PARAPLEGIE - Schweizer Paraplegiker-Gruppe

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PARAPLEGIE - Schweizer Paraplegiker-Gruppe
SEPTEMBER 2021 | NR. 179 | GÖNNER-MAGA ZIN

PARAPLEGIE
           SCHWERPUNK T

           Bewegungsfreiheit: Ohne
           Hindernis durch den Alltag

6   Ergotherapie: Wege
    zur Selbstständigkeit   18   Operation: Die Hand
                                 wieder nutzen können   22   Gery Blum und seine
                                                             grüne Kraftquelle
PARAPLEGIE - Schweizer Paraplegiker-Gruppe
Einblicke in die Welt von
vier Querschnittgelähmten im
Besucherzentrum ParaForum

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Mehr Informationen unter
www.paraforum.ch
PARAPLEGIE - Schweizer Paraplegiker-Gruppe
M AG A ZIN D ER G Ö NNER-V EREINIG U NG D ER SCH W EIZER PA R A PL EG IK ER-S T IF T U NG

                                                                                                6                                   22
Liebe Mitglieder                                                   Schwerpunkt: Bewegungsfreiheit
Toll war der Moment, als im Frühsommer die Corona-Einschrän-        6   ERGOTHER APIE Für die Betroffenen heisst Bewegungs-
kungen auf dem Klinikareal gelockert werden konnten. Nach               freiheit: weniger Abhängigkeit von Hilfe. Die Ergotherapie
langer Zeit war es den Patientinnen und Patienten und auch uns          des SPZ unterstützt sie dabei.
wieder möglich, sich zum Kaffee oder einem Schwatz im Gar-
ten zu treffen. Dabei kam ich mit einem jungen Tetraplegiker ins   11   UMBAUPROFIS Das Zentrum für hindernisfreies Bauen
Gespräch, der für eine Handoperation im SPZ hospitalisiert war.         passt Räume an neue Bedürfnisse an.
Er erzählte mir von der Chance und Hoffnung, die ihm diese
                                                                   12   WEG MIT DEN BARRIEREN Stefan Keller kämpft für ein
Operation gibt. Und weiter, dass er sich aufgrund der Pande-
                                                                        rollstuhlgängigeres Solothurn.
miemassnahmen ohne Ablenkung ganz auf seine Therapien
konzentrieren konnte und es nun Schritt für Schritt vorwärts       15   FOX TR AIL Barrierefrei unterwegs durch Luzern.
gehe. Ich war beeindruckt, wie der Patient diese für uns alle
sehr schwierige Zeit der Einschränkungen nicht bloss negativ       16   DER SCHLÜSSEL FÜR MEHR FREIHEIT Der Bündner
empfand, sondern auch Chancen darin sah.                                Cisi Arpagaus kann wieder selber Auto fahren.
      Zwei Wochen später traf ich den jungen Mann wieder im
Garten. Strahlend streckte er mir die operierten Hände entgegen:   18   TE TR AHANDCHIRURGIE Das SPZ ist weltweit eine von
«Schauen Sie …». Er konnte seine Finger schon besser bewegen            wenigen Kliniken, die Menschen mit Tetraplegie durch eine
und war stolz, was er dank des Handteams sowie seines Willens           Operation Arm- und Handfunktionen ermöglichen.
und seiner Fokussierung in der Rehabilitation bereits erreicht
hatte. Solche Glücksmomente mit Betroffenen teilen zu dürfen,      21   SEITENBLICK Im Rollstuhl aufs Matterhorn?
ist sehr berührend. Sie zeigen uns, was unser Einsatz für Men-
schen mit einer Querschnittlähmung bedeutet und wie wichtig        22 BEGEGNUNG Gery Blum hat in seinem Garten eine
es ist, dass wir ihnen die bestmögliche Behandlung anbieten           grüne Kraftquelle geschaffen. Seine positive Einstellung
können. Das motiviert uns jeden Tag.                                  zum Leben färbt auf die Mitmenschen ab.
      Dieses Beispiel einer Tetrahandchirurgie, für die das SPZ
weit über die Landesgrenzen hinaus einen hervorragenden Ruf        28 INTEGR ATION Živa Lavrinc absolviert ein Praktikum beim
geniesst, zeigt aber auch, wie entscheidend der «Gönnerinnen-         innovativen Westschweizer Start-up GBY.
und Gönnerfranken» bei der Umsetzung unseres Auftrags ist:
Ohne die Solidarität der Mitglieder könnten für viele Personen     30 ORTE DER HOFFNUNG In Nottwil ist die Kraft der
solche Glücksgefühle nicht Realität werden. Nur dank Ihrer            Hoffnung auf einem spannenden Rundgang erlebbar.
Unterstützung können wir Menschen mit einer Querschnitt-
lähmung mehr Bewegungsfreiheit ermöglichen und ihren Weg           33 DAFÜR HAT ES MICH HEUTE GEBR AUCHT
zurück in die Gesellschaft begleiten.                                 Vesna Partonjic ist Mitarbeiterin Hauswirtschaft im SPZ.

                                                                    4   C AMPUS NOT T WIL
Herzlichen Dank für Ihre Grosszügigkeit.
                                                                   32   FEEDBACK
                                                                   34   AUSBLICK

Heidi Hanselmann                                                   Titelbild Michaela Vogler mit Noemi (8), Mauro (6) und Hund Lupo auf
Präsidentin Schweizer Paraplegiker-Stiftung                        dem barrierefreien Foxtrail in Luzern. Die 32-jährige Hausfrau und Mutter
                                                                   stolperte 2020 rückwärts über den Wäschekorb und fiel mit dem Rücken
                                                                   auf die Bettkante. Seither ist sie querschnittgelähmt.

                                                                                                    PARAPLEGIE | S E P T E M B E R 2 0 2 1   3
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CAMPUS NOT T WIL

90 Prozent
der Menschen mit Querschnitt-
lähmung benötigen mindes-
tens ein Hilfsmittel. Das zeigt
die Langzeitstudie SwiSCI
der Schweizer Para­plegiker-
Forschung. Neben dem Roll-
stuhl sind die Betroffenen vor                                                                                                OT
allem auf ein umgebautes Auto
angewiesen (78 %).
                                       Hightech im Rollstuhlsport
      swisci.ch
                                       «Können wir den schnellsten Rennrollstuhl der Welt bauen?», fragte vor vier Jahren Orthotec-
                                       Geschäftsführer Stefan Dürger sein Entwicklerteam. Die Antwort: «Ja. Aber nicht alleine.» Mit der
                                       Sauber Group und weiteren Schweizer Technologiepartnern sind zwei Hightech-Modelle entstan-
                                       den und ein neues Messverfahren, das die Sitzposition im Rennrollstuhl zu optimieren hilft.
                                       In Nottwil wird dieser Ergometer im Klinikalltag eingesetzt und macht die Erkenntnisse aus dem
                                       Spitzensport allen Menschen im Rollstuhl zugänglich. Seinen ersten Renneinsatz hatte der OT FOXX
                                       M1 mit Athlet Marcel Hug (Foto) an den Paralympics in Tokyo (nach Redaktionsschluss).

                                             orthotecsports.com

Luca Jelmoni ist neuer
                                                                                                              Einfaches Bezahlen
SPZ-Direktor
                                                                                                              mit der QR-Rechnung
Im August trat Luca Jelmoni                                                                                   Um den Zahlungsverkehr zu
die Nachfolge von Hans Peter                                                                                  modernisieren, wird in der
Gmünder als Direktor des                                                                                      Schweiz ab Oktober 2022
Schweizer Paraplegiker-Zen-                                                                                   die QR-Rechnung obligato-
trums (SPZ) an. «Mit dieser                                                                                   risch. Sie löst die roten und
Wahl haben wir die besten                                                                                     orangen Einzahlungsscheine
Voraussetzungen, das SPZ                                                                                      ab. Die Schweizer Para-
weiter erfolgreich in die                                                                                     plegiker-Stiftung wird
Zukunft zu führen», sagt Ver-                                                                                 die QR-Rechnung schritt-
waltungsratspräsident Markus                                                                                  weise von Mitte 2021 bis
Béchir. Der 53-jährige Luca            «Kids Camp» 2021 in Nottwil                                            Ende September 2022 ein-
Jelmoni stammt aus Pura TI                                                                                    führen. Der QR-Code ist
und besitzt viel Erfahrung             Lachende Kindergesichter und aktive Familien: Das Kids Camp            digital lesbar – zum Beispiel
im Spital- und Gesund-                 2021 von Rollstuhlsport Schweiz bot einmal mehr eine wunder-           mit dem Smartphone – und
heitswesen. Zuvor war er               bare Plattform für Spass und Emotionen. Der beliebte Anlass            reduziert den Aufwand beim
Direktor des Regionalspitals           fand bei herrlichem Wetter statt – mit Spiel, Tanz und viel Einsatz.   Bezahlen auf wenige Schritte.
Lugano TI sowie von zwei               Den musikalischen Part übernahm Carmen Lopes Sway, deren               Die QR-Rechnung lässt sich
wissenschaftlichen Instituten          Musiktheater «Tante Carmen» Kinder in der ganzen Schweiz               aber auch am Postschalter
im Tessin. Jelmoni ist diplo-          zum Mitmachen bewegt. Im Video schildert sie ihre                      verwenden oder im Couvert
mierter ETH-Ingenieur und              Eindrücke vom diesjährigen Kids Camp.                                  an die Bank schicken.
besitzt ein MBA der North-
western Kellogg School of                                                  Direktlink zum                           paraplegie.ch/qr
Management.                                                                Interview

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PARAPLEGIE - Schweizer Paraplegiker-Gruppe
CAMPUS NOT T WIL

100 000 Personen
                                                                                       PRAXIS

hat Sirmed, das Schweizer Institut für Rettungsmedizin, in Nottwil
                                                                                                             Dr. med.
ausgebildet. Die 100 000ste Teilnehmerin ist Vifian Karin von der Ambulanz
                                                                                                             Guy Waisbrod
Region Biel. Sie besucht regelmässig Sirmed-Kurse und lobt: «Kompetente
                                                                                                             Leitender Arzt Wirbel-
Ausbildner aus verschiedenen Fachbereichen, feines Essen an schöner Lage                                     säulenchirurgie und
und eine reibungslose Organisation.»                                sirmed.ch                                Orthopädie

                                                                                       Neu: Minimalinvasive Operation
                                                                                       der Band­scheibe

                                                                                       2020 führten die Rückenspezialisten des
                                                                                       Schweizer Paraplegiker-Zentrums (SPZ)
                                                                                       die erste endoskopische Operation eines
                                                                                       Bandscheibenvorfalls durch. Dieses Verfahren
                                                                                       wird in der Schweiz erst in wenigen Kliniken
                                                                                       eingesetzt. Im SPZ hat es sich gut etabliert
                                                                                       und bietet Patientinnen und Patienten mit
                                                                                       und ohne Querschnittlähmung Vorteile, auf
                                                                                       die wir nicht mehr verzichten möchten.
                                                                                            Mit der «Schlüsselloch-Technik» wird der
                                                                                       Vorfall durch eine kleine Wunde von wenigen
                                                                                       Millimetern entfernt. Dadurch ist die körperli-
                                                                                       che Belastung geringer, das Gewebe in der
                                                                                       Tiefe wird geschont und die Vernarbung im
SPS-Kampagne erzielt grosses Medienecho                                                Wirbelsäulenkanal ist minimal. Die Betroffe-
                                                                                       nen erholen sich schneller und sind früher
Schöner Erfolg für die Informationsarbeit der Schweizer Paraplegiker-Stiftung (SPS):   zurück im Alltag. Hinzu kommt der kosmeti-
Unsere Kampagne über Querschnittlähmungen nach einem Sprung ins untiefe                sche Vorteil einer fast unsichtbar kleinen
Wasser wurde von vielen Medien aufgenommen und verbreitet. Neben Skiunfäl-             Hautnarbe.
len zählen Badeunfälle zu den häufigsten Sportverletzungen der Patientinnen                 Für eine endoskopische Operation eignen
und Patienten in der Erstrehabilitation in Nottwil. In den letzten Jahren nahm die     sich zwar nicht alle Fälle. Doch das SPZ hat
Zahl junger Menschen, die sich beim «Köpfler» verletzten, ständig zu. Mit der breit    seine Expertise in dieser zukunftsweisenden
geteilten Aufklärung in Radio und TV, Print und sozialen Medien wünscht sich die       Operationstechnik bereits erfolgreich auf­
SPS, dass die Zunahme der schweren Rücken­markverletzungen beim Baden                  gebaut und wird diese zum Wohle aller
gestoppt werden kann.                                                                  Patientinnen und Patienten mit Rückenpro-
                                                                                       blemen ständig weiter vertiefen.
                                                    paraplegie.ch/                           paraplegie.ch/wirbelsaeule
                                                    koepfler

Neuer Stiftungsrat
                                                           Mitgliederversammlung der Gönner-Vereinigung (GöV)
Auf Antrag der unabhängigen Nominationskommis-
sion wurde Matthias Lötscher in den Stiftungsrat           Aufgrund der Bestimmungen zur Corona-Pandemie konnte die Mitglie-
der Schweizer Paraplegiker-Stiftung (SPS) gewählt.         derversammlung 2021 nicht wie geplant in Nottwil stattfinden. Die
Der 35-Jährige aus Marbach                                 Abstimmungen und Wahlen wurden daher schriftlich und unter Auf-
LU arbeitet als Rechts­anwalt in                           sicht des Nottwiler Gemeindeschreibers Silvan Hodel durchgeführt.
Zürich. 2005 verunfallte er                                Das Resultat: Die Jahresrechnungen 2019 und 2020, die Revisionsbe-
beim Skispringen und wurde                                 richte und die Ergebnisverwendungen wurden angenommen und dem
zum inkompletten Tetraplegi-                               Vorstand Décharge erteilt. Als GöV-Vorstandsmitglieder wurden
ker. Dank Unterstützung der                                gewählt: Heinz Frei (Präsident), Pius Bernet, Barbara Moser, Roger
SPS ist er voll integriert – und                           Suter, Sebastian Tobler, Stephan Zimmermann und Heidi Hanselmann.
kann nun die SPS verstärken.                               Der Mitgliederbeitrag für 2022 bleibt unverändert.

      paraplegie.ch/                                              paraplegie.ch/goev
      stiftungsrat

                                                                                                   PARAPLEGIE | S E P T E M B E R 2 0 2 1   5
PARAPLEGIE - Schweizer Paraplegiker-Gruppe
SCHWERPUNKT

                                                                 Universalschlaufe mit Tipphilfe Mit den
                                                         passenden Hilfsmitteln können Computer und Handy
                                                                  auch ohne Fingerfunktion bedient werden.

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PARAPLEGIE - Schweizer Paraplegiker-Gruppe
SCHWERPUNKT

Auf dem Weg in die
Selbstständigkeit
Für die betroffenen Menschen heisst Bewegungsfreiheit: weniger Abhängigkeit
von fremder Hilfe. Auf dem Weg dazu ist die Ergotherapie des Schweizer Paraplegiker-
Zentrums ein wichtiger Dreh- und Angelpunkt.

Kleine Handgriffe prägen unseren Tagesablauf.         fessionelle Therapieteam erarbeitet körperliche
Sich anziehen und Türen öffnen, essen und trin-       Grundvoraussetzungen wie die Rumpfstabilität
ken, Handy bedienen, einkaufen – die Liste ist        und die Fachdisziplinen vertiefen die einzelnen
unendlich. In unserem Alltag geschehen diese          Anwendungsfelder.
Bewegungen meist unbewusst. Für Menschen,                  In der Ergotherapie lernen die Patientinnen
die nach einer Rückenmarkverletzung im Spital-        und Patienten die Handgriffe, die es zur Selbst-
bett liegen, ist das anders. Schmerzhaft erfahren     ständigkeit braucht – zum Beispiel Strategien, um
sie, was Bewegungsfreiheit alles bedeutet und
wie wichtig solche Handgriffe für ein selbstbe-       « Die Hilflosigkeit war für mich am Anfang
stimmtes Leben sind.
      «Die Hilflosigkeit war für mich am Anfang das     das Schlimmste.»
Schlimmste», sagt Manfred Neumann. «Dass man            Manfred Neumann
nichts selber machen kann – nicht einmal eine
Flasche zum Trinken hochheben. Oder man wird          bei einer fehlenden Fingerfunktion die Hand über
in den Rollstuhl gesetzt und rumgeschoben: An         Bewegungen des Handgelenks öffnen und schlies-
selber fahren ist gar nicht zu denken.» Seit Neu-     sen zu können. «Wir setzen bei den wichtigsten
manns Erstrehabilitation im Schweizer Paraple-        Tätigkeiten an, die eine Person ohne fremde Hilfe
giker-Zentrum (SPZ) sind acht Jahre vergangen.        erledigen möchte», sagt Sarina Stöckli. «Dann ist
Heute hat der 60-jährige Konstrukteur im Bau-         auch die Motivation für die Therapiearbeit am
maschinenbereich sein berufliches und privates        grössten.»
Leben so organisiert, dass er praktisch selbststän-        Das Anziehen einer Hose kann zunächst gut
dig durch den Alltag kommt. Mit dem Rollstuhl,        eine halbe Stunde dauern. Aber wer möchte
den er in der ersten Phase «katastrophal» fand, hat   dafür jeden Morgen auf die Spitex angewiesen
er sich bald einmal arrangiert. Er ist für Menschen   sein, wenn man es – je nach Lähmungshöhe –
mit einer Querschnittlähmung das wichtigste           in der Rehabilitation selber lernen kann? Für das   Manfred Neumann hat sich
Hilfs­mittel zu mehr Bewegungsfreiheit.               Kochen gibt es spezielle Messer, die mit einer      mit dem Rollstuhl arrangiert.
                                                      Schlaufe oder angepassten Schienen an der
Das Wichtigste selber können                          gelähmten Hand befestigt werden. Zur Bewälti-
Sarina Stöckli kennt das emotionale Auf und Ab        gung von Wegstrecken helfen elektrische Zugge-
der Menschen in der Erstrehabilitation. Auch den      räte, die vor den Rollstuhl gespannt werden. Und
Glücksmoment, wenn sie es nach dem Liegen             für das Autofahren werden mit der Firma Ortho-        Als Mitglied der Schweizer
in völliger Abhängigkeit zum ersten Mal schaf-        tec Umbaukonzepte entwickelt sowie Strategien,        Paraplegiker-Stiftung
fen, wieder aufrecht an der Bettkante zu sitzen.      wie der Rollstuhl aus dem Fahrersitz heraus ein-      erhielt Manfred Neumann
An Fortschritten wie diesen arbeitet die Ergo-        geladen werden kann.                                  (damals) 200 000 Franken
therapeutin teilweise wochenlang. «Unser Fokus             Die Ergotherapie kümmert sich um die Aus-        Gönnerunterstützung, die
liegt darauf, dass die Patientinnen und Patienten     wahl und Anpassung all dieser Hilfsmittel und         er für den Umbau seines
ihren Alltag so selbstständig wie möglich bewäl-      lehrt den Betroffenen ihre Nutzung. Von den           Hauses eingesetzt hat.
tigen können», sagt die 27-Jährige. Das interpro-     Therapeutinnen und Therapeuten erfordert das

                                                                                                      PARAPLEGIE | S E P T E M B E R 2 0 2 1   7
PARAPLEGIE - Schweizer Paraplegiker-Gruppe
viel Erfahrung, Vorausdenken und Wissen – vom          einer schwierigen Lebenssituation herausführte.
passenden Rollstuhlkonzept bis zu den neuesten         Zu den glücklichen Umständen gehört auch, dass
technischen Entwicklungen.                             ihn sein Arbeitgeber mit einem Teilzeitpensum
                                                       weiterbeschäftigte und seine Familie ihn in allen
Abklärung der Wohnsituation                            Belangen unterstützte. Auch das erste Mal wie-
Bereits früh in der Rehabilitation findet die Abklä-   der ein Auto zu steuern, war für den gebürtigen
rung der Wohnsituation statt, damit alles fertig       Deutschen ein Meilenstein. Sein Leben «funk-
ist, wenn die Patientin oder der Patient nach          tionierte» wieder – knapp ein Jahr nachdem er
sechs bis neun Monaten Klinikaufenthalt wieder         mit dem Motorrad auf dem Weg zur Arbeit von         Sarina Stöckli Ergotherapeutin
nach Hause kann. Mit Architekten des Zentrums          einem auf die Hauptstrasse einbiegenden Auto        am Schweizer Paraplegiker-Zentrum
für hindernisfreies Bauen (siehe S. 11) werden die     übersehen wurde.
notwendigen Umbauten besprochen und die
Hilfsmittel an die Situation vor Ort angepasst.        Langwierige Komplikationen
Neben Hindernissen in der Wohnung ist oft der          Doch mit der Zeit veränderte sich sein Körper.
Zugang zum Haus eine Herausforderung. Und              «Die Öffentlichkeit denkt, eine Querschnittläh-
nicht zuletzt müssen auch die Liegenschafts-
verwaltungen einem Umbau zustimmen. Doch
auch in kniffligen Fällen finden sie meistens eine     « Nicht mehr gehen zu können, ist das kleinste
kreative, unkonventionelle Lösung, sagt Sarina
Stöckli. Nur wenige der Betroffenen, die nach der
                                                         Problem bei einer Querschnittlähmung.»
Rehabilitation zurück nach Hause können, müs-            Manfred Neumann
sen sich eine neue Wohnung suchen.
     Auch Manfred Neumanns Doppelhaushälfte            mung heisst, dass man nicht mehr gehen kann.
war schon barrierefrei umgebaut, als er vor acht       Aber das ist das kleinste Problem. Wenn ich wäh-
Jahren aus dem SPZ entlassen wurde. Das Einver-        len könnte, würde ich mir das Gehen als Letztes
ständnis des Hausbesitzers war für ihn ein wichti-     zurückwünschen.» Wie viele Para- und Tetraplegi-
ges Puzzlestück der «Aufwärtsspirale», die ihn aus     ker empfindet Neumann die anderen Einschrän-

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PARAPLEGIE - Schweizer Paraplegiker-Gruppe
Anziehtraining Sarina Stöckli
                                                                                                         erklärt einer Patientin die richtige
                                                                                                         Technik.

                                                                                                         Sitzdruckmessung Manfred
                                                                                                         Neumann bei der Analyse mit
                                                                                                         Verena Zappe und Philipp Gerrits,
                                                                                                         Leiter Fertigung bei der Orthotec.

kungen einer Rückenmarkverletzung schlimmer          (RSZ). Fachexpertin Verena Zappe und Philipp
als den Rollstuhl. Besonders belastend sind die      Gerrits von der Orthotec – eine Tochtergesell-
drohenden Druckgeschwüre («Dekubitus»), die          schaft der Schweizer Paraplegiker-Stiftung – neh-
zwei Mal pro Tag eine gründliche Hautkontrolle       men gerade eine Sitzdruckmessung vor. Anhand
durch seine Frau erforderlich machen. «Nach der      der Messdaten erkennen sie beim Sitzbefund früh
Rehabilitation dachte ich, ich hätte mein neues      Tendenzen und sehen, ob zusätzliche Abklärun-
Leben gut eingerichtet. Wohnen, Arbeit, Mobi-        gen notwendig sind, um Folgeproblemen vor-
lität – alles passte und ich machte alles richtig.   zubeugen. Oft reicht die Optimierung der Sitz-
Doch dann fingen die Probleme an.»                   position oder eine Anpassung des Sitzkissens.       Verena Zappe Ergotherapeutin
      Schon der erste Dekubitus war ein Warnsig-     «Manchmal geht es nur um Millimeter, und die        und Fachexpertin des Rollstuhl-
nal. Als man in Nottwil den Ursachen nachging,       Betroffenen sitzen viel besser und haben mehr       Sitz-Zentrums
entdeckten die Fachleute zuerst einen sogenann-      Bewegungsfreiheit», sagt Verena Zappe.
ten Beckenschiefstand, der zu einer einseitigen           Das Rollstuhl-Sitz-Zentrum in Nottwil ist
Überbelastung im Gesässbereich und zur Druck-        schweizweit einzigartig. Ein interprofessionelles
stelle geführt hat. Es war der Start für eine kom-   Team aus Ergo- und Physiotherapie, Orthopädie-
plexe und lange Leidenszeit, in der ständig wei-     technik und Paraplegiologie arbeitet unter einem      Hauptbarrieren
tere Komplikationen an der Wirbelsäule entdeckt      Dach eng zusammen, um Menschen mit komple-            Menschen mit Querschnitt-
wurden, die sich mit der Dauer des Sitzens im        xen Fehlhaltungen optimal zu versorgen.               lähmung empfinden als
Rollstuhl ergeben haben. Mehrere Aufrichteope-            Der ausführliche Befund fängt beim Becken        häufigste Umweltbarrieren:
rationen folgten – und weitere Druckgeschwüre        an. «Als erstes muss das Fundament gerade sein»,      die Unzugänglichkeit von
plus eine Zyste. «Alles kam zusammen», sagt          erklärt die 45-jährige Fachexpertin. Schritt für      Gebäuden und öffentlichen
Manfred Neumann im Rückblick.                        Schritt kommen viele weitere Faktoren dazu, um        Infrastrukturen sowie
                                                     die Ursache für eine Fehlhaltung zu finden und        ungenügend angepasste
«Manchmal entscheiden Millimeter»                    zu beheben. Denn die Wirbelsäule von Menschen         Transportmittel.
Wir treffen den kommunikativen und durchaus          mit einer Querschnittlähmung kann erstaunliche
optimistisch eingestellten Paraplegiker bei einer    Veränderungen durchmachen, ohne dass die                      swisci.ch
Kontrolluntersuchung im Rollstuhl-Sitz-Zentrum       Betroffenen es bewusst wahrnehmen könnten.

                                                                                                     PARAPLEGIE | S E P T E M B E R 2 0 2 1     9
PARAPLEGIE - Schweizer Paraplegiker-Gruppe
SCHWERPUNKT

                                   1 Jasskartenhalter
                  2 Halter für Duschkopf und Handy                                                 1                           2
        3 Essbesteck zur Universalschlaufe (vgl. S. 6)
             4 Tetramanschette zum Rollstuhlfahren
           5 Greifzange für Gegenstände am Boden
                6 Gummihaube zum Flaschenöffnen

Aufgrund der fehlenden Rumpfmuskulatur lässt
sich eine Fehlhaltung auch nicht einfach musku-
lär ausgleichen.                                                                                   3                           4
     Manfred Neumann ist froh um den Exper-
tenblick von aussen – im vorwiegend sitzenden
Leben könnten sich sonst rasch Probleme ein-
schleichen. Im RSZ wurde ihm eine individuelle
Sitz- und Rückenschale angepasst, die seine auf-
rechte Haltung im Rollstuhl gewährleistet. Dabei
war die Zusammenarbeit mit der Diagnostik und
der Orthotec ein wichtiger Faktor zum Finden
der optimalen Lösung, sagt Verena Zappe: «Das
Thema Sitzen ist enorm vielschichtig und es gibt
viele verschiedene Parameter zum Anpassen. Das
spiegelt sich in den teilweise komplexen Versor-
                                                                                                   5                           6
gungen wieder, die wir im SPZ vornehmen: Unser
Erfolgsgeheimnis liegt in der interprofessionellen
Zusammenarbeit.»

Das Positive sehen
Für die interprofessionelle Zusammenarbeit sind
die Ergotherapie und das RSZ ein wichtiger Dreh-
und Angelpunkt, um während und nach der
Rehabilitation Fortschritte zu erzielen und ihre
Anwendung ein Leben lang zu überprüfen. «Es
sind kleine Sachen, die den Ausschlag geben»,
bestätigt Ergotherapeutin Sarina Stöckli. Ein klei-      zwei Angestellte herausgesprungen und haben
ner Fortschritt in der Handfunktion oder eine neu        ihn mit Ach und Krach die Treppe hochgetragen.
gelernte Technik kann für den Alltag eine enorme         Einmal habe er diese Prozedur über sich erge-
Wirkung haben: «Das ist auch das Schöne bei der
Arbeit mit unseren Patientinnen und Patienten:
Sie sehen das Positive der Entwicklung und freuen        « Entweder bin ich als Kunde willkommen
sich, wenn wieder eine neue Funktion möglich
wird, die ihr Leben erleichtert.»
                                                           oder nicht.»
     Die Arbeit für mehr Bewegungsfreiheit von             Manfred Neumann
Menschen mit einer Querschnittlähmung erfor-
dert ein ganzheitliches Denken. Jede und jeder           hen lassen, sagt der Konstrukteur. Dann habe
Betroffene bringt andere körperliche Vorausset-          er reagiert: «Jammern bringt nichts. Man darf
zungen mit. Auch die persönliche Einstellung zu          sich nicht unterkriegen lassen, sondern muss
Therapien und Hilfsmitteln ist verschieden sowie         Lösungen finden.» Inzwischen gibt es genü-
das jeweilige Umfeld, das zur Unterstützung              gend Geschäfte, in die Menschen im Rollstuhl
beiträgt.                                                problemlos hineinkommen. Man könne es sich
     Wenn Manfred Neumann in seiner Gemeinde             aussuchen: «Entweder bin ich als Kunde willkom-
Zofingen AG ins Rathaus möchte, versperrt eine           men oder nicht.» Nur manchmal komme er an
grosse Aussentreppe den einzigen Zugang. Auf             einen Punkt, an dem es alleine nicht mehr wei-
                                                                                                           paraplegie.ch/rsz
solche Probleme stösst der Rollstuhlfahrer stän-         tergeht, sagt er: «Dann muss man auch um Hilfe
dig – aber er weiss sich zu helfen. Als er in eine       bitten können.»
                                                                                                           paraplegie.ch/ergo
ebenfalls nicht barrierefreie Bank wollte, sind                                     (kste / boa / baad)

10 PARAPLEGIE | S E P T E M B E R 2 0 2 1
KO
                                                           S CMHMWUENRIPKUANT KI OT N

Wieder nach Hause – dank Umbauprofis
Das Zentrum für hindernisfreies Bauen (ZHB) passt Räume an neue Bedürfnisse an.

Nach dem Klinikaufenthalt «zurück ins
Leben», das heisst wenn immer möglich:
zurück in die eigenen vier Wände. Bereits
früh in der Rehabilitation werden die Pati-
entinnen und Patienten mit der Frage kon-
frontiert: Wie lässt sich meine Wohnsitua-
tion an die neuen Bedürfnisse anpassen?
Dabei hilft ihnen das Zentrum für hindernis-
freies Bauen (ZHB), ein Geschäftsbereich der
Schweizer Paraplegiker-Vereinigung.
     Am Anfang steht eine Wohnraumab-
klärung mit Vertreterinnen und Vertretern
des Architekturbüros, der Invalidenversi-
cherung (IV) und der Ergotherapie. Zwei
Wochen später ist ein Protokoll samt Kos-
tenschätzung erstellt, es werden Kosten-                                                                      Barrierefreies Badezimmer
voranschläge eingeholt und die Finanzie-                                                                Schwellenlose Dusche mit Duschroll­-
rung geklärt. Sind Eigenmittel vorhanden?                                                             stuhl und Haltestangen, unterfahr­bares
Wie stark beteiligt sich die IV? Diese umfas-                                                               Waschbecken, gekippter Spiegel.
sende Bauberatung ist für die Betroffenen
kostenlos – dank Unterstützungen des Bun-
desamts für Sozialversicherung und der
Schweizer Paraplegiker-Stiftung.                bis über eine halbe Million Franken. Je nach    für die Selbstständigkeit: Türen und Fens-
     Mehrmonatige Planungen sind selten         Komplexität dauert ein Umbau zwei bis           ter öffnen, das Licht ein- und ausschalten,
möglich. «Priorität hat die Funktionalität»,    sechs Monate.                                   elektronische Geräte bedienen – das zählt
sagt Felix Schärer, Bereichsleiter des ZHB.          Komplizierte Aufgaben schrecken Felix      zu den Grundbedürfnissen.
«Wichtig ist es, den Wohnraum von Hin-          Schärer und sein Team nicht ab. Aber einige          «In diesem Bereich gibt es schier gren-
dernissen zu befreien und zweckmässig zu        Objekte lassen sich selbst mit viel Kreativi-   zenlos viele Optionen», sagt Florian Blattner,
gestalten. Legt jemand besonderen Wert          tät nicht mit sinnvollen Mitteln umbauen:       Fachbereichsleiter Technik bei Active Com-
auf Optik und Design, versuchen wir das um­     «Dann stellt sich die Frage, ob es nicht bes-   munication, einer Tochtergesellschaft der
zusetzen. Aber wir vermitteln immer auch        ser ist, eine Wohnalternative zu suchen.»       Schweizer Paraplegiker-Stiftung. Anhand
ein Kostenbewusstsein.»                         Der Bereichsleiter des ZHB erlebt zwar auch     der noch vorhandenen körperlichen Funkti-
                                                emotional schwierige Situationen vor Ort.       onen eruiert die Firma die jeweils am besten
«Das Schöne ist die Dankbarkeit»                Aber meistens erfährt er am Ende des Pro-       geeigneten Systeme und Umweltkontroll-
Felix Schärer und sein Team nehmen pro Jahr     zesses eine tiefe Dankbarkeit, weil Hürden      geräte und passt sie an die Gegebenheiten
rund dreihundert Abklärungen für Wohn-          aus dem Weg geräumt worden sind. «Das           vor Ort an. «Wir unternehmen alles, um die
und Arbeitsräume vor, in rund hundert Fäl-      Schöne an unserer Arbeit ist einerseits die     Hilfsmittel gezielt auf die Bedürfnisse eines
len begleiten sie den ganzen Umbau von der      Sichtbarkeit des Resultats und andererseits     Menschen anzupassen», sagt Florian Blatt-
Beratung über die Planung und Bauleitung        die Dankbarkeit der Menschen, die zurück        ner – das ist die Devise von Active Commu-
bis zur Fertigstellung. Die Bandbreite reicht   in ihre Wohnung können.»                        nication.                      (pmb / we)
von der einfachen Wohnung bis zur Villa.
Aber auch der Behinderungsgrad und die          Umweltsteuerung: kaum Grenzen
Bedürfnisse sind sehr unterschiedlich – von     In die Umbaupläne werden von Anfang an
der sportlichen jungen Paraplegikerin bis       auch Fachleute für Hausautomation und
zum hochgelähmten Tetraplegiker im Pen-         Umweltsteuerungen einbezogen. Für Men-                Direktlink zum ZHB
sionsalter. Entsprechend variieren die Kos-     schen mit einer körperlichen Beeinträchti-
                                                                                                      activecommunication.ch
ten: von einem tiefen vierstelligen Betrag      gung sind solche Steuerungen unabdingbar

                                                                                                       PARAPLEGIE | S E P T E M B E R 2 0 2 1   11
SCHWERPUNKT

Weg mit den
Barrieren
Stefan Keller kämpft für eine bessere Erschliessung der Stadt
Solothurn für Menschen im Rollstuhl. Wir haben ihn begleitet.

Es ist kein Traum, es ist ein Ziel, und Stefan Keller   Kopfsteinpflaster ist ein prägendes Element der
verfolgt es hartnäckig: Solothurn soll die rollstuhl-   Altstadt und nicht per se ein Problem – «die Vibra-
gängigste und barrierefreieste Kantonshaupt-            tion beim Fahren hilft bei der Durchblutung des
stadt der Schweiz werden. «Wir sind zwar noch           Gesässes», sagt Keller. Wie alle Menschen, die im
ein Stück davon entfernt», sagt er, «aber immer         Rollstuhl sitzen, muss er auf Druckstellen achten,
mehr werden die Veränderungen sichtbar.»                die ein schlimmes Geschwür auslösen können.
      2004 ist Stefan Keller aus dem Zürcher Ober-      Die Bewegung hilft dabei.
land nach Solothurn gezogen, zwei Jahre später               Schwierig wird es allerdings bei einer Pfläs-
gründete er eine Gleitschirmflugschule, bot die         terung wie auf dem Platz vor dem Museum Altes
Ausbildung auch Menschen im Rollstuhl an –              Zeughaus. Wer sich dort mit dem Rollstuhl fort-
«und dann fiel ich vom Himmel». Ein Sturz 2013          bewegen will, benötigt Geschick, um nicht in den
aus zwanzig Metern im Startgelände hat aus ihm          Fugen zwischen den «Bsetzistei» stecken zu blei-
einen Paraplegiker gemacht. Vor dem Alltag im           ben. Keller erwartet nicht, dass der historische
Rollstuhl scheute er sich nicht, vielmehr sagte er      Zeughausplatz asphaltiert wird, aber für ihn gäbe
sich: Jetzt habe ich eine neue Aufgabe.                 es eine einfache Lösung: «Ein schmaler Streifen
      Menschen mit Beeinträchtigungen will er           würde bereits helfen, damit auch wir uns mühe-
Mut machen, ihnen zeigen, dass sie ein erfüll-          los fortbewegen könnten.»
tes Leben führen können. Er fängt an, sich für
Verbesserungen einzusetzen, indem er auf Hin-           Parkplatz: nachbessern
dernisse hinweist. Er äussert sich über soziale         Ein paar Minuten später erreichen wir den Ambas-
Medien, sucht aber auch das direkte Gespräch,           sadorenhof, den Sitz der kantonalen Verwaltung.
wenn sich die Gelegenheit ergibt. Doch nur zu           Stefan Keller sieht als Erstes: Der Parkplatz, der für
kritisieren, das sei der falsche Ansatz. Als Präsi-
dent der kantonalen Fachkommission «Menschen
mit Behinderungen» übernimmt er Verantwor-              « Solothurn soll die rollstuhlgängigste Stadt
tung und engagiert sich mit Leidenschaft dafür,
dass Solothurn für Menschen mit körperlichen              der Schweiz werden.» Stefan Keller
Einschränkungen zugänglicher wird.
                                                        Behinderte reserviert wäre, ist viel zu schmal und
Krafteinsatz am Kronenstutz                             besetzt. Am Auto ist nirgends erkennbar, dass die
Auf einer Tour durch die Stadt macht uns Stefan         Lenkerin oder der Lenker berechtigt ist, hier zu par-
Keller auf Barrieren aufmerksam, die Nichtbetrof-       kieren. Als Botschafter der Stadt Solothurn schüt-
fenen nicht auffallen, und zeigt, wo bereits Kor-       telt Keller den Kopf: «Ein Parkplatz für Rollstuhl-                Stefan Keller auf der
rekturen angebracht wurden. Der Weg führt vom           fahrerinnen und Rollstuhlfahrer ist eine soziale            Klapprampe Zunächst sollen
Bahnhof durch die Vorstadt Richtung Klosterplatz        Einrichtung. Wer das missbraucht, ist ein Sozial-          vierzig Altstadtgeschäfte damit
und den Kronenstutz hoch, an diesem Sommer-             schmarotzer.» Er wünscht sich, dass der Kanton                        ausgestattet werden.
tag vorbei an Marktständen. Das erfordert eini-         mit gutem Beispiel vorangeht. In diesem Fall: den        Kopfsteinpflaster kann unüber-
gen Krafteinsatz, aber Keller ist fit genug, um den     Parkplatz breiter und sichtbarer machen – und ihn            windbar sein (links) oder die
Anstieg ohne fremde Hilfe zu bewältigen. Das            überwachen.                                                Durchblutung fördern (rechts).

12 PARAPLEGIE | S E P T E M B E R 2 0 2 1
SCHWERPUNKT

              PARAPLEGIE | S E P T E M B E R 2 0 2 1   13
SCHWERPUNKT

                                                                                                                      Uferpark an der Aare
                                                                                                                        Bauliche Massnahmen
Stefan Keller muss eine Toilette aufsuchen. Er       mit körperlichen Einschränkungen erschlossen                 erleichtern den Arbeitsweg.
fährt zum Amthausplatz und holt einen Schlüssel      werden. «Klapprampe» heisst das Zauberwort,
hervor – einen «Eurokey», der in vielen Ländern      ein Hilfsmittel, mit dem in einer ersten Phase vier-
betroffenen Menschen den Zugang zu Behinder-         zig Geschäfte und Einrichtungen in der Altstadt
ten-WCs öffnet. Am liebsten wären ihm mecha-         ausgerüstet werden sollen. Einen Teil der Kos-
nische Seifenspender und Handtücher, weil er zu      ten müssten die Ladenbetreiber übernehmen.
oft die Erfahrung machte, dass die elektrischen      Die Anschaffung, so ist Keller überzeugt, müsste
Geräte nicht funktionieren. Der Toiletteneinrich-    auch in ihrem Sinne sein, weil Rampen statt            « Ich bin dankbar
tung am Amthausplatz stellt er ein gutes Zeugnis     Schwellen den Umsatz steigern.
aus. Dank baulichen Anpassungen ist die Benut-                                                              für den Rollstuhl.
zung einfacher geworden.
      Wenn Stefan Keller in Solothurn unterwegs
                                                     Der Kampf im Uferpark
                                                     Einer Illusion gibt sich der Botschafter für die An-
                                                                                                            Er ermöglicht mir,
ist, sucht er oft das Gespräch mit Fussgängerin-
nen und Fussgängern. Um sie zu sensibilisieren
                                                     liegen von Menschen im Rollstuhl nicht hin: dass
                                                     jede Hürde verschwinden kann. Aber einer wie er
                                                                                                            ein attraktives
und um seine Botschaft zu vermitteln, wie wich-      resigniert nicht so schnell. Das bewies er vor zwei    Leben zu führen.»
tig es ist, dass die Barrieren weniger werden. In    Jahren, als er die siebenhundert Kilometer zwi-        Stefan Keller
einem grossen Warenhaus kommt es zu einer            schen dem Weissenstein und der katalanischen
solchen Begegnung. Er fährt rückwärts auf die        Stadt Girona nur mit Rollstuhl und Gleitschirm
Rolltreppe, klammert sich an den Handlauf und        bewältigte. Und das zeigt er im Alltag mit seinem
kommt sicher unten an. Eine Verkäuferin sieht        Engagement für Barrierefreiheit – auch ausser-
das, staunt und spricht Keller an. Für ihn ist es    halb Solothurns.
eine günstige Gelegenheit für Aufklärungsarbeit           Als 2019 der Uferpark eröffnet wurde, ein
– in der Hoffnung, dass beim Gegenüber etwas         Naherholungsgebiet an der Aare in den Gemein-
haften bleibt, getreu dem Motto: Steter Tropfen      den Luterbach und Attisholz, wurde Stefan Keller
höhlt den Stein.                                     bei Regierungsrat Roland Fürst vorstellig, um ihn
                                                     auf Mängel bezüglich Rollstuhlgängigkeit auf-
Das Projekt mit den Rampen                           merksam zu machen. Inzwischen sind bauliche
Manchmal stösst selbst der geübte und fitte Roll-    Korrekturen angebracht worden, mit Rampen und
stuhlfahrer an Grenzen. Er sprach Wirte darauf       einem Treppenlift.
an, weshalb beim Eingang zu ihrem Restaurant              Der Uferpark bedeutet für Stefan Keller nicht
keine Rampe zu sehen sei. Zu hören bekam er: «Es     nur Freizeit, sondern ist auch Arbeitsplatz. Über       In Solothurn klappt es
kommt ja eh niemand mit dem Rollstuhl zu uns.»       einem Restaurant bietet der ausgebildete Coach          Das Pionier-Projekt
In einem Lokal versperrten deponierte Hocker         mit seiner Partnerin Eva Bouchoux verschiedene          «SO klappt’s!» strebt die
den Zugang zum Behinderten-WC. Als er fragte,        Coaching-Ausbildungen an. Die zwei begleiten            barrierefreie Zugänglich-
wieso diese nicht neben den Eingang zur Küche        Menschen und Unternehmen in Veränderungs-               keit von Orten wie Läden,
gestellt werden, war die Auskunft: «Weil sie uns     prozessen. Das Gelände der ehemaligen Kläran-           Arztpraxen, Verwaltun-
im Weg stehen würden.»                               lage nebenan eignet sich auch ideal, um Men-            gen oder Restaurants
      Solche flapsigen Bemerkungen befremden         schen mit Querschnittlähmung den Umgang mit             ohne bauliche Eingriffe
den Rollstuhlfahrer, sie liefern aber auch die Be-   dem Rollstuhl zu lehren. «Ich bin dankbar für die-      an. Es soll aufs Weih-
stätigung, wie wichtig das Projekt «SO klappt’s!»    ses Hilfsmittel», sagt er am Ende unserer Stadt-        nachtsgeschäft 2021 hin
ist, das er mitangeschoben hat. Es strebt an, dass   tour,«weil es mir ermöglicht, ein attraktives Leben     lanciert werden.
bis anhin unzugängliche Gebäude für Menschen         zu führen.»                        (pmb / baad)

14 PARAPLEGIE | S E P T E M B E R 2 0 2 1
Unterwegs auf dem Foxtrail
                                      Los gehts.                        Warten aufs erste Verkehrsmittel.

                                   Endlich Verschnaufpause.                                Knifflige Rätsel lösen.

 Zur nächsten Station.

                                                       Dank Eurokey …                                                … bequem die Treppe rauf …

 Entspannt der Reuss entlang.

                                   Sind wir hier richtig?                                     Geschafft!
                                                                                                                Die Stadt als Spielfeld
                                                                                                                Foxtrails sind touristische
                                                                                                                Schnitzeljagden zur
                                                                                                                spielerischen Erkundung
                                                                                                                von Städten. Luzern
                                                                                                                bietet auch eine rollstuhl­
                                                                                                                gängige Route.

                                                                                                                        foxtrail.ch
 … und runter.

Barrierefrei unterwegs Michaela Vogler löst mit ihren          sonal der verschiedenen Verkehrsmittel ist sehr hilfsbereit»,
Kindern Noemi (8) und Mauro (6) die Rätsel des barriere­       sagt die Hausfrau und Mutter. Durch ihre Querschnittläh-
freien Foxtrails in Luzern. Die 32-Jährige verunfallte Ende    mung sei zwar Spontanes kaum mehr möglich. «Aber ich ent-
2020 im Haushalt. Diagnose: inkomplette Paraplegie. Die        decke jetzt immer mehr Bereiche, die mit dem Rollstuhl gut
Route absolviert Michaela Vogler ohne Zuggerät. «Das Per-      zu bewältigen sind.»                (red / f. pedrazzetti)

                                                                                                        PARAPLEGIE | S E P T E M B E R 2 0 2 1   15
SCHWERPUNKT

Der Schlüssel für ein
Stück Freiheit
Cisi Arpagaus kann trotz Querschnittlähmung wieder selber Auto fahren.
Das gibt dem Bündner die Unabhängigkeit und Flexibilität von früher zurück.

Stil- und zielsicher lenkt Tarcisi Arpagaus das         dingt wieder Auto fahren und nicht auf fremde
Auto, fährt auf den Parkplatz, drückt dem Bei-          Hilfe angewiesen sein. Ohne Wagen, sagt er, sei
fahrer den Schlüssel in die Hand und ist emotio-        er «aufgeschmissen». Cisis Ambitionen sind hoch,
nal berührt: «Ihr schenkt uns ein Stück Freiheit!»      aber er denkt nicht unrealistisch: «Wenn man
Es ist der 16. Juni 2020, als der Bündner erstmals      im Leben etwas erreichen will, muss man Ziele
seit seinem Skiunfall wieder hinter dem Steuer          haben.» Die grösstmögliche Selbstständigkeit ist
sitzt und die erste Übungsfahrt absolviert. Alleine     ihm ein zentrales Anliegen.
ist er nicht: Neben ihm sitzt Stefan Baumann, Lei-            Als er mit seiner Frau Laetitia eine neue Woh-
ter Fahrzeugumbau von Orthotec, einer Tochter-          nung suchte, war die Nähe zum Bahnhof ebenso
gesellschaft der Schweizer Paraplegiker-Stiftung.       ein Kriterium wie die Rollstuhlgängigkeit. Aber
Und die kurze Ausfahrt von Nottwil nach Ober-           noch zieht der 63-Jährige das Auto dem öffent-
kirch wird live via Facebook übertragen.                lichen Verkehr vor, weil es ihm mehr Flexibilität
      Genau ein Jahr danach sitzt Tarcisi Arpagaus,     und Unabhängigkeit erlaubt. Während der Reha-
der sich mit «Cisi» vorstellt, auf seiner Terrasse in   bilitation im Schweizer Paraplegiker-Zentrum ist
Cazis GR mit Blick auf den Heinzenberg. In die-         für ihn klar: Das mit dem Auto muss er hinbe-
sem Gebiet stürzte der geübte Skifahrer kurz vor        kommen, am besten so schnell wie möglich. Tat-         Cisi Arpagaus Sein umgebautes
dem Lockdown 2020 so unglücklich, dass er eine          sächlich schlägt Arpagaus ein hohes Tempo an                Auto gibt ihm Flexibilität und
Querschnittlähmung davontrug.                           und kann sich dabei auf die Unterstützung durch                         Unabhängigkeit.
                                                        Orthotec verlassen: Nur drei Monate nach seinem
Blick nach vorne                                        Skiunfall bricht er mit Stefan Baumann zu seiner
Arpagaus arbeitete 41 Jahre als Carrosseriespeng-       Übungsfahrt auf.
ler im gleichen Betrieb, musste die Stelle aber
nach seinem Unfall aufgeben. Den Ansprüchen             Umstellung auf Handbetrieb
des Berufs wird er mit seinen körperlichen Ein-         Bei dieser «Motorisierungsabklärung» erfasst
schränkungen nicht mehr gerecht. Aber seinem            Orthotec die Bedürfnisse der Kundinnen und
Schicksal begegnete er stets mit Optimismus.            Kunden: Haben sie noch ausreichend Beinfunk-
Er lässt eine Krise gar nicht erst zu, weil er sich
sagt: «Wenn ich ständig zurückblicke und hadere,
macht das die Situation nur schlimmer. Damit tue        « Das Auto erhöht meine Lebensqualität
ich mir keinen Gefallen.» Er ist überzeugt, mit Wil-
len und Disziplin seine Verfassung kontinuierlich
                                                          merklich. Ich darf sagen: Ich lebe gut.»
zu verbessern. Und als Bewegungsmensch findet             Tarcisi Arpagaus
er Wege, um sich fitzuhalten – mit Krafttraining,
Hometrainer und seinem neuen Velo.                      tion zum Autofahren oder benötigen sie eine
     In Nottwil nimmt sich Cisi viel vor, er möchte     Umschulung auf Handbetrieb? Cisi Arpa​gaus
eines Tages zumindest in seiner Wohnung wie-            hoffte, dass es mit dem Fusseinsatz klappen
der gehen können und mit Walkingstöcken gar             würde und zögerte bei der Entscheidung. Als er
draussen an der frischen Luft. Und: Er will unbe-       merkte, dass es doch nicht so schnell vorangeht,

16 PARAPLEGIE | S E P T E M B E R 2 0 2 1
SCHWERPUNKT

entschloss er sich, sein Auto umbauen zu lassen.
Mit der linken Hand bedient er mithilfe eines
Knaufs das Lenkrad, mit der rechten gibt er mit
einem Hebel Gas, bremst und blinkt.
     Für die Spezialisten der Orthotec ist die-
ser Umbau eine Routinesache. «Je komplexer
das Handicap, desto komplexer wird unsere
Aufgabe», erklärt Baumann. Das Endprodukt
bedeute für alle Betroffenen eine enorme Entlas-
tung: «Das Autofahren gibt ihnen eine gewisse
Spontaneität zurück, vor allem aber die Unab-
hängigkeit. Und das wiederum ist für die Ange-
hörigen wertvoll: Sie müssen nicht mehr ständig
für Fahrdienste zur Verfügung stehen.»
     Keine drei Wochen nach der Heimkehr aus
Nottwil erhält Cisi Arpagaus seinen Schlüssel zur
Freiheit – den umgebauten Škoda Octavia Kombi.
Diesen 26. September hat er ebenso gespeichert
wie den 8. März, das Datum seines Unfalls. Längst                                                                  Verstauen Der 63-jährige
ist es kein Kraftakt mehr, den Rollstuhl im Koffer-                                                            Bündner nimmt seinen Rollstuhl
raum zu verstauen und sich mit einer Krücke und       Kurven ziemlich heraus. Aber danach wusste er:                      im Kofferraum mit.
einer Hand am Auto hinters Steuer zu bewegen.         Ich habe die neue Technik im Griff.
Wird ihm Hilfe angeboten, lehnt er meistens ab             In seinem Fall hielt sich der Aufwand für den          Motorisierungsabklärung
                                                                                                            Cisi Arpagaus mit Stefan Baumann
– der Transfer aus dem Rollstuhl ins Auto ist für     Umbau in Grenzen. Doch Cisi Arpagaus ist fas-
                                                                                                                            von der Orthotec.
ihn eine Form von Therapie.                           ziniert von der Technik und der Kreativität der
                                                      Leute von Orthotec, die es selbst Menschen mit
Ausflug auf schmaler Strasse                          einer hohen Querschnittlähmung ermöglichen,
Das Fahren fühlt sich vertraut an. Cisi Arpagaus      wieder selber Auto zu fahren. «Ich staune, was
hat sich eine Sicherheit angeeignet, die er schon     die alles hinbekommen», sagt er. Für sich selber
früher besass. Kaum stand der neue Wagen in           ist er zufrieden mit der aktuellen Situation: «Das
der Garage, war er so begeistert, dass er alleine     Auto erhöht meine Lebensqualität merklich. Ich
Ausflüge unternahm. Einen hat er in besonderer        darf heute sagen: Ich lebe gut.»
Erinnerung, weil er zur Lehrstunde wurde.                  Cisi Arpagaus geht nicht davon aus, dass er
      Der leidenschaftliche Jäger fuhr ins Safien-    eines Tages wieder mit dem Fuss aufs Gas​pedal
tal, um seinen Schwager auf der Steinwildjagd zu      drücken und bremsen kann: «Dafür müsste schon
besuchen. Nach einem halben Jahr ohne Fahrpra-        eine grosse Verbesserung eintreten. Aber der
xis und mit dem gewöhnungsbedürftigen Hand-           Hand­betrieb ist eine perfekte Alternative.»                 Direktlink
betrieb forderten ihn die schmale Strasse und die                                 (pmb / n. pitaro / we)          zum Blog

                                                                                                       PARAPLEGIE | S E P T E M B E R 2 0 2 1   17
SCHWERPUNKT

Die Hand als Werkzeug
Das Schweizer Paraplegiker-Zentrum ist eine von wenigen Kliniken, die mit der
operativen Umplatzierung von Muskeln, Sehnen und Nerven bei Menschen mit einer
Tetraplegie neue Arm- und Handfunktionen ermöglichen. Der Zuwachs an
Selbstständigkeit und Lebensqualität ist enorm.

                                                          «Dank der Tetrahandchirurgie kann ich das Handy
                                                            wieder für meine Firma nutzen»: José Di Felice.

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SCHWERPUNKT

Der Moment im Herbst 2020 war für alle Beteilig-        seiner Firma widmen. Er kann mit dem Auto zu
ten berührend. «Zwei Jahre lang hatte ich es immer      seinen Produzenten in Südeuropa fahren. Er kann
wieder versucht, doch alles blieb steif», sagt José     essen und trinken, ohne zu verschütten. Er zieht
Di Felice. «Jetzt konnte ich plötzlich die Finger       Bargeld aus den Automaten oder nimmt sein
bewegen.» Es war am Tag nach der Operation sei-         Handy vom Tisch auf.
ner linken Hand. Für den 48-jährigen Unterneh-               Speziell war der Moment, als er seiner Part-
mer aus Leupen BE war es der Start in ein neues         nerin zum ersten Mal wieder Wein einschen-
Leben. «Als ich die Bewegung sah, wusste ich, der       ken konnte – das erfordert viel Kraft. Seine linke
Entscheid für den Eingriff war richtig.» Natürlich      Hand erledigt heute Aufgaben, die ihr jahre-           Silvia Schibli
waren da auch Schmerzen, als der Verband zum            lang unmöglich waren. «Das ist ein ganz anderes        Chefärztin Hand- und
ersten Mal geöffnet wurde. Doch die Wieder-             Leben», sagt José Di Felice. Er erzählt offen von      Tetrahandchirurgie
herstellung der Greiffunktion in der gelähmten          den Bedenken, die er vor der teilweise irreversi-
Hand liess den Tetraplegiker emotional werden.          blen Operation hatte, oder dass gewisse Sachen
«Ihr seid Helden», sagte er zu Silvia Schibli und Jan   bewusst nicht mehr gehen, zum Beispiel die Hand
Fridén, die ihn operiert hatten.                        flach machen. Doch einem Nachteil stehen zehn
     Die Tetrahandchirurgie hat sich in den letzten     Vorteile gegenüber, fügt er an. Das entspricht
Jahren ständig weiterentwickelt. Immer komple-
xere Operationen vergrössern das Spektrum an            « Ich kam zum Schluss: Ich habe
Möglichkeiten, um betroffenen Menschen Hand-
und Armfunktionen zugänglich zu machen, die               das Leben gewonnen.»
sie aufgrund ihrer Rückenmarkverletzung eigent-           José Di Felice
lich nicht mehr ausführen können. Der schwedi-
sche Professor Jan Fridén hat dieses Gebiet als         generell seiner Haltung: «Wer mit seiner Quer-
Pionier geprägt und das Schweizer Paraplegi-            schnittlähmung hadert, denkt nur daran, was er
ker-Zentrum (SPZ) zu einem führenden Behand-            verloren hat. Ich kam zum Schluss: Ich habe das
lungsort gemacht. Silvia Schibli arbeitete viele        Leben gewonnen.»
Jahre mit ihm zusammen und gemeinsam führ-
ten sie neue Operationsverfahren ein. Im April          Beratung ist entscheidend
2021 übernahm Schibli Fridéns Nachfolge – als           Das Wiedererlangen der Greiffunktion bedeu-
Chefärztin der Hand- und Tetrahandchirurgie in          tet oft eine Kombination von mehreren Opera-
Nottwil.                                                tionen: Beim «Nerventransfer» werden funktio-
                                                        nierende Nerven auf nicht mehr funktionierende
Hoher Grad an Selbstständigkeit                         umgelenkt. Sie wachsen während Monaten zum
Für José Di Felice folgte auf die Operation zunächst    Zielmuskel hin, bis der Impuls des Gehirns zum
harte Arbeit. Vier intensive Therapieeinheiten          Beispiel die Finger streckt und so das Öffnen
                                                                                                                 Weitere Anwendungen
absolvierte er jeden Tag, bis nach rund sechs           der Hand erlaubt. Ein Nerventransfer erfolgt
Wochen sein Gehirn gelernt hat, die Finger und          vorzugsweise im ersten Jahr nach der Rücken-             Von der Tetrahandchirurgie
den Daumen seiner linken Hand unabhängig                markverletzung. Eine weitere Möglichkeit ist die         profitieren nicht nur Quer-
voneinander anzusteuern. Um dies zu ermögli-            «Trizepsrekonstruktion», bei der ein Teil des Schul-     schnittgelähmte. Auch
chen, wurden Sehnen von intakten Muskeln am             termuskels mit einer Sehne verlängert und auf die        Menschen mit schweren spas-
Arm umgeleitet und mit Sehnen von gelähmten             Trizepssehne umgeleitet wird. Dieser «Sehnen-            tischen Fehlstellungen der
Muskeln verbunden. «Was vorher den Ellbogen             transfer» ermöglicht das Strecken des Ellbogens,         Arme und Hände z. B. auf-
beugte, bewegt jetzt den Daumen», beschreibt            womit der Arm im Raum gesteuert werden kann.             grund einer Hirnverletzung
er eine der Herausforderungen, die sein Kopf zu         In einem weiteren Schritt kann die Greiffunktion         werden im SPZ operiert. Bei
bewältigen hatte.                                       der Hand mittels verschiedener Sehnentransfers           den Zuweisenden ist dies
     Der Aufwand hat sich gelohnt. Vor der Ope-         rekonstruiert werden.                                    wenig bekannt – dabei könnten
ration war er auf fremde Hilfe angewiesen, um                Bevor eine Operation geplant werden kann,           die Betroffenen nach der
seinen Alltag zu bewältigen. Heute hat der              müssen etliche Entscheide gefällt sein. «Es gibt         Operation wieder aktiver am
Importeur von Delikatessen einen hohen Grad             eine Vielzahl an Möglichkeiten», sagt Silvia             Leben teilnehmen.
an Selbstständigkeit erreicht und kann sich ganz        Schibli, «die wirklich sinnvollen auszuwählen ist

                                                                                                          PARAPLEGIE | S E P T E M B E R 2 0 2 1   19
Tetrahandchirurgie ist
                                                                                                                     Teamarbeit: Sie erfordert
eine Herausforderung. Wir klären die Bedürfnisse        übernehmen dabei die Handtherapeutinnen und                     den täglichen Austausch
sorgfältig ab, damit die Patientinnen und Pati-         Handtherapeuten.                                             zwischen Patient, Chirurgin
                                                                                                                           und Handtherapeutin
enten einen optimalen Nutzen haben und wir                   Fachliche Diskussionen prägen die Tetra-
                                                                                                                       (rechts: Karen Schmuck).
genau jene Anwendungen ermöglichen, die für             handchirurgie. Ideen werden weiterentwickelt,
sie am wertvollsten sind.» Solche Ziele sind zum        neue Ansätze erforscht und geprüft, Erfahrungen
Beispiel das selbstständige Ankleiden oder die          ausgetauscht. «Vieles, was in Nottwil gemacht
Körperpflege, das Autofahren, das Öffnen einer          wird, kann man nicht in einem Buch lernen», sagt
Flasche, die Bedienung des Handys oder das              Silvia Schibli. Mit der Etablierung neuer Techni-
Schreiben. Mit den Betroffenen wird ein indivi-         ken wie den Nerventransfers oder der gleich-
duelles Konzept erarbeitet, das ihre Erwartungen        zeitigen Trizepsrekonstruktion an beiden Armen
und Wünsche mit dem operativ Machbaren in               führt die Chefärztin Jan Fridéns Pionierarbeit in
Einklang bringt.                                        die Zukunft. Fridén selbst bleibt dem SPZ nach
     Für Silvia Schibli ist die Beratung vor einem      seiner Pensionierung als Senior Consultant wei-
Eingriff genauso entscheidend wie die anspruchs-        terhin verbunden.
volle und «ungeheuer faszinierende» Arbeit im
Operationssaal: «Unsere Patientinnen und Pati-          «Ich bin dankbar»
enten sind auf die Handfunktion angewiesen. Da          Seit José Di Felices Motorradunfall auf der
dürfen keine Fehler passieren.» Die Chefärztin          Rennstrecke in Dijon sind drei Jahre vergangen.
weiss, dass eine grosse Verantwortung auf ihren         In dieser Zeit hat er sowohl die Hilflosigkeit erlebt,
Schultern lastet. Die einzelnen Fälle beschäftigen      wenn sich Arme und Beine nicht mehr bewegen
sie intensiv – auch ausserhalb der Klinik. «Mich        lassen, als auch den Weg zurück in ein Leben, in
interessiert das jeweils beste Ergebnis für die Pati-   dem er seine linke Hand trotz Lähmung wieder
entinnen und Patienten», sagt sie. «Die grösste         für Alltagsaufgaben einsetzen kann. Gerne würde
Befriedigung ist es, wenn sie sagen: ‹Jetzt kann        er auch seine rechte Hand operieren lassen. Doch
ich dies und jenes wieder machen, und das ist           für die nötige Rehabilitation findet der Unterneh-
mir so wichtig.›»                                       mer nach der wirtschaftlich herausfordernden
                                                        Corona-Krise noch keine Zeit.
Spezialisierte Infrastruktur                                 Ihm ist es wichtig, dass viele Personen die
Erstaunlicherweise befassen sich weltweit nur           Vorteile dieser Chirurgie kennenlernen, und er           Sie können die Tetra-
wenige Zentren mit diesem Feld der Handchi-             macht anderen Betroffenen Mut, sich darauf ein-          handchirurgie des SPZ
rurgie, trotz des enormen Zuwachses an Selbst-          zulassen. Zum Schluss sagt José Di Felice: «Ich bin      mit einer Spende unter-
ständigkeit und Lebensqualität, das es hochge-          dankbar, dass es Menschen gibt, die so etwas             stützen und fördern so
lähmten Menschen bietet. Das liegt auch daran,          ermöglichen. Bei Jan und Silvia merkt man, dass          die Weiterentwicklung
dass die Eingriffe eine spezialisierte Infrastruk-      sie es mit Herzblut machen. Sie haben Freude,            der Spezialabteilung.
tur benötigen, in der verschiedene Fachgebiete          andern eine Freude zu machen – und bleiben sel-
und Abteilungen eng miteinander zusammen-               ber so bescheiden.» (kste / we)                          IBAN CH14 0900 0000
arbeiten und sich ständig austauschen müssen.                                                                    6014 7293 5
Mit seinen interprofessionellen Teams ist das SPZ                paraplegie.ch/hand-und-                         Vermerk: Hand­chirurgie
dafür besonders geeignet. Eine wichtige Rolle                    tetrahandchirurgie

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SEITENBLICK

Im Rollstuhl aufs Matterhorn?
Die grössten Einschränkungen der Bewegungsfreiheit liegen in unserer Wahrnehmung.

                                                Etwas vertrackter ist die Situation, wenn       Um Hilfe bitten
                                                auf dem hochdotierten Marketingkongress         Auch den Betroffenen ist klar, dass nicht alle
                                                beim Apéro nur hohe Tischchen für Ste-          Wünsche umsetzbar sind. «Den Anspruch
                                                hende vorhanden sind. Der Rollstuhlfah-         zu haben, immer autonom zu sein, ist sehr
                                                rer blickt auf Bauchnabel und Hinterteile,      hoch», sagt Christian Hamböck. «Mein All-
                                                jongliert ohne Ablagemöglichkeit mit Tel-       tag ist voll mit Situationen, in denen ich
                                                ler und Glas, findet die Speisen schliesslich   andere Menschen um Hilfe bitten muss.»
                                                auf seinem Schoss wieder. Dabei wäre die        Nicht nur beim Einkaufen stehen viele
                                                Lösung einfach: Eine Sofaecke schliesst die     Waren unerreichbar im Regal, auch die
                                                Betroffenen mit ein. In den meisten Kon-        Schränke zu Hause sind bis oben gefüllt.
                                                gresshallen sind immerhin Spezialtoiletten      So muss in seiner umgebauten Wohnung
                                                vorhanden – es sind zentrale Infrastruktu-      immer wieder die Familie für Handreichun-
                                                ren der Integration, die in Restaurants oft     gen einspringen.
                                                vergeblich gesucht werden und manchmal
                                                auch als Gerümpelkammer dienen.
                                                     Solche Hindernisse in Gebäuden sind
                                                verbreitet. Zwar bestehen Bauvorschriften,
                                                aber deren Umsetzung scheitert oft kon-
Seit damals zur «Grün 80» die ersten            kret vor Ort, zum Beispiel beim Zugang zu
«Behinderten-Parkplätze» vor den Toren          Gebäuden und Bahnhöfen. «Manche Halte-
Basels für Aufsehen sorgten – es war der        stellen im öffentlichen Verkehr sind schlicht
grösste Event in der Schweiz nach der           eine Katastrophe», sagt Christian Hamböck.
«Expo 64» und die erste rollstuhlgängige        Ist der Bodenabstand grösser als fünfzehn
Ausstellung überhaupt – hat sich in Sachen      Zentimeter, kommen Rollstuhlfahrende
Bewegungsfreiheit für Menschen mit Quer-        ohne fremde Hilfe nicht weiter. Entweder
schnittlähmung einiges getan. Die Schwei-       machen sie beim Ausstieg aus dem Tram
zer Paraplegiker-Stiftung (SPS) konnte viel     ihre Räder kaputt oder sie müssen bis zu
dazu beitragen, dass sich die Situation in      einer geeigneten Station weiterfahren und
der Schweiz nicht nur bei den Parkplätzen       den ganzen Weg zurückrollen. Da liegt der
verbessert hat. Aber noch immer stossen         Griff zum Autoschlüssel nahe.
Betroffene zu oft an Grenzen, die nichts mit
der Diagnose Para- oder Tetraplegie zu tun
haben: Es sind Grenzen der gesellschaftli-                                                      Für Menschen mit einer Querschnittläh-
chen Achtsamkeit.                                                                               mung bedeuten solche Einschränkungen:
                                                                                                Ihr tägliches Leben benötigt sehr viel mehr
Bauchnabel statt Small Talk                                                                     Vorausplanung und lässt weniger Sponta-
Im Paraplegie-Talk auf der Gesprächs-Platt-                                                     neität zu. Wer alle paar Stunden auf einen
form «Clubhouse» hat SPS-Mitarbeiter und                                                        Ort zum Katheterisieren angewiesen ist,
Rollstuhlathlet Christian Hamböck einige                                                        wird zum Organisationstalent – und ärgert
Beispiele vorgestellt. Eine typische Situa-                                                     sich, wenn die Zugänge dazu aus Unacht-
tion für Menschen im Rollstuhl, die zusam-                                                      samkeit blockiert werden.
men mit Fussgängern ein Restaurant besu-                                                             Es gibt eine Organisation, die trägt Per-
chen, ist, dass das Personal über ihren Kopf                                                    sonen im Rollstuhl auf ausgewählte Berge.
hinweg die Begleitpersonen fragt: «… Und                                                        Solche Ansprüche sind nicht gemeint, wenn
was hätte er denn gerne?» Immer noch ist                                                        über mehr Bewegungsfreiheit in der Gesell-
die Meinung verbreitet, dass wer im Roll-                                                       schaft diskutiert wird. Es geht um
stuhl sitzt, nicht nur gehbehindert ist, son-                                                   unseren gemeinsamen Alltag.
dern auch nicht sprechen kann.                                                                                       (kste / rob)

                                                                                                       PARAPLEGIE | S E P T E M B E R 2 0 2 1   21
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