PARAPLEGIE - Schweizer Paraplegiker-Gruppe
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SEPTEMBER 2021 | NR. 179 | GÖNNER-MAGA ZIN PARAPLEGIE SCHWERPUNK T Bewegungsfreiheit: Ohne Hindernis durch den Alltag 6 Ergotherapie: Wege zur Selbstständigkeit 18 Operation: Die Hand wieder nutzen können 22 Gery Blum und seine grüne Kraftquelle
Einblicke in die Welt von vier Querschnittgelähmten im Besucherzentrum ParaForum Kommen Sie vorbei! Mehr Informationen unter www.paraforum.ch
M AG A ZIN D ER G Ö NNER-V EREINIG U NG D ER SCH W EIZER PA R A PL EG IK ER-S T IF T U NG 6 22 Liebe Mitglieder Schwerpunkt: Bewegungsfreiheit Toll war der Moment, als im Frühsommer die Corona-Einschrän- 6 ERGOTHER APIE Für die Betroffenen heisst Bewegungs- kungen auf dem Klinikareal gelockert werden konnten. Nach freiheit: weniger Abhängigkeit von Hilfe. Die Ergotherapie langer Zeit war es den Patientinnen und Patienten und auch uns des SPZ unterstützt sie dabei. wieder möglich, sich zum Kaffee oder einem Schwatz im Gar- ten zu treffen. Dabei kam ich mit einem jungen Tetraplegiker ins 11 UMBAUPROFIS Das Zentrum für hindernisfreies Bauen Gespräch, der für eine Handoperation im SPZ hospitalisiert war. passt Räume an neue Bedürfnisse an. Er erzählte mir von der Chance und Hoffnung, die ihm diese 12 WEG MIT DEN BARRIEREN Stefan Keller kämpft für ein Operation gibt. Und weiter, dass er sich aufgrund der Pande- rollstuhlgängigeres Solothurn. miemassnahmen ohne Ablenkung ganz auf seine Therapien konzentrieren konnte und es nun Schritt für Schritt vorwärts 15 FOX TR AIL Barrierefrei unterwegs durch Luzern. gehe. Ich war beeindruckt, wie der Patient diese für uns alle sehr schwierige Zeit der Einschränkungen nicht bloss negativ 16 DER SCHLÜSSEL FÜR MEHR FREIHEIT Der Bündner empfand, sondern auch Chancen darin sah. Cisi Arpagaus kann wieder selber Auto fahren. Zwei Wochen später traf ich den jungen Mann wieder im Garten. Strahlend streckte er mir die operierten Hände entgegen: 18 TE TR AHANDCHIRURGIE Das SPZ ist weltweit eine von «Schauen Sie …». Er konnte seine Finger schon besser bewegen wenigen Kliniken, die Menschen mit Tetraplegie durch eine und war stolz, was er dank des Handteams sowie seines Willens Operation Arm- und Handfunktionen ermöglichen. und seiner Fokussierung in der Rehabilitation bereits erreicht hatte. Solche Glücksmomente mit Betroffenen teilen zu dürfen, 21 SEITENBLICK Im Rollstuhl aufs Matterhorn? ist sehr berührend. Sie zeigen uns, was unser Einsatz für Men- schen mit einer Querschnittlähmung bedeutet und wie wichtig 22 BEGEGNUNG Gery Blum hat in seinem Garten eine es ist, dass wir ihnen die bestmögliche Behandlung anbieten grüne Kraftquelle geschaffen. Seine positive Einstellung können. Das motiviert uns jeden Tag. zum Leben färbt auf die Mitmenschen ab. Dieses Beispiel einer Tetrahandchirurgie, für die das SPZ weit über die Landesgrenzen hinaus einen hervorragenden Ruf 28 INTEGR ATION Živa Lavrinc absolviert ein Praktikum beim geniesst, zeigt aber auch, wie entscheidend der «Gönnerinnen- innovativen Westschweizer Start-up GBY. und Gönnerfranken» bei der Umsetzung unseres Auftrags ist: Ohne die Solidarität der Mitglieder könnten für viele Personen 30 ORTE DER HOFFNUNG In Nottwil ist die Kraft der solche Glücksgefühle nicht Realität werden. Nur dank Ihrer Hoffnung auf einem spannenden Rundgang erlebbar. Unterstützung können wir Menschen mit einer Querschnitt- lähmung mehr Bewegungsfreiheit ermöglichen und ihren Weg 33 DAFÜR HAT ES MICH HEUTE GEBR AUCHT zurück in die Gesellschaft begleiten. Vesna Partonjic ist Mitarbeiterin Hauswirtschaft im SPZ. 4 C AMPUS NOT T WIL Herzlichen Dank für Ihre Grosszügigkeit. 32 FEEDBACK 34 AUSBLICK Heidi Hanselmann Titelbild Michaela Vogler mit Noemi (8), Mauro (6) und Hund Lupo auf Präsidentin Schweizer Paraplegiker-Stiftung dem barrierefreien Foxtrail in Luzern. Die 32-jährige Hausfrau und Mutter stolperte 2020 rückwärts über den Wäschekorb und fiel mit dem Rücken auf die Bettkante. Seither ist sie querschnittgelähmt. PARAPLEGIE | S E P T E M B E R 2 0 2 1 3
CAMPUS NOT T WIL 90 Prozent der Menschen mit Querschnitt- lähmung benötigen mindes- tens ein Hilfsmittel. Das zeigt die Langzeitstudie SwiSCI der Schweizer Paraplegiker- Forschung. Neben dem Roll- stuhl sind die Betroffenen vor OT allem auf ein umgebautes Auto angewiesen (78 %). Hightech im Rollstuhlsport swisci.ch «Können wir den schnellsten Rennrollstuhl der Welt bauen?», fragte vor vier Jahren Orthotec- Geschäftsführer Stefan Dürger sein Entwicklerteam. Die Antwort: «Ja. Aber nicht alleine.» Mit der Sauber Group und weiteren Schweizer Technologiepartnern sind zwei Hightech-Modelle entstan- den und ein neues Messverfahren, das die Sitzposition im Rennrollstuhl zu optimieren hilft. In Nottwil wird dieser Ergometer im Klinikalltag eingesetzt und macht die Erkenntnisse aus dem Spitzensport allen Menschen im Rollstuhl zugänglich. Seinen ersten Renneinsatz hatte der OT FOXX M1 mit Athlet Marcel Hug (Foto) an den Paralympics in Tokyo (nach Redaktionsschluss). orthotecsports.com Luca Jelmoni ist neuer Einfaches Bezahlen SPZ-Direktor mit der QR-Rechnung Im August trat Luca Jelmoni Um den Zahlungsverkehr zu die Nachfolge von Hans Peter modernisieren, wird in der Gmünder als Direktor des Schweiz ab Oktober 2022 Schweizer Paraplegiker-Zen- die QR-Rechnung obligato- trums (SPZ) an. «Mit dieser risch. Sie löst die roten und Wahl haben wir die besten orangen Einzahlungsscheine Voraussetzungen, das SPZ ab. Die Schweizer Para- weiter erfolgreich in die plegiker-Stiftung wird Zukunft zu führen», sagt Ver- die QR-Rechnung schritt- waltungsratspräsident Markus weise von Mitte 2021 bis Béchir. Der 53-jährige Luca «Kids Camp» 2021 in Nottwil Ende September 2022 ein- Jelmoni stammt aus Pura TI führen. Der QR-Code ist und besitzt viel Erfahrung Lachende Kindergesichter und aktive Familien: Das Kids Camp digital lesbar – zum Beispiel im Spital- und Gesund- 2021 von Rollstuhlsport Schweiz bot einmal mehr eine wunder- mit dem Smartphone – und heitswesen. Zuvor war er bare Plattform für Spass und Emotionen. Der beliebte Anlass reduziert den Aufwand beim Direktor des Regionalspitals fand bei herrlichem Wetter statt – mit Spiel, Tanz und viel Einsatz. Bezahlen auf wenige Schritte. Lugano TI sowie von zwei Den musikalischen Part übernahm Carmen Lopes Sway, deren Die QR-Rechnung lässt sich wissenschaftlichen Instituten Musiktheater «Tante Carmen» Kinder in der ganzen Schweiz aber auch am Postschalter im Tessin. Jelmoni ist diplo- zum Mitmachen bewegt. Im Video schildert sie ihre verwenden oder im Couvert mierter ETH-Ingenieur und Eindrücke vom diesjährigen Kids Camp. an die Bank schicken. besitzt ein MBA der North- western Kellogg School of Direktlink zum paraplegie.ch/qr Management. Interview 4 PARAPLEGIE | S E P T E M B E R 2 0 2 1
CAMPUS NOT T WIL 100 000 Personen PRAXIS hat Sirmed, das Schweizer Institut für Rettungsmedizin, in Nottwil Dr. med. ausgebildet. Die 100 000ste Teilnehmerin ist Vifian Karin von der Ambulanz Guy Waisbrod Region Biel. Sie besucht regelmässig Sirmed-Kurse und lobt: «Kompetente Leitender Arzt Wirbel- Ausbildner aus verschiedenen Fachbereichen, feines Essen an schöner Lage säulenchirurgie und und eine reibungslose Organisation.» sirmed.ch Orthopädie Neu: Minimalinvasive Operation der Bandscheibe 2020 führten die Rückenspezialisten des Schweizer Paraplegiker-Zentrums (SPZ) die erste endoskopische Operation eines Bandscheibenvorfalls durch. Dieses Verfahren wird in der Schweiz erst in wenigen Kliniken eingesetzt. Im SPZ hat es sich gut etabliert und bietet Patientinnen und Patienten mit und ohne Querschnittlähmung Vorteile, auf die wir nicht mehr verzichten möchten. Mit der «Schlüsselloch-Technik» wird der Vorfall durch eine kleine Wunde von wenigen Millimetern entfernt. Dadurch ist die körperli- che Belastung geringer, das Gewebe in der Tiefe wird geschont und die Vernarbung im SPS-Kampagne erzielt grosses Medienecho Wirbelsäulenkanal ist minimal. Die Betroffe- nen erholen sich schneller und sind früher Schöner Erfolg für die Informationsarbeit der Schweizer Paraplegiker-Stiftung (SPS): zurück im Alltag. Hinzu kommt der kosmeti- Unsere Kampagne über Querschnittlähmungen nach einem Sprung ins untiefe sche Vorteil einer fast unsichtbar kleinen Wasser wurde von vielen Medien aufgenommen und verbreitet. Neben Skiunfäl- Hautnarbe. len zählen Badeunfälle zu den häufigsten Sportverletzungen der Patientinnen Für eine endoskopische Operation eignen und Patienten in der Erstrehabilitation in Nottwil. In den letzten Jahren nahm die sich zwar nicht alle Fälle. Doch das SPZ hat Zahl junger Menschen, die sich beim «Köpfler» verletzten, ständig zu. Mit der breit seine Expertise in dieser zukunftsweisenden geteilten Aufklärung in Radio und TV, Print und sozialen Medien wünscht sich die Operationstechnik bereits erfolgreich auf SPS, dass die Zunahme der schweren Rückenmarkverletzungen beim Baden gebaut und wird diese zum Wohle aller gestoppt werden kann. Patientinnen und Patienten mit Rückenpro- blemen ständig weiter vertiefen. paraplegie.ch/ paraplegie.ch/wirbelsaeule koepfler Neuer Stiftungsrat Mitgliederversammlung der Gönner-Vereinigung (GöV) Auf Antrag der unabhängigen Nominationskommis- sion wurde Matthias Lötscher in den Stiftungsrat Aufgrund der Bestimmungen zur Corona-Pandemie konnte die Mitglie- der Schweizer Paraplegiker-Stiftung (SPS) gewählt. derversammlung 2021 nicht wie geplant in Nottwil stattfinden. Die Der 35-Jährige aus Marbach Abstimmungen und Wahlen wurden daher schriftlich und unter Auf- LU arbeitet als Rechtsanwalt in sicht des Nottwiler Gemeindeschreibers Silvan Hodel durchgeführt. Zürich. 2005 verunfallte er Das Resultat: Die Jahresrechnungen 2019 und 2020, die Revisionsbe- beim Skispringen und wurde richte und die Ergebnisverwendungen wurden angenommen und dem zum inkompletten Tetraplegi- Vorstand Décharge erteilt. Als GöV-Vorstandsmitglieder wurden ker. Dank Unterstützung der gewählt: Heinz Frei (Präsident), Pius Bernet, Barbara Moser, Roger SPS ist er voll integriert – und Suter, Sebastian Tobler, Stephan Zimmermann und Heidi Hanselmann. kann nun die SPS verstärken. Der Mitgliederbeitrag für 2022 bleibt unverändert. paraplegie.ch/ paraplegie.ch/goev stiftungsrat PARAPLEGIE | S E P T E M B E R 2 0 2 1 5
SCHWERPUNKT Universalschlaufe mit Tipphilfe Mit den passenden Hilfsmitteln können Computer und Handy auch ohne Fingerfunktion bedient werden. 6 PARAPLEGIE | S E P T E M B E R 2 0 2 1
SCHWERPUNKT Auf dem Weg in die Selbstständigkeit Für die betroffenen Menschen heisst Bewegungsfreiheit: weniger Abhängigkeit von fremder Hilfe. Auf dem Weg dazu ist die Ergotherapie des Schweizer Paraplegiker- Zentrums ein wichtiger Dreh- und Angelpunkt. Kleine Handgriffe prägen unseren Tagesablauf. fessionelle Therapieteam erarbeitet körperliche Sich anziehen und Türen öffnen, essen und trin- Grundvoraussetzungen wie die Rumpfstabilität ken, Handy bedienen, einkaufen – die Liste ist und die Fachdisziplinen vertiefen die einzelnen unendlich. In unserem Alltag geschehen diese Anwendungsfelder. Bewegungen meist unbewusst. Für Menschen, In der Ergotherapie lernen die Patientinnen die nach einer Rückenmarkverletzung im Spital- und Patienten die Handgriffe, die es zur Selbst- bett liegen, ist das anders. Schmerzhaft erfahren ständigkeit braucht – zum Beispiel Strategien, um sie, was Bewegungsfreiheit alles bedeutet und wie wichtig solche Handgriffe für ein selbstbe- « Die Hilflosigkeit war für mich am Anfang stimmtes Leben sind. «Die Hilflosigkeit war für mich am Anfang das das Schlimmste.» Schlimmste», sagt Manfred Neumann. «Dass man Manfred Neumann nichts selber machen kann – nicht einmal eine Flasche zum Trinken hochheben. Oder man wird bei einer fehlenden Fingerfunktion die Hand über in den Rollstuhl gesetzt und rumgeschoben: An Bewegungen des Handgelenks öffnen und schlies- selber fahren ist gar nicht zu denken.» Seit Neu- sen zu können. «Wir setzen bei den wichtigsten manns Erstrehabilitation im Schweizer Paraple- Tätigkeiten an, die eine Person ohne fremde Hilfe giker-Zentrum (SPZ) sind acht Jahre vergangen. erledigen möchte», sagt Sarina Stöckli. «Dann ist Heute hat der 60-jährige Konstrukteur im Bau- auch die Motivation für die Therapiearbeit am maschinenbereich sein berufliches und privates grössten.» Leben so organisiert, dass er praktisch selbststän- Das Anziehen einer Hose kann zunächst gut dig durch den Alltag kommt. Mit dem Rollstuhl, eine halbe Stunde dauern. Aber wer möchte den er in der ersten Phase «katastrophal» fand, hat dafür jeden Morgen auf die Spitex angewiesen er sich bald einmal arrangiert. Er ist für Menschen sein, wenn man es – je nach Lähmungshöhe – mit einer Querschnittlähmung das wichtigste in der Rehabilitation selber lernen kann? Für das Manfred Neumann hat sich Hilfsmittel zu mehr Bewegungsfreiheit. Kochen gibt es spezielle Messer, die mit einer mit dem Rollstuhl arrangiert. Schlaufe oder angepassten Schienen an der Das Wichtigste selber können gelähmten Hand befestigt werden. Zur Bewälti- Sarina Stöckli kennt das emotionale Auf und Ab gung von Wegstrecken helfen elektrische Zugge- der Menschen in der Erstrehabilitation. Auch den räte, die vor den Rollstuhl gespannt werden. Und Glücksmoment, wenn sie es nach dem Liegen für das Autofahren werden mit der Firma Ortho- Als Mitglied der Schweizer in völliger Abhängigkeit zum ersten Mal schaf- tec Umbaukonzepte entwickelt sowie Strategien, Paraplegiker-Stiftung fen, wieder aufrecht an der Bettkante zu sitzen. wie der Rollstuhl aus dem Fahrersitz heraus ein- erhielt Manfred Neumann An Fortschritten wie diesen arbeitet die Ergo- geladen werden kann. (damals) 200 000 Franken therapeutin teilweise wochenlang. «Unser Fokus Die Ergotherapie kümmert sich um die Aus- Gönnerunterstützung, die liegt darauf, dass die Patientinnen und Patienten wahl und Anpassung all dieser Hilfsmittel und er für den Umbau seines ihren Alltag so selbstständig wie möglich bewäl- lehrt den Betroffenen ihre Nutzung. Von den Hauses eingesetzt hat. tigen können», sagt die 27-Jährige. Das interpro- Therapeutinnen und Therapeuten erfordert das PARAPLEGIE | S E P T E M B E R 2 0 2 1 7
viel Erfahrung, Vorausdenken und Wissen – vom einer schwierigen Lebenssituation herausführte. passenden Rollstuhlkonzept bis zu den neuesten Zu den glücklichen Umständen gehört auch, dass technischen Entwicklungen. ihn sein Arbeitgeber mit einem Teilzeitpensum weiterbeschäftigte und seine Familie ihn in allen Abklärung der Wohnsituation Belangen unterstützte. Auch das erste Mal wie- Bereits früh in der Rehabilitation findet die Abklä- der ein Auto zu steuern, war für den gebürtigen rung der Wohnsituation statt, damit alles fertig Deutschen ein Meilenstein. Sein Leben «funk- ist, wenn die Patientin oder der Patient nach tionierte» wieder – knapp ein Jahr nachdem er sechs bis neun Monaten Klinikaufenthalt wieder mit dem Motorrad auf dem Weg zur Arbeit von Sarina Stöckli Ergotherapeutin nach Hause kann. Mit Architekten des Zentrums einem auf die Hauptstrasse einbiegenden Auto am Schweizer Paraplegiker-Zentrum für hindernisfreies Bauen (siehe S. 11) werden die übersehen wurde. notwendigen Umbauten besprochen und die Hilfsmittel an die Situation vor Ort angepasst. Langwierige Komplikationen Neben Hindernissen in der Wohnung ist oft der Doch mit der Zeit veränderte sich sein Körper. Zugang zum Haus eine Herausforderung. Und «Die Öffentlichkeit denkt, eine Querschnittläh- nicht zuletzt müssen auch die Liegenschafts- verwaltungen einem Umbau zustimmen. Doch auch in kniffligen Fällen finden sie meistens eine « Nicht mehr gehen zu können, ist das kleinste kreative, unkonventionelle Lösung, sagt Sarina Stöckli. Nur wenige der Betroffenen, die nach der Problem bei einer Querschnittlähmung.» Rehabilitation zurück nach Hause können, müs- Manfred Neumann sen sich eine neue Wohnung suchen. Auch Manfred Neumanns Doppelhaushälfte mung heisst, dass man nicht mehr gehen kann. war schon barrierefrei umgebaut, als er vor acht Aber das ist das kleinste Problem. Wenn ich wäh- Jahren aus dem SPZ entlassen wurde. Das Einver- len könnte, würde ich mir das Gehen als Letztes ständnis des Hausbesitzers war für ihn ein wichti- zurückwünschen.» Wie viele Para- und Tetraplegi- ges Puzzlestück der «Aufwärtsspirale», die ihn aus ker empfindet Neumann die anderen Einschrän- 8 PARAPLEGIE | S E P T E M B E R 2 0 2 1
Anziehtraining Sarina Stöckli erklärt einer Patientin die richtige Technik. Sitzdruckmessung Manfred Neumann bei der Analyse mit Verena Zappe und Philipp Gerrits, Leiter Fertigung bei der Orthotec. kungen einer Rückenmarkverletzung schlimmer (RSZ). Fachexpertin Verena Zappe und Philipp als den Rollstuhl. Besonders belastend sind die Gerrits von der Orthotec – eine Tochtergesell- drohenden Druckgeschwüre («Dekubitus»), die schaft der Schweizer Paraplegiker-Stiftung – neh- zwei Mal pro Tag eine gründliche Hautkontrolle men gerade eine Sitzdruckmessung vor. Anhand durch seine Frau erforderlich machen. «Nach der der Messdaten erkennen sie beim Sitzbefund früh Rehabilitation dachte ich, ich hätte mein neues Tendenzen und sehen, ob zusätzliche Abklärun- Leben gut eingerichtet. Wohnen, Arbeit, Mobi- gen notwendig sind, um Folgeproblemen vor- lität – alles passte und ich machte alles richtig. zubeugen. Oft reicht die Optimierung der Sitz- Doch dann fingen die Probleme an.» position oder eine Anpassung des Sitzkissens. Verena Zappe Ergotherapeutin Schon der erste Dekubitus war ein Warnsig- «Manchmal geht es nur um Millimeter, und die und Fachexpertin des Rollstuhl- nal. Als man in Nottwil den Ursachen nachging, Betroffenen sitzen viel besser und haben mehr Sitz-Zentrums entdeckten die Fachleute zuerst einen sogenann- Bewegungsfreiheit», sagt Verena Zappe. ten Beckenschiefstand, der zu einer einseitigen Das Rollstuhl-Sitz-Zentrum in Nottwil ist Überbelastung im Gesässbereich und zur Druck- schweizweit einzigartig. Ein interprofessionelles stelle geführt hat. Es war der Start für eine kom- Team aus Ergo- und Physiotherapie, Orthopädie- plexe und lange Leidenszeit, in der ständig wei- technik und Paraplegiologie arbeitet unter einem Hauptbarrieren tere Komplikationen an der Wirbelsäule entdeckt Dach eng zusammen, um Menschen mit komple- Menschen mit Querschnitt- wurden, die sich mit der Dauer des Sitzens im xen Fehlhaltungen optimal zu versorgen. lähmung empfinden als Rollstuhl ergeben haben. Mehrere Aufrichteope- Der ausführliche Befund fängt beim Becken häufigste Umweltbarrieren: rationen folgten – und weitere Druckgeschwüre an. «Als erstes muss das Fundament gerade sein», die Unzugänglichkeit von plus eine Zyste. «Alles kam zusammen», sagt erklärt die 45-jährige Fachexpertin. Schritt für Gebäuden und öffentlichen Manfred Neumann im Rückblick. Schritt kommen viele weitere Faktoren dazu, um Infrastrukturen sowie die Ursache für eine Fehlhaltung zu finden und ungenügend angepasste «Manchmal entscheiden Millimeter» zu beheben. Denn die Wirbelsäule von Menschen Transportmittel. Wir treffen den kommunikativen und durchaus mit einer Querschnittlähmung kann erstaunliche optimistisch eingestellten Paraplegiker bei einer Veränderungen durchmachen, ohne dass die swisci.ch Kontrolluntersuchung im Rollstuhl-Sitz-Zentrum Betroffenen es bewusst wahrnehmen könnten. PARAPLEGIE | S E P T E M B E R 2 0 2 1 9
SCHWERPUNKT 1 Jasskartenhalter 2 Halter für Duschkopf und Handy 1 2 3 Essbesteck zur Universalschlaufe (vgl. S. 6) 4 Tetramanschette zum Rollstuhlfahren 5 Greifzange für Gegenstände am Boden 6 Gummihaube zum Flaschenöffnen Aufgrund der fehlenden Rumpfmuskulatur lässt sich eine Fehlhaltung auch nicht einfach musku- lär ausgleichen. 3 4 Manfred Neumann ist froh um den Exper- tenblick von aussen – im vorwiegend sitzenden Leben könnten sich sonst rasch Probleme ein- schleichen. Im RSZ wurde ihm eine individuelle Sitz- und Rückenschale angepasst, die seine auf- rechte Haltung im Rollstuhl gewährleistet. Dabei war die Zusammenarbeit mit der Diagnostik und der Orthotec ein wichtiger Faktor zum Finden der optimalen Lösung, sagt Verena Zappe: «Das Thema Sitzen ist enorm vielschichtig und es gibt viele verschiedene Parameter zum Anpassen. Das spiegelt sich in den teilweise komplexen Versor- 5 6 gungen wieder, die wir im SPZ vornehmen: Unser Erfolgsgeheimnis liegt in der interprofessionellen Zusammenarbeit.» Das Positive sehen Für die interprofessionelle Zusammenarbeit sind die Ergotherapie und das RSZ ein wichtiger Dreh- und Angelpunkt, um während und nach der Rehabilitation Fortschritte zu erzielen und ihre Anwendung ein Leben lang zu überprüfen. «Es sind kleine Sachen, die den Ausschlag geben», bestätigt Ergotherapeutin Sarina Stöckli. Ein klei- zwei Angestellte herausgesprungen und haben ner Fortschritt in der Handfunktion oder eine neu ihn mit Ach und Krach die Treppe hochgetragen. gelernte Technik kann für den Alltag eine enorme Einmal habe er diese Prozedur über sich erge- Wirkung haben: «Das ist auch das Schöne bei der Arbeit mit unseren Patientinnen und Patienten: Sie sehen das Positive der Entwicklung und freuen « Entweder bin ich als Kunde willkommen sich, wenn wieder eine neue Funktion möglich wird, die ihr Leben erleichtert.» oder nicht.» Die Arbeit für mehr Bewegungsfreiheit von Manfred Neumann Menschen mit einer Querschnittlähmung erfor- dert ein ganzheitliches Denken. Jede und jeder hen lassen, sagt der Konstrukteur. Dann habe Betroffene bringt andere körperliche Vorausset- er reagiert: «Jammern bringt nichts. Man darf zungen mit. Auch die persönliche Einstellung zu sich nicht unterkriegen lassen, sondern muss Therapien und Hilfsmitteln ist verschieden sowie Lösungen finden.» Inzwischen gibt es genü- das jeweilige Umfeld, das zur Unterstützung gend Geschäfte, in die Menschen im Rollstuhl beiträgt. problemlos hineinkommen. Man könne es sich Wenn Manfred Neumann in seiner Gemeinde aussuchen: «Entweder bin ich als Kunde willkom- Zofingen AG ins Rathaus möchte, versperrt eine men oder nicht.» Nur manchmal komme er an grosse Aussentreppe den einzigen Zugang. Auf einen Punkt, an dem es alleine nicht mehr wei- paraplegie.ch/rsz solche Probleme stösst der Rollstuhlfahrer stän- tergeht, sagt er: «Dann muss man auch um Hilfe dig – aber er weiss sich zu helfen. Als er in eine bitten können.» paraplegie.ch/ergo ebenfalls nicht barrierefreie Bank wollte, sind (kste / boa / baad) 10 PARAPLEGIE | S E P T E M B E R 2 0 2 1
KO S CMHMWUENRIPKUANT KI OT N Wieder nach Hause – dank Umbauprofis Das Zentrum für hindernisfreies Bauen (ZHB) passt Räume an neue Bedürfnisse an. Nach dem Klinikaufenthalt «zurück ins Leben», das heisst wenn immer möglich: zurück in die eigenen vier Wände. Bereits früh in der Rehabilitation werden die Pati- entinnen und Patienten mit der Frage kon- frontiert: Wie lässt sich meine Wohnsitua- tion an die neuen Bedürfnisse anpassen? Dabei hilft ihnen das Zentrum für hindernis- freies Bauen (ZHB), ein Geschäftsbereich der Schweizer Paraplegiker-Vereinigung. Am Anfang steht eine Wohnraumab- klärung mit Vertreterinnen und Vertretern des Architekturbüros, der Invalidenversi- cherung (IV) und der Ergotherapie. Zwei Wochen später ist ein Protokoll samt Kos- tenschätzung erstellt, es werden Kosten- Barrierefreies Badezimmer voranschläge eingeholt und die Finanzie- Schwellenlose Dusche mit Duschroll- rung geklärt. Sind Eigenmittel vorhanden? stuhl und Haltestangen, unterfahrbares Wie stark beteiligt sich die IV? Diese umfas- Waschbecken, gekippter Spiegel. sende Bauberatung ist für die Betroffenen kostenlos – dank Unterstützungen des Bun- desamts für Sozialversicherung und der Schweizer Paraplegiker-Stiftung. bis über eine halbe Million Franken. Je nach für die Selbstständigkeit: Türen und Fens- Mehrmonatige Planungen sind selten Komplexität dauert ein Umbau zwei bis ter öffnen, das Licht ein- und ausschalten, möglich. «Priorität hat die Funktionalität», sechs Monate. elektronische Geräte bedienen – das zählt sagt Felix Schärer, Bereichsleiter des ZHB. Komplizierte Aufgaben schrecken Felix zu den Grundbedürfnissen. «Wichtig ist es, den Wohnraum von Hin- Schärer und sein Team nicht ab. Aber einige «In diesem Bereich gibt es schier gren- dernissen zu befreien und zweckmässig zu Objekte lassen sich selbst mit viel Kreativi- zenlos viele Optionen», sagt Florian Blattner, gestalten. Legt jemand besonderen Wert tät nicht mit sinnvollen Mitteln umbauen: Fachbereichsleiter Technik bei Active Com- auf Optik und Design, versuchen wir das um «Dann stellt sich die Frage, ob es nicht bes- munication, einer Tochtergesellschaft der zusetzen. Aber wir vermitteln immer auch ser ist, eine Wohnalternative zu suchen.» Schweizer Paraplegiker-Stiftung. Anhand ein Kostenbewusstsein.» Der Bereichsleiter des ZHB erlebt zwar auch der noch vorhandenen körperlichen Funkti- emotional schwierige Situationen vor Ort. onen eruiert die Firma die jeweils am besten «Das Schöne ist die Dankbarkeit» Aber meistens erfährt er am Ende des Pro- geeigneten Systeme und Umweltkontroll- Felix Schärer und sein Team nehmen pro Jahr zesses eine tiefe Dankbarkeit, weil Hürden geräte und passt sie an die Gegebenheiten rund dreihundert Abklärungen für Wohn- aus dem Weg geräumt worden sind. «Das vor Ort an. «Wir unternehmen alles, um die und Arbeitsräume vor, in rund hundert Fäl- Schöne an unserer Arbeit ist einerseits die Hilfsmittel gezielt auf die Bedürfnisse eines len begleiten sie den ganzen Umbau von der Sichtbarkeit des Resultats und andererseits Menschen anzupassen», sagt Florian Blatt- Beratung über die Planung und Bauleitung die Dankbarkeit der Menschen, die zurück ner – das ist die Devise von Active Commu- bis zur Fertigstellung. Die Bandbreite reicht in ihre Wohnung können.» nication. (pmb / we) von der einfachen Wohnung bis zur Villa. Aber auch der Behinderungsgrad und die Umweltsteuerung: kaum Grenzen Bedürfnisse sind sehr unterschiedlich – von In die Umbaupläne werden von Anfang an der sportlichen jungen Paraplegikerin bis auch Fachleute für Hausautomation und zum hochgelähmten Tetraplegiker im Pen- Umweltsteuerungen einbezogen. Für Men- Direktlink zum ZHB sionsalter. Entsprechend variieren die Kos- schen mit einer körperlichen Beeinträchti- activecommunication.ch ten: von einem tiefen vierstelligen Betrag gung sind solche Steuerungen unabdingbar PARAPLEGIE | S E P T E M B E R 2 0 2 1 11
SCHWERPUNKT Weg mit den Barrieren Stefan Keller kämpft für eine bessere Erschliessung der Stadt Solothurn für Menschen im Rollstuhl. Wir haben ihn begleitet. Es ist kein Traum, es ist ein Ziel, und Stefan Keller Kopfsteinpflaster ist ein prägendes Element der verfolgt es hartnäckig: Solothurn soll die rollstuhl- Altstadt und nicht per se ein Problem – «die Vibra- gängigste und barrierefreieste Kantonshaupt- tion beim Fahren hilft bei der Durchblutung des stadt der Schweiz werden. «Wir sind zwar noch Gesässes», sagt Keller. Wie alle Menschen, die im ein Stück davon entfernt», sagt er, «aber immer Rollstuhl sitzen, muss er auf Druckstellen achten, mehr werden die Veränderungen sichtbar.» die ein schlimmes Geschwür auslösen können. 2004 ist Stefan Keller aus dem Zürcher Ober- Die Bewegung hilft dabei. land nach Solothurn gezogen, zwei Jahre später Schwierig wird es allerdings bei einer Pfläs- gründete er eine Gleitschirmflugschule, bot die terung wie auf dem Platz vor dem Museum Altes Ausbildung auch Menschen im Rollstuhl an – Zeughaus. Wer sich dort mit dem Rollstuhl fort- «und dann fiel ich vom Himmel». Ein Sturz 2013 bewegen will, benötigt Geschick, um nicht in den aus zwanzig Metern im Startgelände hat aus ihm Fugen zwischen den «Bsetzistei» stecken zu blei- einen Paraplegiker gemacht. Vor dem Alltag im ben. Keller erwartet nicht, dass der historische Rollstuhl scheute er sich nicht, vielmehr sagte er Zeughausplatz asphaltiert wird, aber für ihn gäbe sich: Jetzt habe ich eine neue Aufgabe. es eine einfache Lösung: «Ein schmaler Streifen Menschen mit Beeinträchtigungen will er würde bereits helfen, damit auch wir uns mühe- Mut machen, ihnen zeigen, dass sie ein erfüll- los fortbewegen könnten.» tes Leben führen können. Er fängt an, sich für Verbesserungen einzusetzen, indem er auf Hin- Parkplatz: nachbessern dernisse hinweist. Er äussert sich über soziale Ein paar Minuten später erreichen wir den Ambas- Medien, sucht aber auch das direkte Gespräch, sadorenhof, den Sitz der kantonalen Verwaltung. wenn sich die Gelegenheit ergibt. Doch nur zu Stefan Keller sieht als Erstes: Der Parkplatz, der für kritisieren, das sei der falsche Ansatz. Als Präsi- dent der kantonalen Fachkommission «Menschen mit Behinderungen» übernimmt er Verantwor- « Solothurn soll die rollstuhlgängigste Stadt tung und engagiert sich mit Leidenschaft dafür, dass Solothurn für Menschen mit körperlichen der Schweiz werden.» Stefan Keller Einschränkungen zugänglicher wird. Behinderte reserviert wäre, ist viel zu schmal und Krafteinsatz am Kronenstutz besetzt. Am Auto ist nirgends erkennbar, dass die Auf einer Tour durch die Stadt macht uns Stefan Lenkerin oder der Lenker berechtigt ist, hier zu par- Keller auf Barrieren aufmerksam, die Nichtbetrof- kieren. Als Botschafter der Stadt Solothurn schüt- fenen nicht auffallen, und zeigt, wo bereits Kor- telt Keller den Kopf: «Ein Parkplatz für Rollstuhl- Stefan Keller auf der rekturen angebracht wurden. Der Weg führt vom fahrerinnen und Rollstuhlfahrer ist eine soziale Klapprampe Zunächst sollen Bahnhof durch die Vorstadt Richtung Klosterplatz Einrichtung. Wer das missbraucht, ist ein Sozial- vierzig Altstadtgeschäfte damit und den Kronenstutz hoch, an diesem Sommer- schmarotzer.» Er wünscht sich, dass der Kanton ausgestattet werden. tag vorbei an Marktständen. Das erfordert eini- mit gutem Beispiel vorangeht. In diesem Fall: den Kopfsteinpflaster kann unüber- gen Krafteinsatz, aber Keller ist fit genug, um den Parkplatz breiter und sichtbarer machen – und ihn windbar sein (links) oder die Anstieg ohne fremde Hilfe zu bewältigen. Das überwachen. Durchblutung fördern (rechts). 12 PARAPLEGIE | S E P T E M B E R 2 0 2 1
SCHWERPUNKT PARAPLEGIE | S E P T E M B E R 2 0 2 1 13
SCHWERPUNKT Uferpark an der Aare Bauliche Massnahmen Stefan Keller muss eine Toilette aufsuchen. Er mit körperlichen Einschränkungen erschlossen erleichtern den Arbeitsweg. fährt zum Amthausplatz und holt einen Schlüssel werden. «Klapprampe» heisst das Zauberwort, hervor – einen «Eurokey», der in vielen Ländern ein Hilfsmittel, mit dem in einer ersten Phase vier- betroffenen Menschen den Zugang zu Behinder- zig Geschäfte und Einrichtungen in der Altstadt ten-WCs öffnet. Am liebsten wären ihm mecha- ausgerüstet werden sollen. Einen Teil der Kos- nische Seifenspender und Handtücher, weil er zu ten müssten die Ladenbetreiber übernehmen. oft die Erfahrung machte, dass die elektrischen Die Anschaffung, so ist Keller überzeugt, müsste Geräte nicht funktionieren. Der Toiletteneinrich- auch in ihrem Sinne sein, weil Rampen statt « Ich bin dankbar tung am Amthausplatz stellt er ein gutes Zeugnis Schwellen den Umsatz steigern. aus. Dank baulichen Anpassungen ist die Benut- für den Rollstuhl. zung einfacher geworden. Wenn Stefan Keller in Solothurn unterwegs Der Kampf im Uferpark Einer Illusion gibt sich der Botschafter für die An- Er ermöglicht mir, ist, sucht er oft das Gespräch mit Fussgängerin- nen und Fussgängern. Um sie zu sensibilisieren liegen von Menschen im Rollstuhl nicht hin: dass jede Hürde verschwinden kann. Aber einer wie er ein attraktives und um seine Botschaft zu vermitteln, wie wich- resigniert nicht so schnell. Das bewies er vor zwei Leben zu führen.» tig es ist, dass die Barrieren weniger werden. In Jahren, als er die siebenhundert Kilometer zwi- Stefan Keller einem grossen Warenhaus kommt es zu einer schen dem Weissenstein und der katalanischen solchen Begegnung. Er fährt rückwärts auf die Stadt Girona nur mit Rollstuhl und Gleitschirm Rolltreppe, klammert sich an den Handlauf und bewältigte. Und das zeigt er im Alltag mit seinem kommt sicher unten an. Eine Verkäuferin sieht Engagement für Barrierefreiheit – auch ausser- das, staunt und spricht Keller an. Für ihn ist es halb Solothurns. eine günstige Gelegenheit für Aufklärungsarbeit Als 2019 der Uferpark eröffnet wurde, ein – in der Hoffnung, dass beim Gegenüber etwas Naherholungsgebiet an der Aare in den Gemein- haften bleibt, getreu dem Motto: Steter Tropfen den Luterbach und Attisholz, wurde Stefan Keller höhlt den Stein. bei Regierungsrat Roland Fürst vorstellig, um ihn auf Mängel bezüglich Rollstuhlgängigkeit auf- Das Projekt mit den Rampen merksam zu machen. Inzwischen sind bauliche Manchmal stösst selbst der geübte und fitte Roll- Korrekturen angebracht worden, mit Rampen und stuhlfahrer an Grenzen. Er sprach Wirte darauf einem Treppenlift. an, weshalb beim Eingang zu ihrem Restaurant Der Uferpark bedeutet für Stefan Keller nicht keine Rampe zu sehen sei. Zu hören bekam er: «Es nur Freizeit, sondern ist auch Arbeitsplatz. Über In Solothurn klappt es kommt ja eh niemand mit dem Rollstuhl zu uns.» einem Restaurant bietet der ausgebildete Coach Das Pionier-Projekt In einem Lokal versperrten deponierte Hocker mit seiner Partnerin Eva Bouchoux verschiedene «SO klappt’s!» strebt die den Zugang zum Behinderten-WC. Als er fragte, Coaching-Ausbildungen an. Die zwei begleiten barrierefreie Zugänglich- wieso diese nicht neben den Eingang zur Küche Menschen und Unternehmen in Veränderungs- keit von Orten wie Läden, gestellt werden, war die Auskunft: «Weil sie uns prozessen. Das Gelände der ehemaligen Kläran- Arztpraxen, Verwaltun- im Weg stehen würden.» lage nebenan eignet sich auch ideal, um Men- gen oder Restaurants Solche flapsigen Bemerkungen befremden schen mit Querschnittlähmung den Umgang mit ohne bauliche Eingriffe den Rollstuhlfahrer, sie liefern aber auch die Be- dem Rollstuhl zu lehren. «Ich bin dankbar für die- an. Es soll aufs Weih- stätigung, wie wichtig das Projekt «SO klappt’s!» ses Hilfsmittel», sagt er am Ende unserer Stadt- nachtsgeschäft 2021 hin ist, das er mitangeschoben hat. Es strebt an, dass tour,«weil es mir ermöglicht, ein attraktives Leben lanciert werden. bis anhin unzugängliche Gebäude für Menschen zu führen.» (pmb / baad) 14 PARAPLEGIE | S E P T E M B E R 2 0 2 1
Unterwegs auf dem Foxtrail Los gehts. Warten aufs erste Verkehrsmittel. Endlich Verschnaufpause. Knifflige Rätsel lösen. Zur nächsten Station. Dank Eurokey … … bequem die Treppe rauf … Entspannt der Reuss entlang. Sind wir hier richtig? Geschafft! Die Stadt als Spielfeld Foxtrails sind touristische Schnitzeljagden zur spielerischen Erkundung von Städten. Luzern bietet auch eine rollstuhl gängige Route. foxtrail.ch … und runter. Barrierefrei unterwegs Michaela Vogler löst mit ihren sonal der verschiedenen Verkehrsmittel ist sehr hilfsbereit», Kindern Noemi (8) und Mauro (6) die Rätsel des barriere sagt die Hausfrau und Mutter. Durch ihre Querschnittläh- freien Foxtrails in Luzern. Die 32-Jährige verunfallte Ende mung sei zwar Spontanes kaum mehr möglich. «Aber ich ent- 2020 im Haushalt. Diagnose: inkomplette Paraplegie. Die decke jetzt immer mehr Bereiche, die mit dem Rollstuhl gut Route absolviert Michaela Vogler ohne Zuggerät. «Das Per- zu bewältigen sind.» (red / f. pedrazzetti) PARAPLEGIE | S E P T E M B E R 2 0 2 1 15
SCHWERPUNKT Der Schlüssel für ein Stück Freiheit Cisi Arpagaus kann trotz Querschnittlähmung wieder selber Auto fahren. Das gibt dem Bündner die Unabhängigkeit und Flexibilität von früher zurück. Stil- und zielsicher lenkt Tarcisi Arpagaus das dingt wieder Auto fahren und nicht auf fremde Auto, fährt auf den Parkplatz, drückt dem Bei- Hilfe angewiesen sein. Ohne Wagen, sagt er, sei fahrer den Schlüssel in die Hand und ist emotio- er «aufgeschmissen». Cisis Ambitionen sind hoch, nal berührt: «Ihr schenkt uns ein Stück Freiheit!» aber er denkt nicht unrealistisch: «Wenn man Es ist der 16. Juni 2020, als der Bündner erstmals im Leben etwas erreichen will, muss man Ziele seit seinem Skiunfall wieder hinter dem Steuer haben.» Die grösstmögliche Selbstständigkeit ist sitzt und die erste Übungsfahrt absolviert. Alleine ihm ein zentrales Anliegen. ist er nicht: Neben ihm sitzt Stefan Baumann, Lei- Als er mit seiner Frau Laetitia eine neue Woh- ter Fahrzeugumbau von Orthotec, einer Tochter- nung suchte, war die Nähe zum Bahnhof ebenso gesellschaft der Schweizer Paraplegiker-Stiftung. ein Kriterium wie die Rollstuhlgängigkeit. Aber Und die kurze Ausfahrt von Nottwil nach Ober- noch zieht der 63-Jährige das Auto dem öffent- kirch wird live via Facebook übertragen. lichen Verkehr vor, weil es ihm mehr Flexibilität Genau ein Jahr danach sitzt Tarcisi Arpagaus, und Unabhängigkeit erlaubt. Während der Reha- der sich mit «Cisi» vorstellt, auf seiner Terrasse in bilitation im Schweizer Paraplegiker-Zentrum ist Cazis GR mit Blick auf den Heinzenberg. In die- für ihn klar: Das mit dem Auto muss er hinbe- sem Gebiet stürzte der geübte Skifahrer kurz vor kommen, am besten so schnell wie möglich. Tat- Cisi Arpagaus Sein umgebautes dem Lockdown 2020 so unglücklich, dass er eine sächlich schlägt Arpagaus ein hohes Tempo an Auto gibt ihm Flexibilität und Querschnittlähmung davontrug. und kann sich dabei auf die Unterstützung durch Unabhängigkeit. Orthotec verlassen: Nur drei Monate nach seinem Blick nach vorne Skiunfall bricht er mit Stefan Baumann zu seiner Arpagaus arbeitete 41 Jahre als Carrosseriespeng- Übungsfahrt auf. ler im gleichen Betrieb, musste die Stelle aber nach seinem Unfall aufgeben. Den Ansprüchen Umstellung auf Handbetrieb des Berufs wird er mit seinen körperlichen Ein- Bei dieser «Motorisierungsabklärung» erfasst schränkungen nicht mehr gerecht. Aber seinem Orthotec die Bedürfnisse der Kundinnen und Schicksal begegnete er stets mit Optimismus. Kunden: Haben sie noch ausreichend Beinfunk- Er lässt eine Krise gar nicht erst zu, weil er sich sagt: «Wenn ich ständig zurückblicke und hadere, macht das die Situation nur schlimmer. Damit tue « Das Auto erhöht meine Lebensqualität ich mir keinen Gefallen.» Er ist überzeugt, mit Wil- len und Disziplin seine Verfassung kontinuierlich merklich. Ich darf sagen: Ich lebe gut.» zu verbessern. Und als Bewegungsmensch findet Tarcisi Arpagaus er Wege, um sich fitzuhalten – mit Krafttraining, Hometrainer und seinem neuen Velo. tion zum Autofahren oder benötigen sie eine In Nottwil nimmt sich Cisi viel vor, er möchte Umschulung auf Handbetrieb? Cisi Arpagaus eines Tages zumindest in seiner Wohnung wie- hoffte, dass es mit dem Fusseinsatz klappen der gehen können und mit Walkingstöcken gar würde und zögerte bei der Entscheidung. Als er draussen an der frischen Luft. Und: Er will unbe- merkte, dass es doch nicht so schnell vorangeht, 16 PARAPLEGIE | S E P T E M B E R 2 0 2 1
SCHWERPUNKT entschloss er sich, sein Auto umbauen zu lassen. Mit der linken Hand bedient er mithilfe eines Knaufs das Lenkrad, mit der rechten gibt er mit einem Hebel Gas, bremst und blinkt. Für die Spezialisten der Orthotec ist die- ser Umbau eine Routinesache. «Je komplexer das Handicap, desto komplexer wird unsere Aufgabe», erklärt Baumann. Das Endprodukt bedeute für alle Betroffenen eine enorme Entlas- tung: «Das Autofahren gibt ihnen eine gewisse Spontaneität zurück, vor allem aber die Unab- hängigkeit. Und das wiederum ist für die Ange- hörigen wertvoll: Sie müssen nicht mehr ständig für Fahrdienste zur Verfügung stehen.» Keine drei Wochen nach der Heimkehr aus Nottwil erhält Cisi Arpagaus seinen Schlüssel zur Freiheit – den umgebauten Škoda Octavia Kombi. Diesen 26. September hat er ebenso gespeichert wie den 8. März, das Datum seines Unfalls. Längst Verstauen Der 63-jährige ist es kein Kraftakt mehr, den Rollstuhl im Koffer- Bündner nimmt seinen Rollstuhl raum zu verstauen und sich mit einer Krücke und Kurven ziemlich heraus. Aber danach wusste er: im Kofferraum mit. einer Hand am Auto hinters Steuer zu bewegen. Ich habe die neue Technik im Griff. Wird ihm Hilfe angeboten, lehnt er meistens ab In seinem Fall hielt sich der Aufwand für den Motorisierungsabklärung Cisi Arpagaus mit Stefan Baumann – der Transfer aus dem Rollstuhl ins Auto ist für Umbau in Grenzen. Doch Cisi Arpagaus ist fas- von der Orthotec. ihn eine Form von Therapie. ziniert von der Technik und der Kreativität der Leute von Orthotec, die es selbst Menschen mit Ausflug auf schmaler Strasse einer hohen Querschnittlähmung ermöglichen, Das Fahren fühlt sich vertraut an. Cisi Arpagaus wieder selber Auto zu fahren. «Ich staune, was hat sich eine Sicherheit angeeignet, die er schon die alles hinbekommen», sagt er. Für sich selber früher besass. Kaum stand der neue Wagen in ist er zufrieden mit der aktuellen Situation: «Das der Garage, war er so begeistert, dass er alleine Auto erhöht meine Lebensqualität merklich. Ich Ausflüge unternahm. Einen hat er in besonderer darf heute sagen: Ich lebe gut.» Erinnerung, weil er zur Lehrstunde wurde. Cisi Arpagaus geht nicht davon aus, dass er Der leidenschaftliche Jäger fuhr ins Safien- eines Tages wieder mit dem Fuss aufs Gaspedal tal, um seinen Schwager auf der Steinwildjagd zu drücken und bremsen kann: «Dafür müsste schon besuchen. Nach einem halben Jahr ohne Fahrpra- eine grosse Verbesserung eintreten. Aber der xis und mit dem gewöhnungsbedürftigen Hand- Handbetrieb ist eine perfekte Alternative.» Direktlink betrieb forderten ihn die schmale Strasse und die (pmb / n. pitaro / we) zum Blog PARAPLEGIE | S E P T E M B E R 2 0 2 1 17
SCHWERPUNKT Die Hand als Werkzeug Das Schweizer Paraplegiker-Zentrum ist eine von wenigen Kliniken, die mit der operativen Umplatzierung von Muskeln, Sehnen und Nerven bei Menschen mit einer Tetraplegie neue Arm- und Handfunktionen ermöglichen. Der Zuwachs an Selbstständigkeit und Lebensqualität ist enorm. «Dank der Tetrahandchirurgie kann ich das Handy wieder für meine Firma nutzen»: José Di Felice. 18 PARAPLEGIE | S E P T E M B E R 2 0 2 1
SCHWERPUNKT Der Moment im Herbst 2020 war für alle Beteilig- seiner Firma widmen. Er kann mit dem Auto zu ten berührend. «Zwei Jahre lang hatte ich es immer seinen Produzenten in Südeuropa fahren. Er kann wieder versucht, doch alles blieb steif», sagt José essen und trinken, ohne zu verschütten. Er zieht Di Felice. «Jetzt konnte ich plötzlich die Finger Bargeld aus den Automaten oder nimmt sein bewegen.» Es war am Tag nach der Operation sei- Handy vom Tisch auf. ner linken Hand. Für den 48-jährigen Unterneh- Speziell war der Moment, als er seiner Part- mer aus Leupen BE war es der Start in ein neues nerin zum ersten Mal wieder Wein einschen- Leben. «Als ich die Bewegung sah, wusste ich, der ken konnte – das erfordert viel Kraft. Seine linke Entscheid für den Eingriff war richtig.» Natürlich Hand erledigt heute Aufgaben, die ihr jahre- Silvia Schibli waren da auch Schmerzen, als der Verband zum lang unmöglich waren. «Das ist ein ganz anderes Chefärztin Hand- und ersten Mal geöffnet wurde. Doch die Wieder- Leben», sagt José Di Felice. Er erzählt offen von Tetrahandchirurgie herstellung der Greiffunktion in der gelähmten den Bedenken, die er vor der teilweise irreversi- Hand liess den Tetraplegiker emotional werden. blen Operation hatte, oder dass gewisse Sachen «Ihr seid Helden», sagte er zu Silvia Schibli und Jan bewusst nicht mehr gehen, zum Beispiel die Hand Fridén, die ihn operiert hatten. flach machen. Doch einem Nachteil stehen zehn Die Tetrahandchirurgie hat sich in den letzten Vorteile gegenüber, fügt er an. Das entspricht Jahren ständig weiterentwickelt. Immer komple- xere Operationen vergrössern das Spektrum an « Ich kam zum Schluss: Ich habe Möglichkeiten, um betroffenen Menschen Hand- und Armfunktionen zugänglich zu machen, die das Leben gewonnen.» sie aufgrund ihrer Rückenmarkverletzung eigent- José Di Felice lich nicht mehr ausführen können. Der schwedi- sche Professor Jan Fridén hat dieses Gebiet als generell seiner Haltung: «Wer mit seiner Quer- Pionier geprägt und das Schweizer Paraplegi- schnittlähmung hadert, denkt nur daran, was er ker-Zentrum (SPZ) zu einem führenden Behand- verloren hat. Ich kam zum Schluss: Ich habe das lungsort gemacht. Silvia Schibli arbeitete viele Leben gewonnen.» Jahre mit ihm zusammen und gemeinsam führ- ten sie neue Operationsverfahren ein. Im April Beratung ist entscheidend 2021 übernahm Schibli Fridéns Nachfolge – als Das Wiedererlangen der Greiffunktion bedeu- Chefärztin der Hand- und Tetrahandchirurgie in tet oft eine Kombination von mehreren Opera- Nottwil. tionen: Beim «Nerventransfer» werden funktio- nierende Nerven auf nicht mehr funktionierende Hoher Grad an Selbstständigkeit umgelenkt. Sie wachsen während Monaten zum Für José Di Felice folgte auf die Operation zunächst Zielmuskel hin, bis der Impuls des Gehirns zum harte Arbeit. Vier intensive Therapieeinheiten Beispiel die Finger streckt und so das Öffnen Weitere Anwendungen absolvierte er jeden Tag, bis nach rund sechs der Hand erlaubt. Ein Nerventransfer erfolgt Wochen sein Gehirn gelernt hat, die Finger und vorzugsweise im ersten Jahr nach der Rücken- Von der Tetrahandchirurgie den Daumen seiner linken Hand unabhängig markverletzung. Eine weitere Möglichkeit ist die profitieren nicht nur Quer- voneinander anzusteuern. Um dies zu ermögli- «Trizepsrekonstruktion», bei der ein Teil des Schul- schnittgelähmte. Auch chen, wurden Sehnen von intakten Muskeln am termuskels mit einer Sehne verlängert und auf die Menschen mit schweren spas- Arm umgeleitet und mit Sehnen von gelähmten Trizepssehne umgeleitet wird. Dieser «Sehnen- tischen Fehlstellungen der Muskeln verbunden. «Was vorher den Ellbogen transfer» ermöglicht das Strecken des Ellbogens, Arme und Hände z. B. auf- beugte, bewegt jetzt den Daumen», beschreibt womit der Arm im Raum gesteuert werden kann. grund einer Hirnverletzung er eine der Herausforderungen, die sein Kopf zu In einem weiteren Schritt kann die Greiffunktion werden im SPZ operiert. Bei bewältigen hatte. der Hand mittels verschiedener Sehnentransfers den Zuweisenden ist dies Der Aufwand hat sich gelohnt. Vor der Ope- rekonstruiert werden. wenig bekannt – dabei könnten ration war er auf fremde Hilfe angewiesen, um Bevor eine Operation geplant werden kann, die Betroffenen nach der seinen Alltag zu bewältigen. Heute hat der müssen etliche Entscheide gefällt sein. «Es gibt Operation wieder aktiver am Importeur von Delikatessen einen hohen Grad eine Vielzahl an Möglichkeiten», sagt Silvia Leben teilnehmen. an Selbstständigkeit erreicht und kann sich ganz Schibli, «die wirklich sinnvollen auszuwählen ist PARAPLEGIE | S E P T E M B E R 2 0 2 1 19
Tetrahandchirurgie ist Teamarbeit: Sie erfordert eine Herausforderung. Wir klären die Bedürfnisse übernehmen dabei die Handtherapeutinnen und den täglichen Austausch sorgfältig ab, damit die Patientinnen und Pati- Handtherapeuten. zwischen Patient, Chirurgin und Handtherapeutin enten einen optimalen Nutzen haben und wir Fachliche Diskussionen prägen die Tetra- (rechts: Karen Schmuck). genau jene Anwendungen ermöglichen, die für handchirurgie. Ideen werden weiterentwickelt, sie am wertvollsten sind.» Solche Ziele sind zum neue Ansätze erforscht und geprüft, Erfahrungen Beispiel das selbstständige Ankleiden oder die ausgetauscht. «Vieles, was in Nottwil gemacht Körperpflege, das Autofahren, das Öffnen einer wird, kann man nicht in einem Buch lernen», sagt Flasche, die Bedienung des Handys oder das Silvia Schibli. Mit der Etablierung neuer Techni- Schreiben. Mit den Betroffenen wird ein indivi- ken wie den Nerventransfers oder der gleich- duelles Konzept erarbeitet, das ihre Erwartungen zeitigen Trizepsrekonstruktion an beiden Armen und Wünsche mit dem operativ Machbaren in führt die Chefärztin Jan Fridéns Pionierarbeit in Einklang bringt. die Zukunft. Fridén selbst bleibt dem SPZ nach Für Silvia Schibli ist die Beratung vor einem seiner Pensionierung als Senior Consultant wei- Eingriff genauso entscheidend wie die anspruchs- terhin verbunden. volle und «ungeheuer faszinierende» Arbeit im Operationssaal: «Unsere Patientinnen und Pati- «Ich bin dankbar» enten sind auf die Handfunktion angewiesen. Da Seit José Di Felices Motorradunfall auf der dürfen keine Fehler passieren.» Die Chefärztin Rennstrecke in Dijon sind drei Jahre vergangen. weiss, dass eine grosse Verantwortung auf ihren In dieser Zeit hat er sowohl die Hilflosigkeit erlebt, Schultern lastet. Die einzelnen Fälle beschäftigen wenn sich Arme und Beine nicht mehr bewegen sie intensiv – auch ausserhalb der Klinik. «Mich lassen, als auch den Weg zurück in ein Leben, in interessiert das jeweils beste Ergebnis für die Pati- dem er seine linke Hand trotz Lähmung wieder entinnen und Patienten», sagt sie. «Die grösste für Alltagsaufgaben einsetzen kann. Gerne würde Befriedigung ist es, wenn sie sagen: ‹Jetzt kann er auch seine rechte Hand operieren lassen. Doch ich dies und jenes wieder machen, und das ist für die nötige Rehabilitation findet der Unterneh- mir so wichtig.›» mer nach der wirtschaftlich herausfordernden Corona-Krise noch keine Zeit. Spezialisierte Infrastruktur Ihm ist es wichtig, dass viele Personen die Erstaunlicherweise befassen sich weltweit nur Vorteile dieser Chirurgie kennenlernen, und er Sie können die Tetra- wenige Zentren mit diesem Feld der Handchi- macht anderen Betroffenen Mut, sich darauf ein- handchirurgie des SPZ rurgie, trotz des enormen Zuwachses an Selbst- zulassen. Zum Schluss sagt José Di Felice: «Ich bin mit einer Spende unter- ständigkeit und Lebensqualität, das es hochge- dankbar, dass es Menschen gibt, die so etwas stützen und fördern so lähmten Menschen bietet. Das liegt auch daran, ermöglichen. Bei Jan und Silvia merkt man, dass die Weiterentwicklung dass die Eingriffe eine spezialisierte Infrastruk- sie es mit Herzblut machen. Sie haben Freude, der Spezialabteilung. tur benötigen, in der verschiedene Fachgebiete andern eine Freude zu machen – und bleiben sel- und Abteilungen eng miteinander zusammen- ber so bescheiden.» (kste / we) IBAN CH14 0900 0000 arbeiten und sich ständig austauschen müssen. 6014 7293 5 Mit seinen interprofessionellen Teams ist das SPZ paraplegie.ch/hand-und- Vermerk: Handchirurgie dafür besonders geeignet. Eine wichtige Rolle tetrahandchirurgie 20 PARAPLEGIE | S E P T E M B E R 2 0 2 1
SEITENBLICK Im Rollstuhl aufs Matterhorn? Die grössten Einschränkungen der Bewegungsfreiheit liegen in unserer Wahrnehmung. Etwas vertrackter ist die Situation, wenn Um Hilfe bitten auf dem hochdotierten Marketingkongress Auch den Betroffenen ist klar, dass nicht alle beim Apéro nur hohe Tischchen für Ste- Wünsche umsetzbar sind. «Den Anspruch hende vorhanden sind. Der Rollstuhlfah- zu haben, immer autonom zu sein, ist sehr rer blickt auf Bauchnabel und Hinterteile, hoch», sagt Christian Hamböck. «Mein All- jongliert ohne Ablagemöglichkeit mit Tel- tag ist voll mit Situationen, in denen ich ler und Glas, findet die Speisen schliesslich andere Menschen um Hilfe bitten muss.» auf seinem Schoss wieder. Dabei wäre die Nicht nur beim Einkaufen stehen viele Lösung einfach: Eine Sofaecke schliesst die Waren unerreichbar im Regal, auch die Betroffenen mit ein. In den meisten Kon- Schränke zu Hause sind bis oben gefüllt. gresshallen sind immerhin Spezialtoiletten So muss in seiner umgebauten Wohnung vorhanden – es sind zentrale Infrastruktu- immer wieder die Familie für Handreichun- ren der Integration, die in Restaurants oft gen einspringen. vergeblich gesucht werden und manchmal auch als Gerümpelkammer dienen. Solche Hindernisse in Gebäuden sind verbreitet. Zwar bestehen Bauvorschriften, aber deren Umsetzung scheitert oft kon- Seit damals zur «Grün 80» die ersten kret vor Ort, zum Beispiel beim Zugang zu «Behinderten-Parkplätze» vor den Toren Gebäuden und Bahnhöfen. «Manche Halte- Basels für Aufsehen sorgten – es war der stellen im öffentlichen Verkehr sind schlicht grösste Event in der Schweiz nach der eine Katastrophe», sagt Christian Hamböck. «Expo 64» und die erste rollstuhlgängige Ist der Bodenabstand grösser als fünfzehn Ausstellung überhaupt – hat sich in Sachen Zentimeter, kommen Rollstuhlfahrende Bewegungsfreiheit für Menschen mit Quer- ohne fremde Hilfe nicht weiter. Entweder schnittlähmung einiges getan. Die Schwei- machen sie beim Ausstieg aus dem Tram zer Paraplegiker-Stiftung (SPS) konnte viel ihre Räder kaputt oder sie müssen bis zu dazu beitragen, dass sich die Situation in einer geeigneten Station weiterfahren und der Schweiz nicht nur bei den Parkplätzen den ganzen Weg zurückrollen. Da liegt der verbessert hat. Aber noch immer stossen Griff zum Autoschlüssel nahe. Betroffene zu oft an Grenzen, die nichts mit der Diagnose Para- oder Tetraplegie zu tun haben: Es sind Grenzen der gesellschaftli- Für Menschen mit einer Querschnittläh- chen Achtsamkeit. mung bedeuten solche Einschränkungen: Ihr tägliches Leben benötigt sehr viel mehr Bauchnabel statt Small Talk Vorausplanung und lässt weniger Sponta- Im Paraplegie-Talk auf der Gesprächs-Platt- neität zu. Wer alle paar Stunden auf einen form «Clubhouse» hat SPS-Mitarbeiter und Ort zum Katheterisieren angewiesen ist, Rollstuhlathlet Christian Hamböck einige wird zum Organisationstalent – und ärgert Beispiele vorgestellt. Eine typische Situa- sich, wenn die Zugänge dazu aus Unacht- tion für Menschen im Rollstuhl, die zusam- samkeit blockiert werden. men mit Fussgängern ein Restaurant besu- Es gibt eine Organisation, die trägt Per- chen, ist, dass das Personal über ihren Kopf sonen im Rollstuhl auf ausgewählte Berge. hinweg die Begleitpersonen fragt: «… Und Solche Ansprüche sind nicht gemeint, wenn was hätte er denn gerne?» Immer noch ist über mehr Bewegungsfreiheit in der Gesell- die Meinung verbreitet, dass wer im Roll- schaft diskutiert wird. Es geht um stuhl sitzt, nicht nur gehbehindert ist, son- unseren gemeinsamen Alltag. dern auch nicht sprechen kann. (kste / rob) PARAPLEGIE | S E P T E M B E R 2 0 2 1 21
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