Omer Meir Wellber Augustin Hadelich - NDR
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Omer Meir Wellber & Augustin Hadelich Donnerstag, 16.12.21 — 20 Uhr Sonntag, 19.12.21 — 11 Uhr Elbphilharmonie Hamburg, Großer Saal Freitag, 17.12.21 — 19.30 Uhr Musik- und Kongresshalle Lübeck
OMER MEIR WELLBER Dirigent AUGUSTIN HADELICH Violine ELI DANKER Schauspieler NDR ELBPHILHARMONIE ORCHESTER Einführungsveranstaltungen mit Julius Heile am 16.12. und 19.12. jeweils eine Stunde vor Konzertbeginn im Großen Saal der Elbphilharmonie; am 17.12. um 18.30 Uhr auf der „Galerie Wasserseite“ der Musik- und Kongresshalle Das Konzert am 19.12.21 ist live zu hören auf NDR Kultur.
B E N J A M I N B R I T T E N (191 3 – 1976) Konzert für Violine und Orchester op. 15 Entstehung: 1938–39; rev. 1950; 1954; 1965 | Uraufführung: New York, 28. März 1940 | Dauer: ca. 32 Min. I. Moderato con moto – Agitato – Tempo primo – II. Vivace – Animando – Largamente – Cadenza – III. Passacaglia: Andante lento Pause E L L A M I L C H - S H E R I F F (*195 4) Der ewige Fremde Monodram für einen Schauspieler und Orchester nach einem Text von Joshua Sobol Entstehung: 2019 | Uraufführung: Leipzig, 20. Februar 2020 | Dauer: ca. 17 Min. Text des Schauspielers auf S. 16–17 L U D W I G VA N B E E T H O V E N (17 70 – 1 8 2 7) Sinfonie Nr. 4 B-Dur op. 60 Entstehung: 1806 | Uraufführung: Wien, März 1807 | Dauer: ca. 35 Min. I. Adagio – Allegro vivace II. Adagio III. Allegro molto e vivace – Trio. Un poco meno allegro – Tempo I IV. Allegro ma non troppo Dauer des Konzerts einschließlich Pause: ca. 2 ¼ Stunden 3
ZUM PROGR AM M DES HEUTIGEN KONZERTS Heimat und Fremde Denn hier ist keine Wie fühlt es sich an, in der Fremde zu sein – unter Menschen, deren Kultur und Sprache man nicht ver- Heimat – Jeder steht? Sind Heimat und Fremde rein geografische treibt sich an dem Begriffe? Oder kann man sich auch in der Heimat fremd, in der Fremde heimisch fühlen? Die drei andern rasch und Werke des heutigen Abends beschäftigen sich mit fremd vorüber, und diesen Fragen – und finden darauf jeweils ganz unter- schiedliche Antworten. fraget nicht nach seinem Schmerz. S C H W E B E Z U S TA N D : B E N JA M I N B R I T T E NS V I O L I N KO NZ E R T Friedrich Schiller In der Fremde, genau genommen in Kanada, befand sich Benjamin Britten, als er im September 1939 sein einziges Violinkonzert vollendete. Begonnen hatte er mit der Arbeit daran noch in seiner englischen Hei- mat, im Jahr 1938. Dann jedoch spürte er, dass sich Krieg über Europa zusammenbraute. Die politische Lage wurde angespannter und Britten befürchtete zu Recht Diskriminierungen, sowohl wegen seiner pazi- fistischen Haltung als auch wegen seiner sexuellen Orientierung. Dass seine Werke zu dieser Zeit in Eng- land nur äußerst lauwarm aufgenommen wurden, dürfte seinen Beschluss noch bestärkt haben: Von der Reise in das freiheitliche – und von den politischen Zuständen in Europa zumindest räumlich weit ent- fernte – Amerika erhoffte er sich die Chance auf einen neuen Anfang. 4
BENJAMIN BRITTEN Violinkonzert op. 15 Bereits auf der langen Schiffsreise von Southampton nach Québec setzte Britten seine Arbeit an dem Vio- linkonzert fort. Die Inspiration dazu hatte er von dem spanischen Violinisten Antonio Brosa erhalten. Mit ihm hatte Britten 1936 bei den Weltmusiktagen in Barcelona seine Suite für Violine und Klavier op. 6 vorgestellt. Der Komponist schrieb Brosa den Solo- part des Konzerts auf den Leib – und dieser sollte es auch im März 1940 in der New Yorker Carnegie Hall Benjamin Britten zur Uraufführung bringen. Dass der Geiger bei der Einreise zunächst als „gefährlicher Ausländer“ inter- „ E I N G O T T D E R F I E D E L“ niert wurde, zeigt deutlich, dass der in Europa tobende Konflikt schon lange vor dem Kriegseintritt Sein öffentliches Debüt gab der damals zehnjährige der USA seine Schatten dorthin vorauswarf. Katalane Antonio Brosa 1904 mit dem Violinkonzert von „Es ist ziemlich ernst, fürchte ich – aber es gibt Brahms. Im weiteren Verlauf seiner Karriere konzentrierte durchaus einige Melodien“, äußerte sich Britten mit er sich insbesondere auf das typisch britischem Understatement über das Konzert. zeitgenössische Repertoire Dennoch hielt er das Werk zur Zeit der Vollendung und spielte zahlreiche Urauf- führungen, darunter auch die für sein bislang bestes. Reflektionen von Brittens von Benjamin Brittens Violin- damaliger Lebenssituation scheinen sich dabei an konzert 1940 in New York. Der vielen Stellen der Musik zu finden. Da sind zunächst Erfolg mit diesem Werk, das der legendäre Geiger Jascha die einleitenden Paukenfiguren – ein kollegialer Gruß Heifetz „unspielbar“ genannt in Richtung des Beethovenschen Violinkonzerts, das hatte, bildete den Auftakt zu ebenfalls mit Paukenklängen beginnt? Oder die düs- Brosas internationaler Karri- ere. Britten bezeichnete den tere Erinnerung an den Spanischen Bürgerkrieg, des- Künstler, dessen herausragen- sen fatales Ende mit dem Sieg der Faschisten den des Können ihn von Anfang letzten Impuls für Brittens Reise ins selbstgewählte an zutiefst beeindruckt hatte, als einen „Gott der Fiedel“. Exil gegeben hatte? Welche Bedeutung man der rhythmisch markanten Quartenfigur auch beimisst: Als bedrohliche Präsenz durchzieht sie nicht nur den ersten der drei Sätze des Violinkonzerts, sondern taucht auch in den Folgesätzen immer wieder auf. Das melodisch schwelgende Hauptthema des ersten Satzes wiederum lässt sich als Ausdruck der in dieser Zeit aufblühenden Liebe Brittens zu dem Tenor Peter Pears betrachten, der bis zu seinem Lebensende sein 5
BENJAMIN BRITTEN Violinkonzert op. 15 MONOLITH BENJAMIN Partner bleiben sollte. Mit spektakulären Läufen und BRITTEN Sprüngen, mit extremen Lagen und Doppelgriffen fordert der zweite Satz des Konzerts dem Solisten ein Natürlich kennt man heute Maximum an technischem Können ab. Er endet mit eine Reihe britischer Kompo- nisten der ersten Hälfte des einer mal tastenden, mal leidenschaftlich singenden 20. Jahrhunderts, darunter Solokadenz. Deren abschließende, beharrlich aufstei- Edward Elgar oder Ralph gende Tonfolge wird gleich zu Beginn des unmittel- Vaughan Williams. Keiner von ihnen hat jedoch den Ruhm bar anschließenden Finalsatzes von den Posaunen von Benjamin Britten erreicht. übernommen. Die markante Tonfolge bleibt das Mit zahlreichen Opern, Hauptthema dieses Satzes, dem Britten die traditi- Chorwerken und nicht zuletzt seinem monumentalen „War onsreiche Form der Passacaglia gab: einer Folge von Requiem“ wurde Britten zum Variationen über einem gleichbleibenden Bass. Nach mit Abstand bedeutendsten dem grotesken zweiten Satz, dessen ungezügelte britischen Komponisten seiner Generation – in den Wildheit an Brittens Idole Mahler und Schostako- Augen mancher sogar dem witsch erinnert, gab der Komponist seiner Musik so bedeutendsten seit der Zeit wieder Halt und Sicherheit. Und vielleicht klingt in von Purcell und Händel. Sein unverkennbarer Stil, der sich diesem Rückbezug auf eine tief in der europäischen souverän zwischen Rückbe- Musik verwurzelte Form auch seine Sehnsucht nach zügen auf die Tradition und einer (vermutlich mehr inneren als äußeren) Heimat Verwendung moderner Tech- niken bewegt, hat seinem an? Die fundamentale Unsicherheit bleibt dem Kon- Werk einen dauerhaften Platz zert dennoch bis zum Schluss erhalten. Noch als letz- im internationalen Repertoire ten Akkord spielt das Orchester eine leere Quinte: beschert. Gleichzeitig ist er durch eben diese hochexpres- zwei Rahmentöne, bei denen ohne die dazwischenlie- sive und ganz individuelle gende Terz unklar bleibt, ob sie einen Dur- oder einen Tonsprache ein Solitär geblie- Mollakkord bilden. Diese Entscheidung ließ Britten ben, der weder eine Schule begründet noch überzeugende denn auch bewusst offen. Die Solovioline beschließt Nachahmer gefunden hat. das Werk auf einem Halbtontriller, der die Harmonie Und so nimmt Brittens Werk zwischen Dur und Moll oszillieren lässt – eine bis heute eine Ausnahmestel- lung in der britischen Musik- (tonale) Heimat erreicht das Werk also nicht. Und geschichte ein. auch Benjamin Britten sollte nicht auf Dauer in Ame- rika heimisch werden. Im Jahr 1942, mitten im Zwei- ten Weltkrieg, kehrte er nach England zurück, um dort als Komponist und nach wie vor bekennender Pazifist eine hörbare Stimme gegen Gewalt und Dis- kriminierung zu bleiben. 6
ELLA MILCH-SHERIFF Der ewige Fremde H E I M AT A L S S E H N S U C H T S O R T: E L L A M ILCH - SH ERIF F S „DER E W IGE F REM DE“ „Ein Mann beobachtet Menschen an einem fremden Ort.“ So beginnt und endet die Erzählung des Spre- chers in Ella Milch-Sheriffs Monodram „Der ewige Fremde“. Wer er ist, woher er kommt und warum: Der Zuhörer erfährt es nicht. Er könnte ein Flüchtling sein, ein Vertriebener, ein Reisender – oder jemand, Ella Milch-Sheriff der träumt. Und tatsächlich liegt der Ursprung für das Werk der israelischen Komponistin in einem Traum. Geträumt hat ihn Ludwig van Beethoven auf Wenn ich an Bach einer Reise im September 1821. „Während ich nun und Beethoven, schlummerte, so träumte mir, ich reiste sehr weit. Nicht weniger nach Syrien, nicht weniger nach Indien Schubert und Men- – wieder zurück nicht weniger nach Arabien, endlich delssohn denke, kam ich gar nach Jerusalem“, schilderte er die imagi- nierte Reise in einem Brief an seinen Verleger Tobias kann ich nicht kom- Haslinger. An diesen Brief erinnerte sich Ella Milch- ponieren. Nur wenn Sheriff, als sie den Auftrag bekam, zum Beethoven- Jahr 2020 ein neues Werk zu schreiben. Die ich vergesse, dass Vorstellung, wie sich Beethoven im Orient gefühlt es diese große haben könnte, umgeben von fremden Klängen und Eindrücken, wurde zur Initialzündung für das Pro- Musik gab, kann jekt. Um aus der Idee mehr zu machen als die obliga- ich meine Noten torische Hommage an Beethoven, gewürzt mit etwas orientalischem Flair, holte Milch-Sheriff sich einen zusammenbringen. Autor mit ins Boot: ihren Landsmann Joshua Sobol. Ella Milch-Sheriff Sie bat ihn, aus den in Beethovens Brief geschilderten Ereignissen einen Monolog für einen Schauspieler zu machen – Beethoven-Bezug nicht zwingend erforder- lich. Das Resultat ist eine hochexpressive Meditation über das Gefühl des Fremdseins. Dieses Gefühl beschränkt sich nicht auf die Ebene der Sprache: Ges- tik und Mimik, selbst den Ausdruck in den Augen der Menschen um ihn herum kann der Protagonist von Sobols Text nicht deuten. Die Musik unterstreicht das 7
ELLA MILCH-SHERIFF Der ewige Fremde Gefühl der Heimatlosigkeit des Protagonisten, indem sie unaufhörlich zwischen jüdischer und arabischer Musik, „westlicher“ Moderne und der Musik zur Zeit Beethovens changiert. Ein flirrender Klangteppich der Streicher scheint das Werk zu Beginn schon fest in der Musik der Moderne zu verorten. Orientalisch wirkende Melodien der Oboe stellen diese Wahrneh- mung jedoch bald wieder in Frage. Ein Kanon, den Joshua Sobol (2001) Beethoven in dem erwähnten Brief als Scherz an sei- nen Verleger schickte, ist ebenso Teil der musikali- „W I E E I N E N U K L E A R E schen Faktur wie wienerische Walzer-Anklänge, zu EXPLOSION“ denen der Protagonist seine Liebe zu den Menschen und allem Leben beschwört. Aus dem Gefühl der Theater ist Provokation, findet Fremdheit folgt die tiefe Sehnsucht danach, sich wie- Joshua Sobol, es muss an die Grenzen gehen und Folgen der geborgen und zugehörig zu fühlen: Frei oder haben wie eine nukleare rhythmisch gebunden sprechend, deklamierend, flüs- Explosion. Und mit seinen ternd, schreiend und singend, sucht er nach Kontakt Werken geht der 1939 geborene israelische Autor und Drama- zu seiner Umgebung. tiker in dieser Hinsicht mit gutem Beispiel voran. Ob es Nachdem alle verbalen Versuche, auf die anderen um die Kollaboration von Juden mit den Nazis geht zuzugehen, ins Leere gelaufen sind, lässt der Protago- („Ghetto“), um die potentiell nist schließlich seinen Körper sprechen: „Wo die katastrophalen Folgen von Sprache der Worte ihr Ende findet, bricht der Körper jüdischem Fundamentalismus („Das Jerusalem-Syndrom“) sein Schweigen.“ In einer überwältigenden Steigerung oder eine kontroverse Figur kommt hier – aller sozialen Isolation zum Trotz – wie den Antisemiten und eine unbändige Lebensfreude zum Ausdruck. Klang- Frauenhasser Otto Weininger („Weiningers Nacht“) – in lich eröffnet die arabische Trommel Darbuka diesen seinen Stücken hält Sobol dem Abschnitt – im Idealfall, so wünscht es sich die Kom- Publikum unerbittlich einen ponistin, vom Sprecher selbst geschlagen. Er trom- Spiegel vor und spricht The- men an, über die andere lieber melt und tanzt in dem Versuch, über die Musik schweigen würden. Sein Text Kontakt zu seiner Umgebung herzustellen. Üppige, „Die Wanderschaft des ewigen rauschhafte Klänge vom Orchester scheinen die Flüchtlings und der Kampf gegen die Verzweiflung“ bildet schmerzhafte Einsamkeit zumindest für einen die Grundlage für Ella Milch- Moment zu betäuben – doch die Freude ist trüge- Sheriffs „Der ewige Fremde“. risch. Ziellos kreist die Musik um sich selbst, die bei- den einander so fremden musikalischen Sphären finden keine Verbindung. Und so scheint schließlich 8
LUDWIG VAN BEETHOVEN Sinfonie Nr. 4 B-Dur op. 60 auch die Hoffnung zu sterben; fahl verzittern die „O TOBIAS DOM INUS“ Orchesterklänge beinahe ins Nichts. Das letzte Wort hat der Sprecher über leisen, lang gehaltenen Tönen: Im oberösterreichischen Bad Zell geboren, kam der Färber- „Ein Mann beobachtet Menschen an einem fremden sohn Tobias Haslinger schon Ort.“ Nichts hat sich geändert. Alles Bemühen hat die früh mit Musik in Berührung. Kluft zwischen ihm und seiner Umgebung nicht klei- Bereits im Kindesalter lernte er mehrere Instrumente, ner werden lassen. Die Heimat bleibt ein Sehnsuchts- arbeitete später in einer ort, der in der Realität nicht zu erreichen ist. Musikhandlung und kompo- nierte auch selbst. 1810, im Alter von 23 Jahren, kam S C H AT T E N D A S E I N : Haslinger nach Wien und LU DW I G VA N B E E T H OV E NS SI N FO N I E N R . 4 arbeitete dort für die Kunst- handlung Steiner, die er später übernahm und zu einem der Emotional hallt der „ewige Fremde“ sicher noch bedeutendsten Musikverlage nach, wenn unmittelbar im Anschluss daran die seiner Zeit machte. Neben Vierte Sinfonie von Beethoven beginnt, die ja auch Beethoven verlegte Haslinger Werke von Mozart, Moscheles, immer ein wenig fremd wirkt zwischen seiner mono- Spohr, Hummel und Carl lithischen Dritten und der schicksalsschweren Fünf- Maria von Weber. Mit Beetho- ten. Als eine „liebliche Maid zwischen zwei ven pflegte er einen regen und oft humorvollen Briefwechsel Nordlandriesen“ bezeichnete Robert Schumann die – so schilderte ihm der Kom- Sinfonie – und als solche dürfte sie sich einiger- ponist etwa jenen Traum, der maßen fremd gefühlt haben in ihrer unmittelbaren Ausgangspunkt von Milch- Sheriffs „Der ewige Fremde“ musikalischen Umgebung. Darin ging es ihr nicht ist, und schrieb ihm einen viel anders als ihrem Komponisten, der sich auch oft Kanon mit dem Text „O Tobias als Fremder in seiner Welt fühlte. Einerseits genial Dominus Haslinger“. begabt, andererseits mürrisch, jähzornig und unge- hobelt, stellte Beethoven sein Umfeld im persönli- chen Umgang vor einige Herausforderungen. Dass ihm das durchaus bewusst war, davon spricht in anrührenden Worten das sogenannte Heiligenstädter Testament, das der gerade 31-jährige Beethoven im Jahr 1801 verfasste. Darin bittet er seine Mitmenschen um Verständnis für sein oft gewöhnungsbedürftiges Verhalten und begründet dieses mit seiner zuneh- menden Schwerhörigkeit, die ihn nicht nur innerlich verzweifeln ließ, sondern ihm auch ganz faktisch die Unterhaltung mit anderen erschwerte. Im Jahr 1806 jedoch, als Beethoven seine Vierte Sinfonie 9
LUDWIG VAN BEETHOVEN Sinfonie Nr. 4 B-Dur op. 60 komponierte, sah die Welt schon wieder anders aus: Sein Gehörleiden zeigte zwar keine Anzeichen der Besserung, dennoch hatte der Komponist in dieser Zeit vielleicht zum ersten Mal seit langem wieder das Gefühl, emotional einen Heimathafen angesteuert zu haben. Grund dafür war seine (offenbar erwiderte) Liebe zu Josephine Deym (geborene Brunsvik), seiner ehemaligen Klavierschülerin, die er schon lange Ludwig van Beethoven (Gemälde heimlich verehrte. Im Jahr 1804 war Josephine verwit- von Isidor Neugaß, 1806) wet und ihre Beziehung zu Beethoven wurde enger – nun hoffte er auf die Erfüllung des lang gehegten UNSTERBLICHE GELIEBTE? Wunsches, seine Liebe zu ihr vor aller Welt bekennen zu dürfen. Mit der Gräfin Josephine Deym von Stritetz, geborene Diese optimistische und beglückte Stimmung kommt Gräfin Brunsvik de Korompa (1779–1821) verband Beethoven in der Vierten Sinfonie deutlich zum Tragen. Insbe- eine lange und enge Bezie- sondere die schnellen Ecksätze sprechen von Hoff- hung. Kennengelernt hat er nung und Lebensfreude – und lassen gelegentlich die damals 20-Jährige, als sie 1799 in Wien gemeinsam mit einen hintergründigen Humor aufblitzen, den man ihrer Schwester Therese seine bei Beethoven nicht allzu häufig antrifft. So tritt bei- Klavierschülerin wurde. Als spielsweise das Fagott gerade im ersten Satz mit sie nach kurzer Ehe mit dem Grafen Joseph von Deym im scherzhaft hüpfenden Staccato-Figuren immer wieder Jahr 1804 Witwe wurde, prominent in den Vordergrund – eine Überraschung vertiefte sich die Beziehung, bei einem Instrument, das seine Klangfarbe sonst wovon eine Reihe leiden- schaftlicher Liebesbriefe meist eher dem Orchestertutti beimischt als solis- Beethovens zeugt. Da eine tisch hervortreten lässt. Nach dem lyrisch-melancho- Eheschließung jedoch unmög- lischen zweiten und dem eigensinnigen dritten Satz lich war – Josephine hätte ihren Adelsrang und damit die vermittelt das Finale noch einmal ein Gefühl über- Vormundschaft über ihre vier schäumender Freude. In einem stürmischen Tanz Kinder verloren –, distanzierte scheint es das ganze Leben zu feiern und schließt sie sich schließlich von Beethoven und heiratete 1810 wiederum mit einem kleinen Scherz: Eine fragende den estnischen Baron Chris- Linie einer einzelnen Geige wird zögernd vom Fagott toph von Stackelberg. Mög- beantwortet. Die Geige bekräftigt die kleine Antwort- licherweise ist Josephine die Adressatin von Beethovens phrase noch einmal, bevor das gesamte Orchester 1812 verfasstem Brief an seine das Werk schwungvoll zum Abschluss bringt. Ob bis heute nicht sicher identi- Beethoven sich hier wohl tatsächlich ein Gespräch fizierte „Unsterbliche Geliebte“. vorgestellt hat – und wenn ja, worum ging es wohl? 10
LUDWIG VAN BEETHOVEN Sinfonie Nr. 4 B-Dur op. 60 Diese Frage muss wohl bis auf Weiteres unbeantwor- Zusammengefasster tet bleiben. energischer, inniger Die Hoffnung auf eine Beziehung – und vielleicht habe ich noch kei- sogar Ehe? – mit Josephine Deym erfüllte sich für nen Künstler gese- Beethoven letztlich nicht, und auch in seinem weite- ren Leben sollte es ihm nicht gelingen, eine Heimat hen. Ich begreife in einer romantischen Beziehung zu finden. Ebenso recht gut, wie er wenig Glück war seiner Vierten Sinfonie im Konzert- leben beschieden: Angesichts der Begeisterung gegen die Welt wun- gerade späterer Generationen für die beiden „Nord- derlich stehen landriesen“, Beethovens Dritte und Fünfte Sinfonie, muss es vielleicht nicht verwundern, dass die „klassi- muss. sche“ Vierte im Repertoire nie so recht heimisch Johann Wolfgang von Goethe wurde. Ihre heitere Eleganz, die Robert Schumann so über Ludwig van Beethoven begeisterte, passte möglicherweise nicht ins Bild von (1812) einem grüblerischen Genie, dessen größte Werke vom Kampf gegen Welt und Schicksal erzählen. Schade eigentlich, denn um mit den Worten des Musikwis- senschaftlers Robert Greenberg zu sprechen: „Wenn irgendeiner von Beethovens Zeitgenossen diese Sinfo- nie geschrieben hätte, würde man sie als das Meister- werk dieses Komponisten betrachten und man würde sich allein wegen dieser Sinfonie an ihn erinnern.“ Juliane Weigel-Krämer 11
DIRIGENT Omer Meir Wellber Omer Meir Wellber gehört zu den führenden Dirigenten für Opern- und Orchesterrepertoire. Gegenwärtig teilt er seine Zeit zwischen seinen Positionen als Chefdirigent des BBC Philharmonic Orchestra, Music Director des Teatro Massimo in Palermo, Erster Gastdirigent der Semperoper Dresden und Music Director des Raanana Symphonette Orchestra in Israel. Ab September 2022 wird Wellber außerdem Musikdirektor an der Volksoper Wien. Er arbeitet mit zahlreichen erstklassigen Ensemb- H Ö H E P U N K T E 2 0 21/2 0 2 2 les weltweit zusammen, so etwa mit dem London Phil- harmonic Orchestra, Gewandhausorchester Leipzig, • Bizets „Carmen“ in einer Swedish Radio Symphony und City of Birmingham Inszenierung von Calixto Symphony Orchestra, der Staatskapelle Dresden, Deut- Bieito und Verdis „Les Vêpres siciliennes“ in einer schen Kammerphilharmonie Bremen, dem Israel Phil- Inszenierung von Emma harmonic Orchestra, SWR Symphonieorchester, Dante (gestreamt auf ARTE Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin sowie dem Ton- Concert) am Teatro Massimo in Palermo halle-Orchester Zürich. Trotz seiner weltweiten Engage- • Wiederaufnahmen von ments pflegt Wellber eine enge Verbindung zu Mozarts „Don Giovanni“, Ensembles in seiner Heimat Israel. Mit dem Raanana „Così fan tutte“ und „Le nozze di Figaro“ sowie eine Symphonette Orchestra setzt er sich besonders für Neuproduktion von Puccinis Musikvermittlung und -erziehung ein. Er ist zudem Bot- „Madama Butterfly“ an der schafter der in Israel ansässigen Non-Profit-Organisa- Semperoper Dresden • Bizets „Carmen“ an der tion „Save a Child’s Heart“, die sich um die Behandlung Wiener Staatsoper herzkranker Kinder aus Entwicklungsländern sowie um • Konzerte mit dem Orchestre die Ausbildung von Ärzten vor Ort kümmert. Außerdem National de France in Paris, dem BBC Philharmonic arbeitet er regelmäßig mit verschiedenen Institutionen Orchestra, den Wiener in Outreach-Programmen zusammen und fördert die Symphonikern und der nächste Dirigenten-Generation durch Workshops, Kurse Staatskapelle Dresden und Besuche an Hochschulen. Omer Meir Wellber hat im Herbst 2019 seinen ersten Roman „Die vier Ohn- machten des Chaim Birkner” veröffentlicht. Er ist das literarische Debüt des Dirigenten. Im Januar 2021 erschien der Roman auf Italienisch; 2022 wird er auch auf Französisch herausgebracht. 12
VIOLINE Augustin Hadelich Augustin Hadelich ist seit 2019 für drei Spielzeiten Asso- ciate Artist des NDR Elbphilharmonie Orchesters. Er hat sich als einer der großen Geiger seiner Generation etab- liert und konzertiert mit allen bedeutenden amerikani- schen Orchestern. Auch bei seinen Auftritten in Europa und Fernost – etwa beim Symphonieorchester des BR, Royal Concertgebouw Orchestra, der Academy of St Mar- tin in the Fields, beim London Philharmonic, Seoul Philharmonic oder NHK Symphony Orchestra – eilt ihm ein phänomenaler Ruf voraus. Kritiken loben seine H Ö H E P U N K T E 2 0 21/2 0 2 2 überragende Technik, die Stringenz und Überzeugungs- kraft seiner Interpretationen und seinen hinreißenden • Artist in Residence des Frank- furter Museumsorchesters Ton. Hadelich war Artist in Residence in Bournemouth, • Debüt bei den Berliner beim Fort Worth Symphony und beim Netherlands Philharmonikern Philharmonic Orchestra. Sein Debüt bei den BBC Proms • Uraufführung des Violin- konzerts von Donnacha gab er 2016, bei den Salzburger Festspielen 2018 und Dennehy beim Verbier Festival 2021. Sein Aufnahmekatalog • Konzerte in Europa mit dem umfasst u. a. die Konzerte von Sibelius, Adès, Tschai- WDR Sinfonieorchester, Deutschen Symphonie- kowsky, Lalo, Mendelssohn, Bartók, Brahms und Ligeti Orchester Berlin, den sowie die 24 Capricen von Paganini. 2016 wurde er für Münchner Philharmoni- seine Einspielung des Violinkonzerts von Dutilleux mit kern, dem Tonkünstler- Orchester, Mozarteum- einem Grammy ausgezeichnet. Für seine CD „Bohe- orchester Salzburg, Danish mian Tales“ erhielt er einen OPUS KLASSIK. Von der National Symphony, Finnish Presse gefeiert wurde auch seine jüngste Aufnahme mit Radio Symphony, Warsaw Philharmonic Orchestra und Bachs Sonaten und Partiten. Hadelich, heute amerika- Orchestre National de France nischer und deutscher Staatsbürger, wurde 1984 als • Zahlreiche Auftritte in den Sohn deutscher Eltern in Italien geboren. Er studierte USA u. a. mit dem San Francis- co Symphony und New York bei Joel Smirnoff an der New Yorker Juilliard School und Philharmonic Orchestra gewann 2006 den Internationalen Violinwettbewerb in • Asien-Gastspiele mit dem Indianapolis. Das Fachmagazin „Musical America“ Seoul und Taiwan Philhar- monic Orchestra wählte ihn 2018 zum „Instrumentalist of the Year“. 2021 • Rezital-Tournee mit Statio- wurde er in den Lehrkörper der Yale School of Music nen u. a. in Amsterdam, berufen. Er spielt auf der Guarneri-Violine „Leduc, ex London, Frankfurt und Paris Szeryng“ (1744), einer Leihgabe des Tarisio Trusts. 13
SCHAUSPIELER Eli Danker Eli Danker ist ein israelischer Schauspieler, der sich in seiner Arbeit zwischen der Theaterwelt in Israel und Hollywood bewegt. Nach einem Studium an der Schauspielschule „Beit Zvi“ in Israel setzte Danker sein Studium in New York fort. Nach seiner Rückkehr nach Israel schloss er sich der Gruppe „Khan Thea- tre“ in Jerusalem an. Seine Fähigkeiten als Pianist und Sänger eröffneten ihm ein breites künstlerisches Spektrum und ermöglichen ihm die Verkörperung verschiedenster Rollen. Unter anderem spielte er im Ensemble in Jerusalem den Rogozin in Dostojewskis „Der Idiot“, in Bertolt Brechts „Im Dickicht der Städte“, das Pferd in Erich Kästners „Der 35. Mai oder Konrad reitet in die Südsee“ und Dumbo in Joseph Hellers „Catch-22“. Bald wurde er Mitglied des israeli- schen Nationaltheaters „Habimah“, wo er Jason in „Medea“ und Mortimer in „Maria Stuart“ spielte. Eli Danker erhielt von der französischen Regierung Mittel, um an der École Jacques Lecoq Pantomime zu studieren. Er arbeitet genreübergreifend auch in Opernproduktionen und für Film und Fernsehen, zuletzt etwa in „Victor“ mit Gérard Depardieu und der amerikanischen TV-Serie „24 Legacy“. Aktuell ist er Mitglied im Ensemble des Cameri-Theaters in Tel Aviv, wo er zuletzt als Koch in „Mutter Courage“ auftrat. Mit Omer Meir Wellber hat Eli Danker bereits als Sprecher in Strawinskys „Die Geschichte vom Sol- daten“ zusammengearbeitet. 14
Foto: Paul Schirnhofer | NDR ” Für mich ist Musik das Leben selbst! “ C A R OL IN W ID M A NN HÖREN SIE DIE KONZERTE DES NDR ELBPHILHARMONIE ORCHESTERS AUF NDR KULTUR Hören und genießen Die NDR Kultur App – jetzt kostenlos herunterladen unter ndr.de/ndrkulturapp
TEXT DES SCHAUSPIELERS Ella Milch-Sheriff: Der ewige Fremde E L L A M I L C H - S H E R I F F: D E R E W I G E F R E M D E TEXT VON JOSHUA SOBOL DEU T SC H E FAS SU NG VON BA RBA R A L I N N E R Ein Mann beobachtet Menschen Ich liebe das Wasser, an einem fremden Ort. ich liebe den Wind. An die Küsten hat das Meer ihn Ich liebe und liebe, ich liebe und liebe, geworfen. ich liebe, ich liebe, ich liebe und liebe… Versucht die Verhaltensart der Menschen dort, Doch so stark meine Liebe auch ist, der Herren des Landes zu begreifen. von eurem Hass erlöst sie mich nicht. Ihre Gesten und das Spiel ihrer Mienen, Du lebtest ein stilles Leben, den Blick in ihren Augen, hattest keinen Menschen auf der Welt, schneidend und kalt. um mit ihm zu reden – Ein messerscharfer Katzenblick. nicht über Freude noch Schmerz oder Klagen. Halten sie ihn für einen Nicht über Schaffensglück Menschenhasser? noch Angst vor Versagen. Er sieht es an den Blicken Kein banales Alltagsgespräch: der Menschen. Wie hast du heut’ Nacht geschlafen, was hast du geträumt Ich bin kein Menschenhasser! und was machst du heut’ Abend. Im Gegenteil! Einfach nur so zu reden, Ich liebe Menschen, Gedanken auszutauschen ich liebe auch Tiere, mit einem menschlichen Wesen. Pflanzen und Wald, Die Sprache der Menschen rings um dich Pflanzen und Wald, ist Gewisper von Insekten im Gras. alle Natur. Das Seufzen der Bäume im Wind, Ich liebe das Licht der Sonne die Brandung der Wellen im Meer, und ihre Wärme. das Blöken von Vieh von weit her. Ich liebe den Schatten des dichten Laubs, Meiner Mutter Sprache ist ich liebe die Brise, die in den begraben in mir. Blättern spielt. Ihre Stimme ruft in der Stille nach mir. 16
TEXT DES SCHAUSPIELERS Ella Milch-Sheriff: Der ewige Fremde Mein Sohn, wo bist du, Du allein wo bist du mein Sohn? in dunkelster Nacht, Mein geliebter Sohn, du allein warst du mir ein Stern, ruft sie aus meinem Innern du allein. heraus nach mir wie aus bracher Erde. Du warst mein einziges Licht im Leben in einer gottlosen Welt. Blumen der Schönheit erklingen im Wind, Ein Mann beobachtet Menschen Stimmen verlorener Menschen an einem fremden Ort. in einer schriftlosen Sprache. In einer Sprache ohne Worte erzählt er von der Sehnsucht des Herzens. Und seine Hand ausgestreckt etwas zu fassen, das lebendig und warm atmend. Seine Hand kehrte leer zurück zu ihm. Wo die Sprache der Worte ihr Ende findet, bricht der Körper sein Schweigen, bricht die sprechende Stimme, spricht der Körper seine Sprache. Taucht die Augen in Tränen, setzt die Knochen in Brand. Tost das Blut in den Adern, lässt die Glieder tanzen zum Rhythmus des pochenden Puls. Schlägt den Takt in den Schläfen. Schließt die sehnenden Augen, lässt die Toten wiederauferstehen im Traum, im Traum. Gibt ihnen ihre Stimmen wieder. Die Stimme explodierender Freude! 17
IMPRESSUM Herausgegeben vom NORDDEUTSCHEN RUNDFUNK Programmdirektion Hörfunk Orchester, Chor und Konzerte Rothenbaumchaussee 132 20149 Hamburg Leitung: Achim Dobschall NDR ELBPHILHARMONIE ORCHESTER Management: Sonja Epping Redaktion des Programmheftes Julius Heile Der Einführungstext von Dr. Juliane Weigel-Krämer ist ein Originalbeitrag für den NDR. Fotos akg-images / Album / Documenta (S. 5) Ella Milch-Sheriff (S. 7) akg-images / Bruni Meya (S. 8) Rori Palazzo (S. 12) Suxiao Yang (S. 13) Maya Lusky (S. 14) Druck: Eurodruck in der Printarena Das verwendete Papier ist FSC-zertifiziert und chlorfrei gebleicht. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des NDR gestattet. 18
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