und 6). Dass
die Zusammenfassung relativ lang ist, hängt damit zusammen, dass sie weitgehend auf
interpretierende Zusammenfassungen verzichtet, um ein Bild vom Effekt zu geben, der dadurch
entsteht, dass der Autor die Ereignisse dieser Jahre montageartig nebeneinanderstehen lässt.
Auf die Rollen des Protagonisten und seiner Antagonistin wird nach der Zusammenfassung der
Handlung näher eingegangen.
       Müde, sich im bürgerlichen Kleinstadtkäfig den Wahrheiten der „roten Heftchen“ der
Partei und den hemmenden Erwartungen seiner Eltern anzupassen, hört Benjamin Grasmann
Westmusik und spielt Gitarre. Nach dem Wehrdienst verlässt er seine Eltern, die für seine
„Gefühlsduselei“23 nichts übrig haben, und zieht mit seiner Gitarre nach Leipzig, wo er sich in
einer heruntergekommenen Wohnung im Viertel Rabet einrichtet. Er macht eigene Musik, die

22
   Die Struktur des Romans erinnert an eine Fuge oder Sonate von Johann Sebastian Bach: der erste Briefteil (S.
5–10) stellt die Exposition dar, in der das Thema präsentiert wird, wonach das Thema im Zwischenteil
(Haupterzählung, S. 11–243) variiert, kontrapunktisch erwidert und umkehrt wird, um im abschließenden
Briefteil (S., 244–247) zusammengefasst zu werden.
23
   Martin Jankowski: Rabet oder Das Verschwinden einer Himmelsrichtung. Scheidegg 1999, S. 13.

                                                       9
er den Grau nennt und bemalt seine Wohnungstür mit „der wunderbaren Welt der
Vollkommenheit“24.
      Auf Einladung des selbsternannten „freien Moderators“25 Hartmut Odins tritt Ben in einer
Galerie auf und verliebt sich in die ebenfalls von Odin engagierte Saxophonspielerin und
Mathematikstudentin Gesa. Durch sie lernt Ben Mario und Dorothee kennen, die zur
unabhängigen Opposition gehören. An ihrem Küchentisch wird eifrig diskutiert. Sie ermutigen
Ben, seine eigenen Lieder vorzutragen. Von ihrem Klo entwendet Ben Die Alternative von
Rudolf Bahro und findet darin bestätigt, dass Utopien von einer besseren Gesellschaft keine
Gefühlsduselei sind. Als er am nächsten Morgen nach Hause kommt, ist seine Wohnungstür
aufgebrochen; alle seine Liedertexte sind verschwunden.
      An der Silvesterfeier sind auch Ernst und Berit mit ihrem Hund Ronald Gorbatschow
dabei. Auf dem Weg zum Park Rosenheim werden Ernst und Mario vorläufig festgenommen.
Wenig später wird Mario wegen seines Auftretens mit selbstgemachten Transparenten an der
offiziellen Rosa-Luxemburg-Gedenkfeier in Berlin verhaftet. Daraufhin organisieren die
Freunde die wöchentliche Friedensandacht in der Nikolaikirche, die seit Jahren immer montags
stattfindet. Ben singt seine Lieder. Es wird Information über die in Berlin Verhafteten, die von
Rechtsanwalt Bergmann verteidigt werden, vermittelt. Der regionale Kirchenleiter
Superintendent Magnus kreuzt auf und versucht vergebens, das Friedensgebet abzubrechen.
      Mario wird nach Westberlin abgeschoben. In Dorothees Küche kommen neue Freunde
dazu: Adrian mit den weißen Turnschuhen und der Theologiestudent Tillmann. Man gestaltet
ein Friedensgebet für Mario. Der Andrang ist größer als je. Zu diesen Andachten kommen auch
Ausreisewillige, die hoffen, hier von der Stasi beobachtet zu werden, um damit schneller
abgeschoben zu werden. Als eine von vielen Aktionen im öffentlichen Raum lässt die Gruppe
Luftballons mit dem Text „Sputnik“ steigen, eine Anspielung auf das Verbot der
fortschrittlichen sowjetischen Jugendzeitung Sputnik. Die Gruppe widmet sich auch
Umweltproblemen, die in der verschmutzten Großstadt hohe Aktualität besitzen, von den
Behörden jedoch verschwiegen werden.
      Odin nimmt bei einem von Adrian organisierten Auftritt im FDJ26-Club Bens Lieder auf
Tonband auf, was dazu führt, dass Ben beim Stadtkulturamt vorgeladen wird, wo sein Auftritt
scharf kritisiert wird. Auf das Angebot, an einem Poetenseminar teilzunehmen und unter
professioneller Betreuung ein neues Bühnenprogramm auszuarbeiten, geht Ben nicht ein.

24
   Ebd., S. 19.
25
   Ebd., S. 24.
26
   FDJ, Freie Deutsche Jugend, staatlich organisierte Jugendorganisation in der DDR.

                                                      10
Der Westjournalist Wolf Tessler, der mit Mario in Kontakt steht, wird in der Runde
vorgestellt. Man singt jiddische Lieder am Lagerfeuer und erzählt einander von Prag und
Jerusalem. Auf Marios Initiative besucht Ben eine oppositionelle Gruppe in Prag und lernt dort
Anna und Peter kennen, die mithilfe von einem Kassettenrecorder und einem Telefon eine
Nachrichtenagentur betreiben. Als Ben nach Hause kommt, stehen Adrians weiße Turnschuhe
in der Küche. Gesa hat sie sich geborgt.
      Gesa schlägt vor, dass sie in Leipzig etwas Ähnliches wie die Prager aufstellen. Der
„Küchentischguerilla“27 wird ein Lokal zur Verfügung gestellt, und man fängt an, praktische
Hilfe und Anwaltskontakte anzubieten. Viele Ausreisewillige melden sich, was bei der Gruppe
ambivalente Gefühle auslöst. Zu den Geholfenen gehört ein humorvoller Soziologiestudent, um
den sich Dorothee kümmert. Durch den Westjournalisten werden wichtige Informationen im
Deutschlandfunk publik.
      Am Tag der Kommunalwahlen im Mai 1989 bekommt Ben von drei Herren vom
Stadtkulturamt Besuch. Sie fordern ihn auf, wählen zu gehen und kommen auf ihr Angebot der
poetisch-professionellen Begleitung zurück. Ben macht klar, dass er mit ihnen nichts zu tun
haben will. Mit einem Wahlresultat von 99,9 % für die Einheitslisten ist der Wahlbetrug
offensichtlich.28
      Als nach der Friedensandacht Ausreisewillige vor der Kirche „Wir wollen raus!“ rufen,
ruft Ernst, unterstützt von vielen anderen: „Wir bleiben hier!“ Die Menge vor der Kirche wird
von Polizisten mit Schildern und Knüppeln umzingelt.
      Als Berit und Ernst während einer Ungarnreise erfahren, dass ihre Leipziger Wohnung
verriegelt wurde, flüchten sie über die ungarische Grenze in den Westen. Gesa verliert ihren
Studienplatz und erzählt Ben, dass sie schwanger ist.
      Nach einer Montagsandacht im Herbst rollen die Freunde Transparente aus. „Keine
Gewalt“-Rufe verbreiten sich. Vom Lautsprecher tönt die Mahnung der Volkspolizei, die
Straße zu räumen. Tillmann, der zum Freundeskreis gehört, fragt: „Wir sind doch das Volk.
Warum beschützen sie uns dann nicht?“29, worauf sich der Ruf „Wir sind das Volk“ verbreitet
und ein Kindergartenlied über die lieben Volkspolizisten angestimmt wird.
      Kurz vor dem 40. Staatsfeiertag am 7. Oktober kommen Anna aus Prag und ein Vertreter
der polnischen Opposition auf Besuch, um mit der Leipziger Gruppe Informationen

27
   Martin Jankowski: Rabet oder Das Verschwinden einer Himmelsrichtung. Scheidegg 1999, S. 125.
28
   Bundeszentrale für politischen Bildung: Wahlbetrug 1989 – als die DDR-Regierung ihre Glaubwürdigkeit
verlor. 16.09.2020. Zugänglich unter: https://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/290562/1989-wahlbetrug-
in-der-ddr.
29
   Ebd., S. 159–160.

                                                     11
auszutauschen und Strategien zu besprechen. Die Freunde werden überwacht und schikaniert.
Gorbatschow besucht die „40. Jahre DDR“-Feier in Berlin.
       Am Montag, dem 9. Oktober, erklärt Ben dem ungarischen Fernsehteam, das ihn
begleitet, dass die Demonstrationen nicht organisiert sind, sondern einfach entstehen, wenn
viele Leute auf die Straße gehen. Die Kirche ist schon lange vor 17 Uhr besetzt, vor allem mit
Leuten vom Stadtrat und von der Stasi. Ben singt. Nach dem Gebet sind die Strassen so voll,
dass Polizei und Armee, die deutlich in der Minderzahl sind, ihren Plan, mit Gewalt
einzugreifen, einstellen müssen.
       Einen Monat später ist die Mauer gefallen. Mario, Ernst und Berit bereiten sich für
Gespräche zwischen Vertreter der Regierung, der neuen Parteien und der Bürgerbewegungen
am zentralen „runden Tisch“ vor. Ben engagiert sich zusammen mit Rechtsanwalt Bergmann
in einer Gruppe, die die Stasi-Zentrale besetzt, um die weitere Vernichtung von Stasiakten zu
verhindern. Bei den vielen Dokumenten kommen Bens alte, beschlagnahmte Lieder zum
Vorschein. Anna ruft aus Prag an, wo auf dem Wenzelsplatz demonstriert wird.
       Wieder wird Silvester im Park Rosenheim gefeiert. Am Ortsschild steht jetzt: „Leipzig
Heldenstadt“. Ben und Gesa reflektieren über das Verschwinden der imaginären
Himmelsrichtung ‚Osten‘.
       Dr. Bergmann hat eine Partei gegründet. Zusammen mit Tillmann schreibt er einen
Verfassungsentwurf, der am zentralen runden Tisch in Berlin präsentiert werden soll. Der
Entwurf wird dort jedoch nicht priorisiert; zuerst sollen die freien Wahlen organisiert werden.
Die Freunde fahren zu „runden Tischen“ und Demonstrationen im ganzen Land, wo sie „gleich
nach den Gastrednern aus Bonn“30 sprechen dürfen. Ben und seine Freunde sind der Meinung,
dass die DDR erst mal demokratisch werden muss, und dass die Konsequenzen des zweiten
Weltkrieges, die zur Teilung geführt haben, mit den östlichen Nachbarstaaten geklärt werden
sollen, bevor man über eine Einigung spricht. Gleichzeitig wird eine andere Entwicklung
vorangetrieben. Werbeplakate aus dem Westen schüren das Verlangen nach „Westkohle“31 und
Rufe nach „Deudschlond aenisch Vodorland“32 werden laut. Mario wird in der neuen
Übergangsregierung zum Minister ohne Amtsbereich ernannt.

30
   Ebd., S. 224.
31
   Ebd., S. 226.
32
   Ebd., S. 222.

                                              12
Beim Sortieren der Stasiakten finden Tillman und Ben Akten, die ihre Gruppe betreffen.
Ein Dokument von Anfang Dezember mit dem Vermerk: „Betrifft: Isolierung und
Eliminierung“33 zeigt, dass eine Inhaftierung im Internierungslager geplant war.
        Nach einem Besuch mit Gesa in Westdeutschland, wo ihnen alles bunt und leicht
erscheint, ist Ben erleichtert, wieder in seine heimelige Wohnung zurückzukehren, während
Gesa erklärt, dass sie mit dem Kind unmöglich in diesem “selbstgebastelten Käfig“34 leben
kann.
        In der Nacht vor der Wahl enthüllt Mario Information über Stasi-Mitarbeiter, die die
Gruppe infiltriert haben: „Dr. Bergmann, Offizier im besonderen Einsatz. Magnus, Informeller
Mitarbeiter. Odin, Gesellschaftlicher Mitarbeiter Sicherheit. […] Dorothees witziger
Soziologiestudent, Informeller Mitarbeiter mit besonderem Aufgabenbereich.“35. Dazu gäbe
noch ein paar noch unidentifizierte Spitzel, darunter „der fleißigste Überwacher […]
Deckname: Daniel“.36
        Im Büro finden die Freunde Adrian, der sich an der Lampe erhängt hat. Die im Brief
eingefügte Erzählung endet mit den Worten: „Weiße Turnschuhe. Es war Adrian.“37. Im „epilog
für sophie“, in dem wieder an die Briefform angeknüpft wird, wird die Geburt der Tochter am
Tag der freien Volkskammerwahl wie auch der direkt darauf folgende, wortlose Bruch
zwischen Ben und Gesa geschildert. Nachdem Gesa jeden Kontakt verweigert hat, schmeißt
Ben seine Gitarre zum Fenster hinaus und geht als Journalist nach Jerusalem.
        Im Epilog erzählt Ben seiner Tochter die Geschichte vom Tierparkbären, der, nachdem
er ein großes, schönes Gehege bekommen hat, dieselbe begrenzten Bewegungen wiederholt, zu
denen er in seinem früheren Käfig gezwungen war. Abschließend erzählt er, dass er von Rabet
erfahren hat, dass sein Bild vom Pfad ins Vollkommene ein verheerendes Feuer mit ein paar
Beulen überlebt hat und dass das Haus, obwohl mittlerweile fast zur Unkenntlichkeit renoviert,
durch seinen einmaligen Grundriss erkennbar bleibt.

2.3 Der Protagonist und seine Antagonistin
Zum Protagonisten wählt Martin Jankowski den bürgerlich-angepasst erzogenen, einfühlsamen
Liedermacher Ben, der sein eigenes Leben in Freiheit gestalten will. Er ist ein Dichter, der
Veränderung will und der sich von nichts und niemandem vereinnahmen lassen will.

33
   Ebd., S. 230.
34
   Ebd., S. 239.
35
   Ebd., S. 241–242.
36
   Ebd.
37
   Ebd., S. 243.

                                              13
Zusammen mit seiner Freundin Gesa gehört er einem Freundeskreis an, der aus eigener
Betroffenheit heraus zur Aktion schreitet und ein unterstützendes Netzwerk unter dem Dach
der Kirche aufbaut.
      Angezogen vom „Geruch der Gärung“38 will Ben dort sein, wo Veränderung möglich ist.
Oft zögert er und staunt über den Mut der anderen. Benjamin Grassmanns Zuverlässigkeit als
Berichterstatter wird paradoxal dadurch gestärkt, dass er oft ambivalente Gefühle zeigt – das
wirkt als Ehrlichkeit und macht ihn zu einem Menschen, mit dem sich der Leser identifizieren
kann. Die gemischten und wechselnden Gefühle des Protagonisten – Hoffnung und Angst,
Verwirrung und Entschlossenheit – bewirken zusammen mit dem Rätsel der gescheiterten
Beziehung, dass die Spannung durch den ganzen Roman hindurch aufrechterhalten wird. Die
Ambivalenz des Protagonisten schützt vor einem Sich-Zurücklehnen beim Lesen einer
Geschichte über die ‚Wendezeit‘, deren glücklichen Ausgang man schon zu kennen meint; der
Roman steuert nicht auf ein beruhigendes Happyend zu.
      Die Interaktion zwischen Ben und Gesa lässt beim Leser ein empfindendes Miterleben
entstehen. Schon am Anfang ihrer Beziehung wirft Gesa Ben vor, in einem selbstgebastelten
„Wunderland“39 verharren zu wollen. Sie ist stets diejenige, die versucht, Bens Musikerkarriere
anzuregen, zum Beispiel indem sie Odin dazu bewegt, einen Auftritt an einem Festival zu
organisieren. Bei der Arbeit in der Opposition flößt Gesa Ben Mut ein und treibt ihn immer
wieder zum Handeln an. Obwohl Ben zu immer mutigeren Taten zu bewegen ist, verteidigt er
seine bohemische Lebenseinstellung und betrachtet Gesas Ideale je länger je mehr als allzu
bürgerlich.
      Während Gesa Mathematik studiert, sind Zahlen für Ben „etwas kaltes, Anorganisches,
etwas, was die Welt ihren Zauber“40 nimmt. Gesa denkt strategisch. Sie spricht, genau wie
Adrian, davon, „Tatsachen [zu] schaffen“41 und zielt auf Veränderung und Erfolg. In ihren
Kalkulationen ist sie bereit, auch mit Gegnern zu kooperieren, wenn es der Sache dient, wie
zum Beispiel mit dem Superintendenten Magnus, der versucht hat, die Gestaltung der
Friedensandachte      zu    unterbinden.42      Solange     sie   in   der    oppositionellen    Arbeit
zusammenarbeiten, sind Ben und Gesa ein gutes Team, obwohl Gesas Freiheitsverständnis Ben

38
   Martin Jankowski: Rabet oder Das Verschwinden einer Himmelsrichtung. Scheidegg 1999, S. 16.
39
   Ebd., S. 34.
40
   Ebd., S. 37.
41
   Ebd., S. 73, 88.
42
   Ebd., S. 73.

                                                   14
hin und wieder verunsichert, zum Beispiel, was ihre Beziehungen zu Mario und Adrian
betrifft.43
       Nicht nur durch ihre teilweise entgegengesetzten Perspektiven, sondern vor allem durch
den für Ben schwer nachvollziehbaren Aufbruch nach der Geburt der Tochter, agiert Gesa in
der Erzählung als Antagonistin. Dass eine Aussprache über Adrians Schicksal sowie über Gesas
Verhältnis zu Adrian und, damit zusammenhängend, eventuell zur Stasi nicht möglich ist,
belastet auch nach zehn Jahren das Verhältnis zwischen Ben und Gesa und dadurch auch die
Beziehung zwischen Ben und seiner unbekannten, nach Adrian benannten Tochter.
       Nach der freien Wahl und der Geburt ihrer Tochter emigrieren sowohl Gesa als auch Ben
in hektische Gegenden, wo sie sich auf den Aufbau einer Berufsidentität konzentrieren – Gesa
als Strategin bei der Marketinganalyse, Ben als Journalist.44 Gesa nutzt die neuen
Möglichkeiten einer finanziell abgesicherten Existenzgründung voll aus. Die Arbeit in einem
Konfliktgebiet ermöglicht Ben, die nicht verarbeitete Trennung                         und die damit
zusammenhängenden Wirrnisse der letzten DDR-Monate zu verdrängen. Das funktioniert auch,
bis der Brief mit der Ansprache „Vater“ den Anstoß zum Erinnern gibt. Die Einsicht wächst:
„Nichts ist verschwunden“45. Die Metapher vom Wind, der die Familienmitglieder wie
Teilchen in verschiedene Richtungen gewirbelt hat, beinhaltet auch die Hoffnung, dass ein
neuer Windstoß sie einander wieder näher bringen kann, denn „sie sind alle noch da“46. Es gibt
nicht nur Brüche, sondern auch Kontinuitäten.
       Die Gegenüberstellung vom Protagonisten und seiner Antagonistin funktioniert auch als
Metapher für unterschiedliche Perspektiven und Strategien, die, nachdem sie in
Extremsituationen zugespitzt          werden,    unvereinbar scheinen, die            aber   gerade     im
Zusammenwirken die Veränderungen in Gang bringen können.

3. Merkmale und Funktion des erinnernden Erzählens
Bei der Beschreibung von Jankowskis fiktionalem Erzählen im Roman Rabet gehe ich von
Begriffen aus, die Edgar Platen in der Studie Perspektiven literarischer Ethik. Erinnern und
Erfinden in der Literatur der Bundesrepublik hervorhebt.47 Vorwiegend anhand von Werken

43
   Ebd., S. 35, 122, 127, 176.
44
   vgl. die Diskussion über Darstellungen der Identitätsbildung in Jankowskis Roman Rabet bei Guro Søvik:
„Waren wir ein Leben lang auf Wolken herumgelaufen und hatten sie für festen Boden gehalten?“ Aspekte der
Identitätskonstitution in vier Wende-Romanen. Oslo 2003, S. 61–67.
45
   Martin Jankowski: Rabet oder Das Verschwinden einer Himmelsrichtung. Scheidegg 1999, S. 8.
46
   Ebd., S. 9.
47
   vgl. Edgar Platen: Perspektiven literarischer Ethik. Erinnern und Erfinden in der Literatur der
Bundesrepublik. Tübingen und Basel 2001, S. 93–95, 106–109.

                                                    15
über die Shoah beschreibt Platen hier, wie im fiktionalen Erzählen gegenwartsrelevante
Themen erfahrbar gemacht werden.

3.1 Die ethische Qualität des Ästhetischen im fiktiven Erzählen
Fiktive Erzählungen, die erinnernd und erfindend ein reales Geschehen beschreiben, stehen im
Kontrast zu einer vermeintlich objektiven Geschichtsschreibung,48 die von einer distanzierten
Warte das vergangene Damals zu einer Abstraktion reduziert, deren Kausalitäten im
Nachhinein konstruiert wurden.49
       Im fiktionalen Erzählen ist das erzählende Ich sich bewusst, dass es mögliche
Wirklichkeiten beschreibt, inklusive Wünsche, Sehnsüchte und Hoffnungen. Durch die von der
Fiktion ermöglichten Imagination des Lesers wird das Erzählte erlebbar: dem Imaginierten wird
ein Wirklichkeitswert verliehen. Durch diese Aktualisierung beim Leser gewinnt das Erzählte
für die Gegenwart Relevanz. In der mehrdimensionalen Wirklichkeit der Literatur, in dem es
keine Scheidelinien zwischen Vergangenem, Gegenwärtigem und Künftigem gibt, ist der
Mensch in seinem Denken und Handeln frei. Dies gilt sowohl im Sinne von ‚was wäre gewesen,
wenn‘ innerhalb der Romanhandlung, als auch im Sinne von ‚ich könnte‘ in der realen
Gegenwart des Lesers. Diese Freiheit des Denkens und des Handelns beschreibt Platen als eine
ethische Qualität des Ästhetischen, eine Qualität, welche die Fiktion von der reinen
Dokumentation oder distanzierten Geschichtsschreibung unterscheidet.50

3.2 Metaphorisches und Dialogisches im fiktiven Erzählen
Wichtige Konstituenten des fiktiven Erzählens sind, mit Platens Begriffen, das Metaphorische
und das Dialogische.51 Das Metaphorische kommt dabei nicht nur in Metaphern zum Ausdruck,
sondern in jeder durch die Sprache evozierten Imagination, die das Eindeutige unterwandert
und den Leser zum Erkennen neuer Sinnzusammenhänge einlädt.52 Das Dialogische entsteht
sowohl in der Begegnung zwischen Text und Leser als auch in Gesprächen, die durch die
Literatur angeregt werden. Der Leser tritt in Dialog mit dem Text, der Text stellt Fragen an den
Leser und das Gelesene lebt, Gegenwart und Zukunft beeinflussend, im Gespräch weiter.

48
   vgl. ebd., S. 119–127.
49
   vgl. ebd., S. 94–95, 102.
50
   vgl. ebd., S. 31–40.
51
   vgl. ebd., S. 129–148.
52
   vgl. ebd., S. 142.

                                              16
4. Zum Begriff ‚Wende‘: ‚Wendeliteratur‘ und die Erinnerungskultur
4.1 Problematisierung des Begriffs ‚Wende‘
Sowohl aus den Texten auf dem Schutzumschlag des Romans53 und den kommentierenden
Texten auf der Autorenwebseite zum Buch54 als auch aus den zahlreichen Autoreninterviews55,
die häufig im Zusammenhang mit ‚Wende‘-Jahrestagen entstanden sind, geht hervor, dass der
Roman als erzählerisches Korrektiv zur Erinnerungskultur der friedlichen Revolution zu lesen
ist. Auf die korrigierenden und komplettierenden Beiträge Jankowskis wird in Kapitel 6
ausführlicher eingegangen, während an dieser Stelle die Problematik des in diesem Aufsatz
unausweichlichen ‚Wende‘-Begriffs erläutert werden soll.
      Der Begriff ‚Wende‘ kann viele Aspekte und Prozesse umfassen. Dazu gehören die
Aktivitäten der Opposition (auch vor 1989), die Massendemonstrationen der friedlichen
Revolution, der Rücktritt des Politbüros am 3. Dezember 1989, die zentralen Runden-Tisch-
Gespräche vom 7. Dezember 1989 bis zum 12. März 1990 (und dazu alle regionalen und lokalen
Runden-Tisch-Gespräche), das Einschränken der Macht der Modrow-Regierung und die
Stürmung der Stasizentrale in Berlin am 15. Januar 199056, die Ernennung von Bürgerrechtlern
zu Ministern in der „Regierung der nationalen Verantwortung“ am 5. Februar 199057, die freie
Volkskammerwahl am 18. März 1990, die Zwei-plus-Vier-Gespräche58, die Verabschiedung
des Treuhandgesetzes am 17. Juni 199059, die Währungs- Wirtschafts- und Sozialunion am 1.

53
   „Der Autor ist einer von ihnen gewesen. Poetisch öffnet er im Roman die Zellen des Aufbruchs und erzählt
erstmals die intime Geschichte der deutschen Wende, fiktiv die Personen, real das Geschehen. Ein Geschehen,
das uns so noch niemand geschildert hat. Ein paar wackere Legenden wird man neu diskutieren müssen.“ Martin
Jankowski: Rabet oder Das Verschwinden einer Himmelsrichtung. Scheidegg 1999, Schutzumschlag.
54
   Martin Jankowski: Martin Jankowski. Autor. Rabet oder Das Verschwinden einer Himmelsrichtung. 2017.
Zugänglich unter: https://martin-jankowski.de/rabet-oder-das-verschwinden-einer-himmelsrichtung/.
55
   vgl. Martin Jankowski: Martin Jankowski. Autor. Presse. 2017. Zugänglich unter: https://martin-
jankowski.de/press/.
56
   Hans Misselwitz: Nicht länger mit dem Gesicht nach Westen – das neue Selbstbewußtsein der Ostdeutschen.
In: UTOPIE kreativ. 1997. Zugänglich unter:
https://www.rosalux.de/publikation/id/3052/utopie-kreativ-78?cHash=8404fa2babb657a0abf98d8e71bb087b.
57
   Die Bundesregierung: 5. Februar 1990 - Auf dem Weg zur Deutschen Einheit. Acht zusätzliche Mitglieder für
den Ministerrat. 2021. Zugänglich unter: https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/acht-zusaetzliche-
mitglieder-fuer-den-ministerrat-437430.
58
   Die Einigungsverhandlungen der beiden deutschen Staaten und der vier Siegermächte des zweiten Weltkriegs,
Frankreich, der Sowjetunion, Großbritannien und den USA. Vgl. dazu: Markus Meckel: Zu wandeln die Zeiten.
Erinnerungen. Leipzig 2020, S. 387–408, auch in: Markus Meckel: 2 plus 4: „Ihr könnt mitmachen, aber nichts
ändern“. 11.09.2020. Zugänglich unter:
https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/315302/2-plus-4-ihr-koennt-mitmachen-aber-
nichts-aendern.
59
   Bundeszentrale für politischen Bildung: Die Geburtsstunde der Treuhand. 16.06.2020. Zugänglich unter:
https://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/201919/1990-gruendung-der-treuhand.

                                                    17
Juli 199060 und die deutsche Einigung am 3. Oktober 199061 sowie die ganze damit verbundene
Gesellschaftsumwandlung. Dass sich der Begriff ‚Wende‘ eingebürgert hat, kann
paradoxerweise mit dieser Vagheit zu tun haben. Die Offenheit des Begriffs ermöglicht eine
Anwendung ohne nähere Präzisierung. Als kurzes Wort lässt es sich auch gut in neuen
Wortbildungen einfügen.
      Dennoch ist es ein vertuschendes Wort, erfunden Mitte Oktober von der bis zum 3.
Dezember staatstragenden Partei SED62. In einem eitlen Versuch, die Machtposition der SED
zu retten, wollte man mit dem Begriff ‚Wende‘ vortäuschen, dass die nötigen Veränderungen
vom Zentralkomitee initiieret und kontrollieret waren.63 Zu Martin Jankowskis erzählerischem
Korrektiv zur Erinnerungskultur gehört es, diese Legende zu entlarven, da sie die Bedeutung
der demonstrierenden Massen verschleiert.64 Um zu verdeutlichen, dass ‚Wende‘ ein
problematischer Begriff bleibt, sind in diesem Aufsatz alle ‚Wendebegriffe‘ mit halben
Anführungszeichen versehen.

4.2 Der ‚Wenderoman‘ im Zusammenhang mit der Erinnerungskultur
In seinem Aufsatz „Phantomjagden und Selbstvernichtungen: ‚Wenderoman‘ und
‚Wendeliteratur‘ auf der Spur“65 schildert Frank Thomas Grub sowohl die schon Ende 1989
entstandene Erwartung auf den ‚Wenderoman‘ als auch die metaliterarische Diskussion über
diese Erwartungen. Grub unterstreicht, dass die Erwartungen auf den ‚Wenderoman‘ auf „ein
Interesse an Literatur, die sich mit Zeitgeschichte auseinandersetzt“66 zeigt, und folgert:
„Zugleich besteht offenbar ein Bedürfnis, jene Zeitgeschichte erklärbar zu machen und in
irgendeiner Form ‚sinnvoll‘ zu ordnen.“67 Das sinnvolle Ordnen gehört eben zu dem, was der

60
   Die Bundesregierung: 1. Juli 1990 – Auf dem Weg zur Deutschen Einheit. D-Mark wird Zahlungsmittel in der
DDR. 2021. Zugänglich unter:. https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/d-mark-wird-zahlungsmittel-
in-der-ddr-353940.
61
   Constanza Calabretta: Feiern und Gedenken: Zur Entwicklung einer gemeinsamen Erinnerungskultur seit dem
3. Oktober 1990. 07.08.2015. Zugänglich unter: https://www.bpb.de/apuz/210540/feiern-und-gedenken-zur-
entwicklung-einer-gemeinsamen-erinnerungskultur-seit-dem-3-oktober-1990.
62
   Sozialistische Einheitspartei Deutschlands
63
   Der neue Ministerpräsident Krenz in seiner Antrittsrede am 18.10.1989: „Mit der heutigen Tagung des
Zentralkomitees werden wir eine Wende einleiten, wir werden vor allem die politische und ideologische
Offensive wiedererlangen. Zitiert nach: Deutscher Bundestag. Wissenschaftliche Dienste: Der Begriff „Wende“
als Bezeichnung für den Untergang der DDR. 2019. Zugänglich unter:
https://www.bundestag.de/services/suche?suchbegriff=wende+friedliche+revolution.
64
   vgl. ebd.
65
   Frank Thomas Grub: Phantomjagen und Selbstvernichtungen: ‚Wenderoman‘ und ‚Wendeliteratur‘ auf der
Spur. In: Linda Karlsson Hammarfelt, Edgar Platen, Petra Platen (Hrsg.): Mauerfall und andere Grenzfälle. Zur
Darstellung von Zeitgeschichte in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur. München 2020, S. 14–35.
66
   Ebd., S. 28.
67
   Ebd.

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Fiktion eigen ist: die Imagination so zu beleben, dass das Gelesene für die Wirklichkeit des
Lesers relevant wird.
      Als Beispiel dafür, dass „mit wachsendem Zeitabstand […] die Forderung […]
zunehmend auf einer Metaebene thematisiert“68 wird, zitiert Grub Sabrina Wagners Aussage
über den ‚Wenderoman‘:

      Das Label ist eine Wunschvorstellung, Ausdruck einer kaum zu erfüllenden Erwartung an
      die Literatur. […] Der ultimative Zeitroman mit universellem Deutungsanspruch soll es sein,
      allgemeingültige Orientierungsgröße, verbindliche Selbstbespiegelung einer ganzen
      Gesellschaft – nicht gerade wenig.69

Im zitierten Artikel benennt Wagner die Bedeutung des fiktionalen Erzählens für die
Erinnerungskultur: „Literatur als Vermittlerin und Erinnerungsspeicher: Was der Historiker
allein nicht einzufangen vermag, können Romane abbilden.“70 „Die Vermittlerin“ ist auch die
Rubrik eines Interviews, in der Hebatallah Fathy schildert, wie sie in ihren Universitätskursen
Jankowskis Roman zusammen mit ägyptischer Literatur diskutieren lässt, und wie Jankowskis
Text im transkulturellen Zusammenhang zur Reflektion einlädt: „‚Die Erfahrungen von
Unterdrückung und die Sehnsucht nach Freiheit sind universell.‘“71
      Wenn man den Zusammenhang zwischen Literatur und Erinnerungskultur weiterdenkt,
könnte der perfekte ‚Wenderoman‘ als Erinnerungsort beschrieben werden, der einen Beitrag
zur Aufklärung, zur Aufarbeitung und zum Ringen um eine gemeinsame Identitätsbildung
leistet. Weiter könnten Parallelen gezogen werden zwischen der Hoffnung auf den
‚Wenderoman‘ und auf eine Erinnerungskultur, die ein harmonisch abgerundetes Bild der Zeit
zwischen 1945 und 1989 vermitteln würde. Dass der ‚Wenderoman‘ immer noch nicht gekürt
wurde, könnte damit zusammenhängen, dass es eben zum fiktionalen Erzählen gehört, keine
eindeutige und abgeschlossene Kausalität zu vermitteln, sondern, im Gegenteil, die
unabgeschlossene Vergangenheit in all ihrer Widersprüchlichkeit in die Gegenwart zu holen.

68
   Ebd., S. 24.
69
   Sabrina Wagner: Der Wenderoman im Wandel der Zeit. 25 Jahre deutsche Einheit – auch in der Literatur? In:
Der Tagesspiegel. 17.10.2015. Zugänglich unter: https://www.tagesspiegel.de/politik/25-jahre-deutsche-einheit-
auch-in-der-literatur-der-wenderoman-im-wandel-der-zeiten/12461422.html. Hier zitiert nach: Frank Thomas
Grub: Phantomjagen und Selbstvernichtungen: ‚Wenderoman‘ und ‚Wendeliteratur‘ auf der Spur. In: Linda
Karlsson Hammarfelt, Edgar Platen, Petra Platen (Hrsg.): Mauerfall und andere Grenzfälle. Zur Darstellung von
Zeitgeschichte in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur. München 2020, S. 25.
70
   Sabrina Wagner: Der Wenderoman im Wandel der Zeit. 25 Jahre deutsche Einheit – auch in der Literatur? In:
Der Tagesspiegel. Zugänglich unter: https://www.tagesspiegel.de/politik/25-jahre-deutsche-einheit-auch-in-der-
literatur-der-wenderoman-im-wandel-der-zeiten/12461422.html.
71
   Martina Scherf: Die Vermittlerin. In: Süddeutsche Zeitung. 04.01.2017. Zugänglich unter:
https://www.sueddeutsche.de/muenchen/sehnsucht-nach-freiheit-die-vermittlerin-1.3320582?reduced=true.

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Platen stellt fest, dass Literatur, die – weil es zum Wesen der Literatur gehört – „eine
Verbindung von Geschichte und Gegenwart“ darstellt, „einer besonderen Gefahr des Verrisses
ausgesetzt sind, weil offenbar mehr der historische Stoff erwünscht ist als der direkte Aufschluß
zur Gegenwart“72.
         Mittlerweile gibt es eine Menge ‚Wenderomane‘, die keinen Anspruch darauf erheben,
der ‚Wenderoman‘ zu sein. Man könnte überlegen, ob nicht gerade fiktiven Erzählungen in der
Erinnerungskultur einen größeren Platz eingeräumt werden müsste, um die Herausbildung eines
mehrdimensionalen und zur Disharmonie fähigen Erinnerungsdiskurses zu fördern. Dieselbe
Argumentation gilt selbstverständlich auch für andere kulturelle Darstellungen.
         Bevor auf die literarische Gestaltung des Romans eingegangen wird, soll der
Zusammenhang zwischen Martins Jankowskis unterschiedlichen Texten zur DDR und zur
friedlichen Revolution erläutert werden.

4.3 Martin Jankowskis ‚wendeliterarische Texte‘
Jankowskis Texte zur friedlichen Revolution machen nur einen Teil seines schriftstellerischen
Oeuvres aus.73 In seinen Texten aus den letzten 35 Jahren liegt, was Grenzüberschreitungen
und Transformationen betrifft, eine thematische Kontinuität vor, obwohl die meisten seiner
Texte nicht von der ‚Wendezeit‘ oder vom Leben in der DDR handeln.74 Hier stehen seine
Beiträge zur ‚Wendeliteratur‘ im Fokus, da einige von Jankowskis ‚Wendetexten ‘mit dem
Roman Rabet eng verwoben sind:

     •    Die Lieder („Sonx“), welche der Protagonist im Roman bei den Friedensgebeten
          vorführt, sind mit den „Sonx“, die der Autor in den 1980er Jahren geschrieben und bei
          inoffiziellen Konzerten aufgeführt hat, identisch. Viele dieser Lieder wurden in
          inoffiziellen Publikationen und in Heften mit dem Vermerk „nur für den
          innerkirchlichen Dienstgebrauch“ vervielfältigt.75 Das Lied mit dem Titel meine ahnung

72
   Edgar Platen: Perspektiven literarischer Ethik. Erinnern und Erfinden in der Literatur der Bundesrepublik.
Tübingen und Basel 2001, S. 68.
73
   vgl. Literaturport: Martin E. Jankowski. 13.12.2017. Zugänglich unter: https://www.literaturport.de/Martin-
E.Jankowski/; Julia Schmitz: Das Salönchen am Kolle. In: Prenzlauer Berg Nachrichten. 05.09.2019.
Zugänglich unter: https://www.prenzlauerberg-nachrichten.de/2019/09/05/das-saloenchen-am-
kolle/#scroll_to_steady_paywall.
74
   vgl. den biographischen Text bei https://martin-jankowski.de/bio/ und die Webseiten mit Links zu
Pressestimmen https://martin-jankowski.de/press/, zu Jankowskis Veröffentlichungen https://martin-
jankowski.de/books/ und zu seinen Projekten https://martin-jankowski.de/projects/.
75
   Ein Gedicht mit dem Titel „Kopfstein“ und mit der Unterrubrik „(Rabet, im Hebr. Rbt = gepflasterte Erde)“
findet sich in einem solchen Heft mit Jankowskis Gedichten. Martin Jankowski: Der forsche Geist des 20.
Jahrhunderts. Texte. Lieder. Leipzig 1988, S. 21.

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