"Norwegian Highlights" - Technisches Licht und optisches Präparat

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»Norwegian Highlights« – Technisches Licht und
                             optisches Präparat
                             Henning Groscurth (Köln)

                                        13.01.2012

Anlässlich der Weltausstellung des Jahres 1878 erscheint Paris im neuen Licht
der elektrischen Straßenbeleuchtung. Auf einem dreiviertel Kilometer entlang
der prachtvollen Avenue de l’Opera aber auch auf einigen der schönsten Fassaden
der Metropole protestiert eine nie gesehene Lichtfülle gegen die Zumutung des
nächtlichen Dunkels.
     Ihren kommerziellen Zweck sollte die Pariser Leistungsschau nicht verfeh-
len. Wie die New York Times damals berichtete, stießen die erstmals zu einem
„new system of general illumination“ 1 verbundenen Einzelentwicklungen in ei-
ner Vielzahl europäischer Städte auf reges Interesse. Bald schon wird aus dem
norwegischen Hammerfest berichtet werden, dass zwei Kaufleute sich auf den
Weg nach Paris machen, um die Annehmlichkeiten des elektrischen Straßen-
lichts in der nördlichsten Stadt Europas einführen zu können.2 In den dortigen
bedrückend langen Winternächten, während denen zwischen dem 22. November
und dem 21. Januar die Sonne gar nicht erst aufgeht, steigert sich das neue
Leuchtmittel zum regelrechten Lebensmittel.

Technisches Licht
Jürgen Naber verbrachte längere Zeit in Norwegen. Mit seiner nachstehend prä-
sentierten Werkserie ruft er die im Hammerfest des Jahres 18903 beginnende
Geschichte des elektrischen Straßenlichts in Norwegen fotographisch in Erinne-
rung. Seine Bilder des technischen Lichts sind über hundert Jahre nach dessen
Einführung entstanden. Sie vermitteln nichts mehr von der Faszination Technik,
vom flirrend elektrifizierten Leben und dem Aufbruch in ein neues Jahrhundert.
Und man muss erst ins halbdunkle Norwegen am nördlichen Ende Europas rei-
1   Electric Street Lights, in: The New York Times 1878.
2   Vgl.: J. Proctor: Lapland (Bradt Travel Guide), 2012, S. 170.
3   Vgl.: Bureau d. Prakt. Maschinen-Constructeur (Hrsg.): Verkehrszeitung und industrielle
    Rundschau (Uhland’s Wochenschrift für Industrie und Technik Bd. 12), Leipzig 1898, S. 74.

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sen, um ein Gespür für den Charme der von Naber so spektakulär belichteten
Beleuchtung zu entwickeln.
     Mit dem Licht, zumal dem technischen, wählt Naber ein anspruchsvolles
Sujet. Nicht zuletzt aktualisiert die Fotographie hier Bestrebungen des gezielten
Aufzeigens von Licht, deren Einsatz etwa mit Rembrandt und Vermeer in den
„Lichtgefügen“ 4 der Malerei des 17. Jahrhunderts zu markieren ist. Sehr viel
mehr denn als Epigone aber besteht Nabers heutige Auseinandersetzung mit
der ‚Abblendung von Blendung‘ in einem Dialog mit künstlerischen Positionen
der zeitgenössischen Fotographie. Hier sind vor allem Fotographen zu nennen,
in deren Arbeiten das technische Licht zu einem Stilmittel avanciert, das nicht
nur dem Aufzeigen durch Licht, sondern darin gerade auch dem Lokalisieren von
Licht dient.
     Zu nennen sind hier etwa die Arbeiten Thomas Weinbergers, Michael Wese-
lys, Thomas Bachlers, Thomas Graichens und Hiroshi Sugimotos. Ihnen gemein-
sam ist eine radikale Reflektion auf das mit der Fotographie technifizierte Licht
und der Ausformulierung ihrer Einsichten zu einer nachgerade ästhetischen Po-
sition. Was die Wohlstimmigkeit einer als „richtig“ empfundenen Belichtung an-
geht, so demonstrieren die Künstler nicht bloß die bewusste Abweichung von der
Norm auf so eindrucksvolle wie eigensinnige Weise. In ihren Doppel- und Lang-
zeitbelichtungen muss das Licht im Raum auf eine Weise präsent sein, sodass
es als „optisch evozierte Raumformel“ 5 erst seine Wirkung auf den Betrachter
entfalten kann. Entsprechend bedeutet Fotographie ihnen mehr als die einfa-
che bildgebende Methode. Es besteht ein Unterschied zwischen der schlichten
Notwendigkeit des lichteinschreibenden Effekts und der Ästhetisierung dieser
Selbstverständlichkeit in einer fotographischen Form, die dem Betrachter die
sinnliche Erfahrung der technischen Charakterismen des neuen Lichts anheim
stellt.6
     Diesen ästhetischen Reflektionen auf das technische Licht stehen Jürgen Na-
bers fotographische Arbeiten in Nichts nach. Zugleich verschafft das von ihm
ins Bild gesetzte technische Licht der Erfahrung nordwärts länger und länger
währender Nächte einen Plausibilitätsschub, der der skeptischen Einstellung des
4   Carolin Bohlmann/Thomas Fink/Philipp Weiss (Hrsg.): Lichtgefüge des 17. Jahrhunderts:
    Rembrandt und Vermeer – Spinoza und Leibniz, München 2008.
5   Carolin Bohlmann: Lichtgefüge: das Licht im Zeitalter von Rembrandt und Vermeer, in:
    Lichtgefüge: das Licht im Zeitalter von Rembrandt und Vermeer, hrsg. v. Museumsland-
    schaft Hessen Kassel/Forschungsgruppe Historische Lichtgefüge, Bd. 46 (Katalog der Mu-
    seumslandschaft Hessen Kassel), Petersberg 2011, Kap. Zeitgenössische Werke, S. 168–171,
    hier S. 168.
6   Vgl. dazu die aufschlussreichen Bildbesprechungen zeitgenössischer Fotographie in dem Ka-
    talog zur Ausstellung Lichtgefüge – Das Licht im Zeitalter von Rembrandt und Vermeer
    (2011).

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Philosophen Hans Blumenberg gegenüber dem Eindringen „technischer Charak-
tere“ 7 in die Lichtmetaphorik entgegenzuwirken vermag.

            „Aber nur weil diese Möglichkeiten des gezielten Lichts überhaupt
        einmal entdeckt worden sind, konnte die Technik zu dieser Entde-
        ckung schließlich die gewaltsamsten Mittel erschließen, und es ist si-
        gnifikativ, daß der Name ‚Illumination‘ auf die rücksichtslose Akzent-
        setzung des künstlichen Lichts Anwendung findet, auf die technische
        Selektion und Überhöhung des als einzig sichtwürdig unübersehbar
        zu machenden Menschenwerks.“ 8

Blumenbergs Bedenken angesichts einer über Sichtwürdigkeit und -Unwürdigkeit
verfügenden Hybris der Illumination muss man nicht unbedingt teilen. Was
aber das von Blumenberg als Metapher der Wahrheit behandelte Licht betrifft,
so müssen wir einsehen, dass die natürliche Leichtigkeit, mit der sie „von sich
her sich durchsetzt“ 9 mit dem technischen Licht verloren ist. Stattdessen muss
Wahrheit gezeigt, ihr Licht systematisch und mit Methode zugeführt werden.
      Lässt sich daher neben der rein technischen Behauptung der neuen Möglich-
keiten der Beleuchtung noch von einer erfolgreichen Behauptung jener histori-
schen Sinnhorizonte und Sichtweisen des Lichts ausgehen, deren Paradigmatik
im philosophischen Denken Hans Blumenbergs so prominent behandelt wird?
Oder ist mit dem Aufkommen des technischen Lichts eine maßgebliche Um-
formung innerhalb der historischen Lichtmetaphorik zu konstatieren, von der
Jürgen Nabers Fotographie zugleich betroffen ist und zu berichten weiß?
      Ausschlaggebend für die nachstehenden Ausführungen soll die Beobachtung
sein, dass Jürgen Naber mit seiner »Norwegian Highlights« betitelten Werkserie
eine fotographische Reflektion auf die Technisierung des Lichts verbindet. Damit
gerät seine Fotographie auch zu einer Autopsie der mittlerweile gut eingeübten
Praxis der Lichteffekte, Lichtarchitektur und Lichtregie, mit denen das Beleuch-
tete, so ein zentraler Befund Blumenbergs, einer „Optik des Präparats“ 10 Preis
gegeben wird.
      Mit dem durch das technische Licht hervorgerufenen Präparatcharakter der
Wirklichkeit nehmen es die Arbeiten Jürgen Nabers auf. Zum Objekt der op-
tischen Präparation aber werden bei ihm die längs der Straße, des Gehsteiges
sich reihenden Leuchtkörper selbst. Eine extreme Kurzzeitbelichtung reduziert
die blendende Überhelle des optischen Präparats, trotzt ihr Sichtbarkeit ab.
7    Hans Blumenberg: Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philosophischen Be-
     griffsbildung, in: Anselm Haverkamp (Hrsg.): Hans Blumenberg. Ästhetische und metapho-
     rologische Schriften, Frankfurt a.M. 2001, S. 139–171, hier S. 170.
8    Ebd., S. 171.
9    Ebd., S. 168.
10   Ebd., S. 171.

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Naber konfrontiert die Lichtquellen mit ihrem Effekt, indem er ihre eigene prä-
parathafte Optik sichtbar werden lässt.

Lichtmetaphorik und fotographische Methode
Im Mittelpunkt der Philosophie Hans Blumenbergs steht das Projekt der Meta-
phorologie. Noch vor seiner 1960 erschienenen Programmschrift Paradigmen zu
einer Metaphorologie arbeitete Blumenberg an einer Reihe von Einzelstudien,
deren theoretische Essenz ihn zu jenem groß angelegten Projekt der europäi-
schen Geistesgeschichte führte. Dabei kommt insbesondere seiner beeindrucken-
den Studie zur Lichtmetaphorik (1957) eine geradezu wegweisende Bedeutung
zu.
      Die historische Metaphorologie interessiert sich für das Aufkommen bestimm-
ter Metaphern, die als „Grundbestände der philosophischen Sprache“ 11 für eine
logische „Verlegenheit“ 12 einspringen. Da es uns im Vorfeld der Begriffsgeschich-
te noch an terminologisch erfüllten Anschauungen mangelt, gebrauchen wir eine
aussagekräftige ‚Bildsprache‘, an der sich menschliches Denken und Handeln ori-
entieren kann. Die Metaphorologie kennt gar absolute Metaphern, wie die des
Lichts, denen ihre begriffliche Einholung und Konkretion grundsätzlich verwehrt
bleibt. In unseren alltäglichen Lebenswelten sind solche absoluten Metaphern
von permanenter Wirksamkeit. Wenn wir bspw. etwas ‚ins richtige Licht‘ zu
stellen beabsichtigen, dann ist in dieses korrektive Unterfangen auch die (neu-
zeitlich moderne) Lichtmetaphorik verstrickt.
      Das historische Aussagepotential der Lichtmetapher ist auf nicht weniger als
die Wahrheit bezogen. Ihrem Gebrauch nach sind Lichtmetaphern also etwas
für Metaphysiker, ihrer Reflektion nach etwas für die Philosophie der Meta-
pher. Ausgehend von der antiken Philosophie und dem hellenistischen Denken
verfolgt Blumenberg historisch bedeutsame Umformungen der Lichtmetaphorik
über das Mittelalter bis zur Aufklärung und ihrem Vorkommen in der moder-
nen Wissenschaft. Dabei eignet die Lichtmetapher insgesamt zur Anzeige von
Sachverhalten, auf die anders denn metaphorisch nicht mehr angemessen zu
verweisen ist. Licht, so könnte man sagen, ist auf das Eigentliche der Wahrheit
bezogen und verschafft ihr einen uneigentlichen Ausdruck.
      Es mag sich eingangs der Eindruck eingestellt haben, seinerzeit in Paris
habe das Licht selbst über eine geradezu ästhetisierende Ausstrahlung verfügt.
Aber bekanntermaßen ist das Licht ein sinnlich nicht erfahrbares Phänomen.
Sein ästhetischer Schein ist geborgt. Das Licht ‚zeigt‘ sich nur an dem, was es
11   Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie, 1. Aufl, Frankfurt am Main 1998,
     S. 10.
12   Ebd., S. 10.

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sichtbar werden lässt. Licht braucht die Reflexion durch ein Objekt, das in ihm
steht. Das macht die Natürlichkeit des Zusammenhangs zwischen Erhellung und
Sehen aus. Deshalb kann Hans Blumenberg in seiner berühmten Studie sagen,
dass „Wahrheit Licht am Sein selbst [ist]“ 13 .
      Gegenüber der sich selbst erhellenden Wahrheit befindet er eine bemerkens-
werte, mit der Entdeckung des Kunstlichts verbundene Umformung der Licht-
metapher. Wahrheit bietet sich nicht mehr wie zuvor selbst dar, sondern kann
Geltung allein als ein bloß möglicher Aspekt eines „Präparats“ 14 beanspruchen.
„Das Gegebene“, schreibt Blumenberg das optische Präparat an, „steht nicht
mehr im Licht, sondern es wird von einem bestimmten Aspekt her beleuch-
tet“ 15 .
      Gerade die jüngere Verfassung der Lichtmetapher in der Neuzeit ist außer-
ordentlich aufschlussreich auch für die Belange des fotographischen Verfahrens.
Seit Bacon und Descartes greift nicht nur die moderne Wissenschaft auf spe-
zifische Methodiken zurück, um regel- und verfahrensgeleitet zu Erkenntnis-
sen gelangen zu können. Auch die Fotographie ist eine Methode. Als eine auf
technisch-optische Weise über das Licht verfügende Methode verschafft sie ihren
Gegenständen nicht nur eine fotographische Wirklichkeit, sondern gleicherma-
ßen bewirkt sie die Legitimität der Fotographie innerhalb des Paradigmas der
Lichtmetaphorik. Die Optik des Präparats ist daher auch ein Effekt der Foto-
graphie, sofern sie als eine methodisch über das Licht verfügende Apparatur
Verwendung findet. Freilich dient diese nicht der Beleuchtung, sondern, dies
führt Nabers Fotographie auf ganz eigene Weise vor, stellt sie technische Mög-
lichkeiten zur Belichtung von Beleuchtung bereit.
      Innerhalb der Geschichte der Fotographie hat sich eine Vielzahl technisch-
optischer Methoden herausgebildet. Durch diese angeleitet, wird Sichtbarkeit
nicht mehr aufgrund des natürlichen Zusammenhangs von Erhellung und Se-
hen bewirkt, sondern die „Entselbstverständlichung“ 16 dieses Zusammenhangs
in der Belichtung wird technisch kompensiert durch Selektion und Überhöhung
der als sichtwürdig herauspräparierten Aspekte des fotographischen Objekts.
Perspektive, Fokus, Belichtungszeit, Blende sind die wesentlichen technischen
Parameter, über die der Fotograph zum Zweck der Selektion und Überhöhung
verfügt und bestimmte Aspekte des fotographischen Objekts heraus präpariert.
      An dieser Weise der optisch gezielten Herbeiführung eines fotographischen
„Präparats“ lässt sich eine bedeutende Umformung der modernen Lichtmeta-
phorik festmachen. Denn mit dem Aufkommen der lichtmanipulierenden, zumal
13   Blumenberg: Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philosophischen Begriffsbil-
     dung (wie Anm. 7), S. 142.
14   Ebd., S. 171.
15   Ebd., S. 170.
16   Ebd., S. 159.

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der fotographischen Methoden wird Licht erstmals als „verfügbar“ 17 gedacht.
Dass diesbezüglich der Fotograph von available light spricht, stellt geradezu
eine lichtmetaphorische Verwirrung angesichts der fotographischen ‚Verfügungs-
gewalt‘ über das Licht dar. In der Fotographie vollzieht sich die Umformung
von der Metapher des natürlichen zu der des künstlichen Lichts im Akt der
Belichtung. Das available light noch als natürlich verfügbares Licht zu denken,
erweist sich als obsolet, sobald es im Medium der Fotographie aufgrund der Dis-
ponibilität des technifizierten Lichts seiner Denaturalisierung anheim gestellt
wird.
      Licht als Metapher der Wahrheit ist also nicht mehr umfassend und ringsum,
sondern ihre Allverbindlichkeit löst sich in viele Wahrheiten, in die Relativi-
tät der Wahrheit angesichts der Wahl von Perspektive, Fokus, Belichtungszeit,
Blende auf. „Das Gegebene“, so historisiert Blumenberg die Natürlichkeit des
Zusammenhangs von Wahrheit und Sein, „steht nicht mehr im Licht, sondern es
wird von einem bestimmten Aspekt her beleuchtet“ 18 . Damit ist auch die Gewiß-
heit von fotographischen Sachverhalten, denen Wahrheit zukommen soll, nicht
mehr an eine schlichte, sich selbst offenbarende Sichtbarkeit gebunden. Vielmehr
gilt es, mögliche Wahrheiten des fotographischen Objekts gleichsam mit „Licht
zuführender Therapie“ 19 durch die Fotographie auf selektive und überhöhende
Weise zutage zu fördern.
  Mit der Betonung der fotographischen Verfügung über das Licht wird auch
der Winkel oder die Perspektive bedeutsam, aus denen der methodisch abgesi-
cherte Beobachter den Gegenstand in einem bestimmten Licht erscheinen lässt.
Und dass man kann die Dinge, wie man so sagt, von verschiedenen Seiten her be-
leuchten kann, zeigt Nabers Fotographie auf geradezu spektakuläre Weise. Mehr
noch können wir mit der fotographischen Verfügungsgewalt über das Licht einem
Aspektsehen den Vorzug vor einer „akzentlosen Präsenz des Darzustellenden“ 20
geben, die noch im Umfeld der Metaphorik des natürlichen Lichts am Werk war.
      Insgesamt also geht es Blumenberg wie Naber mit der modernen Lichtme-
taphorik darum, Form und Folge des Eindringens technischer Charaktere in
die Paradigmatik des natürlichen Licht auszuweisen. „Aus dem Licht“, so folgert
Blumenberg, „als einem ringsum herrschenden Medium [wird] der gerichtete und
dosierte Strahl der ‚Beleuchtung“ ‘.21 Das Licht, zumal das durch die technische
Optik der Fotographie (zu-)geführte Licht, muss nun als prinzipiell verfügbar
17   Blumenberg: Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philosophischen Begriffsbil-
     dung (wie Anm. 7), S. 170.
18   Ebd., S. 170.
19   Ebd., S. 169.
20   Ebd., S. 170.
21   Ebd., S. 170.

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gelten. Eine wesentliche Funktion der Lichtmetaphorik kann jetzt in der Loka-
lisierung, im gezielten Aufzeigen durch Licht bestehen.

Zur Belichtung von Beleuchtung
In seiner fotographischen Arbeit reflektiert Jürgen Naber auf die durch Hans
Blumenberg herausgearbeitete Umformung der Lichtmetapher durch das künst-
liche Licht. Seiner Fotographie aber geht es nicht nur um das gezielte Aufzeigen
durch Licht, sondern darin zugleich auch von Licht.
      Die nachstehend präsentierte Werkserie zeigt 34 Variationen ein und dessel-
ben Motivs: Straßenlaternen des an der norwegischen Atlantikküste gelegenen
Städtchens Ålesund. Und nicht einmal von der ganzen Laterne handelt „Norwe-
gian Highlights“. Von Interesse ist allein ihr zentrales Bauteil, die lichtspendende
Leuchte. Das durch Kunstlicht optisch Präparierte selbst allerdings – der Geh-
steig, die Straße – ist nicht im Bild zu sehen. Stattdessen wird „im Raum der
Nacht [...] eine Optik des Präparats herbeigeführt“ 22 , die die Möglichkeit des
Umsehens im Licht der Straßenbeleuchtung zugunsten eines freien Aktes der
Blickwendung ins Gegenlicht geradezu ausblendet. In diesem Sinne ist Jürgen
Nabers Fotographie inszeniert als Konfrontation von Kamera und Kunstlicht.
Seine himmelschauende Werkidee ist aus einer höchst anspruchsvollen, perspek-
tivisch fast übermütigen Position heraus realisiert. Geometrisch exakt befindet
sich die Kamera am längsachsigen Tiefpunkt im Zentrum von 34 Lichtkegeln.
      Jürgen Naber setzt die Kamera einem extremen Gegenlicht aus, konfrontiert
sie geradezu mit der blendenden Überhelle des Kunstlichts. Zu diesem Zweck be-
sinnt er sich insbesondere auf die gestalterischen Möglichkeiten der „richtigen“
Belichtung. Mit äußerst kurzen Belichtungszeiten wird die von den Straßen-
leuchten ausgehende Lichtmenge soweit reduziert, dass in der Abbildung Details
gezeichnet sind, die das Auge bei direkter Betrachtung nicht wahrzunehmen in
der Lage wäre. Wir sehen auf einmal Unmengen im Licht verkohlter Insekten,
Sprünge und Einschlüsse im Glaskörper der Leuchte, Nuancen in ihrer Lichtfar-
be. Auch den Leuchtkörper selbst nehmen wir wahr, den Reflektor. Dreck und
Staub zudem, die unterschiedlichen Strukturen der Streuscheiben.
      Alles andere als selbstverständlich, das beginnen wir hier zu ahnen, ist die
gewohnte Entsprechung von Erhellung und Sehen. Gerade in der norwegischen
Provinz, die das jahreszeitliche Dunkel als zyklisch wiederkehrenden Lebensum-
stand anerkennen muss, werden wir der drohenden „Entselbstverständlichung“ 23
von Erhellung und Sehen gewahr. Jürgen Naber vermittel dem Betrachter, was
22   Blumenberg: Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philosophischen Begriffsbil-
     dung (wie Anm. 7), S. 171.
23   Ebd., S. 159.

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es heißen kann, wenn die Wahrheit nicht ohne Weiteres zutage befördert werden
kann, denn Licht als Metapher der Wahrheit rückt hier, wie gesagt, in den Be-
reich des zu Leistenden. Wenngleich Naber dort, wo lichtmetaphorisch eigentlich
ein Mehr an Licht gefragt ist, durch die Reduktion der Lichtmenge erst einmal
ein Weniger an Licht bewirkt.
      Zugleich aber indiziert diese für die Illumination des optischen Präparats gel-
tende Vorraussetzung des Dunkels einen weitreichenden Wandel unserer lichtme-
taphorisch beeindruckten Wahrheitsaufassungen. Für diese bedeutet Dunkelheit
einen konstitutionell blinden Fleck. Angesichts der ‚Entselbstverständlichung‘
von Erhellung und Sehen muss also der Wahrheit Licht künstlich zugeführt wer-
den. Zum historischen Aussagepotential der Lichtmetapher konnte noch zählen,
dass aus ihrem (natürlichen) Licht „das Wahre ‚heraustritt“ ‘24 . Was immer das
auch sein mag, ihr Heraustreten bedarf bei Naber der fotographischen Methode.
Dabei geht die Wiederherstellung des auch für das „Kameraauge“ (Dziga Ver-
tov) selbstverständlichen Zusammenhangs von Erhellung und Sehen zurück auf
Nabers radikale Interpretation der fotographischen Methode. Es gilt dabei, die
blendende Überhelle des technischen Lichts so weit zu reduzieren, dass die ent-
selbstverständlichende Blendung durch eine als „richtig“ verstandene Belichtung
kompensierbar ist, wenn überhaupt etwas zu sehen sein soll.
    In seinem einzigen enzyklopädischen Werk berichtet Hans Blumenberg über
die mit seinem Vater geteilte Leidenschaft der Entwicklung ihrer fotographischen
Beuten in der Dunkelkammer.

             „Nicht selten passierte es, daß die Platte sich in einheitliches
         Schwarz verfärbte; wohl ebenso häufig, daß sie klar und durchsichtig
         blieb, als sei nichts gewesen. Die Grenzfälle verfehlter Belichtungen
         also, und dazwischen lag ‚die Welt‘ des mehr oder weniger Unbe-
         deutsamen.“ 25

      Gegenüber dem Begriff der „richtigen“ Belichtung, dessen Umfang für Blu-
menberg ‚die Welt‘ faktisch bewirkt, gilt sein Interesse dem (Schöpfungs-)Prozess
der fotochemischen Entwicklung, in dem aus dem Nichts allein durch Zuführung
von Licht etwas entsteht. Die den Vater erfreuende „richtige“ Belichtung hinge-
gen war für ihn von geringer Bedeutung. Aus den vielen möglichen Belichtungen
eine allein als „richtig“ zu erklären, muss Blumenberg suspekt vorgekommen
sein. Und dennoch ist das „richtige“ Produkt aus Blende und Verschlusszeit
nicht nur eine Frage an das künstlerische Vermögen des Fotographen, sondern
auch ein paradigmatisch bedeutsamer Vorgang im Übergang von der Lichtmeta-
24   Blumenberg: Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philosophischen Begriffsbil-
     dung (wie Anm. 7), S. 140.
25   Ders.: Begriffe in Geschichten, in: 1. Aufl, Frankfurt am Main 1998, Kap. Eine Begriffsge-
     schichte, S. 7–8, hier S. 7.

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phorik zum fotographiegeschichtlich wirksam werdenden Begriff einer als „rich-
tig“ eingeschätzten Belichtung. Aller Relativität ihrer als richtig oder auch bloß
möglich verstandenen Belichtungen zum Trotz ist aber auf das begriffsstiftende
Vermögen der fotographischen Methode zu insistieren, soll aus dem Prozess der
Belichtung überhaupt irgendeine Welt entstehen.
   Eine dieser möglichen Welten wird uns in Jürgen Nabers Fotographie vor-
geführt. Und die Wirklichkeit dieser Welt stellt sich erst aufgrund der von ihm
spektakulär ausgereizten Methode einer ganz bestimmten Weise der Belichtung
ein. Mit einem Weniger an Licht ist aus der gezielten Blendung durch das tech-
nische Licht dennoch eine sichtbare Welt erhellt. »Norwegian Highlights« ist
ein lichtmetaphorisches Paradoxon. Unsere eingeübte Sicht des Lichts verunsi-
chert das. Unterschlägt uns der Fotograph hier etwas? Versucht er, durch seine
Fotographie die Wahrheit zu verstellen? Ironisiert er sie gar?
   Jürgen Naber ist beeindruckt durch das in der nordeuropäisch-subpolaren
Provinz vorherrschende Dunkel. Aus den »Norwegian Highlights« scheint daher
auch eine bestimmte Weise der künstlerischen Verarbeitung der für das mittel-
europäische Lichtmaß gering erhellten norwegischen Provinz herzurühren. Dazu
treibt Naber den Stadt wie Land beherrschenden Lichtmangel auf die Spitze. Er
reduziert das ohnehin spärliche Licht der getrübten Leuchtmittel auf ein Mini-
mum und – er sieht, erhellt. Seine »Norwegian Highlights« stellen geradezu eine
Karikatur des fotographischen Spitzlichts dar, indem er den eigentlich überhellen
Phänomen ihre Belichtbarkeit abtrotzt. Er spürt eine Wahrheit des fotographi-
schen Objekts in Detailzeichnungen auf, deren natürliche Wahrnehmung mit
dem bloßen Auge nicht erfolgen könnte.
   Kann der fotographisch therapierte Lichtmangel der norwegischen Provinz
erkenntnistiftend sein? Durchaus, möchte man sagen. Denn es zeigt sich, dass
das subpolare Dunkel nicht allein auf natürliche Weise durch den Wechsel der
Jahreszeiten hervorgerufen ist. Über 100 Jahre nach seiner Entdeckung scheint
das technische Licht merklich gealtert. Jede der Fotographien offenbart eine mit
der Alterung einhergehende Patina der abgebildeten Leuchtkörper. Nicht das
Licht selbst, sondern das den Leuchtkörper umfassende Glas ist trübe. Der fle-
ckige Schattenwurf ist nicht der Zwillingsbruder des Lichts. Vielmehr ist jener
mit den Sprüngen, den Einschlüssen und der durch eindringendes Wasser her-
vorgerufenen Veralgung des Glases verschwistert. Ein lebloser Teppich schwar-
zer Insekten stört die geometrisch exakt berechneten Lichtkegel. Die auf den
Quecksilberdampflampen erkennbare Angabe ihrer Lichtstärke ist nur noch ein
historischer Index.
   Aber noch etwas erhellt Nabers abdunkelnde Fotographie. Mit seinem Pro-
jekt der optischen Präparation durch extremes Abblenden deckt er nicht nur die
Verstrickung von Fotographie und Lichtmetaphorik auf, sondern drängt darin

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zugleich auf die Terminologisierung dieser Metapher im optischen Begriff der
Belichtung. Dass dieser Begriff über die „Grenzfälle verfehlter Belichtungen“ 26
hinausweist, ja ihre Grenzen in Frage stellt, zeigt auch die Vermeintlichkeit jeg-
licher terminologisierten Wahrheiten an.

Literatur
Blumenberg, Hans: Begriffe in Geschichten, in: 1. Aufl, Frankfurt am Main 1998,
      Kap. Eine Begriffsgeschichte, S. 7–8.
Ders.: Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philosophischen Begriffs-
      bildung, in: Anselm Haverkamp (Hrsg.): Hans Blumenberg. Ästhetische und
      metaphorologische Schriften, Frankfurt a.M. 2001, S. 139–171.
Ders.: Paradigmen zu einer Metaphorologie, 1. Aufl, Frankfurt am Main 1998.
Bohlmann, Carolin: Lichtgefüge: das Licht im Zeitalter von Rembrandt und Ver-
      meer, in: Lichtgefüge: das Licht im Zeitalter von Rembrandt und Vermeer,
      hrsg. v. Museumslandschaft Hessen Kassel und Forschungsgruppe Histori-
      sche Lichtgefüge, Bd. 46 (Katalog der Museumslandschaft Hessen Kassel),
      Petersberg 2011, Kap. Zeitgenössische Werke, S. 168–171.
Bohlmann, Carolin, Thomas Fink und Philipp Weiss (Hrsg.): Lichtgefüge des
      17. Jahrhunderts: Rembrandt und Vermeer – Spinoza und Leibniz, München
      2008.
Electric Street Lights, in: The New York Times 1878.
Prakt. Maschinen-Constructeur, Bureau d. (Hrsg.): Verkehrszeitung und indus-
      trielle Rundschau (Uhland’s Wochenschrift für Industrie und Technik Bd.
      12), Leipzig 1898.
Proctor, J.: Lapland (Bradt Travel Guide), 2012.

26   Blumenberg: Begriffe in Geschichten (wie Anm. 25), S. 7.

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