Nürnberger Gespräche: Droht nach Corona eine dauerhafte Erosion der dualen Ausbildung?

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Nürnberger Gespräche: Droht nach Corona eine dauerhafte Erosion der dualen Ausbildung?
Datum: 2. Dezember 2021

Nürnberger Gespräche: Droht nach
Corona eine dauerhafte Erosion der
dualen Ausbildung?
Martin Schludi, Lena Kaltwasser

Das duale Ausbildungssystem, einst Aushängeschild der deutschen Wirtschaft, steckt in der
Krise. Schon vor Corona drohte eine schleichende Auszehrung des Systems, denn immer
weniger Jugendliche machen eine betriebliche Ausbildung. Über die vielfältigen Ursachen und
mögliche Lösungsansätze diskutierte eine hochkarätig besetzte Expertenrunde im Rahmen
der Nürnberger Gespräche, die diesmal als hybride Veranstaltung stattfanden.

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https://www.iab-forum.de/nuernberger-gespraeche-droht-nach-corona-eine-dauerhafte-erosio
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Datum: 2. Dezember 2021

Nürnbergs
Oberbürgermeister
Marcus König forderte
eine gemeinsame
Anstrengung aller an der
beruflichen Bildung
beteiligten Akteure.

Es war ein gleichermaßen illustres wie sachkundiges Quartett, das Nürnbergs
Oberbürgermeister Marcus König am 15. November 2021 in den hohen Hallen des
historischen Rathaussaals begrüßte – allen Corona-Einschränkungen zum Trotz. Außer
Professor Bernd Fitzenberger, Direktor des IAB, Evelyn Räder, Abteilungsleiterin
Arbeitsmarktpolitik beim Deutschen Gewerkschaftsbund, und Karl-Sebastian Schulte,
Geschäftsführer des Zentralverbands des Deutschen Handwerks, war auch Anja Karliczek
nach Nürnberg gekommen, derzeit noch als geschäftsführende Bundesministerin für Bildung
und Forschung in Amt und Würden.

In seiner Begrüßungsrede mahnte König, der einst selbst eine Ausbildung zum Bankkaufmann
absolviert hat, eine gemeinsame Anstrengung aller an der beruflichen Bildung beteiligten
Akteure an, um den negativen Trend bei der Dualen Ausbildung zu brechen. „Die Wirtschaft“,
so König, „braucht gut ausgebildete Fachkräfte, um nach der Pandemie voll durchstarten zu
können.“

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Datum: 2. Dezember 2021

Ute Möller moderierte die
Veranstaltung ebenso
lebendig wie sachkundig.

Dass es einer gemeinschaftlichen Kraftanstrengung bedarf, zeigen auch die Zahlen. Denn die
sehen nicht gut aus, wie Moderatorin Ute Möller deutlich machte: Im Jahr 2020 ging die Zahl
der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge in der Dualen Ausbildung laut
Berufbildungsbericht um 11 Prozent zurück – der größte Rückgang seit 1977.

Erstmals seit der Wiedervereinigung hatten damit deutlich weniger als 500.000 junge
Menschen einen Ausbildungsvertrag unterschrieben. Ein Jahr später brach die Zahl der
Bewerberinnen und Bewerber nochmals stark ein. Mit Corona hat sich also der negative
Trend der Vorjahre nochmals verschärft, auch weil die Zahl der Jugendlichen aus
demografischen Gründen kontinuierlich schrumpft.

Schulte: „Wenn wir die großen Zukunftsaufgaben
bewältigen wollen, brauchen wir eine Dekade der
beruflichen Bildung“
Handwerksvertreter Karl-SebastianSchulte warnte dennoch davor, „einer dauerhaften Erosion
des dualen Ausbildungssystems“ das Wort zu reden. Alle Beteiligten hätten in der Corona-
Krise enorm viel getan, um die Situation zu stabilisieren. Die Zahl und der Anteil vorzeitig
gelöster Ausbildungsverträge seien sogar geringer gewesen als vor der Krise.

Um eine Erosion des dualen Ausbildungssystems zu vermeiden, forderte er einen Neustart für

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Datum: 2. Dezember 2021

die Zeit nach Covid-19: „Wir müssen gemeinsam alles dafür tun, damit wir die Fachkräfte, die
wir in Zukunft brauchen, auch finden und binden“. Mit der Aktion „Sommer der
Berufsbildung“, die gemeinsam mit der Bundesregierung durchgeführt wurde, sei es nicht
getan. „Eigentlich brauchen wir eine Dekade der beruflichen Bildung“, betonte Schulte. Nur
so ließen sich auch große Zukunftsaufgaben wie die Klima- und Mobilitätswende überhaupt
realisieren.

Karl-Sebastian Schulte,
Geschäftsführer des
Zentralverbands des
Deutschen Handwerks,
forderte die
Gleichwertigkeit von
beruflicher und
akademischer Bildung.

Nach Einschätzung von Bundesbildungsministerin Anja Karliczek hat Corona ein Problem
verschärft und sichtbar gemacht, dessen Ursachen viel tiefer liegen. Sie sieht „ein
grundlegendes, kulturelles Problem darin, dass in diesem Land zu wenig Menschen bereit
sind, operativ tätig zu sein“. Karliczek, die selbst eine kaufmännische Ausbildung und eine
Ausbildung zur Hotelfachfrau gemacht hat, beklagte, dass die Wertschätzung für eine
berufliche Ausbildung, die sie zu ihrer Zeit noch genossen habe, über die Jahre verloren
gegangen sei.

Mit Instrumenten wie der Ausbildungsprämie hat die Politik versucht, den Betrieben in der
Corona-Krise einen starken finanziellen Anreiz zu geben, auch in Zeiten hoher Unsicherheit
möglichst viele junge Menschen auszubilden. Nach Einschätzung von Bernd Fitzenberger eine

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Datum: 2. Dezember 2021

richtige Maßnahme, die aber einen Tick zu spät gekommen sei. Den starken Rückgang der
Bewerberzahlen insbesondere aus den Realschulen führt der Volkswirt darauf zurück, dass
viele Jugendliche in einer Zeit hoher Unsicherheit, in der auch viele berufsorientierende
Maßnahmen nicht stattfinden konnten, es vorgezogen hätten, zunächst im Schulsystem zu
verbleiben. Die Unsicherheit der Jugendlichen rühre auch daher, dass die Corona-Krise mit
einem Transformationsprozess einhergehe. Er führe dazu, dass bestimmte Berufe
möglicherweise weniger gefragt sind als vorher.

Räder: „Was nützt einer Bewerberin aus Flensburg ein
Ausbildungsplatz in Stuttgart?“

Evelyn Räder,
Abteilungsleiterin
Arbeitsmarktpolitik beim
Deutschen
Gewerkschaftsbund,
monierte, dass viele
Bewerberinnen und
Bewerber nach wie vor
unversorgt sind.

Evelyn Räder trat dem aus ihrer Sicht falschen Eindruck entgegen, dass es genug
Ausbildungsplätze gäbe und es eigentlich nur an Bewerberinnen und Bewerbern mangele.
Ausbildungsmärkte, machte die Gewerkschafterin deutlich, sind regionale und
branchenbezogene Märkte. Räder: „Was nützt einer Bewerberin aus Flensburg ein
Ausbildungsplatz in Stuttgart?“

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Datum: 2. Dezember 2021

Das Ausbildungsplatzangebot decke sich auch nicht notwendigerweise mit den beruflichen
Interessen der Jugendlichen. Zudem sei die Ausbildungsbetriebsquote seit Jahren rückläufig.
Nicht einmal jeder fünfte Betrieb bilde zurzeit noch aus. Viele Bewerber seien daher nach wie
vor unversorgt. Die Betriebe müssten insbesondere auch bereit sein, leistungsschwächeren
Jugendlichen eine Chance zu geben – was derzeit aus ihrer Sicht kaum der Fall sei.

Schließlich monierte Räder, dass manche Ausbildungsplätze für die Jugendlichen einfach
nicht attraktiv seien. Betriebe müssten ihre Auszubildenden auch gut behandeln, wenn sie
junge Menschen für sich gewinnen und Ausbildungsabbrüche vermeiden wollen.

Fitzenberger stimmte Räders Ausführungen ausdrücklich zu, gab aber zu bedenken, dass sich
Ausbildung auch für die Betriebe rechnen muss. Zugleich sollte man leistungsschwächeren
Jugendlichen, von denen viele, insbesondere solche mit Migrationshintergrund, anstelle einer
Ausbildung eine Helfertätigkeit ausüben, geeignete Angebote machen.

Kontrovers diskutiert wurde die Idee einer bundesweiten Ausbildungsumlage in Anlehnung an
die bereits bestehende Schwerbehindertenabgabe. Während Räder sich dieses Instrument
vorstellen kann, zeigt sich Schulte skeptisch. Man könne nicht Betriebe, die
Ausbildungsplätze anbieten, aber keine Auszubildenden finden, mit Strafzahlungen belegen.

Karliczek: „Wir müssen junge Menschen stärker für das
Tun begeistern“
Karliczek wusste sich mit den anderen Podiumsgästen darin einig, dass es wesentlich sei,
junge Menschen die Vielfalt von Ausbildungsberufen nahezubringen. Ihrer Einschätzung nach
muss die Berufsorientierung gerade an den Gymnasien gestärkt werden. Dies sei auch ein
wichtiger Punkt in der Initiative „Bildungsketten“, die der Bund mit den Ländern kürzlich bis
2026 verlängert habe.

Die Berufsorientierung solle stärker an den individuellen Neigungen und Interessen der
Jugendlichen ansetzen und die verschiedenen Berufe für die jungen Menschen „erlebbar“
machen, sagte Karliczek. Dies sei auch eine Frage des Erwartungsmanagements, um spätere
Ausbildungs- und Studienabbrüche möglichst zu vermeiden. Zudem gelte es, „junge
Menschen wieder für das Tun zu begeistern“. Die Digitalisierung biete eine große Chance,
praktische Elemente viel stärker als bisher in den Unterricht zu integrieren und damit auch
die Wertschätzung und das Interesse der Jugendlichen für eine Duale Ausbildung zu
verbessern.

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Datum: 2. Dezember 2021

Nach Auffassung von Anja
Karliczek,
Bundesministerin für
Bildung und Forschung,
muss die
Berufsorientierung an
den individuellen
Neigungen und
Interessen der
Jugendlichen ansetzen.

Fitzenberger ergänzte, dass Lehrkräfte am Gymnasium für die Vermittlung praktischer und
berufsorientierender Kenntnisse in der Regel nicht ausgebildet sind. Auch Räder monierte,
dass die Schulen insgesamt nicht gut aufgestellt seien, wenn es um die Vorbereitung auf eine
berufliche Ausbildung gehe. Sehr positiv sei daher, dass die Arbeitsagenturen mit
flächendeckenden Beratungs- und Berufsorientierungsangeboten in die Schulen gegangen
seien, was allerdings pandemiebedingt zuletzt kaum mehr stattfinden konnte. Allerdings
seien diese Angebote keineswegs von allen Schulen gut angenommen worden.

Schulte sprach sich dafür aus, Praktika verpflichtend in die Ausbildung von Lehrerinnen und
Lehrern zu integrieren. Sie gehörten neben den Eltern zu den wichtigsten Ratgebern und
Lotsen für die Berufsfindung. Sie müssten die Idee der Gleichwertigkeit von beruflicher und
akademischer Bildung mittragen.

Zugleich monierte Schulte, dass Deutschland viele junge Menschen auch durch die
bildungspolitische Steuerung von Finanzströmen an die Universitäten treibe, Wenn sie ihr
Studium abbrächen, müssten sie wieder in das duale System integriert werden. Zudem, so

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Datum: 2. Dezember 2021

Schulte, sollten junge Menschen aus dem Ausland stärker als bisher nicht nur für ein
Studium, sondern auch für eine Ausbildung in Deutschland gewonnen werden. Ein weiteres
Handlungsfeld ist aus seiner Sicht das Thema „Wohnungsmärkte und Mobilität“. Denkbar
seien etwa Wohnheime für Auszubildende oder ein bundesweites Azubi-Ticket.

Fitzenberger: „Ein erheblicher Teil der Jugendlichen,
die eine Ausbildung abbrechen, nehmen danach keine
zweite mehr auf“
Eine inhaltliche Kontroverse entzündete sich schließlich an der Frage, warum Jugendliche mit
Migrationshintergrund seltener eine duale Ausbildung machen als solche ohne
Migrationshintergrund. So widersprach Räder tendenziell der Einschätzung, dass diese qua
Herkunft zu wenig mit dem deutschen Ausbildungssystem vertraut seien.

IAB-Direktor Prof. Bernd
Fitzenberger ist besorgt,
weil ein erheblicher Teil
der Jugendlichen, die ihre
Ausbildung abbrechen,
keinen neuen Versuch
wagen.

Mit Verweis auf den Berufsbildungsbericht legte sie nahe, dass vor allem kulturelle
Vorbehalte aufseiten mancher Arbeitgeber deren Erfolgschancen auf dem Ausbildungsmarkt
schmälern. Dies wiederum wollte Schulte mit Blick auf das Handwerk so nicht stehen lassen.

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https://www.iab-forum.de/nuernberger-gespraeche-droht-nach-corona-eine-dauerhafte-erosio
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Datum: 2. Dezember 2021

Das Handwerk hätte nach 2015 viele junge Geflüchtete ausgebildet. Nach anfänglicher
Skepsis sei die Begeisterung bei den Inhaberinnen und Inhabern außerordentlich groß
gewesen. Kulturelle Konflikte habe es praktisch nicht gegeben.

Das Thema Ausbildungsabbrüche wurde auf dem Podium ebenfalls angeschnitten. Hier zeigte
sich Bernd Fitzenberger vor allem darüber besorgt, dass ein erheblicher Teil der
Jugendlichen, die eine Ausbildung abbrechen, danach keine zweite Ausbildung mehr
aufnimmt.

Walwei: „Die duale Ausbildung ist ein Riesen-Asset“
IAB-Vizedirektor Professor Ulrich Walwei wusste sich in seinem Schlusswort mit dem Podium
einig: Die duale Ausbildung ist ein „Riesen-Asset“. Und dies gilt laut Walwei in mehrfacher
Hinsicht: Denn es profitierten nicht nur die Betriebe und die jungen Menschen selbst, sondern
auch die Volkswirtschaft als solche, da gut ausgebildete Arbeitskräfte für eine hohe
Produktivität sorgen. Indem die duale Ausbildung jungen Menschen Perspektiven eröffne,
beuge sie auch der Gefahr der Perspektivlosigkeit vor, der sich beispielsweise in Südeuropa
weite Teile der jungen Generation gegenübersähen.

Für IAB-Vizedirektor Prof.
Ulrich Walwei profitieren
nicht nur Betriebe und
junge Menschen, sondern
auch die Volkswirtschaft
insgesamt von der dualen
Ausbildung.

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https://www.iab-forum.de/nuernberger-gespraeche-droht-nach-corona-eine-dauerhafte-erosio
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Datum: 2. Dezember 2021

Eine Ausbildung, so betonte Walwei, sei aber für die Betroffenen wie für die Betriebe immer
auch eine Investition, die gerade in sehr unsicheren Zeiten wie der Corona-Krise oder der
Finanzkrise mit Risiken behaftet sei. Zugleich konkurriere die duale Ausbildung nicht nur mit
der akademischen und schulischen Ausbildung, sondern auch mit dem Arbeitsmarkt für
Helferberufe um die aus demografischen Gründen rasch kleiner werdende Zahl junger
Menschen.

Zu den zahlreichen Stellschrauben, mit denen sich Ausbildungsberufe attraktiver machen
ließen, zählen für Walwei nicht nur Faktoren wie Bezahlung, Arbeitszeit und Work-Life-
Balance, sondern auch Werte wie Nachhaltigkeit, die für viele junge Menschen heutzutage
ein wichtiges Kriterium bei der Berufswahl sind.

Ähnlich wie bereits vor ihm Oberbürgermeister König und Bundesbildungsministerin Karliczek
outete sich im Übrigen auch Arbeitsmarktforscher Walwei als „Kind der dualen Ausbildung“:
Er hatte sich lange vor Beginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn zum Gehilfen in
wirtschafts- und steuerberatenden Berufen ausbilden lassen. Hätte es also noch eines
Beweises bedurft, dass auch Menschen mit beruflicher Ausbildung alle Karrierewege
offenstehen: Karliczek, König und Walwei haben ihn mit Bravour erbracht.

Die Nürnberger Gespräche werden zweimal im Jahr von der Stadt Nürnberg und der
Bundesagentur für Arbeit unter Federführung des IAB ausgerichtet.

Sonstige Informationen

     Veranstaltungsvideo
     Videos und Tagungsberichte zu den bisherigen Veranstaltungen im Rahmen der
     Nürnberger Gespräche

Kontakt: martin.schludi@iab.de

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