Olympia in der Provinz: Boomtowns Augsburg - Kiel 1972
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165 Olympia in der Provinz: Boomtowns Augsburg – Kiel 1972 Olaf Gisbertz Von den Olympischen Sommerspielen 1972 profitierte Spiele 1972 sechs Vorrundenspiele im Handball ausgetra- nicht nur die bayerische Landeshauptstadt München, son- gen. dern auch die Provinz. Mit der Planung von autogerechten Im Siebentischwald, weiter draußen am Hochablass, Verkehrswegen, neuen Großwohnanlagen und einer Reihe entstand dann nach den Planungen der Landschaftsarchi- von Bauten für Sport, Kultur und Bildung erlebte vor allem tekten Gottfried und Anton Hansjakob eine um das künstli- die bayerisch-schwäbische Stadt Augsburg einen immensen che Wildwasser mäandrierende Sport- und Grünanlage mit Modernisierungsschub. Aber auch die Ostsee-Stadt Kiel, wo einigen Hochbauten für die Wettkampfleitung, Presse und bereits 1936 die olympischen Segelwettbewerbe ausgetra- Kanuten, zu denen die Augsburger Architekten Brokel + gen worden waren, gewann durch Olympia 1972 ein neues Müller die architektonischen Pläne geliefert hatten.4 Die Profil. Erfüllt waren diese Jahre von großen Zukunftshoff- Landschaftsarchitektur mit geschwungenem Eiskanal am nungen und einer hohen Planungseuphorie. In Architektur Lech ist mit aufsteigenden Sitzreihen, die mit Holzbohlen und Städtebau spiegelten sich das Bekenntnis zu industri- befestigt wurden und mit Rasen bedeckt waren, sanft model- ellem Fortschritt, technischer Machbarkeit und wirtschaft- liert. Markant geschnittene Bauten, allesamt mit Sichtbeton- licher Prosperität. Der Sport avancierte in den 1960er und elementen, Pultdächern und Holzverkleidungen ausgestattet, 1970er Jahren – auch abseits der großen Zentren – zu einem flankieren die Strecke für den Kanuwettbewerb, darunter das wichtigen Faktor der Stadt- und Landschaftsplanung. Start- und Zielgebäude, Presse- und Organisationsgebäude für die Wettkampfleitung sowie das inzwischen durch einen Neubau ersetzte Bundesleitungszentrum für Kanuslalom Augsburg und Wildwasser. Die gesamte Anlage wird aufgrund des hohen Freizeitwertes noch heute geschätzt: „Den Eiskanal Für die Architekturdebatte dieser Boomjahre spielte Augs- zeichnet seine Einmaligkeit aus. Seit seinem Bau gibt es burg eine beachtliche Rolle. 1960 fand hier die 11. Haupt- auf der Welt eigentlich nichts Vergleichbares. Im Eiskanal versammlung des Deutschen Städtetages statt, die der läuft das Wasser oben rein und unten raus. Ganz der Natur Schweizer Soziologe und Nationalökonom Edgar Salin zum entsprechend. Wir brauchen dafür keine Pumpen und keine Anlass nahm, eine neue „Urbanität durch Dichte“ einzu- Energie“5, schwärmt Horst Woppowa, einer der langjähri- fordern: ein Miteinander der Stadtbewohner unterschiedli- gen Organisatoren von zahlreichen Kanu-Wettbewerben im cher Herkunft und Bildung.1 Solche Überlegungen – häufig Eiskanal. Dabei ist die Open-Air-Sportanlage mittlerweile missverstanden – mündeten in neuen Stadtmodellen der in die Jahre gekommen: Die Räumlichkeiten, technische Zukunft, so auch in Augsburg. Mit Walter Schmidt wirkte Ausstattung und Infrastruktur sind veraltet und schon lan- hier 1951– 67 nämlich ein Stadtbaurat, der dem Neuen in ge nicht mehr zeitgemäß. Seit der letzten Weltmeisterschaft der „alten“ Stadt gegenüber aufgeschlossen war.2 Der von 2003 entspricht der Eiskanal in Augsburg nicht mehr den ihm betriebene Stadtumbau bildete den planerischen Hin- internationalen Anforderungen. Umso höher waren die Sor- tergrund für den Bauboom, der das Stadtzentrum ebenso gen der Kanuten, als die Anlage 2017 unter Denkmalschutz erfasste wie die städtische Peripherie. Einen wichtigen Im- gestellt wurde.6 Schließlich war der Eiskanal in Augsburg puls gab dann 1966 der Zuschlag des IOC für die Olympi- nicht nur Austragungsort für den olympischen Kanuslalom schen Sommerspiele in München, von dem Augsburg als 1972. Mehrmals fanden hier dann auch Weltmeisterschaf- Austragungsstätte für die olympischen Kanuwettbewerbe ten (1985 und 2003) sowie die Europameisterschaft 1996 besonders profitieren sollte. So entstanden hier nicht nur statt, 2011 sogar die Wildwasser-Sprint-WM und jährliche neue Sportanlagen, sondern es wurden im Zuge der Olym- Großveranstaltungen wie der Europa-Cup der Junioren und pia-Entscheidung einige Bestandsbauten in Augsburg für schließlich mehr als 20 Weltcup-Rennen. den Wettbewerb genutzt, andere weiterentwickelt oder gar Der Unterschutzstellung unmittelbar voraus ging die Aus- neu geplant. Zu den Bestandsbauten, die für die olympi- stellung „Blickpunkt Moderne 1960 –80“7 im Architektur- schen Spiele benötigt wurden, gehörte zuvorderst die heu- museum Schwaben, flankiert von einer Podiumsdiskussi- tige Erhard-Wunderlich Sporthalle, die nach einem Inge- on der Kuratoren mit führenden Vertretern der Kommune, nieurswettbewerb von der Fa. Thormann & Stiefel AG mit Denkmalpflegern und Stadtplanern. Es folgten Presseartikel dem Ingenieurbüro Hugo Gall 1963–65 errichtet worden in den lokalen Zeitungen8 und ein gemeinsamer Appell an war.3 Es handelt sich dabei um einen frühen Vertreter einer das Bayerische Landesamt für Denkmalpflege, den Denk- Sporthalle mit einem doppeltgekrümmten, „freitragenden“ malwert der Kanustrecke neben anderen Bauten und Anla- Hängedach. In der Halle wurden während der olympischen gen der 1960er und 70er Jahre in Augsburg zu prüfen.9
166 Olaf Gisbertz die ehemalige Stadt- und Kongresshalle, ein vielgestaltiger Betonmonolith, der nach dem größten Architekturwettbe- werb der 1960er Jahre im Wittelsbacher Park entstand und dort seit 1972 vom beinahe 160 Meter hohen Hotelturm überragt wird. Die Halle konnte bei allen Anforderungen an eine neue Gebäudetechnik ihren Charakter für die Zeitzeu- genschaft des Brutalismus in Augsburg bewahren. Bei dem Hotelturm – ursprünglich als Holiday Inn-Hotel konzipiert und im Olympiajahr 1972 eröffnet – sind um einen zentra- len Erschließungskern mit zwei getrennten Treppenhäusern und Installationsschächten die einzelnen Wohneinheiten mit segmentförmig auskragenden Balkonen gelegt. Die modulare Bauweise in Fertigbauteilen ist am Außenbau deutlich ables- bar. Der weithin sichtbare Turm zitiert das Chicagoer Vorbild der Marina Towers, die zwei Jahre zuvor fertiggestellt wor- den waren. Der Augsburger „Wohn-Campanile“ wirkt aber bis ins Detail der geschossweisen Schichtungen deutlich filig- raner: Er markiert wie kein zweiter Bau in der Stadt die West- bindung der bundesrepublikanischen Architektur zur Zeit der Münchner Olympiade. Es ist nur eine Randnotiz, dass die Architekten dieselben waren, wie beim Eiskanal: Brokel + Müller. Mit 158 Metern Höhe wurde der Bau im Jahr der olympischen Spiele1972 eröffnet, gehört aber bis heute im- mer noch zu den höchsten Bauwerken in Bayern. Dabei blieb das Wohnhochhaus als neuer Bautyp der Nachkriegsmoderne auch in Augsburg keine singuläre Erscheinung. Die kommunale Stadtplanung der Boomjahre sah an den besonders neuralgischen Punkten der Ein- und Ausfahrts- straßen einen Kranz von Hochhaussolitären und Zwil- Abb. 1 Parkwohnanlage (Skischuh) Lechhausen, 1974, lingstürmen vor. Nur weniges von diesen hochtrabenden Augsburg, Robert-Bosch-Str. 14, Architekten: Willi Pröll Plänen für ein „Neues Wohnen“ gen Himmel wurde indes und Erich C. Müller, Foto: Olaf Gisbertz realisiert. Besonders erwähnenswert der so genannte Ski- schuh im Norden der Stadt (Abb. 1), eine nur z.T. realisierte Parkwohnanlage mit terrassenförmigen Sockelgeschossen Für die kommenden Kanu-Slalom-Weltmeisterschaften von 1974 (Robert-Bosch-Str. 14) oder das Schwabencen- 2022 hat die denkmalgerechte Sanierung bereits begonnen: ter, eine Einkaufspassage mit 20-stöckigen Wohnhäusern Nach Abtragung der Algen wurden die Schäden am Beton in Kammstruktur von 1971 an der Friedberger Straße als aber erst richtig sichtbar. Marodes wurde danach abgetragen östliches Tor zur Innenstadt. Am Lechufer im Nordosten und erneuert.10 Wenn die Strecke aus sportlicher Sicht durch der Stadt türmt sich dagegen das Studentenwohnheim an diese Maßnahme auch anspruchsvoller wurde, so haben sich der Lechbrücke auf, das in den Jahren 1971–73 nach Ent- die Bedenken gegenüber einem restriktiven Denkmalschutz würfen von Richard Hohenner jun. und Hans Engel ent- wohl durch den vertrauensvollen Dialog der Akteure unter- stand. Der Stahlbetonskelettbau mit 19 Geschossen erhebt einander gelegt. Im Rahmen der erfolgreichen UNESCO- sich auf dreieckigem Gebäudegrundriss mit vorgehängter Welterbe-Bewerbung für das Wassermanagement-System Fassade aus Betonfertigteilen, zentral angeordnetem Er- Augsburg fungierte der Olympia-Eiskanal als ein integraler schließungsbereich mit Fahrstuhl und Treppenanlage. Den Baustein und ist damit die „erste Kanustrecke in einem Welt- Eingang überspannt ein konvex geschwungenes Betonvor- kulturerbe“.11 dach. Die Wohnungen (15,8 qm) waren mit Nasszelle und Die meisten Anlagen und Bauten in Augsburg, die in den Kochnische ausgestattet, das oberste Geschoss mit Gemein- Boomjahren der 1960er und 70er Jahre entstanden, genießen schaftsraum, Küche und Dachgarten. Der städtebauliche diesen Status nicht, obwohl sie immer noch stadtbildprägend Hochpunkt entstand auch im Zusammenhang mit der Uni- und identitätsstiftend wirken. Einen Großteil des Auftrags- versitätsgründung 1970, für die studentischer Wohnraum volumens beanspruchten ortsansässige Architekturbüros. benötigt wurde. Durch verschiedene Wettbewerbe erhielten aber auch über- Nicht weniger der Zukunft zugewandt zeigte sich die regional bekannte Architekten der Zeit Gelegenheit, sich in Stadt Augsburg bei der Errichtung ihrer eigenen kommu- die regionale Architekturlandschaft einzuschreiben. Heute nalen Bauten, zu denen allen voran die Feuerwache an der stehen viele Bauten dieser Ära durch Sanierungsmaßnah- Berliner Allee (Abb. 2) und einige Schulbauten im Süden men, Umnutzungen oder Abrisspläne vor tiefgreifenden der Stadt gehören. Bei der Feuerwache (Arch. Pröll & Mül- Umwandlungsprozessen. Einzelne Best-Practice-Beispiele ler)12 beeindruckt noch heute, trotz einer inzwischen erfolg- zeigen jedoch, dass erfolgreiche Sanierungen die Integrität ten Aufstockung, der filigrane Umgang mit dem Beton. Ein und Identität der Bauten zu bewahren vermögen. Allen voran roh belassenes Betonraster legt sich um die Gebäudehülle,
Olympia in der Provinz: Boomtowns Augsburg – Kiel 1972 167 die sich in verschiedene, gestaffelte Bausegmente um den schlanken Schlauchturm gruppiert. Vor- und Rücksprünge sowie kojenartige Baldachine bekrönen die Dachkante. Die Gestaltung diente nicht nur dem ästhetischen Selbstzweck der programmatischen Offenlegung eines konstruktiv ver- standenen Strukturalismus13, sondern vor allem auch der Funktion von regelmäßig stattfindenden Feuerwehrübungen an der offenen Fassadenstruktur. Neben den kommunalen und privaten Trägern waren die kirchlichen Auftraggeber und Institutionen nicht weniger entschlossen, dem Gesicht der Stadt zur Olympiade ein modernes Gesicht zu verleihen. Dafür konnten sie ausgewiesene Experten als Architekten gewinnen.14 Einer von ihnen war Justus Dahinden, ein ande- rer Alexander von Branca. Nach den Entwürfen von Justus Dahinden war in Königs- brunn bei Augsburg zwischen 1968 und 1970 ein wichtiger Sichtbetonbau entstanden: Kirche und Pfarrzentrum Zur Göttlichen Vorsehung.15 Auf der Grundlage eines ringför- mig expandierenden Achtecks entstand ein vielgestaltiger Baukörper mit unregelmäßig gestaffelten Volumina und ei- nem turmartigen Aufbau. Der kontrastreich organisierte In- nenraum erschließt sich über einen niedrigen Umgang. Der steil überdachte Gemeinderaum ist fächerförmig auf den Altar ausgerichtet, das Tabernakel steht im Zentrum eines nach oben offenen Lichtschachts. Die Raumatmosphäre ent- faltet sich durch das diffuse Spiel von Licht und Schatten auf den roh belassenen Sichtbetonflächen. Die Kirche ist ein Hauptwerk moderner Sakralarchitektur in der Region. Sie wird begleitet von einem ebenso von Dahinden entworfenen Bauensemble aus Pfarrhaus, Kindergarten und Altenheim, Abb. 2 Hauptfeuerwache, Berliner Allee, Erich C. Müller dessen Denkmalwürdigkeit für mich außer Frage steht. 1972–74, im Hintergrund Studentenwohnheim an der Lech- Besonders qualitätvoll im Umgang mit dem alten Bestand brücke, Richard Hohenner jun. und Hans Engel 1971–73, in der Stadt hat sich über die vergangenen Jahrzehnte die Foto: Olaf Gisbertz Akademie und Seelsorgezentrum der Diözese Augsburg he- rausgestellt, das Haus St. Ulrich am Kappelberg.16 Alexan- der von Branca vermochte es 1971, hierfür einen Entwurf Stadtwicklung in der noch jungen Bundesrepublik. Als Aus- vorzulegen, der die kirchlichen Auftraggeber begeisterte, tragungsstätte für die olympischen Segelwettbewerbe war es und dem angrenzenden Areal bei St. Ulrich mit einer drei- Kiel, die Landeshauptstadt Schleswig-Holsteins, wo die Ver- teiligen Anlage aus Verwaltungsflügel, Gemeinschaftstrakt änderungen am sichtbarsten in Erscheinung traten. Direkt an und Gästehaus eine neue Sinnhaftigkeit zu verleihen. In- der Kieler Förde am Schilksee entstand ein großformatiger des beschränkte er das Formenrepertoire der abgeschrägten Jachthafen mit Wohngebäuden und Geschäften. Aus dem Gebäudekante, Fensterbänder und Kupferdächer, bei viel- Architekturwettbewerb waren 1968 die ehemaligen Absol- fach vor- und zurückspringenden Gebäudefronten. Der zur venten der TH Braunschweig, Hinrich Storch (Jg. 1933) und Ulrichsbasilika vorstoßende Flügel erlaubt dabei die Erin- Walter Ehlers (Jg. 1936), mit dem 1. Preis für ihren Ent- nerung an die alte Baustruktur des mittelalterlichen Kon- wurf hervorgegangen. Anders als noch 1936, wo ein Neu- vents. Innen fügen sich eine Kapelle, Tagungsräume und bau des Jachthafens am ehemaligen Hindenburgdamm unter großzügige Verkehrsflächen zu einem abwechslungsreichen nationalsozialistischer Ägide schon einmal im Mittelpunkt mikro-urbanistischen Ensemble: markantes Beispiel für die der olympischen Segelwettwerbe gestanden war, wurde bis städtebauliche Integrationsfähigkeit der späten Hochmo- 1972 ein bestehender Jachthafen mit einem terrassenförmig derne im altstädtischen Kontext einer historisch geprägten abgestuften Betonriegel überplant: Nicht weniger als 300 Stadt. Mit solchen Projekten, die im Boom der Zeit um die Meter lang gestreckt, ausgestattet mit 400 Wohneinheiten Olympiade entstanden, waren in der Augsburger Provinz die und Zuschauerterrasse, Geschäften, Bootshalle und einer Spannweite der zeitlichen Entwicklung und die Vielfalt der Schwimmhalle. All das war eingebettet in eine Grünanla- Bauproduktion in den 1960er und 70er Jahren enorm. ge, zu beiden Seiten markiert von zwei Wohnhochhäusern mit 168 Wohnungen und einem Hotelbau mit 500 Betten (Abb. 3). Zum neuen olympischen Jachthafen gehören auch Kiel 32 Bungalows, die in einem Siedlungsverband gruppiert sind. Der Entwurf konnte nach einem Wettbewerb 1966 im Durch den Zuschlag für die Olympischen Spiele 1972 er- Oktober 1969 realisiert werden. Die Eröffnung der olympi- gaben sich auch im hohen Norden neue Chancen für die schen Wettkämpfe in Schilksee erfolgte am 28. August 1972.
168 Olaf Gisbertz Abb. 3 Modell Olympiazentrum Schilksee Neben diesem Projekt zur Olympiade wurden, ähnlich bewerb, angeführt von einer renommierten Jury, gescheitert wie in Augsburg, in der Zeit um 1972 auch in Kiel weitere war, kamen Entwürfe des Architekten Wilhelm Neveling Bauten für Sport, Bildung und Kultur realisiert. Man wollte (Platzgestaltung: Günther Schulze und Max Sauk) ins Spiel, ja „zur Segelolympiade der Welt zeigen, welcher Wille zur die den Geist der Zeit mit „Mut zu moderner Gestaltung“20 Neugestaltung die Stadt belebt“.17 Dazu zählt vor allem das repräsentieren sollten. Die in der Öffentlichkeit breit disku- Sportforum der Universität Kiel nach Entwürfen von Ger- tierten Pläne umfassten stereometrische, sechseckige Haus- kan, Mark & Partner mit Klaus Nickels,18 die als Sieger aus kuben mit polygonal anfallenden Dächern, die den Bereich einem Architekturwettbewerb 1966 hervorgingen. Ihr Ent- um die Nikolaikirche als „Erlebnisraum“ im historischen wurf zeigt eine Sporthalle und einzelne Schwimmbecken in Kontext der verlorenen Vergangenheit definierten. Trotz er- einer mehrgliedrigen Anlage, die von einem gemeinsamen heblicher Bedenken, u.a. vom damaligen Landeskonserva- Betonfaltdach überspannt wird. Das Tragwerk mit kreuzför- tor Hartwig Beseler und der Architektenkammer Schleswig- migen Stützen aus Stahlbeton ermöglichte eine raumhohe Holstein, wurde die neue Marktbebauung zur Eröffnung der Verglasung. Zugleich konnte die vorhandene Geländeto- Olympischen Segelwettbewerbe fertiggestellt (Abb. 4). Des pographie zur Staffelung der einzelnen Funktionseinheiten Weiteren konnte Neveling mit seinen Entwurfsplänen für genutzt werden. Vom zentralen Foyer aus hat der Besucher das Auditorium Maximum auf dem Campus der Christian- einen Rundumblick auf alle Sportstätten. Albrechts-Universität einen Wettbewerbsgewinn verbuchen. Im Zeichen der Olympiade forcierte die Stadt Kiel auch Auch hier zeigt sich bis heute seine Architekturauffassung, das ambitionierte Projekt in der Innenstadt zur Neugestal- die sich stark an den Vorgaben des International Style ori- tung des Marktplatzes, der in seiner Disposition und im entierte. Besonders auffällig an der Marktplatzbebauung Maßstab auf die Stadttopographie im Zustand nach 1945 ist das Wechselspiel zwischen trapezförmigen gestaffelten Bezug nahm. Schon früher hatte die Abbruchwelle der Jahr- Dachflächen aus Kupfer und den Pfosten-Riegel-Fassaden hundertwende um 1900 die historische Überlieferung von mit großen Glasflächen. Wohn- und Geschäftshäusern aus dem 16. Jahrhundert um das Rathaus tiefgreifend verändert.19 Beim Wiederaufbau der Stadt nach 1945 war so nach Abbruch und Zerstörung Fazit wichtiger Erinnerungsorte, wie Rathaus und Persianische Häuser, ein weiträumiger Platz ohne Konturen inmitten der Nicht nur in München, sondern auch abseits der bayerischen arg ramponieren Altstadt getreten, der teilweise als großfor- Metropole wirkte die Olympiade. Das Mega-Event des in- matiger Parkraum diente. Nachdem ein städtebaulicher Wett- ternationalen Sports forcierte Investitionen von ungeheurer
Olympia in der Provinz: Boomtowns Augsburg – Kiel 1972 169 Abb. 4 Kiel, Neugestaltung des Marktplatzes, Wilhelm Neveling 1972, heutiger Zustand, Foto: Friedhelm Schneider, 2006 Sogwirkung, welche die Stadtentwicklung in Nord- und Abstract Süd – besonders in den Austragungsorten der olympischen The Olympics not only had an impact in Munich, but also Wassersport-Disziplinen – entscheidend beeinflusste. Allein away from the Bavarian metropolis. The mega-event of in- in Augsburg und Kiel wurden in den Jahren um die Olym- ternational sport forced a surge in investment of enormous pischen Spiele 1972 mehrere Prestigeobjekte realisiert, die effect, which decisively influenced the urban development in bestehende städtebauliche Konzepte teilweise fortführten the north and south – especially in the venues of the Olympic oder weiterentwickelten. Durch die Olympiade entstand ein water sports disciplines. In Augsburg and Kiel alone, sev- Modernisierungsschub, der dem gesamten Bauwesen in Ar- eral prestige objects were realised in the years around the chitektur, Städtebau und Landschaftsplanung eine besondere 1972 Olympic Games, which partly continued or further de- Dynamik verlieh. Von diesen Bauprojekten für Sport, Bil- veloped existing urban development concepts. The Olympics dung und Kultur sind auch nach rund 50 Jahren Standzeit stimulated modernisation, which gave the entire construc- noch viele in Betrieb und haben trotz Umbau- und Erwei- tion industry a special dynamic in architecture, urban devel- terungsmaßnahmen nur wenig von ihren architektonischen opment and landscape planning. Of these building projects und städtebaulichen Qualitäten verloren: weder als gebaute for sport, education and culture, many are still in operation Zeugnisse einer hochmodernen Stadtlandschaft der 1960er even after nearly 50 years and have lost very little of their und 1970er Jahre, noch als Ensemble von Bauten für Sport, architectural and urban development qualities, despite con- Bildung und Kultur der Boomjahre um die Olympischen version and extension measures: neither as built testimonies Spiele 1972. Die Denkmalwerte dieser Bauten sollten au- to a highly modern urban landscape of the 1960s and 1970s, ßer Frage stehen. Für deren denkmalgerechte Erhaltung sind nor as an ensemble of buildings for sport, education and aber dennoch weiterführende Forschungen der Bau- und culture from the boom years around the 1972 Olympics. The Baukonstruktionsgeschichte im Bestand vonnöten, um die heritage value of these buildings should be beyond question. Planungsstrukturen und die speziellen, zum Teil experi- However, for their heritage-compatible preservation, further mentellen Bauweisen der Zeit offenzulegen. Nur so wird es research into the history of buildings and building construc- möglich sein, auch nachhaltige Handlungsstrategien für die tions in the existing stock is necessary in order to reveal Denkmalpflege des vielfach noch unterschätzten Bestandes the planning structures and the special, partly experimental der Spätmoderne im Spiegel der Olympischen Spiele von building methods of the time. Only in this way will it be pos- 1972 zu entwickeln. sible to develop sustainable action strategies for the preser- vation of the often underestimated late modernist stock of the 1972 Olympic Games.
170 Olaf Gisbertz Literatur Carl Mertz, Olympische Bauten München 1972, 2. Bd. Be- Akademie u. Seelsorgezentrum der Diözese Augsburg standaufnahme Herbst 1970, in: aw1 (Architektur-Wettbe- (Hrsg.), Festschrift anlässlich der Altarkonsekration mit werbe, Sonderhefte). Haussegnung am 26.02.1975 und des Festaktes zur Er- Winfried Nerdinger (Hrsg.), Walther Schmidt 1899–1993. öffnung des Hauses St. Ulrich am 27. 02. 1975, Augsburg Von der Postbauschule zum Stadtbaurat von Augsburg, 1975. Berlin 2008. Harald Giess, Spickel und Eiskanal – Vom Stadtwald des Walter Schmidt, Eröffnung der Augsburger Sporthalle Biedermeier zur Weltklasse-Kanustrecke, in: Kanustrecke am 11. Dezember 1965 mit Hallenhandball-Länderspiel Mitteilungen des Bayerischen Landesamtes, Nr. 67, 2017, Deutschland-Frankreich. Festschrift und Programm, S. 29–33. hrsg. vom Städtischen Sportamt Augsburg, Augsburg Olaf Gisbertz (Hrsg.), Bauen für die Massenkultur. Einfüh- 1965. rung, Berlin 2018. Bernd Vollmar, Ungetrübtes Lokalkolorit – Zur Ausstel- Astrid Hansen und Heiko K. L. Schulze: „Zur Segelolym- lung „Blickpunkt Moderne“: Architektur in Augsburg piade der Welt zeigen, welcher Wille zur Neuplanung die 1960–1980, in: Denkmalpflege-Informationen. Mitteilun- Stadt belebt…“. Die Bebauung des Kieler Markplatzes gen des Bay. Landesamtes für Denkmalpflege, Nr. 163, von 1972, in: Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische 2016, S. 100–103. Geschichte. Mitteilungen 76, April 2009, S. 17– 41. Markus Würmseher, Kirchenbau im Bistum Augsburg Sabine Klotz (Hrsg.), Zeichen des Aufbruchs. Kirchenbau 1945–1970, Augsburg 2007. und Liturgiereform im Bistum Augsburg seit 1960, Lin- denberg im Allgäu 2018. Josef Korschinsky, Feuerwehr Augsburg. 150 Jahre Frei- Abbildungsnachweis willige Feuerwehr Augsburg – 100 Jahre Berufsfeuerwehr Abb. 1: Olaf Gisbertz, Dortmund, 20. 02. 2020 Augsburg, Augsburg 1999. Abb. 2: Olaf Gisbertz, Dortmund, 20. 02. 2020 Ralf Lange, Architektur und Städtebau der sechziger Jah- Abb. 3: Bildnachlass Friedrich Magnussen (1914–1987), re (Schriftenreihe des Deutschen Nationalkomitees für Stadtarchiv Kiel, StAKiel, 2.3 Magnussen 5442. Copyright: Denkmalschutz, Band 65). CC BY-SA 3.0 DE Arnulf Lüchinger, Strukturalismus in Architektur und Abb. 4: Landesamt für Denkmalpflege Schleswig-Holstein, Städtebau, Stuttgart 1981. Kiel 1 Gisbertz, Bauen für die Massenkultur, 2018, S. 15. ein denkmalgeschütztes Gebäude sein, in seiner Funktion 2 Nerdinger, Walther Schmidt, 2008. aber wohl erhalten werden. Die Kanusportler bezweifeln 3 Schmidt, Eröffnung der Augsburger Sporthalle, 1965. das – und machen mobil. In: Augsburger Allgemeine Zei- 4 Mertz, Olympische Bauten, 1972, S. VI: „Die Durchfüh- tung, 20. 06. 2016 (https://www.augsburger-allgemeine. rung der Tiefbauarbeiten wurden von der Stadt Augsburg de/augsburg/sport/Kanuten-sorgen-sich-Augsburger- übernommen. Entwurf und Bauleitung für die Hochbauten Eiskanal-bald-denkmalgeschuetzt-id38154907.html, Zu- lagen bei Brokel und Müller.“ griff am 25. 11. 2019). 5 Horst Woppora, zit. nach Augsburger Allgemeine, 10 https://www.kanu.de/Der-Augsburger-Eiskanal-wird- 19.03.2018 (https://www.augsburger-allgemeine.de/sport/ saniert-71401.html, Zugriff am 25.11.2019. Der-Eiskanal-Eine-Wettkampf-Staette-mit-Potenzial- 11 Siehe Welterbe Augsburg: https://www.kanu.de/Mit-einem- id50684891.html, Zugriff am 25.11.2019). grossen-Wasserfest-feiert-Augsburg-die-Auszeichnung- 6 Giess, Spickel und Eiskanal, 2017, S. 29–33. als-UNESCO-Weltkulturerbe-Stadt-72382.html, Zugriff 7 Vgl. Vollmar, Ungetrübtes Lokalkolorit, 2016. am 25.11.2019). 8 Denkmalschutz für das künstliche Wildwasser? – Die Ka- 12 Korschinsky, Feuerwehr Augsburg, 1999, S. 199. nustrecke und die Gebäude am Eiskanal gehören zu den 13 Lüchinger, Strukturalismus, 1981. herausragenden Bauten aus den 1970er Jahren in Augs- 14 Klotz, Zeichen des Aufbruchs, 2018. burg. Noch sind sie nicht geschützt. Die Bauwerke werden 15 Würmseher, Kirchenbau, 2007. langsam sanierungsbedürftig, in: Augsburger Allgemeine 16 Akademie u. Seelsorgezentrum der Diözese Augs- Zeitung, 19.04.2016. (https://www.augsburger-allgemeine. burg, Festschrift, 1975. de/augsburg/20160411-093615-15-A-Eiskanal-jpg- 17 Hansen/Schulze: Bebauung des Kieler Markplatzes von id37525157.html?aid=37525167, Zugriff am 25.11. 1972, 2009, S. 17– 41. 2019). 18 Vgl. Lange, Architektur und Städtebau, S. 141. 9 Kanuten sorgen sich: Augsburger Eiskanal bald denk- 19 Hansen/Schulze (wie Anm. 17), S. 20. malgeschützt? – Der Augsburger Eiskanal könnte bald 20 Zit. nach ebd., S. 17.
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