OSZE First! Für ein System der Kollektiven Sicherheit in Europa
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
OSZE First! Für ein System der Kollektiven Sicherheit in Europa
Inhalt „OSZE First“ - Für ein System der Kollektiven Sicherheit in Europa 3 Der Astana-Gipfel 3 Verfehlte Weichenstellungen in den 90er Jahren 3 Medwedews Initiative verhandeln, solange dies noch möglich ist 4 Noch immer divergierende Positionen zwischen Ost und West 5 Kollektive Sicherheit in Europa 5 Politische Empfehlungen für den bevorstehenden OSZE-Gipfel 8 Verfasser: Paul Schäfer Verteidigungspolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE im Deutschen Bundestag paul.schaefer@bundestag.de www.paulschaefer.info Nadja Douglas Sicherheitspolitische Referentin der Fraktion DIE LINKE im Deutschen Bundestag nadja.douglas@linksfraktion.de Stand: 30. 11. 2010
„OSZE First“ - Für ein System der Kollektiven Sicherheit in Europa Die Forderung nach einer Stärkung der OSZE ist heute Eine Europäische Sicherheitsgemeinschaft, die Russ- aktueller denn je. Im Kontext des unmittelbar bevor- land und alle anderen OSZE-Staaten einschließt und stehenden OSZE-Gipfeltreffens am 1./2. Dezember sich als System kollektiver Sicherheit versteht, sollte 2010 in Astana ist die Diskussion über eine neue Eu- zur politischen Priorität werden. ropäische Sicherheitsordnung wieder aufgelebt – lei- der zeigen die regierenden Eliten Europas wenig En- Der Astana-Gipfel thusiasmus und dämpfen so die Hoffnungen vor dem Der Astana-Gipfel wird der erste OSZE-Gipfel seit ersten OSZE-Gipfel im neuen Jahrtausend. 1999 sein. Er ist nicht nur deswegen historisch, son- Dabei könnten jetzt wichtige Weichen gestellt dern auch weil er zum ersten Mal von Kasachstan, werden für ein Europa der Sicherheit und Zusammen- einem nicht-EU, nicht-NATO-Staat organisiert wird. arbeit. Es könnten Schritte in Richtung eines Konti- Gipfeltreffen haben sich in den vergangenen Jahren nents gegangen werden, auf dem Konflikte gewaltfrei teilweise zu Recht den Ruf erworben, mehr Mediener- ausgetragen, Militärarsenale abgebaut und friedliches eignis zu sein als konkrete Ergebnisse hervorzubrin- Zusammenleben vorgelebt würde. Deshalb ist der gen. Doch die kasachische Regierung hat sich eine Zeitpunkt gekommen, der OSZE ein völkerrechtlich ehrgeizige Agenda vorgenommen und wird alles da- verbindliches Statut zu verleihen und sie zur ersten für tun, dass dieser Gipfel ein Erfolg wird. Gleich in Instanz für Friedenssicherung und Konfliktregelung in mehreren Problemfeldern sollen Lösungen gefunden Europa zu machen. werden (z. B. für die Konflikte im Kaukasus und Mol- Eine neue Europäische Sicherheitsarchitektur kann dawien, die Zukunft des Adaptierten KSE-Vertrages, nur im Einklang mit Russland angestrebt werden. Die Afghanistan sowie den „Korfu-Prozess“ und die damit Russische Föderation, die weder NATO- noch EU-Mit- verbundenen Frage nach den Zukunftsperspektiven glied ist, muss umso dringender als gleichberechtig- der OSZE). ter Partner respektiert werden – und dies nicht nur Die Verhandlungen über die europäische Sicherheit rhetorisch. Die jüngsten Entwicklungen zeigen, dass finden seit 1975 im Rahmen der KSZE/OSZE statt. die Chancen dafür erheblich gestiegen sind. Sie müs- Die OSZE sollte künftig die entscheidende sicher- sen auch genutzt werden. heitspolitische Rolle in Europa spielen. Doch dafür Die OSZE ist die einzige gesamteuropäische Sicher- ist erforderlich aus der Vergangenheit zu lernen, denn heitskonferenz auf nichtmilitärischer Basis und bietet Anläufe zur Neuordnung der Europäischen Sicherheit nach wie vor den besten Rahmen für Verhandlungen gab es eine Reihe. über die Europäische Sicherheit. Ihre Zukunft hängt vom Engagement und politischen Willen der teilneh- Verfehlte Weichenstellungen in den menden Staaten ab. Der kommende Astana-Gipfel 90er Jahren darf nicht zur routinemäßigen Pflichtveranstaltung werden. Er wird vor allem eine Antwort auf die Frage Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und der geben müssen: Wie weiter mit der Europäischen Si- Auflösung der Sowjetunion samt Warschauer Pakt cherheit und Zusammenarbeit? war die Hoffnung groß, in Europa eine neue, dauer- Wir unterstützen den Vorschlag einer neuen Euro- hafte Friedens- und Sicherheitsordnung zu etablieren. päischen Vertragsinitiative – oder zumindest Schritte In der 1990 von den KSZE-Staaten unterzeichneten in diese Richtung. Hierzu bietet sich momentan ein „Charta von Paris“ wurde ein neues Zeitalter des dünnes Zeitfenster: Die gegenwärtige US-Adminis- friedlichen Zusammenlebens zwischen Ost und West tration ist aufgeschlossen gegenüber Russland, die ausgerufen und sich darauf verständigt, dass von nun NATO plant derzeit keine weitere Ausdehnung nach an Sicherheit „umfassend, kooperativ und unteilbar“ Osten und das geplante Raketenabwehrsystem sei. Beim OSZE-Gipfel 1999 in Istanbul kam es dann kann (wenn überhaupt) frühestens 2018 stationiert zu einer Erneuerung vieler Vereinbarungen und zum werden. Noch ist es nicht zu spät Strukturen, die in Beschluss der „Charta für Europäische Sicherheit“. Zeiten der Ost-West-Konfrontation entstanden und Sie bildete zwar einen weiteren Eckpunkt in der Ge- somit längst obsolet geworden sind, zu korrigieren. schichte der Organisation, doch real gesehen erreich- 3
te die OSZE in harten Sicherheitsfragen immer noch abweisend aus. Besonders brüsk äußerte sich NATO- wenig. Grund dafür war und ist, dass die westlichen Generalsekretär Rasmussen: „Ich sehe keinen Bedarf Staaten ihre Sicherheitspolitik nicht auf die OSZE für ein rechtlich bindendes Dokument, weil wir bereits projektierten, sondern auf jene Organisation, die die ein Rahmenwerk haben“.1 Macht, aber nicht das Mandat hatte, die NATO. Auch Insgesamt ist Medwedews Initiative als durchaus die Ersatzlösung der „interlocking security instituti- konstruktiv zu bewerten. Sie hat zudem die Debat- ons“ (NATO, WEU, OSZE, EU) täuschte nicht über den te über die Europäische Sicherheitsarchitektur in Kompromisscharakter in Fragen der Europäischen verschiedensten europäischen politischen und wis- Sicherheit hinweg. senschaftlichen Zirkeln reaktiviert. Nicht nur sieht Die NATO sicherte ihr Fortbestehen ab und begann der Entwurf einen legal verbindlichen europäischen sich nach Osten auszuweiten, die Balkankriege ver- Vertrag zwischen teilnehmenden Staaten „von Van- deutlichten die Brisanz interethnischer Konflikte und couver bis Wladiwostok“ vor, sondern stellt zudem schließlich wurden völkerrechtswidrige Kriege um den Anspruch, jegliche Drohung oder Anwendung den Kosovo 1999 und Georgien 2008 geführt. Die von Gewalt gegen die territoriale Integrität und die OSZE konnte ihre theoretisch vorrangige Rolle (nach politische Unabhängigkeit eines Staates auszuschlie- dem Prinzip „OSCE first“) in der Konfliktbearbeitung ßen und die Kooperation der Vertragsteilnehmer auf nie richtig ausfüllen, da ihre Arbeit von NATO und EU Basis des Prinzips einer „unteilbaren, gleichen und unterminiert wurde. Nicht zuletzt waren auch die feh- unverletzbaren Sicherheit“ zu reglementieren.2 Der lenden Implementierungsbemühungen vonseiten der Entwurf enthält zu diesem Zwecke eine Reihe neuer teilnehmenden Staaten sowie der chronische Mangel Konfliktregelungsmechanismen und definiert de facto an Vertrauen zwischen Ost und West verantwortlich ein System kollektiver Sicherheit, das jedem Teilneh- für eine Stagnation in den europäischen Abrüstungs- merstaat das Recht auf (und nicht die Pflicht zu) Bei- und Sicherheitsverhandlungen. stand im Angriffsfall zubilligt. Die derzeit zu beobachtende Verbesserung der Be- In Anbetracht der vielen sicherheitspolitischen ziehungen zwischen den USA und Russland nach dem Affronts, die Moskau in den letzten Jahren erlebt Amtsantritt der beiden neuen Präsidenten Medwedew hat, sind die aufgeführten Kriterien verständlich. und Obama („Reset“, Neuer START-Vertrag, Koope- Sie stellen eine Antwort dar auf aus Moskaus Sicht ration in Bezug auf Iran, mögliche Kooperation bei problematische völkerrechtliche Verstöße in der Raketenabwehr) ist zwar ein positives Zeichen, sollte Vergangenheit. Spätestens der Georgien-Konflikt im aber nicht davon ablenken, dass es, mit Ausnahme August 2008 ließ keinen Zweifel mehr offen, dass der Wiederaufnahme der Konsultationen im NATO- das Problem der „Sicherheitslücke“ in den Ost-West- Russland-Rat, noch keine konkreten politischen Fort- Beziehungen nicht weiter ignoriert werden konnte. schritte gibt. Es wurde deutlich, dass Russland eine Fortsetzung der ausgrenzenden, durch NATO-Osterweiterungen3 Medwedews Initiative verhandeln, und US-Raketenabwehrpläne in Mitteleuropa immer solange dies noch möglich ist provokanteren Politik, nicht mehr hinnehmen würde. Auch die Nichtratifizierung des Adaptierten KSE-Ver- Das von Präsident Dmitri Medwedew Oktober 2008 trages und die Suspendierung der KSE-Verpflichtun- erstmals vorgestellte und seitdem beworbene „Pro- gen durch Russland 2007 stellen ein gravierendes jekt des Vertrages über Europäische Sicherheit“ (VES) Problem dar, das dringend gelöst werden muss. ist ein legitimer Vorstoß, Europäische Sicherheit künf- Medwedews Vorstoß hat einige Schwächen, so z. B. tig sowohl geographisch als auch völkerrechtlich fehlen die zentralen Themen des dritten Korbes (Men- umfassender zu verankern. Reaktionen westlicher schenrechte und humanitäre Aspekte), auch sieht er Vertreter fielen jedoch bis dato eher verhalten bis bislang keinen Realisierungsmechanismus vor. Dies 1 Anders Fogh Rasmussen am 16. 12. 2009 in Moskau; http:www.zeit.de/politik/ausland/2009-12/nato-russlands-raketenabwehr 2 Vgl. Projekt des Vertrages über Europäische Sicherheit vom 29. Nov. 2009, http://www.russischebotschaft.de/index.php?id=247 3 Aus Moskaus Sicht waren bereits die zurückliegenden Erweiterungsrunden ein historischer Affront, hatte die NATO doch damit gegen die (mündlichen) Abmachungen im Rahmen des „2+4“-Vertrages 1990 verstoßen. Die westliche Seite soll anlässlich der Unterzeich- nung des Vertrags zugesichert haben, nach dem Rückzug der Sowjetunion aus der DDR keine Mitglieder des Warschauer Pakts in die NATO aufzunehmen. 4
kann jedoch auch taktische Gründe haben, um wei- Allianz sieht sich selbst als entscheidenden Sicher- tere Vorschläge und Ergänzungen aus dem Kreise der heits- und Ordnungsfaktor, und ihre Mitgliedstaaten gewünschten Teilnehmerstaaten und –organisationen wollen diese Funktion nicht aufgeben. Das Grund- zu animieren und damit einen Verhandlungsprozess in problem ist jedoch, dass ein Bündnis kollektiver Gang zu setzen. Selbstverteidigung immer durch ein „Drinnen“ und ein Draußen“ definiert ist. Dass die NATO trotz aller Noch immer divergierende Positio- deklaratorischer Bekundungen vor allem eine Mili- nen zwischen Ost und West tärallianz ist, kommt verschärfend hinzu. Selbst die Einbeziehung Russlands würde nichts daran ändern, Öffentlicher Diskurs und reale bzw. fiktive Bedro- dass eine rüstungszentrierte und interventionistische hungswahrnehmungen liegen häufig weit auseinan- Organisation zum Gralshüter Europäischer Sicherheit der. Übereinstimmend gehen sowohl die NATO als gemacht würde. auch Russland derzeit davon aus, dass kein großflä- Dieser „Systemdefekt“ kann durch die Beibehal- chiger Krieg in Europa droht. Doch bereit, ihre na- tung dieser Grundstruktur nicht beseitigt werden. tionalen Streitkräfte defensiv und auf eine rein ter- Er verlangt nach einer neuen Sicherheitsarchitektur, ritoriale Verteidigung auszurichten, sind weder die in der Militärbündnisse endgültig obsolet geworden NATO-Staaten noch Russland. Besonders die neuen sind und sich die Staatengemeinschaft auf zivile Mitglieder der NATO, wie Polen, Tschechien und die Konfliktbearbeitungsmechanismen fokussiert. Die baltischen Staaten dringen darauf, dass militärische OSZE dagegen sollte sich in ein System kollektiver Si- Maßnahmen und die dauerhafte Stationierung von cherheit, das auf Kooperation statt auf Konfrontation amerikanischen, strategischen Waffen zur Territorial- aufbaut, transformieren. Dafür sprechen besonders verteidigung in Europa unabdingbar seien. ihre umfassende Mitgliedschaft von „Vancouver bis Auch die neue offene Haltung der westlichen Wladiwostok“, ihr normativer acquis, der nicht nur in NATO-Staaten gegenüber Russland darf nicht darüber Zeiten der Systemkonfrontation Grundlage für mehr hinweg täuschen, dass diese ebenso sehr die Not- Stabilität und Sicherheit in Europa war, ihre Kompe- wendigkeit einer militärischen „Rückversicherung“ tenz und Expertise in Fragen der Konfliktprävention gegen Russland sehen. Die konfrontativen Elemente und Konfliktregelung und nicht zuletzt ihre Rolle als (NATO-Erweiterung, Raketenabwehr) drohen, insbe- einzigartiges Forum für den Dialog zwischen Ost und sondere wenn wieder ein republikanischer Präsident West. in den USA gewählt wird, zuzunehmen, während das Die Universalität der OSZE bildet die Grundlage, um vorhandene Rüstungskontrollsystem (KSE-Vertrag) wechselseitige Bedrohungswahrnehmungen abzubau- erodiert. Die drohende Nicht-ratifizierung des START- en und schließlich durch eine enge, vertrauensvolle Vertragswerks durch den US-Senat würde zusätzlich Zusammenarbeit zu ersetzen. Ein System kollektiver alle Abrüstungs-verheißungen wieder ad absurdum Sicherheit schließt daher ein, dass dieser Prozess führen. durch Rüstungskontrolle und Abrüstung, durch ver- Zwischen den noch immer divergierenden Positi- trauensbildende Maßnahmen auch im militärischen onen östlich und westlich von Wien muss vermittelt Bereich aktiv gefördert wird. Im Falle konfliktvorbeu- werden. Deutschland eignet sich aufgrund seiner gender bzw. streitschlichtender Interventionen kann strategischen Stellung, aber auch wegen seiner Ein- sich die OSZE auf größtmögliche Legitimation stützen bindung in die NATO und wirtschaftlichen/kulturellen und ist gegen den Verdacht interessengeleiteter Ein- Verflechtung mit dem post-sowjetischen Raum mischung besser geschützt. (wichtigster Handelspartner Russlands, als einzi- Daher sollten ausgehend vom Astana-Gipfel vorran- ges europäisches Land in allen zentralasiatischen gig folgende Maßnahmen vereinbart und umgesetzt Hauptstädten diplomatisch vertreten) für die Rolle werden: des Vermittlers. Diese Rolle müsste jedoch von der Bundesregierung stärker als bislang realisiert und 1) Pläne zur Raketenabwehr auf Eis legen angenommen werden. Die Sinnlosigkeit des derzeit geplanten Raketen- abwehrsystems kann nur wiederholt werden. Da- Kollektive Sicherheit in Europa für, dass die Raketenabwehr eines der Hauptthe- Die heutige Sicherheitsstruktur in Europa wird über- men in Lissabon war, gibt es noch sehr wenige determiniert durch das militärisch gestützte Bündnis konkrete Fakten. Die Kosten des Projekts sind der westlichen Staaten im Rahmen der NATO. Die derzeit schwer abzuschätzen; sie werden beträcht- 5
lich sein. Damit werden in Zeiten allgegenwärtiger 3) Europa als „Atomwaffenfreie Zone“ Haushaltskrisen Geldmittel verschwendet. Zwei- Wichtige Priorität für Europa und insbesondere felhaft ist zudem gegen welche Bedrohung die Ra- Deutschland ist, dass die US-Atomwaffen aus Eu- ketenabwehr gerichtet sein soll und ob sie solch ropa abgezogen werden. Sie erfüllen weder einen einer vermeintlichen Bedrohung jemals effektiv militärischen noch einen sicherheitspolitischen standhalten könnte. In jedem Fall sind die Rake- Zweck. Im Gegenzug sollte Russland aufgefordert tenabwehrpläne zu suspendieren, da trotz aller werden, seine taktischen Atomwaffen, die eben- gegenteiligen Beteuerungen von einer gleichbe- falls keine militärische Funktion mehr erfüllen, in rechtigten Beteiligung Russlands nicht auszuge- Europa zu eliminieren. Der dynamische internati- hen ist. Zwar scheint Russland seit dem NATO- onale Meinungsbildungsprozess zur veränderten Gipfel in Lissabon prinzipiell bereit, sich an einer Rolle nuklearer Waffen und den Chancen für eine gemeinsamen Raketenabwehr zu beteiligen, aber atomwaffenfreie Welt (von Präsident Obama mit es stellt u.a. die Forderung, vor der Entwicklung „Global Zero“ geprägt) sollte auch institutionell gemeinsam potentielle Raketenbedrohungen zu Widerhall finden. Die Zukunftsverweigerung der analysieren, weil es offensichtlich eine andere Be- NATO hingegen, „eine nukleare Allianz zu bleiben, drohungswahrnehmung hat als die NATO. solange es Nuklearwaffen in der Welt gibt“4, ist eine selbsterfüllende Prophezeiung und kann nicht 2) Konventionelle Abrüstung ernst nehmen – Adap- hingenommen werden. tierten KSE-Vertrag ratifizieren Anstatt Aufrüstung voranzutreiben und NATO-Vor- 4) Vertrauensbildende Maßnahmen schaffen gaben nachzukommen, die immer noch 2 % des Bislang bleibt das „Wiener Dokument der Verhand- BSP für Verteidigung vorsehen, sollten ernsthafte lungen über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Bemühungen in Form von Abrüstung, Demilitarisie- Maßnahmen (WD)“, das 1999 in Istanbul beschlos- rung und Konversion fortgesetzt werden. Die Rüs- sen wurde, die für alle OSZE-Staaten verbindliche tungshaushalte und stationierten Streitkräfte samt Vereinbarung zur Regelung militärischer Aspekte Rüstungsmaterial sind nach wie vor überdimensio- von Vertrauen und Sicherheit. Das WD ist das Er- niert. Neue Abrüstungsverträge und einseitige Ab- gebnis aus Verhandlungen über Vertrauens- und rüstungsmaßnahmen sind überfällig. Ein wichtiges Sicherheitsbildende Maßnahmen (VSBM) seit der Etappenziel wäre die Halbierung der konventionel- Helsinki-Schlussakte von 1975. Es beinhaltet ein len Rüstung und der Streitkräfte in Europa von ge- Informations- und ein Verifikationsregime zum genwärtig über 3 Millionen auf 1,5 Millionen. Austausch von Informationen über die Streitkräfte, Der Adaptierte Vertrag über Konventionelle Si- die Daten von Hauptwaffensystemen, die Verteidi- cherheit in Europa (AKSE) muss endlich und ohne gungsplanung – einschließlich der Haushaltspla- Vorbedingungen von den NATO-Staaten ratifiziert nung – sowie Planungen militärischer Aktivitäten. werden. Nur so können das System von Transpa- Doch seit der letzten Anpassung des Wiener Do- renz und Verifikation in der konventionellen Rüs- kuments 1999 hat sich die sicherheitspolitische tungsfrage in Europa wiederhergestellt werden Lage in Europa verändert. Dementsprechend ist und Abrüstungsbemühungen vorangetrieben wer- dringend eine Modernisierung dieses Regimes nö- den. Dabei müssen die von NATO-Staaten aufge- tig. Außer dem Forum für Sicherheitskooperation stellten, zweitrangigen Fragen wie der Status von der OSZE gibt es kaum internationale Dialogbemü- Südossetien, Abchasien und Transnistrien vorerst hungen zum Thema VSBM. Zwar veranstaltet die ausgeklammert werden. Russlands militärische Bundesregierung regelmäßig die „Berliner Semina- Präsenz ist anfechtbar, doch nicht in diesem Zu- re zur konventionellen Rüstungskontrolle“, doch sammenhang. Die Thematisierung dieser Kontro- sind diese selten hochrangig besucht und meist zu verse sollte auf einen späteren Zeitpunkt verscho- wissenschaftlich ausgelegt. ben werden. Deutschland sollte in diesem Punkt Notwendig wäre hingegen eine halbjährliche Kon- versuchen auf andere NATO-Staaten einzuwirken ferenz auf Regierungsebene, die den Mangel an und auf eine Ratifizierung zu drängen. Austausch zwischen den Regierenden kompen- 4 Vgl. „Strategic Concept for the Defense and Security of the Members of the North Atlantic Treaty Organisation“, www.nato.int/ lisbon2010/strategic-concept-2010-eng.pdf 6
siert und Vertrauen, Transparenz und Ernsthaftig- mit den Jahren hat Moskau ein wenig das Interes- keit in die anstehenden Abrüstungsverhandlungen se verloren, da es die OSZE zunehmend als Instru- bringt. Konversionsexperten müssten zusätzlich ment zur Durchsetzung westlicher, imperialisti- mit Expertise zur Seite stehen. scher Interessen sieht. Damit sind besonders die Einwirkungsversuche auf innenpolitische Entwick- 5) Stärkung der OSZE-Kapazitäten im Konfliktma- lungen bis hin zur aktiven Unterstützung oppositi- nagement oneller Bewegungen in post-sowjetischen Staaten Die OSZE spielt bereits seit langem eine wichtige gemeint sowie die Verdrängung Russlands aus Rolle in der Konfliktprävention und im Konfliktma- den zu Recht umstrittenen, friedensschaffenden nagement. Sie hat ihr Potenzial jedoch noch lange Verhandlungsformaten zur Beilegung der Konflik- nicht ausgeschöpft und beschränkt sich weiter- te im Kaukasus und Moldawien. Insbesondere die hin eher auf eine Beobachterrolle, da ihr häufig normativen Auflagen des „Office for Democratic schlicht die Instrumente und Ressourcen fehlen. Institutions and Human Rights“ (ODIHR) im Rah- Auch wenn keine größeren Konflikte innerhalb men von Wahlbeobachtungsmissionen im postso- Europas in Sicht sind, gibt es Regelungsbedarf wjetischen Raum sind zweifelhaft - besonders vor sowohl für aktuelle kleinere (z. B. die „frozen con- dem Hintergrund, dass einige europäische Länder flicts“ im Kaukasus und Moldawien) und potentiel- selbst überhaupt keine Wahlbeobachter ins Land le, zukünftige Konflikte (etwa in Zentralasien) als lassen. Viele der post-sowjetischen Staaten ver- auch für die Umsetzung einer tatsächlichen Politik binden mit der OSZE und Wahlbeobachtung heute der „gemeinsamen Sicherheit“. doppelte Standards. Ihre Regierungen und Zivilge- Kasachstan ging in diesem Jahr als amtierender sellschaft sind sich dabei aus unterschiedlichen OSZE-Vorsitz mit gutem Beispiel voran und half Gründen einig. mit eigenen Mitteln einen drohenden Bürgerkrieg Die OSZE sollte sich hingegen als Organisation ver- in Kirgistan zu verhindern. Es konnte als nördlicher stehen, deren teilnehmende Staaten, egal ob klein Nachbar Kirgistans einen Dialog zwischen der neu- oder groß, östlich oder westlich von Wien, die glei- en und der alten Führung Kirgistans vermitteln, und chen Rechten und Pflichten haben. Eine weiterge- stimmte sich mit dem OSZE-Sekretariat in Wien, hende, demokratische Legitimation der Organisa- der UN, der EU, Russland, den USA, Deutschland tion durch eine Stärkung ihrer Parlamentarischen und anderen Ländern ab. Der gestürzte Präsident Versammlung sollte unterstrichen werden, indem gab schließlich nach, wurde von Kasachstan ausge- dieser Kontrollrechte übertragen werden und ver- flogen und begab sich ins Exil nach Weißrussland. abschiedete Resolutionen rechtsverbindlichen Dennoch, das Blutvergießen im Juni war nicht ver- Charakter erhalten. hindert worden. Während dieser Krise wurde wie- der einmal offenkundig, dass die OSZE nur einge- 7) Transparenz innerhalb der OSZE schränkt zu schnellen Handlungen in der Lage ist. Während des griechischen OSZE-Vorsitzes 2009 Deswegen braucht die OSZE eine völkerrechtlich wurde intensiv, aber mit reservierter Skepsis, verbindliche Charta sowie einen Ausbau und Er- über den russischen Vertragsentwurf diskutiert. mächtigung ihrer Konfliktregelungsmechanismen. Ein Dialogprozess über sicherheitsrelevante Fra- Zudem sollte die Organisation den Schwerpunkt gen auf Außenministerebene wurde in diesem Zu- ihrer Tätigkeit vom Balkan hin zum Kaukasusraum sammenhang ins Leben gerufen: der sogenannte und Zentralasien verschieben, da die in den 90er „Korfu-Prozess“. Diese Verhandlungen vom Typ Jahren gesetzten Prioritäten bereits überholt sind. „Kamingespräche“ bilden ein Forum für informel- Die Bekämpfung von Drogenhandel sollte noch len Austausch, der seit 2009 regelmäßig in Wien stärker zu einem der Schwerpunkte ihrer Tätigkeit stattfindet. Russland beteiligt sich an dem mehr werden. Das Budget der OSZE ist mit nicht einmal oder weniger unverbindlichen Dialog, allerdings 160 Millionen Euro jährlich sehr bescheiden. Hier mit Zurückhaltung, da es den Vertrag lieber außer- bedarf es ebenfalls Reformen. halb der OSZE verhandeln möchte. Der „Korfu-Prozess“ ist Folge einer international 6) Vermeidung von doppelten Standards zunehmenden Tendenz, Verhandlungen aus kon- In der Vergangenheit hat insbesondere Russland ventionellen Foren auszugliedern und in „exklusi- wiederholt gefordert, für die OSZE eine völker- ver Club-Diplomatie“ ohne Öffentlichkeit und Re- rechtlich verbindliche Grundlage zu schaffen. Doch chenschaftspflicht zu führen. 7
Zweifellos hat der Korfu-Prozess dazu beigetragen, • Auch im Rahmen der OSZE ist darauf zu drängen, Positionen anzunähern und verlorenes Vertrauen die Sinnlosigkeit der Raketenabwehrpläne aufzu- wieder herzustellen. Ob es den teilnehmenden Re- zeigen, denn sie sind weder wirtschaftlich, stra- gierungsvertretern aber wirklich um eine Stärkung tegisch noch friedenspolitisch zu rechtfertigen. der Effizienz der OSZE geht, bleibt fraglich. Es ist Zudem ist von einer gleichberechtigten Beteiligung nicht ersichtlich, warum die Themen des „Korfu Russlands nicht auszugehen. Prozesses“ nicht auch im Rahmen des Forums für Sicherheitskooperation verhandelt werden kön- • Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen nen, wofür dieses geschaffen wurde. Es ist wich- sind ein Eckpunkt der OSZE Verpflichtungen. Das tig, dass die OSZE eine transparente Organisation Wiener Dokument ist hier zentral, doch seit der bleibt und auch über Konsultationen zwischen den letzten Anpassung 1999 hat sich die sicherheits- Außenministern regelmäßig Auskünfte erteilt. Der politische Lage verändert. Das Abkommen muss Bedarf an informellem Austausch besteht, doch deshalb dringend erneuert werden. Zudem sollte muss dieser zeitlich begrenzt sein. Für einen Di- das Forum für Sicherheitskooperation der OSZE alogprozess muss auf etablierte Institutionen zu- als Dialogplattform für VSBM und Verhandlungen rückgegriffen werden. Davon gibt es ein großes über die Europäische Sicherheit reaktiviert und be- Spektrum innerhalb der OSZE (von Gipfeltreffen, stätigt werden, denn informelle Verhandlungspro- der OSZE-Außenministerkonferenz, über den Stän- zesse wie der „Korfu-Prozess“ sind weder transpa- digen Rat auf diplomatischer Ebene bis hin zum rent genug, noch demokratisch legitimiert. Forum für Sicherheitskooperation und der KSE- Beratergruppe). • Präsident Medwedew hat die Notwendigkeit einer umfassenden, auch den eurasischen Raum ein- schließenden, europäischen Sicherheitsstruktur erkannt. Anstatt von NATO- und EU-Staaten hin- Politische Empfehlungen für den gehalten zu werden, sollte dieser Vertragsentwurf bevorstehenden OSZE-Gipfel endlich ernst genommen und verhandelt werden. Doch sollte dafür nicht, wie von Russland vor- Bei dem anstehenden Gipfel sollten vor allem drei geschlagen, ein vollkommen neues Format bzw. Themenfelder in den Mittelpunkt gestellt werden: Institution geschaffen werden, sondern auf den Abrüstung (konventionelle), Vertrauensbildende Maß- bereits bestehenden Strukturen der OSZE aufge- nahmen sowie Kooperative Sicherheit. baut werden. Die OSZE fristet derzeit ein Nischen- dasein zwischen NATO und EU, es ist an der Zeit, • Die OSZE muss als vollwertige internationale Organi- dass sie auf Grundlage ihres umfassenden Sicher- sation endlich auf eine völkerrechtlich verbindliche heitsbegriffs (politische, menschliche, sowie wirt- Grundlage gestellt werden. Sie braucht einen Aus- schaftliche und ökologische Sicherheit) auch über- bau und eine Ermächtigung ihrer Konfliktpräventi- greifende Strukturen und Kompetenzen verliehen ons- und Konfliktregelungsmechanismen sowie eine bekommt. bessere demokratische Legitimierung durch eine Stärkung ihrer Parlamentarischen Versammlung. Zudem sollte sie gleiche Standards für alle teilneh- menden Staaten gewährleisten. Langfristig sollte die OSZE in ein System kollektiver Sicherheit über- führt werden, um in Zukunft die entscheidende, si- cherheitspolitische Rolle in Europa zu spielen. • Der Adaptierte Vertrag über Konventionelle Si- cherheit in Europa (AKSE) muss endlich und ohne Vorbedingungen von allen OSZE-Staaten ratifiziert werden. Er ist notwendige Voraussetzung für alle weitergehenden Abrüstungsmaßnahmen und so- mit im weitesten Sinne einer der Schlüssel für Eu- ropas Frieden und Sicherheit. 8
Sie können auch lesen