VonWegen - vertrieben - Evangelische Stadtmission Freiburg e.V.

Die Seite wird erstellt Felix-Stefan Martin
 
WEITER LESEN
VonWegen - vertrieben - Evangelische Stadtmission Freiburg e.V.
3|16 | E 9313

von
        Wegen                  Evangelische
                               Stadtmission
                               Freiburg e.V.

       vertrieben
www.stadtmission-freiburg.de
VonWegen - vertrieben - Evangelische Stadtmission Freiburg e.V.
Editorial

   Fremden Heimat geben
   Kein Thema hat uns im vergangenen Jahr mehr bewegt als             Flüchtlinge ohne Wenn und Aber zu
   der nicht enden wollende Strom von flüchtenden Menschen            schützen: „Die Fremdlinge sollst du
   Richtung Europa. Fast 1,1 Millionen Flüchtlinge wurden allei-      nicht bedrängen und bedrücken; denn
   ne in Deutschland registriert, annähernd 480.000 stellten einen    ihr seid auch Fremdlinge in Ägypten-
   Asylantrag. Rund 36 Prozent kamen aus dem bürgerkriegs-            land gewesen.“ (2. Mose 22,20)
   geschüttelten Syrien. Dabei ist Krieg nur ein Grund, warum
   Menschen ihre Heimat verlassen und in einem fremden Land           Respektvolles Miteinander wagen
   Schutz suchen. Auch Terrorismus, Unterdrückung, materielle         Das ist ganz sicher eine große Heraus-
   Not, Diskriminierung und Klimaveränderungen treiben Men-           forderung für unsere Gesellschaft und
   schen in die Flucht.                                               für uns Christen. Es macht Mut zu se-
                                                                      hen, wie viele Menschen in Deutschland
   Fremde erzeugen Bedrohungsangst                                    die ankommenden Flüchtlinge herzlich
   Nicht wenige im Lande reagieren auf den Strom der vielen           begrüßt und eine beeindruckende Will-
   Flüchtlinge mit Bedrohungsängsten, die insbesondere von            kommenskultur gelebt haben. Viele offi-
   den IS-Terroranschlägen verstärkt werden. Diese Angst muss         zielle und ehrenamtliche Initiativen zei-
   ernstgenommen werden, weil das Ignorieren nur weitere ge-          gen, dass es gelingen kann, den fremden
   sellschaftliche Probleme erzeugt. Der Migrationsforscher Dr.       Menschen offen zu begegnen und erste
   Marcel Berlinghoff meint, dass jede Migrationswelle Unsicher-      Schritte zu einem respektvollen Mitein-
   heit und Ängste hervorruft. „Migration fand in der Mensch-         ander zu wagen. Auch die Stadtmission
   heitsgeschichte schon immer statt. Auch in Europa war ständig      Freiburg hat letzten Herbst die soziale
   alles im Fluss.“ Er ist sogar überzeugt: „Wenn Gesellschaften      Betreuung einer Flüchtlingsunterkunft
   statisch bleiben, gehen sie zugrunde. Gesellschaften leben         übernommen. Eine Aufgabe, der wir uns
   durch Austausch.“                                                  bewusst gestellt haben, da sie originär
                                                                      zu Stadtmissionsarbeit gehört. So freue
   Fremde nicht bedrängen                                             ich mich, dass auch wir einen kleinen
   Auch die Bibel ist voll von Menschen auf der Flucht, denken        Beitrag dazu leisten, dass Fremde bei
   wir an die Erzählungen von Josef und seinen Brüdern oder von       uns ein Stück Heimat finden.
   König David; selbst Jesus, kaum geboren, musste mit seinen
   Eltern fliehen. Der Glaube an den einen Gott, der aus Gefan-
   genschaft und Unterdrückung befreit und der in Bedrängnis,
   Flucht und Heimatlosigkeit beisteht, wird zur zentralen Glau-
   bensaussage des jüdischen wie des christlichen Glaubens.
   Angesichts dieser biblischen Aussagen begründet die EKD in
   einem aktuellen Dossier damit auch die ethische Forderung,         Ewald Dengler
                                                                      Vorstand der Evangelischen Stadtmission
                                                                      Freiburg e.V.

   vonWegen 3/16 – Thema: vertrieben                            Seite 2
VonWegen - vertrieben - Evangelische Stadtmission Freiburg e.V.
Seite 3

©photocase.com – willma...
VonWegen - vertrieben - Evangelische Stadtmission Freiburg e.V.
Geistliches Wort

   Ins Gelobte Land
                               Die Geschichte Israels zwischen Flucht und Vertreibung

                               In den zirka 2000 Jahre umfassenden bibli-           Ägypten. Ähnliches erlebt sein Sohn Isaak,
                               schen Erzählungen stehen zumeist einzelne            der wegen einer Hungersnot zu den Philis-
                               Personen mit ihrer Lebens- und Glaubensge-           tern flüchtet. Abrahams Enkel Jakob verlässt
                               schichte im Mittelpunkt. Über die wechsel-           zweimal seine Heimat. Zunächst flieht er vor
                               volle politische Geschichte im Land Kanaan           seinem Bruder Esau in das Gebiet seiner Vor-
                               erfährt man eher nebenbei etwas. Gelegen             fahren. Später erlebt er in Kanaan eine Hun-
                               zwischen der Großmacht Ägypten im Süd-               gersnot. Erst schickt er einige seiner Söhne
                               westen und sich abwechselnden Großmäch-              nach Ägypten, um Lebensmittel zu kaufen.
                               ten im Nordosten hing die Lebenssituation            Letztlich bleibt dann die ganze Familie in
                               der Menschen auf der syro-palästinensischen          Ägypten. Nach einiger Zeit kippt die politi-
                               Landbrücke hauptsächlich von den sie um-             sche Stimmung gegenüber den Israeliten und
                               gebenden Großmächten ab. Wenn man beim               es kommt zum berühmten Auszug aus Ägyp-
                               Und dann noch ein Lead, zwo, drei, vier
                               Lesen der Bibel genauer auf Flucht und Ver-          ten, einer Massenflucht von Sklaven. Ange-
                               In den zirka
                               treibung    achtet,
                                               2000dann
                                                     Jahrestellt man fest, bibli-
                                                            umfassenden     dass    führt
                                                                                    erfährtwerden   sie von
                                                                                             man eher       Mose, der
                                                                                                         nebenbei       einstGelegen
                                                                                                                     etwas.     wegen
                               dies
                               schen einErzählungen
                                         durchgehendes    Thema
                                                      stehen      ist. einzelne
                                                               zumeist              Totschlags
                                                                                    zwischen dervor Großmacht
                                                                                                     der ägyptischen   Justizimfliehen
                                                                                                                  Ägypten         Süd-
                               Personen mit ihrer Lebens- und Glaubensge-           musste        bei einem
                                                                                    westen und sich           midianitischen
                                                                                                        abwechselnden    Großmäch-Clan
©photocase.com – en.joy.it

                               Hungersnot       statt MilchÜber
                               schichte im Mittelpunkt.        unddie
                                                                    Honig
                                                                       wechsel-     neue  Heimatapero
                                                                                    ten. Solor     gefunden  hatte.
                                                                                                         omnit   re aut diti utenis
                               Die
                               volleHaupterzählung      der Bibel
                                      politische Geschichte         beginnt
                                                               im Land       mit
                                                                        Kanaan      Auch
                                                                                    eseceroKönig
                                                                                             cum David    waret,einoccum
                                                                                                    volecum          Flüchtling.
                                                                                                                           fugia Umve-
                               Abrahams Reise ins Gelobte Land. Aber dort           vor Saul sicher zu sein, floh David zu den
                               ist leider nicht alles Milch und Honig. Eine         Philistern, den Todfeinden der Israeliten.
                               Hungersnot kommt und Abraham flieht nach             Interessant ist auch die Geschichte der Noo-

                             Seite 4                                                                  vonWegen 3/16 – Thema: vertrieben
VonWegen - vertrieben - Evangelische Stadtmission Freiburg e.V.
mi, Ehefrau eines Mannes aus Bethle-         hier wird von Flucht erzählt: Josef und
hem. Sie waren vor einer Hungersnot          Maria, die Richtung Ägypten fliehen,
nach Moab geflohen. Leider endete die        um Jesus vor dem Zugriff Herodes‘ zu
Flucht tragisch, Söhne und Ehemann           beschützen. Oder Christen, wegen ihres
verstarben, nur Noomi und ihre moab-         Glaubens verfolgt, die durch ihre Flucht
itische Schwiegertochter Rut blieben üb-     den Glauben in die Welt hinaustrugen.

                                                         ““
rig. Noomi möchte lieber in der Heimat
als in der Fremde sterben und macht                        Flucht ist in der
sich auf den Heimweg. Rut begleitet sie
mit den gerne von Ehepaaren zitierten
                                                       Bibel allgegenwärtig.“
Worten: „Wo du hingehst, da will ich
auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe      Nicht mehr im Neuen Testament ent-
ich auch.“ (Rut 1,16b; Lu84).                halten, aber kurz danach geschehen: die
                                             radikale Vertreibung der Israeliten durch
Ausländerin in Jesu Stammbaum                die Römer. Eine Vertreibung, die bis ins
Diese treue Schwiegertochter ist nicht       20. Jahrhundert hinein andauerte.
nur Namensgeberin eines biblischen           Flucht ist in der Bibel also allgegenwär-
Buches, sondern wird auch ausdrücklich       tig. Sie berührt alle wesentlichen Erzähl-
vom Matthäusevangelium im Stamm-             stränge, sie betrifft sogar Jesus. Solange
baum Jesu aufgezählt - eine von we-          Menschen es nicht schaffen, in Frieden
nigen Frauen, die darin mit Namen            miteinander zu leben, solange Naturka-
erwähnt werden. Es gibt also Nichtisrae-     tastrophen und Misswirtschaft ihr Leben
liten im Stammbaum des Messias.              gefährden, wird es Flucht geben. Sie be-
Einige Zeit später kommt das nächste gro-    trifft alle Völker, sie kann jeden treffen.
ße Ereignis der israelitischen Geschichte:   Auch die, die sich in Sicherheit wähnen
die Babylonier erobern Jerusalem, der        und misstrauisch die Fremden beobach-
Tempel wird zerstört und tausende Isra-      ten, die zu ihnen geflüchtet sind. Und
eliten werden nach Babylon deportiert.       weil sie alle Menschen treffen kann,
Letzten Endes wird ein großer Teil der       weil so gut wie jeder unter seinen Vor-
Bevölkerung wieder ins Gelobte Land zu-      fahren Flüchtlinge hat, formuliert das 3.
rückkehren, aber die Zeit in der Fremde      Buch Mose den Umgang mit diesen
wird einen nachhaltigen Eindruck auf den     Menschen so: „Wenn ein Fremdling
Glauben der Israeliten haben. Später, zur    bei euch wohnt in eurem Lande, den
Zeit Jesu, findet man in allen größeren      sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei
Handelsstädten des römischen Reiches         euch wohnen wie ein Einheimischer
und darüber hinaus jüdische Gemein-          unter euch, und du sollst ihn lieben
den. Viele dieser Gemeinden könnten          wie dich selbst; denn ihr seid auch
sicherlich ihre großen und kleinen Ge-       Fremdlinge gewesen in Ägypten-
schichten von Flucht, Vertreibung und        land. Ich bin der HERR, euer Gott.“
Suche nach Lebensraum erzählen.              (3. Mose 19, 33f) Was könnte man Ralf Berger
Das Neue Testament umfasst nur einen         dem noch hinzufügen? //                     Pfarrer der Gemeinde
kurzen Zeitraum, ca. 70 Jahre, aber auch                                                  dreisam3

vonWegen 3/16 – Thema: vertrieben                               Seite 5
VonWegen - vertrieben - Evangelische Stadtmission Freiburg e.V.
#thema

    Millionen Menschen
               auf der Flucht
               Die weltweite Migration in Zahlen        ge. 20 Millionen Flüchtlinge verlie-
                                                        ßen ihre Heimatländer aufgrund von
               Im Jahr 2015 waren nach Angaben          kriegerischen Auseinandersetzungen.
               des Flüchtlingshilfswerks der Verein-    Hauptherkunftsländer waren Syrien
               ten Nationen UNHCR weltweit 65,3         (4,9 Millionen), Afghanistan (2,7 Milli-
               Millionen Menschen gewaltsam ver-        onen) und Somalia (1,1 Millionen).
               trieben als Ergebnis von Verfolgung,     86% der Flüchtlinge fanden Aufnahme
               Konflikten, Gewalt oder Menschen-        in benachbarten Ländern. Besonders
               rechtsverletzungen. Die größte Gruppe    betroffen waren die Nachbarländer
               bildeten mit 40,8 Millionen Menschen     Syriens. Der kleine Libanon nahm die
               die Binnenflüchtlinge - also Menschen,   größte Anzahl von Flüchtlingen im
               die innerhalb ihres Heimatlandes ver-    Verhältnis zur eigenen Bevölkerung
               trieben wurden. Weitere 21,3 Millionen   auf: 183 Flüchtlinge auf 1.000 Ein-
               waren anerkannte Flüchtlinge, denen      wohner. Jordanien (87 pro 1.000) lag
               gemäß internationaler Abkommen           auf dem 2. Rang. In absoluten Zahlen
               Schutz gewährt wurde. 3,2 Millionen      gesehen nahm die Türkei die meisten
               waren Asylsuchende, die noch auf den     Flüchtlinge auf (2,5 Millionen), gefolgt
               Ausgang ihres Asylverfahrens war-        von Pakistan (1,6 Millionen) und dem
               teten. Kinder unter 18 Jahren stellten   Libanon (1,1 Millionen).
               2015 rund die Hälfte der Flüchtlin-      Nach Angaben des Europäischen Sta-

                                                                                                        ©photocase.com – petzi

     Seite 6                                                        vonWegen 3/16 – Thema: vertrieben
VonWegen - vertrieben - Evangelische Stadtmission Freiburg e.V.
tistikamts (Eurostat) wurden 2015 in      ge. Im ersten Halbjahr 2016 waren es bereits rund 388.000
den 28 Staaten der Europäischen Uni-      Anträge; 44 % der Antragsteller stammten aus Syrien. Ne-
on rund 1,3 Millionen Asylanträge         ben den Asylanträgen veröffentlicht das Bundesinnenminis-
gestellt, die meisten davon (477.000)     terium auch die Zahl der Schutzsuchenden, die im EASY-Re-
in Deutschland. Es folgten Ungarn mit     gistrierungssystem (eine vom Bundesamt für Migration und
177.000 und Schweden mit 163.000          Flüchtlinge betriebene IT-Anwendung zur Erstverteilung
Anträgen.                                 von Asylbewerbern auf die einzelnen Bundesländer) erfasst
Die Reihenfolge ändert sich, wenn         sind. Grund dafür ist, dass viele Flüchtlinge nach ihrer An-
man die Zahlen im Verhältnis zur Grö-     kunft in Deutschland nicht zeitnah ihren Asylantrag stel-
ße der Bevölkerung betrachtet. Dann       len können. Insgesamt wurden im EASY-System im Jahr
rückt Deutschland mit seinen 81 Mil-      2015 rund 1,1 Millionen und im ersten Halbjahr 2016 rund
lionen Einwohnern im europäischen         222.200 Zugänge von Asylsuchenden registriert. Bei den
Vergleich auf Platz sechs (mit rund 5     EASY-Zahlen sind Fehl- und Doppelerfassungen nicht aus-
Asylbewerbern auf 1.000 Einwohner).       geschlossen.
Hauptherkunftsländer waren Syrien,        Die Schutzquote, d. h. der Anteil von anerkannten Asylan-
Irak und Afghanistan.                     trägen, unterscheidet sich sehr stark, je nach Herkunftsland.
Rund die Hälfte aller Asylanträge in      Bei Syrern lag die Anerkennungsquote zuletzt bei mehr als
der Europäischen Union (51 Prozent)       98 %, bei Albanern dagegen nur bei 0,4 %.
wurde positiv beantwortet. In 74 Pro-     2015 wurden in Deutschland rund 91.000 Asylanträge ab-
zent dieser Fälle wurde ein Flücht-       gelehnt, im ersten Halbjahr 2016 waren es ca. 70.400. Ab-
lingsstatus nach der Genfer Flücht-       geschoben wurden 2015 rund 20.000 Menschen. Etwa
lingskonvention gewährt. Rund eine        37.000 Menschen haben das Land „freiwillig“ im Rahmen
Million Antragsteller warteten Ende       der Hilfsprogramme „REAG“ (Reintegration and Emigration
2015 in der gesamten EU noch auf eine     Programme for Asylum Seekers in Germany) und „GARP“
Entscheidung über ihren Asylantrag,       (Government Assisted Repatriation Programme), die Perso-
davon etwa 420.000 in Deutschland.        nen bei der freiwilligen Rückkehr ins Herkunftsland oder
2015 stellten rund 477.000 Asylsuchen-    der Weiterwanderung in einen aufnahmebereiten Staat un-
de einen Asylantrag in Deutschland,       terstützen, verlassen. Es gibt zudem weitere Rückkehrförde-
davon waren rund 442.000 Erstanträ-       rungs-Programme für einzelne Länder (u. a. Kosovo, Arme-
                                          nien und den Irak). //

  Quellen:
  > unhcr.de/service/zahlen-und-statistiken
  > bamf.de/DE/Infothek/Statistiken/Asylzahlen/asylzahlen
  > bpb.de/politik/innenpolitik/flucht
  > mediendienst-integration.de/migration/flucht-asyl
  > destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/MigrationIntegration/MigrationIntegration

vonWegen 3/16 – Thema: vertrieben                          Seite 7
VonWegen - vertrieben - Evangelische Stadtmission Freiburg e.V.
#thema

   So weit weg                 wie möglich
                               Die Fluchtgeschichte eines Christen aus Nigeria
                               Als Pastor einer afrikanischen Gemeinde     Essen. Durch diese Entscheidung sind viele
                               in Freiburg beschäftige ich mich mit vie-   Kinder zu Vergewaltigungsopfern gewor-
                               len Flüchtlingen, die in unsere Gemeinde    den. Viele fliehen in Nachbarländer, aber
©photocase.com – Jasmine_K

                               kommen. Ihre Flucht- und Vertreibungsge-    dort ist die Situation nicht viel besser.
                               schichten sind sehr berührend, einige ha-
                               ben in ihrem jungen Alter viele grausame    Sie riskieren ihr Leben
                               Dinge erlebt - Krieg, Völkermord, Verge-    Deswegen müssen sie alles riskieren, um
                               waltigung, Hungersnot und Krankheiten.      nach Europa zu kommen. Viele kommen
                               Viele verlassen ihre Heimat ohne Geld und   über das Meer, dabei riskieren sie ihr Leben.

                             Seite 8                                                       vonWegen 3/16 – Thema: vertrieben
VonWegen - vertrieben - Evangelische Stadtmission Freiburg e.V.
Viele Boote, die sie nutzen, sind über-      Flucht mit dem Boot
füllt, viele Familien mit Kindern müssen     Sie sind nach Libyen geflohen mit ih-
mehre Tagen ohne Essen auskommen.            ren kleinen Ersparnissen. Dort hatten
Es ist bemerkenswert, dass viele ihren       sie keine Arbeitserlaubnis, sie muss-
Glauben an Gott nicht verloren haben.        ten betteln, um zu essen. Alles, was er
Im Gegenteil: ihr Glaube ist stärker ge-     dort erlebte, war so schlimm, dass er
worden. Wie König David sagte: „Ich          um mein Verständnis bat, ob er das für
hebe meine Augen auf zu den Bergen,          sich behalten darf. Nach neun Monaten
von welchen mir Hilfe kommt“ (Psalm          in Libyen hatte er die Möglichkeit, mit
121, 1). Viele Christen können Gott nur      dem Boot nach Italien zu kommen. Er
vertrauen, dass er sie nicht im Stich las-   musste die Chance ergreifen trotz des
sen wird. Dieser Glaube ist so stark, dass   Risikos. Unglücklicherweise stirbt sein
„obwohl sie schon wanderten im finste-       einziger Bruder im Meer, er ist vom
ren Tal, fürchten sie kein Unglück“ (vgl.    Boot ins Wasser gefallen und konnte
Psalm 23,4).                                 nicht mehr wiederbelebt werden. Bis

                                                     ““
Eine Geschichte von einem Flüchtling in
unserer Gemeinde werde ich mit seiner
Erlaubnis erzählen: Zion John ist ein
                                                       Wenn man von der
23-jähriger nigerianischer Asylbewerber            eigenen Familie verjagt
in Freiburg. Als er vor einem Jahr zu              wird, ist man verloren.“
uns in die Gemeinde kam, hatte er zwei
Selbstmordversuche hinter sich. Ich war      heute erzählt Zion diese Geschichte
mit ihm dreimal bei der Ambulanz-Sta-        unter Tränen und gibt sich immer die
tion des Psychiatrischen Krankenhauses       Schuld, warum sein Bruder starb. Er
in Emmendingen, wo er intensive ärztli-      sagte zu mir: „Wenn man von der ei-
che Behandlung bekam.                        genen Familie und Bekannten verjagt
Bevor Zion John nach Deutschland kam,        wird, ist man verloren.“
war er glücklich zuhause in Edo State,
Nigeria, bis sein Vater starb. Als der äl-   Gott wird ihn nicht
teste Sohn seines Vaters musste er des-      im Stich lassen
sen Amt als Voodoo-Priester überneh-         In Deutschland fühlt er sich mitt-
men. Das wollte er nicht, weil er Christ     lerweile viel besser. Seine ärztliche
ist, und er wollte seinen Glauben nicht      Behandlung verläuft sehr gut, die
teilen. Dann kamen die Dorfältesten zu       Gemeinde tut ihm auch sehr gut.
ihm und drohten ihm mit Unglück und          Er wartet immer noch auf seine
Verfolgung. Als er sich weiter weigerte,     Asylantrags-Entscheidung, aber er
das Amt zu übernehmen, wurde die Dro-        ist überzeugt, dass Gott, der ihn       Emmanuel Rich
hung intensiver. Er musste mit seinem        so weit gebracht hat, ihn nicht im      Pfarrer der Destined
jüngeren Bruder fliehen, weil der fürch-     Stich lassen wird. //                   Winners Church Freiburg
tete, die Dorfältesten könnten auch zu
ihm kommen. Sie mussten so weit weg
wie möglich fliehen.

vonWegen 3/16 – Thema: vertrieben                             Seite 9
VonWegen - vertrieben - Evangelische Stadtmission Freiburg e.V.
#thema             Von Deutschland

      nach Amerika
  Warum wanderten Millionen                                       Unter den Auswanderern überwogen
                                                                  landwirtschaftliche Kleinstellenbesit-
  Deutsche im 19. Jahrhundert aus?
                                                                  zer und Pächter. In den Herkunftsge-
  Die Zahlen sind spektakulär: Im 19. Jahrhundert verließen       bieten boten sich für sie relativ wenige
  55 bis 60 Millionen Europäer den Kontinent und siedelten        Erwerbschancen angesichts der Stag-
  sich vor allem in den Amerikas, aber auch in Asien, Afrika      nation des Erwerbsangebots bei zeit-
  und Australien an. Deutsche Auswanderer hatten daran mit        gleich sehr starkem Bevölkerungszu-
  6 Millionen keinen geringen Anteil. Sie gingen weit über-       wachs. Die Auswanderung allerdings
  wiegend, nämlich zu 90 Prozent, in die USA. Hochphasen          ausschließlich als Flucht aus der öko-
  mit jeweils mehr als einer Million Auswanderern bildeten        nomisch-sozialen Krise zu verstehen
  die Jahre 1846-1857 und 1864-1873. In der letzten großen        und den Blick nur auf deren Erschei-
  Auswanderungsphase 1880-1893 folgten dann noch einmal           nungsformen im Herkunftsraum zu
  1,8 Millionen Deutsche. Die in Deutschland geborene Bevöl-      richten, greift zu kurz; denn obgleich
  kerung der USA stellte 1820-1860 mit rund 30 Prozent nach       ein Großteil der Bevölkerung am Ran-
  den Iren die zweitstärkste, 1861-1890 sogar die stärkste Ein-   de – und zeitweilig auch unterhalb des
  wanderergruppe.                                                 Existenzminimums – lebte, erfasste

 ““   Zentral für die Entwicklung eines individuellen
         Migrationsprojekts ist die Vorstellung,
        andernorts bessere Chancen zu haben.“
  Herkunftsräume und Sozialstruktur                               die Auswanderungsbewegung letztlich
  Der wichtigste Herkunftsraum war zunächst und bis in die Mit-   nur einen geringen Teil der Menschen.
  te des 19. Jahrhunderts der deutsche Südwesten. Neben die ba-
  dischen, württembergischen und pfälzischen Gebiete trat seit    Motive der Migration
  den späten 1820er Jahren Nordwestdeutschland. Einen letzten     und Netzwerke
  regionalen Schwerpunkt fand die deutsche Massenauswande-        Ein zentraler Hintergrund für die Ent-
  rung bei weiterhin starken Anteilen des Süd- und Nordwes-       wicklung eines individuellen Migrati-
  tens im Nordostraum des Reiches. In den gutswirtschaftlich      onsprojekts ist die Vorstellung, andern­
  geprägten Gebieten Mecklenburgs und Brandenburgs setzte         orts bessere Chancen zu haben. Um
  die Massenauswanderung in den späten 1840er und frühen          diese und die Risiken einer Bewegung
  1850er Jahren ein und damit zwei bis drei Jahrzehnte später     über große Distanzen einschätzen zu
  als im Süd- und Nordwesten. In Pommern, Westpreußen und         können, bedarf es vertrauenswürdiger
  Posen begann sie sogar noch ein Jahrzehnt später.               Informationen aus den (potentiellen)

        Seite 10                                                         vonWegen 3/16 – Thema: vertrieben
Zielgebieten. Sie werden im Rahmen         Vordergrund; das galt für Oppositi-
von durch Verwandtschaft und Be-           onelle des Vormärz und Aktivisten
kanntschaft konstituierten Netzwerken      der Revolution von 1848/49 oder
vermittelt. Kann auf ein solches Netz-     für Sozialdemokraten, die wegen
werk nicht zurückgegriffen werden, ist     des Bismarckschen Anti-Sozialis-
eine Migration unwahrscheinlich – zu-      tengesetzes 1878-1890 ins Aus-
mal dann, wenn sie mit hohen finan-        land auswichen. Die Tatsache, dass
ziellen, mentalen und sozialen Kosten      nur wenige Tausend Auswanderer
sowie großen Risiken verbunden ist.        hauptsächlich politisch motiviert
Netzwerke motivierten und struktu-         waren, sollte aber nicht darüber Dr. phil. habil.
rierten räumliche Bevölkerungsbewe-        hinwegtäuschen, dass diese Grup- Jochen Oltmer
gungen mithin weitreichend. Je län-        pe häufig kommunal, regional und Apl. Professor für Neueste
ger und je intensiver sie überseeische     landesweit wichtige politische und Geschichte und Mitglied
Wanderungstraditionen prägten, desto       kulturelle Aufgaben als „ethnic des Vorstands des Instituts
stärker etablierte sich eine Eigendyna-    leader“ bzw. Identitätsmanager für für Migrationsforschung
mik im Wanderungsgeschehen: In den         die deutsch-amerikanische Bevöl- und Interkulturelle Studien
Herkunftsregionen waren auch Jahre         kerung wahrnahm: im deutschen (IMIS) der Universität
und Jahrzehnte nach dem Einsetzen          Vereinswesen, in den kirchlichen Osnabrück
der transatlantischen Massenmigrati-       Institutionen, in den politischen Par-
on weiterhin starke überseeische Aus-      teien oder im blühenden deutschen
wanderungen zu beobachten, obwohl          Zeitungswesen.
die soziale und wirtschaftliche Krise      Die erheblich vermehrten wirtschaft-
der ersten Abwanderungsphase längst        lichen Chancen, die Hochindustriali-
nicht mehr bestand.                        sierung und Agrarmodernisierung in
                                           Deutschland boten, waren schließlich
Politische Flüchtlinge wurden              der wesentliche Faktor für das Auslau-
„ethnic leaders“                           fen der überseeischen Massenauswan-
Die Erschließung oder Verbesserung         derung. Der starke Rückgang wurde
wirtschaftlicher Chancen als dominie-      beschleunigt durch die harte wirtschaft-
rendes Wanderungsmotiv verband sich        liche Krise in den USA 1890-1896 mit
nicht selten mit politischen und religi-   ihrem Höhepunkt 1893. Dieses Jahr
ös-konfessionellen Motiven. Sie standen    markierte das Ende starker Auswande-
im 19. Jahrhundert aber nur bei einem      rung aus Deutschland vor dem Ersten
sehr kleinen Teil der Auswanderer im       Weltkrieg. //

  Weiterführende Informationen:
  +   Zur Person: imis.uni-osnabrueck.de/oltmer_jochen/zur_person/profil
  >  Beiträge des Autors zur Geschichte und Gegenwart der Migration (Auswahl): (Hg.), Handbuch Staat
  und Migration in Deutschland vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Berlin/Boston 2016 Globale
  Migration. Geschichte und Gegenwart, 2. Aufl. München 2016; Migration vom 19. bis zum 21. Jahrhun-
  dert, Berlin/Boston 2016

vonWegen 3/16 – Thema: vertrieben                          Seite 11
#thema
©photocase.com – misterQM

                              Eine

    bessere Zukunft
                              Nick Alou aus Togo wird im Wichernhaus zum Altenpfleger ausgebildet

                            Seite 12                                              vonWegen 3/16 – Thema: vertrieben
Es werden Schritte ins Ungewisse sein,     groß die Armut und die Not in Togo ist.     #thema
das weiß er. Die Heimat verlassen, die     Es verlässt doch keiner sein Heimat-
Menschen, die man liebt – Eltern, Ge-      land ohne Grund.“ Den maßgeblichen
schwister, Freunde. Aufbruch in einen      Impuls bekommt Nick von seinem Va-
anderen Kontinent, in ein fremdes          ter. Der war in jungen Jahren für einige
Land. Ein anderes Klima, eine fremde       Zeit in Freiburg und hatte dort wert-
Kultur und eine unbekannte Sprache.        volle Lebenserfahrungen gesammelt.
Was wird ihn dort erwarten? Wie wer-       So kann er auch seinem Sohn Mut ma-
den ihm die Menschen begegnen? Wird        chen, neue Schritte zu wagen – auch
er eine Arbeit bekommen, um leben zu       wenn sie zunächst vielleicht ins Unge-
können? Wo wird er wohnen? Unzäh-          wisse führen.
lige Fragen - und genauso viele Sorgen.

                                               ““
Mindestens. Und trotzdem will er diese
Schritte wagen, einfach nur weg aus             Es verlässt doch keiner
seiner Heimat in Togo in Westafrika.       sein Heimatland ohne Grund.“
Keine Perspektive in der Heimat
Vier Jahre ist das jetzt her. Nick Alou
hebt die Hände und lacht. Es ist ein be-
freiendes, ein sympathisches Lachen.       Dann geht alles ziemlich schnell: Nick
Als seien heute die Sorgen von damals      erhält ein Visum für Deutschland – zu-
wie weggewischt. „Es ist für mich wie      nächst gültig für drei Monate. Als er
ein Wunder, hier in Freiburg zu sein“,     in Lomé ins Flugzeug steigt, ahnt er
freut sich Nick Alou. Vor 26 Jahren        noch nicht, welche Freundlichkeit und
in der Kleinstadt Sotouboua geboren,       Hilfsbereitschaft er schon bei seiner
bekommt er bei seiner Taufe den Bein-      Ankunft in Frankfurt am Main erfah-
amen Nicaise. Es ist der Wunsch der        ren wird. Davon ist Nick Alou bis heu-
Eltern - angelehnt an einen Missionar      te tief bewegt: „Ich hätte das niemals
und Heiligen, der im 5. Jahrhundert        für möglich gehalten. Obwohl ich kein
in der Gegend von Reims (Frankreich)       Wort deutsch sprach, bekam ich alle
wirkte. Nach ihm nennt er sich heute       Unterstützung, die ich in dieser Situa-
Nick. Aufgewachsen mit zwei jüngeren       tion des Ankommens gebraucht habe.“
Schwestern, schließt er seine schuli-      In Freiburg kann er schnell Freund-
sche Laufbahn mit dem Baccalauréat         schaften knüpfen und fühlt sich gleich
(Abitur) ab. Es folgt ein Jurastudium      willkommen. Bei Freunden kann er
in der Hauptstadt Lomé. „Ich habe bald     auch – bis ein Platz in einem Studen-
gemerkt, dass ich in meiner Heimat         tenwohnheim frei wird - erst einmal
keine echte Perspektive haben würde“,      zur Zwischenmiete wohnen. Zuerst
erinnert sich Nick. „Eine bessere Zu-      aber muss ein Deutschkurs belegt wer-
kunft, die Unterstützung meiner Fa-        den, denn daran ist die Verlängerung
milie – das war mein großes Ziel. Die      des Visums gekoppelt. Nick, dessen
wenigsten hier können verstehen, wie       Heimatsprachen Kabyié und Franzö-          >>

vonWegen 3/16 – Thema: vertrieben                          Seite 13
#thema                   Eine bessere Zukunft
                  >>
                         sisch sind, fällt Deutsch zunächst alles    Die Familie ist glücklich
                         andere als leicht. Um sich finanziell       Im Internet entdeckt er dann die Seite
                         über Wasser halten zu können, muss er       der Evangelischen Stadtmission Frei-
                         in der Gastronomie schlecht bezahlte        burg und bewirbt sich im Wichernhaus
                         Gelegenheitsarbeiten annehmen. Mit          für ein Schnupper-Praktikum. Die Zu-
                                                                     sage für einen Ausbildungsplatz als Al-

              ““
                                                                     tenpfleger ab Anfang April 2016 findet
           Wenn Gott will,                                           Nick nach wie vor „einfach nur super“
    werde ich eines Tages nach                                       und strahlt vor Freude. „Jetzt will ich
       Togo zurückkehren.“                                           erst einmal die dreijährige Ausbildung
                                                                     abschließen – aber mit einer guten
                                                                     Note“, sagt er mit einem Augenzwin-
                                                                     kern. Und seine Familie in Togo? „Die
                            intensivem Lernen schafft der jun-       sind genauso glücklich wie ich. Über
                            ge Togolese nach zwei Jahren die         das Mobiltelefon, das ich nach Hause
                            Prüfung „Deutsch für Hochschul-          geschickt habe, sind wir mindestens
                            studiengang“. Das große Ziel, das        einmal in der Woche in Kontakt.“ Und
                            ihm die Tür zum Studium öffnet,          wenn es sein Konto zulässt, gibt es hin
                            scheint erreicht.                        und wieder auch eine kleine finanzi-
                            Nick ist überglücklich, als er sich      elle Unterstützung. Nick Alou kann
                             an der Hochschule in Furtwangen         sich gut vorstellen, nach Abschluss der
                             für den Studiengang „Allgemeine         Ausbildung noch ein Pflegestudium
Nick Alou                    Gesundheitswissenschaften“ ein-         anzuhängen. „Wenn Gott will, werde
Auszubildender im            schreiben kann. Doch der Freude         ich dann eines Tages wieder nach Togo
Wichernhaus                  folgt bald schon Ernüchterung:          zurückkehren“, plant er schon heute.
                             „Das Studium war dermaßen an-           „Ich bin überzeugt, dass ich mit mei-
                            spruchsvoll, dass ich überhaupt          nem Können bei den Menschen dort
                            nicht zurecht kam. Vor allem die         gebraucht werde.“ //
                            vielen Fachausdrücke in den Vorle-
                            sungen und Seminaren haben mich
                            komplett überfordert“, resümiert
                            Nick im Rückblick. Umso interes-
                            santer und ertragreicher sind für
                             ihn die Exkursionen, bei denen ei-
Siegbert Thoma               ner der Professoren die Studieren-
Heimleiter Wichernhaus       den durch Altenhilfeeinrichtungen
                             der Region führt. „Da ist in mir die
                             Entscheidung zur Altenpflegeaus-
                             bildung gereift“, erinnert sich Nick.

              Seite 14                                                           vonWegen 3/16 – Thema: vertrieben
#thema
©photocase.com – SickRick

                            Vom Baum gefallen?
                                        Arme Christen in Indien leben gefährlich

                                                                                                  >>
                            vonWegen 3/16 – Thema: vertrieben                      Seite 15
#thema          Vom Baum gefallen?
         >>
                Samjheera ist tot. Die 20 Jahre alte In-   fast täglich Berichte über Anschläge
                derin wurde im Dschungel in der Nähe       auf arme Christen im ganzen Land“,
                ihres Heimatdorfes Dumra ermordet          sagte Thomas gegenüber indischen
                gefunden. Christliche Freunde vermu-       Medien. Die US- amerikanische Or-
                ten, Samjheera wurde wegen ihrer Re-       ganisation „Persecution Relief“ unter-
                ligion umgebracht. Nach einer schwe-       stützt verfolgte Kirchen in Indien.
                ren Krankheit hatte sie vor zwei Jahren    Die grausigen Geschichten von Sam-
                zum christlichen Glauben gefunden. In      jheera und den drei Männern in Chhat-
                den Wochen vor ihrem Tod hatte sich        tisgarh werfen ein Schlaglicht auf die
                Samjheera auf ihre Taufe vorbereitet.      bedrohliche Situation von Christen in
                Die Polizei des indischen Bundessstaats    vielen Teilen Indiens. Christen werden
                Jharkhand hat nach Informationen           von radikalen Hindus diskriminiert
                der christlichen Organisation „Open        und geschlagen, ermordet oder zum
                Doors“ keine Ermittlungen eingeleitet.     Übertritt zum Hinduismus gezwungen.
                Ihr habe die Versicherung der Familie      Immer wieder gibt es sogar Berichte
                von Samjheera genügt, die junge Frau       über Zwangsverheiratungen christli-
                sei beim Obst pflücken vom Baum ge-        cher und muslimischer Mädchen mit
                fallen. Pastor Philip Tirkey hingegen      Hindus.
                ist überzeugt, dass Samjheera ermordet     Indien ist ein multireligiöses Land mit
                wurde – von ihrer Familie. „Die Familie    einer säkularen Verfassung. 80 Prozent
                hat ihr oft mit dem Tod gedroht, wenn      der 1,2 Milliarden Einwohner sind Hin-
                sie zum Christentum übertritt.“            dus, mehr als 13 Prozent Muslime, 2,3
                Der Student Umesh Patel, sein Vater        Prozent Christen. Zudem leben Sikhs,
                Sudhama Patel und Kiran Vishwa-            Buddhisten, Parsen und Anhänger des
                karma, ein Freund der Familie, liegen      Jainismus in Indien, das der Geburtsort
                schwer verletzt im Krankenhaus. Die        dieser Religionen wie auch des Hindu-
                drei Christen wurden Mitte Juli in         ismus ist.
                Kamarud im indischen Bundesstaat           Im Mai 2014 gewannen Narendra Modi
                Chhattisgarh von 50 radikalen Hindus       und seine Indische Volkspartei (Bha-
                brutal zusammengeschlagen.

                Organisierte Kampagne zur
                Vertreibung von Christen
                Tomson Thomas, Leiter der indischen
                Vertretung von Persecution Relief, ist
                davon überzeugt, dass der Anschlag
                auf die drei Männer Teil einer organi-
                sierten Kampagne zur Vertreibung von
                Christen aus Indien war. „Wir erhalten

     Seite 16                                                          vonWegen 3/16 – Thema: vertrieben
ratiya Janata Party, BJP) mit einem       kale Gewaltakte, die von einer indien-
Erdrutschsieg die Parlamentswahl in       weiten schrillen Hasskampagne beglei-
der größten Demokratie der Welt. Die      tet werden, die die Inder polarisieren
rechtskonservative BJP ist der politi-    und Minderheiten noch mehr margi-
sche Arm der Hindunationalisten. Er-      nalisieren soll“.
klärtes Ziel von Organisationen wie der   Christen waren auch schon vor dem
Nationalen Freiwilligenorganisation       Modi-Regime Diskriminierungen
(Rashtriya Swayamsevak Sangh, RSS)        ausgesetzt. Gut die Hälfte der rund
und Vishva Hindu Parishad (VHP) ist       25 Millionen indischen Christen ge-
ein rein hinduistisches Indien. Vor       hören zur Kaste der Dalit, ehemals
führenden Vertretern der BJP verkün-      „Unberührbare“ genannt. Offiziell
dete VHP-Chef Ashok Singhal im ver-       ist das Kastenwesen in Indien seit
gangenen Jahr: „Bis spätestens 2020 ist   Jahrzehnten abgeschafft. Soge-
Indien ein hinduistisches Land.“          nannte „scheduled casts“ wie die
                                          hinduistischen Dalit und die Stäm- Michael Lenz
Lokale Gewaltakte und                     me der indischen Ureinwohner ha- freier Korrespondent in
schrille Hasskampagne                     ben laut der indischen Verfassung Südostasien
Die Zahl der Übergriffe auf Chris-        Anspruch auf wirtschaftliche, sozi-
ten und Muslime ist in ganz Indien        ale und politische Förderprogram-
seit dem Regierungsantritt von Modi       me. Christliche und muslimische Dalit
sprunghaft angestiegen. Das belegen       aber nicht. „Wir fordern ein Ende dieser
Fallzahlen im globalen Religionsbe-       Ungerechtigkeit“, hieß es erst im März
richt des US-Außenministeriums wie        2016 in einer gemeinsamen Erklärung
auch der indischen Bürgerrechtsorga-      des Dachverbands der protestantischen
nisation ANHAD (Act Now for Harm-         Kirchen Indiens und der katholischen
ony and Democracy). Die Strategie der     Bischofskonferenz.
militanten Hindus habe sich geändert,     Präsident Modi gibt den Guten, der
heißt es in dem Report von ANHAD.         seit seinem Machtantritt ein über das
Statt auf spektakuläre Anschläge setz-    andere Mal Christen und Muslimen
ten die extremistischen Hindus jetzt      Sicherheit und Religionsfreiheit ver-
auf „sorgfältig geplante, intensive lo-   spricht. Eine Reihe seiner Minister aber
                                          hetzt offen gegen Christen und Mus-
                                          lime. Indiens Christen trauen jedoch
                                          Modi nicht über den Weg. Roger Gaik-
                                          wad, Generalsekretär des evangeli-
                                          schen „Nationalrat der Kirchen in Indi-
                                          en“ (NCCI) sagt: „Der Premierminister
                                          ist ein guter Redner, der alle möglichen
                                          Stellungnahmen und Versprechungen
                                          abgibt. Die Realität vor Ort sieht anders
                                          aus.“ //

vonWegen 3/16 – Thema: vertrieben                        Seite 17
#thema

    Messe sonntags,
                von 6 bis 10
                   Christliche Flüchtlinge aus Eritrea         Kostenübernahmen für Unterkünfte,
                                                               Krankenscheine. „Es waren eben vie-
                   leben ihren Glauben in Berlin
                                                               le Menschen“, sagen sie übereinstim-
                   „Ich mag an Deutschland, dass man           mend. Was den beiden schon damals
                   hier nett zu allen Menschen ist, Chris-     Halt gegeben hat: ihr Glaube. Dabei
                   ten, Juden, Moslems“, sagt Joy. Mar-        zeigen sie auf ihre Kreuze und die Bi-
                   kus, der neben ihr sitzt, nickt. Beide      beltexte auf ihren Handys.
                   kommen aus Eritrea und leben als            Wurden sie deswegen schon einmal
                   Flüchtlinge im Flüchtlingszentrum           angegangen? Nicht in der Unterkunft.
                   Mertensstraße, einer Notunterkunft          Sie erzählen aber davon, dass es Si-
                   für Flüchtlinge des Landes Berlin, be-      cherheitsmitarbeiter in einer Bank gab,
                   trieben von der Berliner Stadtmission.      wo sie das Gefühl hatten, die würden

            ““
                                                               sie als Christen nicht mögen. Zudem

                  Ihr Glaube gibt                              wundern sie sich, warum die Asylan-
                                                               träge vieler Flüchtlinge aus arabischen
                ihnen Heimat.“                                 Ländern schneller bearbeitet werden
                                                               und sie so lange warten müssen. „Wa­
                   Joy und Markus tragen ein Kreuz um          rum werden da nicht alle gleich behan-
                   den Hals. Sie sind orthodox; eritre­isch-   delt? Christen, Muslime?“ fragt Joy.
                   orthodox.                                   Auch Markus stellt sich diese Frage.
                   Seit Oktober leben sie in der Unterkunft    Für die Bearbeitung der Asylanträge
                   und haben die Hochzeiten des Chaos          ist das Bundesamt für Migration und
                   in der Berliner Flüchtlingsverwaltung       Flüchtlinge zuständig. Das BAMF hat
                   mitbekommen: hunderte Flüchtlinge,          zwar viele neue Entscheider einge-
                   die jeden Tag neu in Berlin ankommen,       stellt, um Asylanträge zu bearbeiten,
                   die zusammenbrechende Flüchtlings-          jedoch fehlt es oft an Übersetzern.
                   verwaltung, die tausenden ehrenamt-         Jeder Flüchtling hat das Anrecht auf
                   lichen Helfer.                              einen Übersetzer bei seiner Anhörung
                   „Auch wir haben stundenlang vorm            im BAMF, diese Anhörung entschei-
                   LAGeSo angestanden“, erinnert sich          det darüber, ob jemand als Flüchtling
                   Markus, Joy nickt: „das waren viele         anerkannt wird und in Deutschland
                   Tage und viel Warten.“ Oft vergebens,       bleiben darf oder nicht, ob die Person
                   dann hieß es am nächsten Tag wie-           zurück muss oder in ein anderes Land
                   der zu den Behörden, wieder in der          der Europäischen Union. Das BAMF
                   Schlange, erneut für die Registrierung,     hat nicht genügend Übersetzer für

     Seite 18                                                         vonWegen 3/16 – Thema: vertrieben
Sprachen wie Tigrinja. Daher dauert es,        Eritreer ihre Glaubensbrüder der Phi-
bis Flüchtlinge zu den Terminen einge-         lippus-Nathanael-Gemeinde, ob sie
laden werden können.                           denn die Räume nutzen dürften. Erst
So warten sie nun, doch sie nutzen ihre        war etwas Skepsis, doch die wich
Zeit, sie lernen Deutsch und besuchen          der Achtung über die Gottesfürch-
ihre Kirche. „Jeden Sonntag“, sagt             tigkeit der Eritreer. Die kommen
Markus. „Unser Gottesdienst beginnt            nicht nur aus Berlin, sondern auch
um 6 Uhr morgens und geht bis 10               aus Brandenburg und nehmen da-
Uhr“, erklärt Joy.                             für viele Stunden Anfahrt in Kauf.
Ortswechsel: Es ist Sonntag, zehn              Nach dem Gottesdienst reden die
vor sechs, Berlin Schöneberg, Ortsteil         Flüchtlinge, tauschen Tipps rund
Friedenau, evangelische Philippus-             um ihre Situation, aber auch Neu-
Na­thanael-Kirchengemeinde.      Men-          igkeiten aus. Mittlerweile hat sich
schen aus Eritrea trudeln ein und ge-          jedoch vieles geändert: Es kommen Mathias Hamann
hen gemeinsam in den Raum für den              statt hunderten nur noch 30 neue Leiter der Notunterkünfte
Gottesdienst. Die Frauen tragen ein            Flüchtlinge in Berlin an, die Ver- der Berliner Stadtmission
weißes Tuch, viele haben ihre Kinder           waltung hat neue Leute eingestellt
mitgebracht. Bei der Messe sitzen die          und kann die Fälle besser bearbei-
Männer links, die Frauen rechts. Vier          ten. Joy und Markus warten weiter
Stunden wird nun gesungen, gebetet,            auf die Bearbeitung ihrer Asylanträge.
aber vor allem geredet. Musgun Tue-            Ihre Zeit nutzen sie, um Deutsch zu
muzghi ist so etwas wie das Oberhaupt          lernen. Joy besucht darüber hinaus ei-
der Berliner Gemeinde. Er und seine            nen Gebetskreis und einen Chor. Beide
Priesterkollegen halten Ansprachen,            wünschen sich eine Wohnung, doch
legen die Bibel aus, erzählen Anekdo-          die in Berlin zu finden, ist schwer. Da
ten, immer wieder wird gelacht. Immer          hilft nur suchen und beten. „Der Glau-
wieder stehen Mitglieder der Gemeinde          be ist in unserem Herzen“, erklären Joy
im Publikum auf und stellen Fragen. In         und Markus. Er gibt ihnen Heimat in
Tigrinja, vier Stunden lang. „Uns geht         der neuen Heimat, die in vielem noch
es sehr um Dialog“, sagt Musgun Tue-           fremd ist und wo sie auf vieles noch
muzghi. Der Priester wurde schon als           warten müssen. Auf die Liebe Christi
kleiner Junge auf seine Tätigkeit als          muss keiner warten – die ist immer da. //
Gottesmann vorbereitet.
Die Gemeinde besteht seit rund an-
derthalb Jahren. Damals fragten die

                            Abkürzungen
                            ó  LAGeSo: Landesamt für Gesundheit und Soziales des Landes Berlin
                            ó  BAMF: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
                                                                                          >>

vonWegen 3/16 – Thema: vertrieben                              Seite 19
#thema
©photocase.com –funnyworld

   Keine Lebensperspektive     in Osteuropa
                                Die Geschichte der Übersiedelung von Peter und Eva Maria Schachinger
                                Nach dem Zweiten Weltkrieg litten viele     en oder in der Ukraine. Über Jahrhunderte
                                deutschstämmige Menschen in den kom-        hinweg lebten sie als deutsche Volksgrup-
                                munistisch regierten Ostblockländern        pen in diesen osteuropäischen Ländern, sie
                                unter großen Repressalien. Sie lebten als   waren geachtet und geschätzt als Teil der
                                Nachfahren von deutschen Einwanderern       jeweiligen Gesellschaften.
                                in Russland, Kasachstan, Polen, Rumäni-

                             Seite 20                                                      vonWegen 3/16 – Thema: vertrieben
Enteignung und Zwangsarbeit               Wir Siebenbürger Sachsen verloren
Dies änderte sich schlagartig mit dem     nach und nach unser gesamtes Eigen-
Erstarken des Kommunismus und vor         tum. Alles wurde beschlagnahmt. In die
allem nach dem 2. Weltkrieg. Das Ei-      Evangelische Kirche, zu der wir gehör-
gentum der deutschstämmigen Bür-          ten, konnten wir nur heimlich gehen.
ger wurde in allen osteuropäischen        Wir wurden systematisch unterdrückt,
Ländern enteignet, ihre Freiheit er-      diffamiert und unselbständig gemacht.
heblich eingeschränkt und viele wur-

                                                 ““
den zu Zwangsarbeit nach Russland
rekrutiert. Demzufolge sind seit 1950               „Wir wurden systema-
fast 4,5 Mio. Menschen, sogenannte             tisch unterdrückt, diffamiert
Spätaussiedler, nach Deutschland ge-           und unselbständig gemacht.“
kommen, um sich hier eine neue Exis-
tenz aufzubauen. Auch Peter und Eva
Maria Schachinger aus Siebenbürgen
in Rumänien gingen diesen Weg und         Unser Leben wurde immer schwieriger
kamen 1981 mit ihren beiden Söhnen        und belastender, es war nicht mehr
nach Freiburg.                            lebenswert. So entschlossen wir uns,
Herr Schachinger, Sie waren am Ende       unsere Heimat zu verlassen und nach
des Krieges ein Teenager. Wie war die     Deutschland zu gehen. Unsere Aussie-
Situation damals in Rumänien?             delung kostete uns 50.000 Mark. Wir
Mein Vater war Bankdirektor, ein an-      konnten uns das Geld von Verwandten
gesehener Mann in Hermannstadt. Er        in Deutschland leihen. 1981 kamen wir
wurde nach dem Krieg von den Russen       mit unseren beiden jugendlichen Söh-
aus seinem Amt gejagt. Ohne Verdienst     nen in Freiburg an.
musste er die Familie ernähren. Damit
wir etwas zu essen hatten, verkaufte er   Vom Ingenieur zum Kirchendiener
den ganzen Familienschmuck. Vor und       Wie ging Ihr Leben in Deutschland wei-
während des Krieges gingen wir auf        ter?
deutsche Schulen. Da diese geschlos-      Ich war 50 Jahre alt, als wir nach
sen wurden, mussten wir dann auf ru-      Deutschland kamen. In einem Inte­
mänische Schulen gehen. Meine Frau        grierungskurs für Akademiker muss-
und ich konnten dennoch eine gute         te ich schmerzhaft erkennen, dass
Ausbildung machen. Meine Frau auf         ich meinen Beruf als Ingenieur zur
dem Musikkonservatorium, sie wurde        Entbuschung und Optimierung von
Pianistin und Konzertpädagogin, und       Weiden und Wiesen hier nicht aus-
ich wurde auf einer technischen Mit-      üben konnte. Über den Organisten
telschule zum Vermessungsingenieur        der Pauluskirche erfuhren wir, dass
ausgebildet. Beide konnten wir auch in    dort ein neuer Kirchendiener gesucht
unseren Berufen arbeiten.                 wurde. Ich bewarb mich und bekam
Wie hat sich die Situation in Rumänien    die Arbeitsstelle. Dafür war ich dank-
weiterentwickelt?                         bar, dennoch musste ich akzeptieren,     >>

vonWegen 3/16 – Thema: vertrieben                        Seite 21
#thema              Keine Lebensperspektive in Osteuropa
             >>
                        fortan diese vergleichsweise einfache    che zwar den badischen Dialekt nicht,
                        Arbeit zu machen. Glücklicherweise       aber Freiburg ist meine Heimat. Der
                        konnte meine Frau wieder als Klavier-    Kontakt mit Schwester Inge Kimmerle
                              lehrerin arbeiten.                 hat mir zudem ganz neue Perspektiven
                              Was war besonders schwierig in     eröffnet. Mit ihr zusammen im S`Ein-
                              Deutschland?                       lädele und der Ukraine-Hilfe zu ar-
                              Die Anpassung an das deutsche      beiten, aktive Nächstenliebe zu üben,
                              Leben und die Umsetzung der        das hat mich richtig ausgefüllt und
                              deutschen Werte war besonders      beschenkt.
                              schwierig. Wir sind zwar deutsch   Pflegen Sie noch Kontakt nach Sieben-
                              erzogen worden, haben aber im      bürgen?
                              Lauf der Jahre auch rumänische     Ja, wir gehen regelmäßig zu Treffen
                               Eigenarten angenommen. Zum        der Landsmannschaft und pflegen na-
 Peter Schachinger             Beispiel konnte man in Rumäni-    türlich Freundschaften mit anderen
 Vermessungsingenieur i.R.     en durch Tricks und Bestechung    Siebenbürger Sachsen. Außerdem be-
                               vieles bekommen - das war ein     obachte ich auch die Entwicklung in
                               normales, übliches Verhalten.     Rumänien. Ein Wunder ist für mich,
                               Wir merkten hier in Deutschland   dass mit Klaus Johannis ein Siebenbür-
                        sehr schnell, dass man in ein schiefes   ger Sachse Präsident geworden ist. Mit
                        Licht gerät, wenn man jemand für eine    dem Vater von Klaus Johannis bin ich
                        Gefälligkeit Geld geben wollte.          zur Schule gegangen. Er ist ebenfalls
                        Empfinden Sie Freiburg inzwischen als    nach Deutschland übergesiedelt und
                        Heimat?                                  wir sprechen uns regelmäßig.
                        Ja, ich stamme aus Siebenbürgen, aber    Was würden Sie Migranten raten, die
                        ich bin inzwischen Badener. Ich spre-    jetzt nach Deutschland kommen?
                                                                 Schaut euch das deutsche Grundgesetz
                                                                 an und versucht, daran die Werte und
                                                                 die Art wie Deutsche in ihrem Land
                                                                 leben, zu erkennen. Und ganz wichtig:
                                                                 Lernt unbedingt Deutsch. //

                                                                 Das Interview führte Esther
                                                                 Seeger-Straub, Vorstandsas-
                                                                 sistentin der Evangelischen
                                                                 Stadtmission Freiburg

         Seite 22                                                           vonWegen 3/16 – Thema: vertrieben
#thema

Freundschaften
				schließen

Wie kann Integration gelingen?
Allein im vergangenen Jahr sind zwi-      sche Arbeit, über das „Begreifen“. Nur
schen 800.000 und eine Million Men-       im Kontakt mit Deutschen können sie
schen in unser Land gekommen. Diese       lernen, sich verständlich zu machen,
Menschen kommen aus den verschie-         und da sind wir als Ehrenamtliche ge-
densten Ländern und Kulturen. Sie sind    fordert. Viel leichter lernen Kinder in
aus Kriegsgebieten geflohen, haben in     Kindergarten und Schule, und nach
ihren Herkunftsländern politische Ver-    wenigen Jahren beherrschen sie das
folgungen erlebt oder aufgrund ihrer      Deutsche gut genug, um dem normalen
Volkszugehörigkeit Diskriminierung        Unterricht zu folgen. Sie übernehmen
und bittere Armut erfahren. Und sie       oft in den Familien Dolmetscherfunk-
verpflichten unsere Gesellschaft, sich    tionen. Da ihre Eltern aber häufig nicht
mit ihnen auseinanderzusetzen, Ge-        den Anforderungen an die Sprachkom-
meinsamkeiten festzustellen und Un-       petenz genügen, sind ihre Bleibechan-
terschiede zu benennen.                   cen sehr schlecht.
Über die Hälfte der Ankommenden           Die deutsche Wirtschaft sucht in vie-
erhält ein längerfristiges Bleiberecht.   len Bereichen dringend Arbeitskräf-
Man möchte, dass sie Teil unserer         te und erhofft sich durch die Neuan-
Gesellschaft werden. Eine Vorausset-      kömmlinge kompetente Mitarbeiter.
zung dafür ist, dass sie unsere Spra-     Wenn ausreichend Sprachkenntnisse
che erlernen, denn diese zu kennen,       vorhanden sind, werden Praktika und
ist notwendig, um Kontakte mit der        Ausbildungsplätze angeboten. Auch
Mehrheitsgesellschaft knüpfen und         werden berufliche Abschlüsse aus dem
beruflich einsteigen zu können. Sie       Heimatland leichter anerkannt und es
werden verpflichtet, an Sprachkursen      gibt Fortbildungen. Die Arbeitsagen-
teilzunehmen, eine Voraussetzung für      tur hat inzwischen eigene Mitarbeiter,
ihre Eingliederung. Die Sprache zu        die sich nur um die Arbeit suchenden
erlernen, fällt den Menschen leichter,    Migranten kümmern. Und trotzdem ist
die in ihrem Heimatland die Schule        es ein dorniger Weg. Je nach Vorkennt-
besucht haben und bereits Erfahrung       nissen und Sprachkompetenz dauert es
mit einer Fremdsprache hatten. Sehr       längere Zeit, oft mehrere Jahre, bis ein
viel schwieriger ist es für Menschen,     Flüchtling unabhängig von staatlicher
die Analphabeten sind. Ihr Zugang         Unterstützung leben kann.
zur Sprache erfolgt eher über prakti-                                                >>

vonWegen 3/16 – Thema: vertrieben                        Seite 23
#thema                Freundschaften schließen
               >>
                                           rischen Regimen, sind zuweilen auch
Enge Wohnverhältnisse                      gefangen in kulturellen und religiösen
Freiburg musste in kurzer Zeit über        Vorstellungen, die sich nicht mit unse-
3.000 Menschen aufnehmen und               ren Werten vereinbaren lassen. Diese
konnte diese nur in schnell errichteten    aktiv zu vermitteln, ist für uns alle
Wohnheimen unterbringen, weil an-          eine wichtige Aufgabe.
gesichts der großen

                          ““
Wohnungsnot viel zu
wenige Wohnungen                 Auch in Wohnheimen lassen sich
zur Verfügung ste-                Kontakte knüpfen, um die
hen. In einem Wohn-                   Menschen aus ihrer
heim gibt es wenig
Kontakt zur deut-
                                     Isolierung zu holen.“
schen Bevölkerung, und es bedeutet,        Gemeinsamkeiten
oft jahrelang in engen Wohnverhält-        zwischen den Religionen
nissen zu leben. Die Wohneinheiten         Die meisten Flüchtlinge kommen aus
sind dicht belegt, es gibt viel Unruhe     muslimischen Ländern. Der Islam ist
und kaum Rückzugsmöglichkeiten. El-        eine dem Christen- und Judentum
tern müssen oft mit ihren heranwach-       verwandte Religion. Das Bild, das bei
senden Kindern einen Raum teilen, und      uns infolge der schrecklichen Attentate
die Schulkinder kommen zumeist viel        und Kriegsgräuel vom Islam gezeichnet
zu spät ins Bett, was sich auf die schu-   wird, entspricht nicht dem Glauben der
lische Leistung auswirkt. Andererseits     Mehrheit der Muslime. Leider versu-
ist es für eine gelingende Integration     chen radikale Kräfte aus Saudi-Arabi-
von höchster Bedeutung, dass die zu-       en und anderen Ländern (Wahhabiten,
gewanderten Menschen Wohnungen in          Salafisten), den Islam auch bei uns im-
der Nachbarschaft zu Einheimischen         mer mehr in ihrem Sinne zu beein-
beziehen und Kontakte zu diesen auf-       flussen. Hier ist der Staat gefragt,
bauen können. Aber auch in Wohn-           der nicht dulden darf, dass diese
heimen lassen sich Kontakte knüpfen        Länder aktiv, d. h. durch radikale
und Freundschaften schließen, um die       Prediger und die Finanzierung von
Menschen aus der Isolierung zu holen.      Moscheen, Einfluss auf die hiesi-
                                           gen Muslime gewinnen. Uns damit
Werte aktiv vermitteln                     auseinanderzusetzen, als Christen
Wir leben in einer freiheitlichen Ge-      Gespräche mit Muslimen und an-
sellschaft, geregelt durch das Grundge-    deren Glaubensgemeinschaften zu Gisela Maass
setz, das u. a. die Gleichberechtigung     führen, ist deshalb von großer Be- engagiert sich seit 25
zwischen Mann und Frau, Religions-         deutung. Es gibt mehr Gemeinsam- Jahren ehrenamtlich
und Meinungsfreiheit garantiert. Die       keiten zwischen den Religionen, als im Asylhelferkreis des
Flüchtlinge kommen oft aus diktato-        uns dies zumeist bewusst ist. //        Wohnheims St. Christoph

           Seite 24                                                           vonWegen 3/16 – Thema: vertrieben
#thema

                                                                                                              ©photocase.com – boing
            Warteschleifen im

Bürokratiedschungel
             Auf engem Raum in kurzer Zeit möglichst          Straßenkindern verbrachte, machte ihr
             vielen Menschen zu helfen – so lässt sich        klar: „Ich will Menschen aus anderen Kul-
             die Aufgabe von Laura Hirsch knapp zu-           turen kennenlernen und unterstützen.“
             sammenfassen. Die 27-Jährige ist eine von        Der Wunsch zu helfen ist ihr geblieben, aber:
             vier Sozialberaterinnen der Evangelischen        „Ich hatte nicht erwartet, dass ich so unter
             Stadtmission in der städtischen Flücht-          Druck stehen werde und immer gegen die
             lingsunterkunft in der Wiesentalstraße.          Zeit arbeiten muss, während andererseits der
             Seit fast einem Jahr arbeitet sie jetzt in der   bürokratische Apparat sehr langsam läuft.“
             Flüchtlingshilfe. Dass ihr die Beratungs-        Die ersten Monate seien besonders heftig ge-
             arbeit liegt, hatte sie schon während ihres      wesen, weil das gerade erst gebildete Bera-
             Praxissemesters gemerkt, das sie zum Teil        terteam gleich für sehr viele Menschen auf
             beim Jugendmigrationsdienst absolvierte.         einmal die grundlegenden Bedürfnisse regeln
             Der zweite Teil, den sie in Südafrika mit        musste.

vonWegen 3/16 – Thema: vertrieben                              Seite 25
                                                                                                         >>
#thema                Warteschleifen im Bürokratiedschungel
               >>

Wenig Privatsphäre                          teilzeitbeschäftigt und wechseln sich bei der Beratung ab.
Inzwischen habe sich die Situation etwas    Dadurch ist das Büro der Sozialbetreuung montags bis frei-
beruhigt, dafür tauchten andere Proble-     tags von 9 - 18 Uhr besetzt. „Theoretisch haben wir zweimal
me auf. „Die Unterkunft ist für 180 Men-    am Tag eine allgemeine Sprechzeit, in der sich die Bewoh-
schen gedacht, es leben aber 250 hier.      ner Termine für die Einzelberatung holen sollen. Aber in der
Anfangs gab es wenigstens noch abge-        Praxis füllt sich der Warteraum, sobald unsere Tür offen
grenzte Wohngruppen, die durch Türen        ist“, berichtet Laura Hirsch. Die Zuständigkeiten haben sich
getrennt waren. Die wurden jetzt aus        die Beraterinnen als „Fallmanager“ aufgeteilt. Das bedeutet,
Gründen des Brandschutzes entfernt.
In den größeren Wohneinheiten gibt es
für die Einzelnen noch weniger Privat-
sphäre und dadurch mehr Konflikte.“
Alltagsstreitigkeiten vermischten sich
                                              ““     Ein Großteil der Flüchtlinge
                                                      will sich integrieren.“
dann mit unterschiedlichen kulturellen      dass jede von ihnen für bestimmte Personen oder Familien
und religiösen Hintergründen. Trotzdem      zuständig ist, für die sie dann rundum alles regelt. „Jede von
bleibe es in der Unterkunft relativ ruhig   uns muss alles machen und können.“
im Vergleich mit anderen Wohnheimen
in Freiburg.                                Frust und Enttäuschung
Wenn ein „Neuzugang“ bei ihr oder ei-       Viele Flüchtlinge sind enttäuscht von Deutschland und frus-
ner ihrer Kolleginnen zum Erstgespräch      triert über die langen Wartezeiten. „Sie hatten sich vorge-
vorbeikommt, muss eine Reihe von Din-       stellt, dass sie schnell eine Wohnung finden, arbeiten und
gen geklärt und beantragt werden. „Wir      ihre Familie nachholen können; dann warten sie monatelang
ermitteln zuerst den Bedarf: Müssen         auf Termine. Das Verfahren für den Familiennachzug kann
staatliche Leistungen beantragt wer-        sich über Jahre hinziehen; so lange sind sie von ihren Part-
den? Gibt es schon ein Bankkonto? Sind      nern und Kindern getrennt.“ Als Blitzableiter für den Frust
Krankheiten zu behandeln? Bei Kindern       der Bewohner müssen die Beraterinnen aber nur selten her-
klären wir, wo sie zur Schule oder in den   halten. „Die Menschen verstehen, dass wir ihnen helfen wol-
Kindergarten gehen können“, zählt Lau-      len und bringen uns große Dankbarkeit entgegen. Manche
ra Hirsch auf. Außerdem gibt sie einen      laden uns zum Tee ein oder bringen uns Essen vorbei.“
Überblick über den Stadtteil, die nächs-    Für sie selbst ist das Frustpotenzial ebenfalls groß, vor allem
ten Einkaufsmöglichkeiten, Ärzte und        wegen der „bürokratischen Vorschriften“ und des Personal-
vieles mehr. Auch wenn alle grundle-        schlüssels, der für die Beratung jedes Einzelnen zu wenig
genden Dinge geregelt sind, kommen die      Zeit lässt. Trotz der zeitlichen Knappheit baue man zu vielen
Bewohner immer wieder zur Beratung,         Geflüchteten eine Beziehung auf. „Man kämpft sich ja ge-
und das Team der Flüchtlingshilfe ist in    meinsam durch den Bürokratiedschungel.“ Erzählen ihr die
vielen Fällen der Ansprechpartner für       Flüchtlinge auch persönliche Dinge, sprechen sie über ihre
Behörden, Schulen und Kitas.                Kriegs- und Fluchterfahrungen? „Manche erzählen davon.
Die vier Mitarbeiterinnen sind alle

           Seite 26                                                           vonWegen 3/16 – Thema: vertrieben
Sie können auch lesen