Olympia in der Provinz: Boomtowns Augsburg - Kiel 1972

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Olympia in der Provinz: Boomtowns Augsburg - Kiel 1972
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Olympia in der Provinz: Boomtowns Augsburg – Kiel 1972

Olaf Gisbertz

Von den Olympischen Sommerspielen 1972 profitierte            Spiele 1972 sechs Vorrundenspiele im Handball ausgetra-
nicht nur die bayerische Landeshauptstadt München, son-       gen.
dern auch die Provinz. Mit der Planung von autogerechten         Im Siebentischwald, weiter draußen am Hochablass,
Verkehrswegen, neuen Großwohnanlagen und einer Reihe          entstand dann nach den Planungen der Landschaftsarchi-
von Bauten für Sport, Kultur und Bildung erlebte vor allem    tekten Gottfried und Anton Hansjakob eine um das künstli-
die bayerisch-schwäbische Stadt Augsburg einen immensen       che Wildwasser mäandrierende Sport- und Grünanlage mit
Modernisierungsschub. Aber auch die Ostsee-Stadt Kiel, wo     einigen Hochbauten für die Wettkampfleitung, Presse und
bereits 1936 die olympischen Segelwettbewerbe ausgetra-       Kanuten, zu denen die Augsburger Architekten Brokel +
gen worden waren, gewann durch Olympia 1972 ein neues         Müller die architektonischen Pläne geliefert hatten.4 Die
Profil. Erfüllt waren diese Jahre von großen Zukunftshoff-    Landschaftsarchitektur mit geschwungenem Eiskanal am
nungen und einer hohen Planungseuphorie. In Architektur       Lech ist mit aufsteigenden Sitzreihen, die mit Holzbohlen
und Städtebau spiegelten sich das Bekenntnis zu industri-     befestigt wurden und mit Rasen bedeckt waren, sanft model-
ellem Fortschritt, technischer Machbarkeit und wirtschaft-    liert. Markant geschnittene Bauten, allesamt mit Sichtbeton-
licher Prosperität. Der Sport avancierte in den 1960er und    elementen, Pultdächern und Holzverkleidungen ausgestattet,
1970er Jahren – auch abseits der großen Zentren – zu einem    flankieren die Strecke für den Kanuwettbewerb, darunter das
wichtigen Faktor der Stadt- und Landschaftsplanung.           Start- und Zielgebäude, Presse- und Organisationsgebäude
                                                              für die Wettkampfleitung sowie das inzwischen durch einen
                                                              Neubau ersetzte Bundesleitungszentrum für Kanuslalom
Augsburg                                                      und Wildwasser. Die gesamte Anlage wird aufgrund des
                                                              hohen Freizeitwertes noch heute geschätzt: „Den Eiskanal
Für die Architekturdebatte dieser Boomjahre spielte Augs-     zeichnet seine Einmaligkeit aus. Seit seinem Bau gibt es
burg eine beachtliche Rolle. 1960 fand hier die 11. Haupt-    auf der Welt eigentlich nichts Vergleichbares. Im Eiskanal
versammlung des Deutschen Städtetages statt, die der          läuft das Wasser oben rein und unten raus. Ganz der Natur
Schweizer Soziologe und Nationalökonom Edgar Salin zum        entsprechend. Wir brauchen dafür keine Pumpen und keine
Anlass nahm, eine neue „Urbanität durch Dichte“ einzu-        Energie“5, schwärmt Horst Woppowa, einer der langjähri-
fordern: ein Miteinander der Stadtbewohner unterschiedli-     gen Organisatoren von zahlreichen Kanu-Wettbewerben im
cher Herkunft und Bildung.1 Solche Überlegungen – häufig      Eiskanal. Dabei ist die Open-Air-Sportanlage mittlerweile
missverstanden – mündeten in neuen Stadtmodellen der          in die Jahre gekommen: Die Räumlichkeiten, technische
Zukunft, so auch in Augsburg. Mit Walter Schmidt wirkte       Ausstattung und Infrastruktur sind veraltet und schon lan-
hier 1951– 67 nämlich ein Stadtbaurat, der dem Neuen in       ge nicht mehr zeitgemäß. Seit der letzten Weltmeisterschaft
der „alten“ Stadt gegenüber aufgeschlossen war.2 Der von      2003 entspricht der Eiskanal in Augsburg nicht mehr den
ihm betriebene Stadtumbau bildete den planerischen Hin-       internationalen Anforderungen. Umso höher waren die Sor-
tergrund für den Bauboom, der das Stadtzentrum ebenso         gen der Kanuten, als die Anlage 2017 unter Denkmalschutz
erfasste wie die städtische Peripherie. Einen wichtigen Im-   gestellt wurde.6 Schließlich war der Eiskanal in Augsburg
puls gab dann 1966 der Zuschlag des IOC für die Olympi-       nicht nur Austragungsort für den olympischen Kanuslalom
schen Sommerspiele in München, von dem Augsburg als           1972. Mehrmals fanden hier dann auch Weltmeisterschaf-
Austragungsstätte für die olympischen Kanuwettbewerbe         ten (1985 und 2003) sowie die Europameisterschaft 1996
besonders profitieren sollte. So entstanden hier nicht nur    statt, 2011 sogar die Wildwasser-Sprint-WM und jährliche
neue Sportanlagen, sondern es wurden im Zuge der Olym-        Großveranstaltungen wie der Europa-Cup der Junioren und
pia-Entscheidung einige Bestandsbauten in Augsburg für        schließlich mehr als 20 Weltcup-Rennen.
den Wettbewerb genutzt, andere weiterentwickelt oder gar         Der Unterschutzstellung unmittelbar voraus ging die Aus-
neu geplant. Zu den Bestandsbauten, die für die olympi-       stellung „Blickpunkt Moderne 1960 –80“7 im Architektur-
schen Spiele benötigt wurden, gehörte zuvorderst die heu-     museum Schwaben, flankiert von einer Podiumsdiskussi-
tige Erhard-Wunderlich Sporthalle, die nach einem Inge-       on der Kuratoren mit führenden Vertretern der Kommune,
nieurswettbewerb von der Fa. Thormann & Stiefel AG mit        Denkmalpflegern und Stadtplanern. Es folgten Presseartikel
dem Ingenieurbüro Hugo Gall 1963–65 errichtet worden         in den lokalen Zeitungen8 und ein gemeinsamer Appell an
war.3 Es handelt sich dabei um einen frühen Vertreter einer   das Bayerische Landesamt für Denkmalpflege, den Denk-
Sporthalle mit einem doppeltgekrümmten, „freitragenden“       malwert der Kanustrecke neben anderen Bauten und Anla-
Hängedach. In der Halle wurden während der olympischen        gen der 1960er und 70er Jahre in Augsburg zu prüfen.9
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                                                               die ehemalige Stadt- und Kongresshalle, ein vielgestaltiger
                                                               Betonmonolith, der nach dem größten Architekturwettbe-
                                                               werb der 1960er Jahre im Wittelsbacher Park entstand und
                                                               dort seit 1972 vom beinahe 160 Meter hohen Hotelturm
                                                               überragt wird. Die Halle konnte bei allen Anforderungen an
                                                               eine neue Gebäudetechnik ihren Charakter für die Zeitzeu-
                                                               genschaft des Brutalismus in Augsburg bewahren. Bei dem
                                                               Hotelturm – ursprünglich als Holiday Inn-Hotel konzipiert
                                                               und im Olympiajahr 1972 eröffnet – sind um einen zentra-
                                                               len Erschließungskern mit zwei getrennten Treppenhäusern
                                                               und Installationsschächten die einzelnen Wohneinheiten mit
                                                               segmentförmig auskragenden Balkonen gelegt. Die modulare
                                                               Bauweise in Fertigbauteilen ist am Außenbau deutlich ables-
                                                               bar. Der weithin sichtbare Turm zitiert das Chicagoer Vorbild
                                                               der Marina Towers, die zwei Jahre zuvor fertiggestellt wor-
                                                               den waren. Der Augsburger „Wohn-Campanile“ wirkt aber
                                                               bis ins Detail der geschossweisen Schichtungen deutlich filig-
                                                               raner: Er markiert wie kein zweiter Bau in der Stadt die West-
                                                               bindung der bundesrepublikanischen Architektur zur Zeit der
                                                               Münchner Olympiade. Es ist nur eine Randnotiz, dass die
                                                               Architekten dieselben waren, wie beim Eiskanal: Brokel +
                                                               Müller. Mit 158 Metern Höhe wurde der Bau im Jahr der
                                                               olympischen Spiele1972 eröffnet, gehört aber bis heute im-
                                                               mer noch zu den höchsten Bauwerken in Bayern. Dabei blieb
                                                               das Wohnhochhaus als neuer Bautyp der Nachkriegsmoderne
                                                               auch in Augsburg keine singuläre Erscheinung.
                                                                 Die kommunale Stadtplanung der Boomjahre sah an den
                                                               besonders neuralgischen Punkten der Ein- und Ausfahrts-
                                                               straßen einen Kranz von Hochhaussolitären und Zwil-
Abb. 1 Parkwohnanlage (Skischuh) Lechhausen, 1974,             lingstürmen vor. Nur weniges von diesen hochtrabenden
Augsburg, Robert-Bosch-Str. 14, Architekten: Willi Pröll       Plänen für ein „Neues Wohnen“ gen Himmel wurde indes
und Erich C. Müller, Foto: Olaf Gisbertz                       realisiert. Besonders erwähnenswert der so genannte Ski-
                                                               schuh im Norden der Stadt (Abb. 1), eine nur z.T. realisierte
                                                               Parkwohnanlage mit terrassenförmigen Sockelgeschossen
  Für die kommenden Kanu-Slalom-Weltmeisterschaften            von 1974 (Robert-Bosch-Str. 14) oder das Schwabencen-
2022 hat die denkmalgerechte Sanierung bereits begonnen:       ter, eine Einkaufspassage mit 20-stöckigen Wohnhäusern
Nach Abtragung der Algen wurden die Schäden am Beton           in Kammstruktur von 1971 an der Friedberger Straße als
aber erst richtig sichtbar. Marodes wurde danach abgetragen    östliches Tor zur Innenstadt. Am Lechufer im Nordosten
und erneuert.10 Wenn die Strecke aus sportlicher Sicht durch   der Stadt türmt sich dagegen das Studentenwohnheim an
diese Maßnahme auch anspruchsvoller wurde, so haben sich       der Lechbrücke auf, das in den Jahren 1971–73 nach Ent-
die Bedenken gegenüber einem restriktiven Denkmalschutz        würfen von Richard Hohenner jun. und Hans Engel ent-
wohl durch den vertrauensvollen Dialog der Akteure unter-      stand. Der Stahlbetonskelettbau mit 19 Geschossen erhebt
einander gelegt. Im Rahmen der erfolgreichen UNESCO-           sich auf dreieckigem Gebäudegrundriss mit vorgehängter
Welterbe-Bewerbung für das Wassermanagement-System             Fassade aus Betonfertigteilen, zentral angeordnetem Er-
Augsburg fungierte der Olympia-Eiskanal als ein integraler     schließungsbereich mit Fahrstuhl und Treppenanlage. Den
Baustein und ist damit die „erste Kanustrecke in einem Welt-   Eingang überspannt ein konvex geschwungenes Betonvor-
kulturerbe“.11                                                 dach. Die Wohnungen (15,8 qm) waren mit Nasszelle und
  Die meisten Anlagen und Bauten in Augsburg, die in den       Kochnische ausgestattet, das oberste Geschoss mit Gemein-
Boomjahren der 1960er und 70er Jahre entstanden, genießen      schaftsraum, Küche und Dachgarten. Der städtebauliche
diesen Status nicht, obwohl sie immer noch stadtbildprägend    Hochpunkt entstand auch im Zusammenhang mit der Uni-
und identitätsstiftend wirken. Einen Großteil des Auftrags-    versitätsgründung 1970, für die studentischer Wohnraum
volumens beanspruchten ortsansässige Architekturbüros.         benötigt wurde.
Durch verschiedene Wettbewerbe erhielten aber auch über-         Nicht weniger der Zukunft zugewandt zeigte sich die
regional bekannte Architekten der Zeit Gelegenheit, sich in    Stadt Augsburg bei der Errichtung ihrer eigenen kommu-
die regionale Architekturlandschaft einzuschreiben. Heute      nalen Bauten, zu denen allen voran die Feuerwache an der
stehen viele Bauten dieser Ära durch Sanierungsmaßnah-         Berliner Allee (Abb. 2) und einige Schulbauten im Süden
men, Umnutzungen oder Abrisspläne vor tiefgreifenden           der Stadt gehören. Bei der Feuerwache (Arch. Pröll & Mül-
Umwandlungsprozessen. Einzelne Best-Practice-Beispiele         ler)12 beeindruckt noch heute, trotz einer inzwischen erfolg-
zeigen jedoch, dass erfolgreiche Sanierungen die Integrität    ten Aufstockung, der filigrane Umgang mit dem Beton. Ein
und Identität der Bauten zu bewahren vermögen. Allen voran     roh belassenes Betonraster legt sich um die Gebäudehülle,
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die sich in verschiedene, gestaffelte Bausegmente um den
schlanken Schlauchturm gruppiert. Vor- und Rücksprünge
sowie kojenartige Baldachine bekrönen die Dachkante. Die
Gestaltung diente nicht nur dem ästhetischen Selbstzweck
der programmatischen Offenlegung eines konstruktiv ver-
standenen Strukturalismus13, sondern vor allem auch der
Funktion von regelmäßig stattfindenden Feuerwehrübungen
an der offenen Fassadenstruktur. Neben den kommunalen
und privaten Trägern waren die kirchlichen Auftraggeber
und Institutionen nicht weniger entschlossen, dem Gesicht
der Stadt zur Olympiade ein modernes Gesicht zu verleihen.
Dafür konnten sie ausgewiesene Experten als Architekten
gewinnen.14 Einer von ihnen war Justus Dahinden, ein ande-
rer Alexander von Branca.
  Nach den Entwürfen von Justus Dahinden war in Königs-
brunn bei Augsburg zwischen 1968 und 1970 ein wichtiger
Sichtbetonbau entstanden: Kirche und Pfarrzentrum Zur
Göttlichen Vorsehung.15 Auf der Grundlage eines ringför-
mig expandierenden Achtecks entstand ein vielgestaltiger
Baukörper mit unregelmäßig gestaffelten Volumina und ei-
nem turmartigen Aufbau. Der kontrastreich organisierte In-
nenraum erschließt sich über einen niedrigen Umgang. Der
steil überdachte Gemeinderaum ist fächerförmig auf den
Altar ausgerichtet, das Tabernakel steht im Zentrum eines
nach oben offenen Lichtschachts. Die Raumatmosphäre ent-
faltet sich durch das diffuse Spiel von Licht und Schatten
auf den roh belassenen Sichtbetonflächen. Die Kirche ist ein
Hauptwerk moderner Sakralarchitektur in der Region. Sie
wird begleitet von einem ebenso von Dahinden entworfenen
Bauensemble aus Pfarrhaus, Kindergarten und Altenheim,         Abb. 2 Hauptfeuerwache, Berliner Allee, Erich C. Müller
dessen Denkmalwürdigkeit für mich außer Frage steht.          1972–74, im Hintergrund Studentenwohnheim an der Lech-
  Besonders qualitätvoll im Umgang mit dem alten Bestand       brücke, Richard Hohenner jun. und Hans Engel 1971–73,
in der Stadt hat sich über die vergangenen Jahrzehnte die      Foto: Olaf Gisbertz
Akademie und Seelsorgezentrum der Diözese Augsburg he-
rausgestellt, das Haus St. Ulrich am Kappelberg.16 Alexan-
der von Branca vermochte es 1971, hierfür einen Entwurf        Stadtwicklung in der noch jungen Bundesrepublik. Als Aus-
vorzulegen, der die kirchlichen Auftraggeber begeisterte,      tragungsstätte für die olympischen Segelwettbewerbe war es
und dem angrenzenden Areal bei St. Ulrich mit einer drei-      Kiel, die Landeshauptstadt Schleswig-Holsteins, wo die Ver-
teiligen Anlage aus Verwaltungsflügel, Gemeinschaftstrakt     änderungen am sichtbarsten in Erscheinung traten. Direkt an
und Gästehaus eine neue Sinnhaftigkeit zu verleihen. In-       der Kieler Förde am Schilksee entstand ein großformatiger
des beschränkte er das Formenrepertoire der abgeschrägten      Jachthafen mit Wohngebäuden und Geschäften. Aus dem
Gebäudekante, Fensterbänder und Kupferdächer, bei viel-        Architekturwettbewerb waren 1968 die ehemaligen Absol-
fach vor- und zurückspringenden Gebäudefronten. Der zur        venten der TH Braunschweig, Hinrich Storch (Jg. 1933) und
Ulrichsbasilika vorstoßende Flügel erlaubt dabei die Erin-     Walter Ehlers (Jg. 1936), mit dem 1. Preis für ihren Ent-
nerung an die alte Baustruktur des mittelalterlichen Kon-      wurf hervorgegangen. Anders als noch 1936, wo ein Neu-
vents. Innen fügen sich eine Kapelle, Tagungsräume und        bau des Jachthafens am ehemaligen Hindenburgdamm unter
großzügige Verkehrsflächen zu einem abwechslungsreichen        nationalsozialistischer Ägide schon einmal im Mittelpunkt
mikro-urbanistischen Ensemble: markantes Beispiel für die     der olympischen Segelwettwerbe gestanden war, wurde bis
städtebauliche Integrationsfähigkeit der späten Hochmo-        1972 ein bestehender Jachthafen mit einem terrassenförmig
derne im altstädtischen Kontext einer historisch geprägten     abgestuften Betonriegel überplant: Nicht weniger als 300
Stadt. Mit solchen Projekten, die im Boom der Zeit um die      Meter lang gestreckt, ausgestattet mit 400 Wohneinheiten
Olympiade entstanden, waren in der Augsburger Provinz die      und Zuschauerterrasse, Geschäften, Bootshalle und einer
Spannweite der zeitlichen Entwicklung und die Vielfalt der     Schwimmhalle. All das war eingebettet in eine Grünanla-
Bauproduktion in den 1960er und 70er Jahren enorm.             ge, zu beiden Seiten markiert von zwei Wohnhochhäusern
                                                               mit 168 Wohnungen und einem Hotelbau mit 500 Betten
                                                               (Abb. 3). Zum neuen olympischen Jachthafen gehören auch
Kiel                                                           32 Bungalows, die in einem Siedlungsverband gruppiert
                                                               sind. Der Entwurf konnte nach einem Wettbewerb 1966 im
Durch den Zuschlag für die Olympischen Spiele 1972 er-         Oktober 1969 realisiert werden. Die Eröffnung der olympi-
gaben sich auch im hohen Norden neue Chancen für die           schen Wettkämpfe in Schilksee erfolgte am 28. August 1972.
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Abb. 3 Modell Olympiazentrum Schilksee

  Neben diesem Projekt zur Olympiade wurden, ähnlich            bewerb, angeführt von einer renommierten Jury, gescheitert
wie in Augsburg, in der Zeit um 1972 auch in Kiel weitere       war, kamen Entwürfe des Architekten Wilhelm Neveling
Bauten für Sport, Bildung und Kultur realisiert. Man wollte     (Platzgestaltung: Günther Schulze und Max Sauk) ins Spiel,
ja „zur Segelolympiade der Welt zeigen, welcher Wille zur       die den Geist der Zeit mit „Mut zu moderner Gestaltung“20
Neugestaltung die Stadt belebt“.17 Dazu zählt vor allem das     repräsentieren sollten. Die in der Öffentlichkeit breit disku-
Sportforum der Universität Kiel nach Entwürfen von Ger-         tierten Pläne umfassten stereometrische, sechseckige Haus-
kan, Mark & Partner mit Klaus Nickels,18 die als Sieger aus     kuben mit polygonal anfallenden Dächern, die den Bereich
einem Architekturwettbewerb 1966 hervorgingen. Ihr Ent-         um die Nikolaikirche als „Erlebnisraum“ im historischen
wurf zeigt eine Sporthalle und einzelne Schwimmbecken in        Kontext der verlorenen Vergangenheit definierten. Trotz er-
einer mehrgliedrigen Anlage, die von einem gemeinsamen          heblicher Bedenken, u.a. vom damaligen Landeskonserva-
Betonfaltdach überspannt wird. Das Tragwerk mit kreuzför-       tor Hartwig Beseler und der Architektenkammer Schleswig-
migen Stützen aus Stahlbeton ermöglichte eine raumhohe          Holstein, wurde die neue Marktbebauung zur Eröffnung der
Verglasung. Zugleich konnte die vorhandene Geländeto-           Olympischen Segelwettbewerbe fertiggestellt (Abb. 4). Des
pographie zur Staffelung der einzelnen Funktionseinheiten       Weiteren konnte Neveling mit seinen Entwurfsplänen für
genutzt werden. Vom zentralen Foyer aus hat der Besucher        das Auditorium Maximum auf dem Campus der Christian-
einen Rundumblick auf alle Sportstätten.                        Albrechts-Universität einen Wettbewerbsgewinn verbuchen.
  Im Zeichen der Olympiade forcierte die Stadt Kiel auch        Auch hier zeigt sich bis heute seine Architekturauffassung,
das ambitionierte Projekt in der Innenstadt zur Neugestal-      die sich stark an den Vorgaben des International Style ori-
tung des Marktplatzes, der in seiner Disposition und im         entierte. Besonders auffällig an der Marktplatzbebauung
Maßstab auf die Stadttopographie im Zustand nach 1945           ist das Wechselspiel zwischen trapezförmigen gestaffelten
Bezug nahm. Schon früher hatte die Abbruchwelle der Jahr-       Dachflächen aus Kupfer und den Pfosten-Riegel-Fassaden
hundertwende um 1900 die historische Überlieferung von          mit großen Glasflächen.
Wohn- und Geschäftshäusern aus dem 16. Jahrhundert um
das Rathaus tiefgreifend verändert.19 Beim Wiederaufbau
der Stadt nach 1945 war so nach Abbruch und Zerstörung          Fazit
wichtiger Erinnerungsorte, wie Rathaus und Persianische
Häuser, ein weiträumiger Platz ohne Konturen inmitten der       Nicht nur in München, sondern auch abseits der bayerischen
arg ramponieren Altstadt getreten, der teilweise als großfor-   Metropole wirkte die Olympiade. Das Mega-Event des in-
matiger Parkraum diente. Nachdem ein städtebaulicher Wett-      ternationalen Sports forcierte Investitionen von ungeheurer
Olympia in der Provinz: Boomtowns Augsburg – Kiel 1972    169

Abb. 4 Kiel, Neugestaltung des Marktplatzes, Wilhelm Neveling 1972, heutiger Zustand, Foto: Friedhelm Schneider, 2006

Sogwirkung, welche die Stadtentwicklung in Nord- und          Abstract
Süd – besonders in den Austragungsorten der olympischen       The Olympics not only had an impact in Munich, but also
Wassersport-Disziplinen – entscheidend beeinflusste. Allein   away from the Bavarian metropolis. The mega-event of in-
in Augsburg und Kiel wurden in den Jahren um die Olym-        ternational sport forced a surge in investment of enormous
pischen Spiele 1972 mehrere Prestigeobjekte realisiert, die   effect, which decisively influenced the urban development in
bestehende städtebauliche Konzepte teilweise fortführten      the north and south – especially in the venues of the Olympic
oder weiterentwickelten. Durch die Olympiade entstand ein     water sports disciplines. In Augsburg and Kiel alone, sev-
Modernisierungsschub, der dem gesamten Bauwesen in Ar-        eral prestige objects were realised in the years around the
chitektur, Städtebau und Landschaftsplanung eine besondere    1972 Olympic Games, which partly continued or further de-
Dynamik verlieh. Von diesen Bauprojekten für Sport, Bil-      veloped existing urban development concepts. The Olympics
dung und Kultur sind auch nach rund 50 Jahren Standzeit       stimulated modernisation, which gave the entire construc-
noch viele in Betrieb und haben trotz Umbau- und Erwei-       tion industry a special dynamic in architecture, urban devel-
terungsmaßnahmen nur wenig von ihren architektonischen        opment and landscape planning. Of these building projects
und städtebaulichen Qualitäten verloren: weder als gebaute    for sport, education and culture, many are still in operation
Zeugnisse einer hochmodernen Stadtlandschaft der 1960er       even after nearly 50 years and have lost very little of their
und 1970er Jahre, noch als Ensemble von Bauten für Sport,     architectural and urban development qualities, despite con-
Bildung und Kultur der Boomjahre um die Olympischen           version and extension measures: neither as built testimonies
Spiele 1972. Die Denkmalwerte dieser Bauten sollten au-       to a highly modern urban landscape of the 1960s and 1970s,
ßer Frage stehen. Für deren denkmalgerechte Erhaltung sind    nor as an ensemble of buildings for sport, education and
aber dennoch weiterführende Forschungen der Bau- und          culture from the boom years around the 1972 Olympics. The
Baukonstruktionsgeschichte im Bestand vonnöten, um die        heritage value of these buildings should be beyond question.
Planungsstrukturen und die speziellen, zum Teil experi-       However, for their heritage-compatible preservation, further
mentellen Bauweisen der Zeit offenzulegen. Nur so wird es     research into the history of buildings and building construc-
möglich sein, auch nachhaltige Handlungsstrategien für die    tions in the existing stock is necessary in order to reveal
Denkmalpflege des vielfach noch unterschätzten Bestandes      the planning structures and the special, partly experimental
der Spätmoderne im Spiegel der Olympischen Spiele von         building methods of the time. Only in this way will it be pos-
1972 zu entwickeln.                                           sible to develop sustainable action strategies for the preser-
                                                              vation of the often underestimated late modernist stock of the
                                                              1972 Olympic Games.
170     Olaf Gisbertz

Literatur                                                      Carl Mertz, Olympische Bauten München 1972, 2. Bd. Be-
Akademie u. Seelsorgezentrum der Diözese Augsburg               standaufnahme Herbst 1970, in: aw1 (Architektur-Wettbe-
  (Hrsg.), Festschrift anlässlich der Altarkonsekration mit     werbe, Sonderhefte).
  Haussegnung am 26.02.1975 und des Festaktes zur Er-          Winfried Nerdinger (Hrsg.), Walther Schmidt 1899–1993.
  öffnung des Hauses St. Ulrich am 27. 02. 1975, Augsburg       Von der Postbauschule zum Stadtbaurat von Augsburg,
  1975.                                                         Berlin 2008.
Harald Giess, Spickel und Eiskanal – Vom Stadtwald des         Walter Schmidt, Eröffnung der Augsburger Sporthalle
  Biedermeier zur Weltklasse-Kanustrecke, in: Kanustrecke       am 11. Dezember 1965 mit Hallenhandball-Länderspiel
  Mitteilungen des Bayerischen Landesamtes, Nr. 67, 2017,       Deutschland-Frankreich. Festschrift und Programm,
  S. 29–33.                                                     hrsg. vom Städtischen Sportamt Augsburg, Augsburg
Olaf Gisbertz (Hrsg.), Bauen für die Massenkultur. Einfüh-      1965.
  rung, Berlin 2018.                                           Bernd Vollmar, Ungetrübtes Lokalkolorit – Zur Ausstel-
Astrid Hansen und Heiko K. L. Schulze: „Zur Segelolym-          lung „Blickpunkt Moderne“: Architektur in Augsburg
  piade der Welt zeigen, welcher Wille zur Neuplanung die       1960–1980, in: Denkmalpflege-Informationen. Mitteilun-
  Stadt belebt…“. Die Bebauung des Kieler Markplatzes           gen des Bay. Landesamtes für Denkmalpflege, Nr. 163,
  von 1972, in: Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische        2016, S. 100–103.
  Geschichte. Mitteilungen 76, April 2009, S. 17– 41.          Markus Würmseher, Kirchenbau im Bistum Augsburg
Sabine Klotz (Hrsg.), Zeichen des Aufbruchs. Kirchenbau         1945–1970, Augsburg 2007.
  und Liturgiereform im Bistum Augsburg seit 1960, Lin-
  denberg im Allgäu 2018.
Josef Korschinsky, Feuerwehr Augsburg. 150 Jahre Frei-         Abbildungsnachweis
  willige Feuerwehr Augsburg – 100 Jahre Berufsfeuerwehr       Abb. 1: Olaf Gisbertz, Dortmund, 20. 02. 2020
  Augsburg, Augsburg 1999.                                     Abb. 2: Olaf Gisbertz, Dortmund, 20. 02. 2020
Ralf Lange, Architektur und Städtebau der sechziger Jah-       Abb. 3: Bildnachlass Friedrich Magnussen (1914–1987),
  re (Schriftenreihe des Deutschen Nationalkomitees für        Stadtarchiv Kiel, StAKiel, 2.3 Magnussen 5442. Copyright:
  Denkmalschutz, Band 65).                                     CC BY-SA 3.0 DE
Arnulf Lüchinger, Strukturalismus in Architektur und           Abb. 4: Landesamt für Denkmalpflege Schleswig-Holstein,
  Städtebau, Stuttgart 1981.                                   Kiel

1
    Gisbertz, Bauen für die Massenkultur, 2018, S. 15.            ein denkmalgeschütztes Gebäude sein, in seiner Funktion
2
    Nerdinger, Walther Schmidt, 2008.                             aber wohl erhalten werden. Die Kanusportler bezweifeln
3
    Schmidt, Eröffnung der Augsburger Sporthalle, 1965.           das – und machen mobil. In: Augsburger Allgemeine Zei-
4
    Mertz, Olympische Bauten, 1972, S. VI: „Die Durchfüh-         tung, 20. 06. 2016 (https://www.augsburger-allgemeine.
    rung der Tiefbauarbeiten wurden von der Stadt Augsburg        de/augsburg/sport/Kanuten-sorgen-sich-Augsburger-
    übernommen. Entwurf und Bauleitung für die Hochbauten         Eiskanal-bald-denkmalgeschuetzt-id38154907.html, Zu-
    lagen bei Brokel und Müller.“                                 griff am 25. 11. 2019).
5
    Horst Woppora, zit. nach Augsburger Allgemeine,            10
                                                                  https://www.kanu.de/Der-Augsburger-Eiskanal-wird-
    19.03.2018 (https://www.augsburger-allgemeine.de/sport/       saniert-71401.html, Zugriff am 25.11.2019.
    Der-Eiskanal-Eine-Wettkampf-Staette-mit-Potenzial-         11
                                                                  Siehe Welterbe Augsburg: https://www.kanu.de/Mit-einem-
    id50684891.html, Zugriff am 25.11.2019).                      grossen-Wasserfest-feiert-Augsburg-die-Auszeichnung-
6
    Giess, Spickel und Eiskanal, 2017, S. 29–33.                  als-UNESCO-Weltkulturerbe-Stadt-72382.html, Zugriff
7
    Vgl. Vollmar, Ungetrübtes Lokalkolorit, 2016.                 am 25.11.2019).
8
    Denkmalschutz für das künstliche Wildwasser? – Die Ka-     12
                                                                  Korschinsky, Feuerwehr Augsburg, 1999, S. 199.
    nustrecke und die Gebäude am Eiskanal gehören zu den       13
                                                                  Lüchinger, Strukturalismus, 1981.
    herausragenden Bauten aus den 1970er Jahren in Augs-       14
                                                                  Klotz, Zeichen des Aufbruchs, 2018.
    burg. Noch sind sie nicht geschützt. Die Bauwerke werden   15
                                                                  Würmseher, Kirchenbau, 2007.
    langsam sanierungsbedürftig, in: Augsburger Allgemeine     16
                                                                  Akademie u. Seelsorgezentrum der Diözese Augs-
    Zeitung, 19.04.2016. (https://www.augsburger-allgemeine.      burg, Festschrift, 1975.
    de/augsburg/20160411-093615-15-A-Eiskanal-jpg-             17
                                                                  Hansen/Schulze: Bebauung des Kieler Markplatzes von
    id37525157.html?aid=37525167, Zugriff am 25.11.               1972, 2009, S. 17– 41.
    2019).                                                     18
                                                                  Vgl. Lange, Architektur und Städtebau, S. 141.
9
    Kanuten sorgen sich: Augsburger Eiskanal bald denk-        19
                                                                  Hansen/Schulze (wie Anm. 17), S. 20.
    malgeschützt? – Der Augsburger Eiskanal könnte bald        20
                                                                  Zit. nach ebd., S. 17.
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