VonWegen - vertrieben - Evangelische Stadtmission Freiburg e.V.
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
3|16 | E 9313 von Wegen Evangelische Stadtmission Freiburg e.V. vertrieben www.stadtmission-freiburg.de
Editorial Fremden Heimat geben Kein Thema hat uns im vergangenen Jahr mehr bewegt als Flüchtlinge ohne Wenn und Aber zu der nicht enden wollende Strom von flüchtenden Menschen schützen: „Die Fremdlinge sollst du Richtung Europa. Fast 1,1 Millionen Flüchtlinge wurden allei- nicht bedrängen und bedrücken; denn ne in Deutschland registriert, annähernd 480.000 stellten einen ihr seid auch Fremdlinge in Ägypten- Asylantrag. Rund 36 Prozent kamen aus dem bürgerkriegs- land gewesen.“ (2. Mose 22,20) geschüttelten Syrien. Dabei ist Krieg nur ein Grund, warum Menschen ihre Heimat verlassen und in einem fremden Land Respektvolles Miteinander wagen Schutz suchen. Auch Terrorismus, Unterdrückung, materielle Das ist ganz sicher eine große Heraus- Not, Diskriminierung und Klimaveränderungen treiben Men- forderung für unsere Gesellschaft und schen in die Flucht. für uns Christen. Es macht Mut zu se- hen, wie viele Menschen in Deutschland Fremde erzeugen Bedrohungsangst die ankommenden Flüchtlinge herzlich Nicht wenige im Lande reagieren auf den Strom der vielen begrüßt und eine beeindruckende Will- Flüchtlinge mit Bedrohungsängsten, die insbesondere von kommenskultur gelebt haben. Viele offi- den IS-Terroranschlägen verstärkt werden. Diese Angst muss zielle und ehrenamtliche Initiativen zei- ernstgenommen werden, weil das Ignorieren nur weitere ge- gen, dass es gelingen kann, den fremden sellschaftliche Probleme erzeugt. Der Migrationsforscher Dr. Menschen offen zu begegnen und erste Marcel Berlinghoff meint, dass jede Migrationswelle Unsicher- Schritte zu einem respektvollen Mitein- heit und Ängste hervorruft. „Migration fand in der Mensch- ander zu wagen. Auch die Stadtmission heitsgeschichte schon immer statt. Auch in Europa war ständig Freiburg hat letzten Herbst die soziale alles im Fluss.“ Er ist sogar überzeugt: „Wenn Gesellschaften Betreuung einer Flüchtlingsunterkunft statisch bleiben, gehen sie zugrunde. Gesellschaften leben übernommen. Eine Aufgabe, der wir uns durch Austausch.“ bewusst gestellt haben, da sie originär zu Stadtmissionsarbeit gehört. So freue Fremde nicht bedrängen ich mich, dass auch wir einen kleinen Auch die Bibel ist voll von Menschen auf der Flucht, denken Beitrag dazu leisten, dass Fremde bei wir an die Erzählungen von Josef und seinen Brüdern oder von uns ein Stück Heimat finden. König David; selbst Jesus, kaum geboren, musste mit seinen Eltern fliehen. Der Glaube an den einen Gott, der aus Gefan- genschaft und Unterdrückung befreit und der in Bedrängnis, Flucht und Heimatlosigkeit beisteht, wird zur zentralen Glau- bensaussage des jüdischen wie des christlichen Glaubens. Angesichts dieser biblischen Aussagen begründet die EKD in einem aktuellen Dossier damit auch die ethische Forderung, Ewald Dengler Vorstand der Evangelischen Stadtmission Freiburg e.V. vonWegen 3/16 – Thema: vertrieben Seite 2
Geistliches Wort Ins Gelobte Land Die Geschichte Israels zwischen Flucht und Vertreibung In den zirka 2000 Jahre umfassenden bibli- Ägypten. Ähnliches erlebt sein Sohn Isaak, schen Erzählungen stehen zumeist einzelne der wegen einer Hungersnot zu den Philis- Personen mit ihrer Lebens- und Glaubensge- tern flüchtet. Abrahams Enkel Jakob verlässt schichte im Mittelpunkt. Über die wechsel- zweimal seine Heimat. Zunächst flieht er vor volle politische Geschichte im Land Kanaan seinem Bruder Esau in das Gebiet seiner Vor- erfährt man eher nebenbei etwas. Gelegen fahren. Später erlebt er in Kanaan eine Hun- zwischen der Großmacht Ägypten im Süd- gersnot. Erst schickt er einige seiner Söhne westen und sich abwechselnden Großmäch- nach Ägypten, um Lebensmittel zu kaufen. ten im Nordosten hing die Lebenssituation Letztlich bleibt dann die ganze Familie in der Menschen auf der syro-palästinensischen Ägypten. Nach einiger Zeit kippt die politi- Landbrücke hauptsächlich von den sie um- sche Stimmung gegenüber den Israeliten und gebenden Großmächten ab. Wenn man beim es kommt zum berühmten Auszug aus Ägyp- Und dann noch ein Lead, zwo, drei, vier Lesen der Bibel genauer auf Flucht und Ver- ten, einer Massenflucht von Sklaven. Ange- In den zirka treibung achtet, 2000dann Jahrestellt man fest, bibli- umfassenden dass führt erfährtwerden sie von man eher Mose, der nebenbei einstGelegen etwas. wegen dies schen einErzählungen durchgehendes Thema stehen ist. einzelne zumeist Totschlags zwischen dervor Großmacht der ägyptischen Justizimfliehen Ägypten Süd- Personen mit ihrer Lebens- und Glaubensge- musste bei einem westen und sich midianitischen abwechselnden Großmäch-Clan ©photocase.com – en.joy.it Hungersnot statt MilchÜber schichte im Mittelpunkt. unddie Honig wechsel- neue Heimatapero ten. Solor gefunden hatte. omnit re aut diti utenis Die volleHaupterzählung der Bibel politische Geschichte beginnt im Land mit Kanaan Auch eseceroKönig cum David waret,einoccum volecum Flüchtling. fugia Umve- Abrahams Reise ins Gelobte Land. Aber dort vor Saul sicher zu sein, floh David zu den ist leider nicht alles Milch und Honig. Eine Philistern, den Todfeinden der Israeliten. Hungersnot kommt und Abraham flieht nach Interessant ist auch die Geschichte der Noo- Seite 4 vonWegen 3/16 – Thema: vertrieben
mi, Ehefrau eines Mannes aus Bethle- hier wird von Flucht erzählt: Josef und hem. Sie waren vor einer Hungersnot Maria, die Richtung Ägypten fliehen, nach Moab geflohen. Leider endete die um Jesus vor dem Zugriff Herodes‘ zu Flucht tragisch, Söhne und Ehemann beschützen. Oder Christen, wegen ihres verstarben, nur Noomi und ihre moab- Glaubens verfolgt, die durch ihre Flucht itische Schwiegertochter Rut blieben üb- den Glauben in die Welt hinaustrugen. ““ rig. Noomi möchte lieber in der Heimat als in der Fremde sterben und macht Flucht ist in der sich auf den Heimweg. Rut begleitet sie mit den gerne von Ehepaaren zitierten Bibel allgegenwärtig.“ Worten: „Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe Nicht mehr im Neuen Testament ent- ich auch.“ (Rut 1,16b; Lu84). halten, aber kurz danach geschehen: die radikale Vertreibung der Israeliten durch Ausländerin in Jesu Stammbaum die Römer. Eine Vertreibung, die bis ins Diese treue Schwiegertochter ist nicht 20. Jahrhundert hinein andauerte. nur Namensgeberin eines biblischen Flucht ist in der Bibel also allgegenwär- Buches, sondern wird auch ausdrücklich tig. Sie berührt alle wesentlichen Erzähl- vom Matthäusevangelium im Stamm- stränge, sie betrifft sogar Jesus. Solange baum Jesu aufgezählt - eine von we- Menschen es nicht schaffen, in Frieden nigen Frauen, die darin mit Namen miteinander zu leben, solange Naturka- erwähnt werden. Es gibt also Nichtisrae- tastrophen und Misswirtschaft ihr Leben liten im Stammbaum des Messias. gefährden, wird es Flucht geben. Sie be- Einige Zeit später kommt das nächste gro- trifft alle Völker, sie kann jeden treffen. ße Ereignis der israelitischen Geschichte: Auch die, die sich in Sicherheit wähnen die Babylonier erobern Jerusalem, der und misstrauisch die Fremden beobach- Tempel wird zerstört und tausende Isra- ten, die zu ihnen geflüchtet sind. Und eliten werden nach Babylon deportiert. weil sie alle Menschen treffen kann, Letzten Endes wird ein großer Teil der weil so gut wie jeder unter seinen Vor- Bevölkerung wieder ins Gelobte Land zu- fahren Flüchtlinge hat, formuliert das 3. rückkehren, aber die Zeit in der Fremde Buch Mose den Umgang mit diesen wird einen nachhaltigen Eindruck auf den Menschen so: „Wenn ein Fremdling Glauben der Israeliten haben. Später, zur bei euch wohnt in eurem Lande, den Zeit Jesu, findet man in allen größeren sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei Handelsstädten des römischen Reiches euch wohnen wie ein Einheimischer und darüber hinaus jüdische Gemein- unter euch, und du sollst ihn lieben den. Viele dieser Gemeinden könnten wie dich selbst; denn ihr seid auch sicherlich ihre großen und kleinen Ge- Fremdlinge gewesen in Ägypten- schichten von Flucht, Vertreibung und land. Ich bin der HERR, euer Gott.“ Suche nach Lebensraum erzählen. (3. Mose 19, 33f) Was könnte man Ralf Berger Das Neue Testament umfasst nur einen dem noch hinzufügen? // Pfarrer der Gemeinde kurzen Zeitraum, ca. 70 Jahre, aber auch dreisam3 vonWegen 3/16 – Thema: vertrieben Seite 5
#thema Millionen Menschen auf der Flucht Die weltweite Migration in Zahlen ge. 20 Millionen Flüchtlinge verlie- ßen ihre Heimatländer aufgrund von Im Jahr 2015 waren nach Angaben kriegerischen Auseinandersetzungen. des Flüchtlingshilfswerks der Verein- Hauptherkunftsländer waren Syrien ten Nationen UNHCR weltweit 65,3 (4,9 Millionen), Afghanistan (2,7 Milli- Millionen Menschen gewaltsam ver- onen) und Somalia (1,1 Millionen). trieben als Ergebnis von Verfolgung, 86% der Flüchtlinge fanden Aufnahme Konflikten, Gewalt oder Menschen- in benachbarten Ländern. Besonders rechtsverletzungen. Die größte Gruppe betroffen waren die Nachbarländer bildeten mit 40,8 Millionen Menschen Syriens. Der kleine Libanon nahm die die Binnenflüchtlinge - also Menschen, größte Anzahl von Flüchtlingen im die innerhalb ihres Heimatlandes ver- Verhältnis zur eigenen Bevölkerung trieben wurden. Weitere 21,3 Millionen auf: 183 Flüchtlinge auf 1.000 Ein- waren anerkannte Flüchtlinge, denen wohner. Jordanien (87 pro 1.000) lag gemäß internationaler Abkommen auf dem 2. Rang. In absoluten Zahlen Schutz gewährt wurde. 3,2 Millionen gesehen nahm die Türkei die meisten waren Asylsuchende, die noch auf den Flüchtlinge auf (2,5 Millionen), gefolgt Ausgang ihres Asylverfahrens war- von Pakistan (1,6 Millionen) und dem teten. Kinder unter 18 Jahren stellten Libanon (1,1 Millionen). 2015 rund die Hälfte der Flüchtlin- Nach Angaben des Europäischen Sta- ©photocase.com – petzi Seite 6 vonWegen 3/16 – Thema: vertrieben
tistikamts (Eurostat) wurden 2015 in ge. Im ersten Halbjahr 2016 waren es bereits rund 388.000 den 28 Staaten der Europäischen Uni- Anträge; 44 % der Antragsteller stammten aus Syrien. Ne- on rund 1,3 Millionen Asylanträge ben den Asylanträgen veröffentlicht das Bundesinnenminis- gestellt, die meisten davon (477.000) terium auch die Zahl der Schutzsuchenden, die im EASY-Re- in Deutschland. Es folgten Ungarn mit gistrierungssystem (eine vom Bundesamt für Migration und 177.000 und Schweden mit 163.000 Flüchtlinge betriebene IT-Anwendung zur Erstverteilung Anträgen. von Asylbewerbern auf die einzelnen Bundesländer) erfasst Die Reihenfolge ändert sich, wenn sind. Grund dafür ist, dass viele Flüchtlinge nach ihrer An- man die Zahlen im Verhältnis zur Grö- kunft in Deutschland nicht zeitnah ihren Asylantrag stel- ße der Bevölkerung betrachtet. Dann len können. Insgesamt wurden im EASY-System im Jahr rückt Deutschland mit seinen 81 Mil- 2015 rund 1,1 Millionen und im ersten Halbjahr 2016 rund lionen Einwohnern im europäischen 222.200 Zugänge von Asylsuchenden registriert. Bei den Vergleich auf Platz sechs (mit rund 5 EASY-Zahlen sind Fehl- und Doppelerfassungen nicht aus- Asylbewerbern auf 1.000 Einwohner). geschlossen. Hauptherkunftsländer waren Syrien, Die Schutzquote, d. h. der Anteil von anerkannten Asylan- Irak und Afghanistan. trägen, unterscheidet sich sehr stark, je nach Herkunftsland. Rund die Hälfte aller Asylanträge in Bei Syrern lag die Anerkennungsquote zuletzt bei mehr als der Europäischen Union (51 Prozent) 98 %, bei Albanern dagegen nur bei 0,4 %. wurde positiv beantwortet. In 74 Pro- 2015 wurden in Deutschland rund 91.000 Asylanträge ab- zent dieser Fälle wurde ein Flücht- gelehnt, im ersten Halbjahr 2016 waren es ca. 70.400. Ab- lingsstatus nach der Genfer Flücht- geschoben wurden 2015 rund 20.000 Menschen. Etwa lingskonvention gewährt. Rund eine 37.000 Menschen haben das Land „freiwillig“ im Rahmen Million Antragsteller warteten Ende der Hilfsprogramme „REAG“ (Reintegration and Emigration 2015 in der gesamten EU noch auf eine Programme for Asylum Seekers in Germany) und „GARP“ Entscheidung über ihren Asylantrag, (Government Assisted Repatriation Programme), die Perso- davon etwa 420.000 in Deutschland. nen bei der freiwilligen Rückkehr ins Herkunftsland oder 2015 stellten rund 477.000 Asylsuchen- der Weiterwanderung in einen aufnahmebereiten Staat un- de einen Asylantrag in Deutschland, terstützen, verlassen. Es gibt zudem weitere Rückkehrförde- davon waren rund 442.000 Erstanträ- rungs-Programme für einzelne Länder (u. a. Kosovo, Arme- nien und den Irak). // Quellen: > unhcr.de/service/zahlen-und-statistiken > bamf.de/DE/Infothek/Statistiken/Asylzahlen/asylzahlen > bpb.de/politik/innenpolitik/flucht > mediendienst-integration.de/migration/flucht-asyl > destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/MigrationIntegration/MigrationIntegration vonWegen 3/16 – Thema: vertrieben Seite 7
#thema So weit weg wie möglich Die Fluchtgeschichte eines Christen aus Nigeria Als Pastor einer afrikanischen Gemeinde Essen. Durch diese Entscheidung sind viele in Freiburg beschäftige ich mich mit vie- Kinder zu Vergewaltigungsopfern gewor- len Flüchtlingen, die in unsere Gemeinde den. Viele fliehen in Nachbarländer, aber ©photocase.com – Jasmine_K kommen. Ihre Flucht- und Vertreibungsge- dort ist die Situation nicht viel besser. schichten sind sehr berührend, einige ha- ben in ihrem jungen Alter viele grausame Sie riskieren ihr Leben Dinge erlebt - Krieg, Völkermord, Verge- Deswegen müssen sie alles riskieren, um waltigung, Hungersnot und Krankheiten. nach Europa zu kommen. Viele kommen Viele verlassen ihre Heimat ohne Geld und über das Meer, dabei riskieren sie ihr Leben. Seite 8 vonWegen 3/16 – Thema: vertrieben
Viele Boote, die sie nutzen, sind über- Flucht mit dem Boot füllt, viele Familien mit Kindern müssen Sie sind nach Libyen geflohen mit ih- mehre Tagen ohne Essen auskommen. ren kleinen Ersparnissen. Dort hatten Es ist bemerkenswert, dass viele ihren sie keine Arbeitserlaubnis, sie muss- Glauben an Gott nicht verloren haben. ten betteln, um zu essen. Alles, was er Im Gegenteil: ihr Glaube ist stärker ge- dort erlebte, war so schlimm, dass er worden. Wie König David sagte: „Ich um mein Verständnis bat, ob er das für hebe meine Augen auf zu den Bergen, sich behalten darf. Nach neun Monaten von welchen mir Hilfe kommt“ (Psalm in Libyen hatte er die Möglichkeit, mit 121, 1). Viele Christen können Gott nur dem Boot nach Italien zu kommen. Er vertrauen, dass er sie nicht im Stich las- musste die Chance ergreifen trotz des sen wird. Dieser Glaube ist so stark, dass Risikos. Unglücklicherweise stirbt sein „obwohl sie schon wanderten im finste- einziger Bruder im Meer, er ist vom ren Tal, fürchten sie kein Unglück“ (vgl. Boot ins Wasser gefallen und konnte Psalm 23,4). nicht mehr wiederbelebt werden. Bis ““ Eine Geschichte von einem Flüchtling in unserer Gemeinde werde ich mit seiner Erlaubnis erzählen: Zion John ist ein Wenn man von der 23-jähriger nigerianischer Asylbewerber eigenen Familie verjagt in Freiburg. Als er vor einem Jahr zu wird, ist man verloren.“ uns in die Gemeinde kam, hatte er zwei Selbstmordversuche hinter sich. Ich war heute erzählt Zion diese Geschichte mit ihm dreimal bei der Ambulanz-Sta- unter Tränen und gibt sich immer die tion des Psychiatrischen Krankenhauses Schuld, warum sein Bruder starb. Er in Emmendingen, wo er intensive ärztli- sagte zu mir: „Wenn man von der ei- che Behandlung bekam. genen Familie und Bekannten verjagt Bevor Zion John nach Deutschland kam, wird, ist man verloren.“ war er glücklich zuhause in Edo State, Nigeria, bis sein Vater starb. Als der äl- Gott wird ihn nicht teste Sohn seines Vaters musste er des- im Stich lassen sen Amt als Voodoo-Priester überneh- In Deutschland fühlt er sich mitt- men. Das wollte er nicht, weil er Christ lerweile viel besser. Seine ärztliche ist, und er wollte seinen Glauben nicht Behandlung verläuft sehr gut, die teilen. Dann kamen die Dorfältesten zu Gemeinde tut ihm auch sehr gut. ihm und drohten ihm mit Unglück und Er wartet immer noch auf seine Verfolgung. Als er sich weiter weigerte, Asylantrags-Entscheidung, aber er das Amt zu übernehmen, wurde die Dro- ist überzeugt, dass Gott, der ihn Emmanuel Rich hung intensiver. Er musste mit seinem so weit gebracht hat, ihn nicht im Pfarrer der Destined jüngeren Bruder fliehen, weil der fürch- Stich lassen wird. // Winners Church Freiburg tete, die Dorfältesten könnten auch zu ihm kommen. Sie mussten so weit weg wie möglich fliehen. vonWegen 3/16 – Thema: vertrieben Seite 9
#thema Von Deutschland nach Amerika Warum wanderten Millionen Unter den Auswanderern überwogen landwirtschaftliche Kleinstellenbesit- Deutsche im 19. Jahrhundert aus? zer und Pächter. In den Herkunftsge- Die Zahlen sind spektakulär: Im 19. Jahrhundert verließen bieten boten sich für sie relativ wenige 55 bis 60 Millionen Europäer den Kontinent und siedelten Erwerbschancen angesichts der Stag- sich vor allem in den Amerikas, aber auch in Asien, Afrika nation des Erwerbsangebots bei zeit- und Australien an. Deutsche Auswanderer hatten daran mit gleich sehr starkem Bevölkerungszu- 6 Millionen keinen geringen Anteil. Sie gingen weit über- wachs. Die Auswanderung allerdings wiegend, nämlich zu 90 Prozent, in die USA. Hochphasen ausschließlich als Flucht aus der öko- mit jeweils mehr als einer Million Auswanderern bildeten nomisch-sozialen Krise zu verstehen die Jahre 1846-1857 und 1864-1873. In der letzten großen und den Blick nur auf deren Erschei- Auswanderungsphase 1880-1893 folgten dann noch einmal nungsformen im Herkunftsraum zu 1,8 Millionen Deutsche. Die in Deutschland geborene Bevöl- richten, greift zu kurz; denn obgleich kerung der USA stellte 1820-1860 mit rund 30 Prozent nach ein Großteil der Bevölkerung am Ran- den Iren die zweitstärkste, 1861-1890 sogar die stärkste Ein- de – und zeitweilig auch unterhalb des wanderergruppe. Existenzminimums – lebte, erfasste ““ Zentral für die Entwicklung eines individuellen Migrationsprojekts ist die Vorstellung, andernorts bessere Chancen zu haben.“ Herkunftsräume und Sozialstruktur die Auswanderungsbewegung letztlich Der wichtigste Herkunftsraum war zunächst und bis in die Mit- nur einen geringen Teil der Menschen. te des 19. Jahrhunderts der deutsche Südwesten. Neben die ba- dischen, württembergischen und pfälzischen Gebiete trat seit Motive der Migration den späten 1820er Jahren Nordwestdeutschland. Einen letzten und Netzwerke regionalen Schwerpunkt fand die deutsche Massenauswande- Ein zentraler Hintergrund für die Ent- rung bei weiterhin starken Anteilen des Süd- und Nordwes- wicklung eines individuellen Migrati- tens im Nordostraum des Reiches. In den gutswirtschaftlich onsprojekts ist die Vorstellung, andern geprägten Gebieten Mecklenburgs und Brandenburgs setzte orts bessere Chancen zu haben. Um die Massenauswanderung in den späten 1840er und frühen diese und die Risiken einer Bewegung 1850er Jahren ein und damit zwei bis drei Jahrzehnte später über große Distanzen einschätzen zu als im Süd- und Nordwesten. In Pommern, Westpreußen und können, bedarf es vertrauenswürdiger Posen begann sie sogar noch ein Jahrzehnt später. Informationen aus den (potentiellen) Seite 10 vonWegen 3/16 – Thema: vertrieben
Zielgebieten. Sie werden im Rahmen Vordergrund; das galt für Oppositi- von durch Verwandtschaft und Be- onelle des Vormärz und Aktivisten kanntschaft konstituierten Netzwerken der Revolution von 1848/49 oder vermittelt. Kann auf ein solches Netz- für Sozialdemokraten, die wegen werk nicht zurückgegriffen werden, ist des Bismarckschen Anti-Sozialis- eine Migration unwahrscheinlich – zu- tengesetzes 1878-1890 ins Aus- mal dann, wenn sie mit hohen finan- land auswichen. Die Tatsache, dass ziellen, mentalen und sozialen Kosten nur wenige Tausend Auswanderer sowie großen Risiken verbunden ist. hauptsächlich politisch motiviert Netzwerke motivierten und struktu- waren, sollte aber nicht darüber Dr. phil. habil. rierten räumliche Bevölkerungsbewe- hinwegtäuschen, dass diese Grup- Jochen Oltmer gungen mithin weitreichend. Je län- pe häufig kommunal, regional und Apl. Professor für Neueste ger und je intensiver sie überseeische landesweit wichtige politische und Geschichte und Mitglied Wanderungstraditionen prägten, desto kulturelle Aufgaben als „ethnic des Vorstands des Instituts stärker etablierte sich eine Eigendyna- leader“ bzw. Identitätsmanager für für Migrationsforschung mik im Wanderungsgeschehen: In den die deutsch-amerikanische Bevöl- und Interkulturelle Studien Herkunftsregionen waren auch Jahre kerung wahrnahm: im deutschen (IMIS) der Universität und Jahrzehnte nach dem Einsetzen Vereinswesen, in den kirchlichen Osnabrück der transatlantischen Massenmigrati- Institutionen, in den politischen Par- on weiterhin starke überseeische Aus- teien oder im blühenden deutschen wanderungen zu beobachten, obwohl Zeitungswesen. die soziale und wirtschaftliche Krise Die erheblich vermehrten wirtschaft- der ersten Abwanderungsphase längst lichen Chancen, die Hochindustriali- nicht mehr bestand. sierung und Agrarmodernisierung in Deutschland boten, waren schließlich Politische Flüchtlinge wurden der wesentliche Faktor für das Auslau- „ethnic leaders“ fen der überseeischen Massenauswan- Die Erschließung oder Verbesserung derung. Der starke Rückgang wurde wirtschaftlicher Chancen als dominie- beschleunigt durch die harte wirtschaft- rendes Wanderungsmotiv verband sich liche Krise in den USA 1890-1896 mit nicht selten mit politischen und religi- ihrem Höhepunkt 1893. Dieses Jahr ös-konfessionellen Motiven. Sie standen markierte das Ende starker Auswande- im 19. Jahrhundert aber nur bei einem rung aus Deutschland vor dem Ersten sehr kleinen Teil der Auswanderer im Weltkrieg. // Weiterführende Informationen: + Zur Person: imis.uni-osnabrueck.de/oltmer_jochen/zur_person/profil > Beiträge des Autors zur Geschichte und Gegenwart der Migration (Auswahl): (Hg.), Handbuch Staat und Migration in Deutschland vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Berlin/Boston 2016 Globale Migration. Geschichte und Gegenwart, 2. Aufl. München 2016; Migration vom 19. bis zum 21. Jahrhun- dert, Berlin/Boston 2016 vonWegen 3/16 – Thema: vertrieben Seite 11
#thema ©photocase.com – misterQM Eine bessere Zukunft Nick Alou aus Togo wird im Wichernhaus zum Altenpfleger ausgebildet Seite 12 vonWegen 3/16 – Thema: vertrieben
Es werden Schritte ins Ungewisse sein, groß die Armut und die Not in Togo ist. #thema das weiß er. Die Heimat verlassen, die Es verlässt doch keiner sein Heimat- Menschen, die man liebt – Eltern, Ge- land ohne Grund.“ Den maßgeblichen schwister, Freunde. Aufbruch in einen Impuls bekommt Nick von seinem Va- anderen Kontinent, in ein fremdes ter. Der war in jungen Jahren für einige Land. Ein anderes Klima, eine fremde Zeit in Freiburg und hatte dort wert- Kultur und eine unbekannte Sprache. volle Lebenserfahrungen gesammelt. Was wird ihn dort erwarten? Wie wer- So kann er auch seinem Sohn Mut ma- den ihm die Menschen begegnen? Wird chen, neue Schritte zu wagen – auch er eine Arbeit bekommen, um leben zu wenn sie zunächst vielleicht ins Unge- können? Wo wird er wohnen? Unzäh- wisse führen. lige Fragen - und genauso viele Sorgen. ““ Mindestens. Und trotzdem will er diese Schritte wagen, einfach nur weg aus Es verlässt doch keiner seiner Heimat in Togo in Westafrika. sein Heimatland ohne Grund.“ Keine Perspektive in der Heimat Vier Jahre ist das jetzt her. Nick Alou hebt die Hände und lacht. Es ist ein be- freiendes, ein sympathisches Lachen. Dann geht alles ziemlich schnell: Nick Als seien heute die Sorgen von damals erhält ein Visum für Deutschland – zu- wie weggewischt. „Es ist für mich wie nächst gültig für drei Monate. Als er ein Wunder, hier in Freiburg zu sein“, in Lomé ins Flugzeug steigt, ahnt er freut sich Nick Alou. Vor 26 Jahren noch nicht, welche Freundlichkeit und in der Kleinstadt Sotouboua geboren, Hilfsbereitschaft er schon bei seiner bekommt er bei seiner Taufe den Bein- Ankunft in Frankfurt am Main erfah- amen Nicaise. Es ist der Wunsch der ren wird. Davon ist Nick Alou bis heu- Eltern - angelehnt an einen Missionar te tief bewegt: „Ich hätte das niemals und Heiligen, der im 5. Jahrhundert für möglich gehalten. Obwohl ich kein in der Gegend von Reims (Frankreich) Wort deutsch sprach, bekam ich alle wirkte. Nach ihm nennt er sich heute Unterstützung, die ich in dieser Situa- Nick. Aufgewachsen mit zwei jüngeren tion des Ankommens gebraucht habe.“ Schwestern, schließt er seine schuli- In Freiburg kann er schnell Freund- sche Laufbahn mit dem Baccalauréat schaften knüpfen und fühlt sich gleich (Abitur) ab. Es folgt ein Jurastudium willkommen. Bei Freunden kann er in der Hauptstadt Lomé. „Ich habe bald auch – bis ein Platz in einem Studen- gemerkt, dass ich in meiner Heimat tenwohnheim frei wird - erst einmal keine echte Perspektive haben würde“, zur Zwischenmiete wohnen. Zuerst erinnert sich Nick. „Eine bessere Zu- aber muss ein Deutschkurs belegt wer- kunft, die Unterstützung meiner Fa- den, denn daran ist die Verlängerung milie – das war mein großes Ziel. Die des Visums gekoppelt. Nick, dessen wenigsten hier können verstehen, wie Heimatsprachen Kabyié und Franzö- >> vonWegen 3/16 – Thema: vertrieben Seite 13
#thema Eine bessere Zukunft >> sisch sind, fällt Deutsch zunächst alles Die Familie ist glücklich andere als leicht. Um sich finanziell Im Internet entdeckt er dann die Seite über Wasser halten zu können, muss er der Evangelischen Stadtmission Frei- in der Gastronomie schlecht bezahlte burg und bewirbt sich im Wichernhaus Gelegenheitsarbeiten annehmen. Mit für ein Schnupper-Praktikum. Die Zu- sage für einen Ausbildungsplatz als Al- ““ tenpfleger ab Anfang April 2016 findet Wenn Gott will, Nick nach wie vor „einfach nur super“ werde ich eines Tages nach und strahlt vor Freude. „Jetzt will ich Togo zurückkehren.“ erst einmal die dreijährige Ausbildung abschließen – aber mit einer guten Note“, sagt er mit einem Augenzwin- kern. Und seine Familie in Togo? „Die intensivem Lernen schafft der jun- sind genauso glücklich wie ich. Über ge Togolese nach zwei Jahren die das Mobiltelefon, das ich nach Hause Prüfung „Deutsch für Hochschul- geschickt habe, sind wir mindestens studiengang“. Das große Ziel, das einmal in der Woche in Kontakt.“ Und ihm die Tür zum Studium öffnet, wenn es sein Konto zulässt, gibt es hin scheint erreicht. und wieder auch eine kleine finanzi- Nick ist überglücklich, als er sich elle Unterstützung. Nick Alou kann an der Hochschule in Furtwangen sich gut vorstellen, nach Abschluss der für den Studiengang „Allgemeine Ausbildung noch ein Pflegestudium Nick Alou Gesundheitswissenschaften“ ein- anzuhängen. „Wenn Gott will, werde Auszubildender im schreiben kann. Doch der Freude ich dann eines Tages wieder nach Togo Wichernhaus folgt bald schon Ernüchterung: zurückkehren“, plant er schon heute. „Das Studium war dermaßen an- „Ich bin überzeugt, dass ich mit mei- spruchsvoll, dass ich überhaupt nem Können bei den Menschen dort nicht zurecht kam. Vor allem die gebraucht werde.“ // vielen Fachausdrücke in den Vorle- sungen und Seminaren haben mich komplett überfordert“, resümiert Nick im Rückblick. Umso interes- santer und ertragreicher sind für ihn die Exkursionen, bei denen ei- Siegbert Thoma ner der Professoren die Studieren- Heimleiter Wichernhaus den durch Altenhilfeeinrichtungen der Region führt. „Da ist in mir die Entscheidung zur Altenpflegeaus- bildung gereift“, erinnert sich Nick. Seite 14 vonWegen 3/16 – Thema: vertrieben
#thema ©photocase.com – SickRick Vom Baum gefallen? Arme Christen in Indien leben gefährlich >> vonWegen 3/16 – Thema: vertrieben Seite 15
#thema Vom Baum gefallen? >> Samjheera ist tot. Die 20 Jahre alte In- fast täglich Berichte über Anschläge derin wurde im Dschungel in der Nähe auf arme Christen im ganzen Land“, ihres Heimatdorfes Dumra ermordet sagte Thomas gegenüber indischen gefunden. Christliche Freunde vermu- Medien. Die US- amerikanische Or- ten, Samjheera wurde wegen ihrer Re- ganisation „Persecution Relief“ unter- ligion umgebracht. Nach einer schwe- stützt verfolgte Kirchen in Indien. ren Krankheit hatte sie vor zwei Jahren Die grausigen Geschichten von Sam- zum christlichen Glauben gefunden. In jheera und den drei Männern in Chhat- den Wochen vor ihrem Tod hatte sich tisgarh werfen ein Schlaglicht auf die Samjheera auf ihre Taufe vorbereitet. bedrohliche Situation von Christen in Die Polizei des indischen Bundessstaats vielen Teilen Indiens. Christen werden Jharkhand hat nach Informationen von radikalen Hindus diskriminiert der christlichen Organisation „Open und geschlagen, ermordet oder zum Doors“ keine Ermittlungen eingeleitet. Übertritt zum Hinduismus gezwungen. Ihr habe die Versicherung der Familie Immer wieder gibt es sogar Berichte von Samjheera genügt, die junge Frau über Zwangsverheiratungen christli- sei beim Obst pflücken vom Baum ge- cher und muslimischer Mädchen mit fallen. Pastor Philip Tirkey hingegen Hindus. ist überzeugt, dass Samjheera ermordet Indien ist ein multireligiöses Land mit wurde – von ihrer Familie. „Die Familie einer säkularen Verfassung. 80 Prozent hat ihr oft mit dem Tod gedroht, wenn der 1,2 Milliarden Einwohner sind Hin- sie zum Christentum übertritt.“ dus, mehr als 13 Prozent Muslime, 2,3 Der Student Umesh Patel, sein Vater Prozent Christen. Zudem leben Sikhs, Sudhama Patel und Kiran Vishwa- Buddhisten, Parsen und Anhänger des karma, ein Freund der Familie, liegen Jainismus in Indien, das der Geburtsort schwer verletzt im Krankenhaus. Die dieser Religionen wie auch des Hindu- drei Christen wurden Mitte Juli in ismus ist. Kamarud im indischen Bundesstaat Im Mai 2014 gewannen Narendra Modi Chhattisgarh von 50 radikalen Hindus und seine Indische Volkspartei (Bha- brutal zusammengeschlagen. Organisierte Kampagne zur Vertreibung von Christen Tomson Thomas, Leiter der indischen Vertretung von Persecution Relief, ist davon überzeugt, dass der Anschlag auf die drei Männer Teil einer organi- sierten Kampagne zur Vertreibung von Christen aus Indien war. „Wir erhalten Seite 16 vonWegen 3/16 – Thema: vertrieben
ratiya Janata Party, BJP) mit einem kale Gewaltakte, die von einer indien- Erdrutschsieg die Parlamentswahl in weiten schrillen Hasskampagne beglei- der größten Demokratie der Welt. Die tet werden, die die Inder polarisieren rechtskonservative BJP ist der politi- und Minderheiten noch mehr margi- sche Arm der Hindunationalisten. Er- nalisieren soll“. klärtes Ziel von Organisationen wie der Christen waren auch schon vor dem Nationalen Freiwilligenorganisation Modi-Regime Diskriminierungen (Rashtriya Swayamsevak Sangh, RSS) ausgesetzt. Gut die Hälfte der rund und Vishva Hindu Parishad (VHP) ist 25 Millionen indischen Christen ge- ein rein hinduistisches Indien. Vor hören zur Kaste der Dalit, ehemals führenden Vertretern der BJP verkün- „Unberührbare“ genannt. Offiziell dete VHP-Chef Ashok Singhal im ver- ist das Kastenwesen in Indien seit gangenen Jahr: „Bis spätestens 2020 ist Jahrzehnten abgeschafft. Soge- Indien ein hinduistisches Land.“ nannte „scheduled casts“ wie die hinduistischen Dalit und die Stäm- Michael Lenz Lokale Gewaltakte und me der indischen Ureinwohner ha- freier Korrespondent in schrille Hasskampagne ben laut der indischen Verfassung Südostasien Die Zahl der Übergriffe auf Chris- Anspruch auf wirtschaftliche, sozi- ten und Muslime ist in ganz Indien ale und politische Förderprogram- seit dem Regierungsantritt von Modi me. Christliche und muslimische Dalit sprunghaft angestiegen. Das belegen aber nicht. „Wir fordern ein Ende dieser Fallzahlen im globalen Religionsbe- Ungerechtigkeit“, hieß es erst im März richt des US-Außenministeriums wie 2016 in einer gemeinsamen Erklärung auch der indischen Bürgerrechtsorga- des Dachverbands der protestantischen nisation ANHAD (Act Now for Harm- Kirchen Indiens und der katholischen ony and Democracy). Die Strategie der Bischofskonferenz. militanten Hindus habe sich geändert, Präsident Modi gibt den Guten, der heißt es in dem Report von ANHAD. seit seinem Machtantritt ein über das Statt auf spektakuläre Anschläge setz- andere Mal Christen und Muslimen ten die extremistischen Hindus jetzt Sicherheit und Religionsfreiheit ver- auf „sorgfältig geplante, intensive lo- spricht. Eine Reihe seiner Minister aber hetzt offen gegen Christen und Mus- lime. Indiens Christen trauen jedoch Modi nicht über den Weg. Roger Gaik- wad, Generalsekretär des evangeli- schen „Nationalrat der Kirchen in Indi- en“ (NCCI) sagt: „Der Premierminister ist ein guter Redner, der alle möglichen Stellungnahmen und Versprechungen abgibt. Die Realität vor Ort sieht anders aus.“ // vonWegen 3/16 – Thema: vertrieben Seite 17
#thema Messe sonntags, von 6 bis 10 Christliche Flüchtlinge aus Eritrea Kostenübernahmen für Unterkünfte, Krankenscheine. „Es waren eben vie- leben ihren Glauben in Berlin le Menschen“, sagen sie übereinstim- „Ich mag an Deutschland, dass man mend. Was den beiden schon damals hier nett zu allen Menschen ist, Chris- Halt gegeben hat: ihr Glaube. Dabei ten, Juden, Moslems“, sagt Joy. Mar- zeigen sie auf ihre Kreuze und die Bi- kus, der neben ihr sitzt, nickt. Beide beltexte auf ihren Handys. kommen aus Eritrea und leben als Wurden sie deswegen schon einmal Flüchtlinge im Flüchtlingszentrum angegangen? Nicht in der Unterkunft. Mertensstraße, einer Notunterkunft Sie erzählen aber davon, dass es Si- für Flüchtlinge des Landes Berlin, be- cherheitsmitarbeiter in einer Bank gab, trieben von der Berliner Stadtmission. wo sie das Gefühl hatten, die würden ““ sie als Christen nicht mögen. Zudem Ihr Glaube gibt wundern sie sich, warum die Asylan- träge vieler Flüchtlinge aus arabischen ihnen Heimat.“ Ländern schneller bearbeitet werden und sie so lange warten müssen. „Wa Joy und Markus tragen ein Kreuz um rum werden da nicht alle gleich behan- den Hals. Sie sind orthodox; eritreisch- delt? Christen, Muslime?“ fragt Joy. orthodox. Auch Markus stellt sich diese Frage. Seit Oktober leben sie in der Unterkunft Für die Bearbeitung der Asylanträge und haben die Hochzeiten des Chaos ist das Bundesamt für Migration und in der Berliner Flüchtlingsverwaltung Flüchtlinge zuständig. Das BAMF hat mitbekommen: hunderte Flüchtlinge, zwar viele neue Entscheider einge- die jeden Tag neu in Berlin ankommen, stellt, um Asylanträge zu bearbeiten, die zusammenbrechende Flüchtlings- jedoch fehlt es oft an Übersetzern. verwaltung, die tausenden ehrenamt- Jeder Flüchtling hat das Anrecht auf lichen Helfer. einen Übersetzer bei seiner Anhörung „Auch wir haben stundenlang vorm im BAMF, diese Anhörung entschei- LAGeSo angestanden“, erinnert sich det darüber, ob jemand als Flüchtling Markus, Joy nickt: „das waren viele anerkannt wird und in Deutschland Tage und viel Warten.“ Oft vergebens, bleiben darf oder nicht, ob die Person dann hieß es am nächsten Tag wie- zurück muss oder in ein anderes Land der zu den Behörden, wieder in der der Europäischen Union. Das BAMF Schlange, erneut für die Registrierung, hat nicht genügend Übersetzer für Seite 18 vonWegen 3/16 – Thema: vertrieben
Sprachen wie Tigrinja. Daher dauert es, Eritreer ihre Glaubensbrüder der Phi- bis Flüchtlinge zu den Terminen einge- lippus-Nathanael-Gemeinde, ob sie laden werden können. denn die Räume nutzen dürften. Erst So warten sie nun, doch sie nutzen ihre war etwas Skepsis, doch die wich Zeit, sie lernen Deutsch und besuchen der Achtung über die Gottesfürch- ihre Kirche. „Jeden Sonntag“, sagt tigkeit der Eritreer. Die kommen Markus. „Unser Gottesdienst beginnt nicht nur aus Berlin, sondern auch um 6 Uhr morgens und geht bis 10 aus Brandenburg und nehmen da- Uhr“, erklärt Joy. für viele Stunden Anfahrt in Kauf. Ortswechsel: Es ist Sonntag, zehn Nach dem Gottesdienst reden die vor sechs, Berlin Schöneberg, Ortsteil Flüchtlinge, tauschen Tipps rund Friedenau, evangelische Philippus- um ihre Situation, aber auch Neu- Nathanael-Kirchengemeinde. Men- igkeiten aus. Mittlerweile hat sich schen aus Eritrea trudeln ein und ge- jedoch vieles geändert: Es kommen Mathias Hamann hen gemeinsam in den Raum für den statt hunderten nur noch 30 neue Leiter der Notunterkünfte Gottesdienst. Die Frauen tragen ein Flüchtlinge in Berlin an, die Ver- der Berliner Stadtmission weißes Tuch, viele haben ihre Kinder waltung hat neue Leute eingestellt mitgebracht. Bei der Messe sitzen die und kann die Fälle besser bearbei- Männer links, die Frauen rechts. Vier ten. Joy und Markus warten weiter Stunden wird nun gesungen, gebetet, auf die Bearbeitung ihrer Asylanträge. aber vor allem geredet. Musgun Tue- Ihre Zeit nutzen sie, um Deutsch zu muzghi ist so etwas wie das Oberhaupt lernen. Joy besucht darüber hinaus ei- der Berliner Gemeinde. Er und seine nen Gebetskreis und einen Chor. Beide Priesterkollegen halten Ansprachen, wünschen sich eine Wohnung, doch legen die Bibel aus, erzählen Anekdo- die in Berlin zu finden, ist schwer. Da ten, immer wieder wird gelacht. Immer hilft nur suchen und beten. „Der Glau- wieder stehen Mitglieder der Gemeinde be ist in unserem Herzen“, erklären Joy im Publikum auf und stellen Fragen. In und Markus. Er gibt ihnen Heimat in Tigrinja, vier Stunden lang. „Uns geht der neuen Heimat, die in vielem noch es sehr um Dialog“, sagt Musgun Tue- fremd ist und wo sie auf vieles noch muzghi. Der Priester wurde schon als warten müssen. Auf die Liebe Christi kleiner Junge auf seine Tätigkeit als muss keiner warten – die ist immer da. // Gottesmann vorbereitet. Die Gemeinde besteht seit rund an- derthalb Jahren. Damals fragten die Abkürzungen ó LAGeSo: Landesamt für Gesundheit und Soziales des Landes Berlin ó BAMF: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge >> vonWegen 3/16 – Thema: vertrieben Seite 19
#thema ©photocase.com –funnyworld Keine Lebensperspektive in Osteuropa Die Geschichte der Übersiedelung von Peter und Eva Maria Schachinger Nach dem Zweiten Weltkrieg litten viele en oder in der Ukraine. Über Jahrhunderte deutschstämmige Menschen in den kom- hinweg lebten sie als deutsche Volksgrup- munistisch regierten Ostblockländern pen in diesen osteuropäischen Ländern, sie unter großen Repressalien. Sie lebten als waren geachtet und geschätzt als Teil der Nachfahren von deutschen Einwanderern jeweiligen Gesellschaften. in Russland, Kasachstan, Polen, Rumäni- Seite 20 vonWegen 3/16 – Thema: vertrieben
Enteignung und Zwangsarbeit Wir Siebenbürger Sachsen verloren Dies änderte sich schlagartig mit dem nach und nach unser gesamtes Eigen- Erstarken des Kommunismus und vor tum. Alles wurde beschlagnahmt. In die allem nach dem 2. Weltkrieg. Das Ei- Evangelische Kirche, zu der wir gehör- gentum der deutschstämmigen Bür- ten, konnten wir nur heimlich gehen. ger wurde in allen osteuropäischen Wir wurden systematisch unterdrückt, Ländern enteignet, ihre Freiheit er- diffamiert und unselbständig gemacht. heblich eingeschränkt und viele wur- ““ den zu Zwangsarbeit nach Russland rekrutiert. Demzufolge sind seit 1950 „Wir wurden systema- fast 4,5 Mio. Menschen, sogenannte tisch unterdrückt, diffamiert Spätaussiedler, nach Deutschland ge- und unselbständig gemacht.“ kommen, um sich hier eine neue Exis- tenz aufzubauen. Auch Peter und Eva Maria Schachinger aus Siebenbürgen in Rumänien gingen diesen Weg und Unser Leben wurde immer schwieriger kamen 1981 mit ihren beiden Söhnen und belastender, es war nicht mehr nach Freiburg. lebenswert. So entschlossen wir uns, Herr Schachinger, Sie waren am Ende unsere Heimat zu verlassen und nach des Krieges ein Teenager. Wie war die Deutschland zu gehen. Unsere Aussie- Situation damals in Rumänien? delung kostete uns 50.000 Mark. Wir Mein Vater war Bankdirektor, ein an- konnten uns das Geld von Verwandten gesehener Mann in Hermannstadt. Er in Deutschland leihen. 1981 kamen wir wurde nach dem Krieg von den Russen mit unseren beiden jugendlichen Söh- aus seinem Amt gejagt. Ohne Verdienst nen in Freiburg an. musste er die Familie ernähren. Damit wir etwas zu essen hatten, verkaufte er Vom Ingenieur zum Kirchendiener den ganzen Familienschmuck. Vor und Wie ging Ihr Leben in Deutschland wei- während des Krieges gingen wir auf ter? deutsche Schulen. Da diese geschlos- Ich war 50 Jahre alt, als wir nach sen wurden, mussten wir dann auf ru- Deutschland kamen. In einem Inte mänische Schulen gehen. Meine Frau grierungskurs für Akademiker muss- und ich konnten dennoch eine gute te ich schmerzhaft erkennen, dass Ausbildung machen. Meine Frau auf ich meinen Beruf als Ingenieur zur dem Musikkonservatorium, sie wurde Entbuschung und Optimierung von Pianistin und Konzertpädagogin, und Weiden und Wiesen hier nicht aus- ich wurde auf einer technischen Mit- üben konnte. Über den Organisten telschule zum Vermessungsingenieur der Pauluskirche erfuhren wir, dass ausgebildet. Beide konnten wir auch in dort ein neuer Kirchendiener gesucht unseren Berufen arbeiten. wurde. Ich bewarb mich und bekam Wie hat sich die Situation in Rumänien die Arbeitsstelle. Dafür war ich dank- weiterentwickelt? bar, dennoch musste ich akzeptieren, >> vonWegen 3/16 – Thema: vertrieben Seite 21
#thema Keine Lebensperspektive in Osteuropa >> fortan diese vergleichsweise einfache che zwar den badischen Dialekt nicht, Arbeit zu machen. Glücklicherweise aber Freiburg ist meine Heimat. Der konnte meine Frau wieder als Klavier- Kontakt mit Schwester Inge Kimmerle lehrerin arbeiten. hat mir zudem ganz neue Perspektiven Was war besonders schwierig in eröffnet. Mit ihr zusammen im S`Ein- Deutschland? lädele und der Ukraine-Hilfe zu ar- Die Anpassung an das deutsche beiten, aktive Nächstenliebe zu üben, Leben und die Umsetzung der das hat mich richtig ausgefüllt und deutschen Werte war besonders beschenkt. schwierig. Wir sind zwar deutsch Pflegen Sie noch Kontakt nach Sieben- erzogen worden, haben aber im bürgen? Lauf der Jahre auch rumänische Ja, wir gehen regelmäßig zu Treffen Eigenarten angenommen. Zum der Landsmannschaft und pflegen na- Peter Schachinger Beispiel konnte man in Rumäni- türlich Freundschaften mit anderen Vermessungsingenieur i.R. en durch Tricks und Bestechung Siebenbürger Sachsen. Außerdem be- vieles bekommen - das war ein obachte ich auch die Entwicklung in normales, übliches Verhalten. Rumänien. Ein Wunder ist für mich, Wir merkten hier in Deutschland dass mit Klaus Johannis ein Siebenbür- sehr schnell, dass man in ein schiefes ger Sachse Präsident geworden ist. Mit Licht gerät, wenn man jemand für eine dem Vater von Klaus Johannis bin ich Gefälligkeit Geld geben wollte. zur Schule gegangen. Er ist ebenfalls Empfinden Sie Freiburg inzwischen als nach Deutschland übergesiedelt und Heimat? wir sprechen uns regelmäßig. Ja, ich stamme aus Siebenbürgen, aber Was würden Sie Migranten raten, die ich bin inzwischen Badener. Ich spre- jetzt nach Deutschland kommen? Schaut euch das deutsche Grundgesetz an und versucht, daran die Werte und die Art wie Deutsche in ihrem Land leben, zu erkennen. Und ganz wichtig: Lernt unbedingt Deutsch. // Das Interview führte Esther Seeger-Straub, Vorstandsas- sistentin der Evangelischen Stadtmission Freiburg Seite 22 vonWegen 3/16 – Thema: vertrieben
#thema Freundschaften schließen Wie kann Integration gelingen? Allein im vergangenen Jahr sind zwi- sche Arbeit, über das „Begreifen“. Nur schen 800.000 und eine Million Men- im Kontakt mit Deutschen können sie schen in unser Land gekommen. Diese lernen, sich verständlich zu machen, Menschen kommen aus den verschie- und da sind wir als Ehrenamtliche ge- densten Ländern und Kulturen. Sie sind fordert. Viel leichter lernen Kinder in aus Kriegsgebieten geflohen, haben in Kindergarten und Schule, und nach ihren Herkunftsländern politische Ver- wenigen Jahren beherrschen sie das folgungen erlebt oder aufgrund ihrer Deutsche gut genug, um dem normalen Volkszugehörigkeit Diskriminierung Unterricht zu folgen. Sie übernehmen und bittere Armut erfahren. Und sie oft in den Familien Dolmetscherfunk- verpflichten unsere Gesellschaft, sich tionen. Da ihre Eltern aber häufig nicht mit ihnen auseinanderzusetzen, Ge- den Anforderungen an die Sprachkom- meinsamkeiten festzustellen und Un- petenz genügen, sind ihre Bleibechan- terschiede zu benennen. cen sehr schlecht. Über die Hälfte der Ankommenden Die deutsche Wirtschaft sucht in vie- erhält ein längerfristiges Bleiberecht. len Bereichen dringend Arbeitskräf- Man möchte, dass sie Teil unserer te und erhofft sich durch die Neuan- Gesellschaft werden. Eine Vorausset- kömmlinge kompetente Mitarbeiter. zung dafür ist, dass sie unsere Spra- Wenn ausreichend Sprachkenntnisse che erlernen, denn diese zu kennen, vorhanden sind, werden Praktika und ist notwendig, um Kontakte mit der Ausbildungsplätze angeboten. Auch Mehrheitsgesellschaft knüpfen und werden berufliche Abschlüsse aus dem beruflich einsteigen zu können. Sie Heimatland leichter anerkannt und es werden verpflichtet, an Sprachkursen gibt Fortbildungen. Die Arbeitsagen- teilzunehmen, eine Voraussetzung für tur hat inzwischen eigene Mitarbeiter, ihre Eingliederung. Die Sprache zu die sich nur um die Arbeit suchenden erlernen, fällt den Menschen leichter, Migranten kümmern. Und trotzdem ist die in ihrem Heimatland die Schule es ein dorniger Weg. Je nach Vorkennt- besucht haben und bereits Erfahrung nissen und Sprachkompetenz dauert es mit einer Fremdsprache hatten. Sehr längere Zeit, oft mehrere Jahre, bis ein viel schwieriger ist es für Menschen, Flüchtling unabhängig von staatlicher die Analphabeten sind. Ihr Zugang Unterstützung leben kann. zur Sprache erfolgt eher über prakti- >> vonWegen 3/16 – Thema: vertrieben Seite 23
#thema Freundschaften schließen >> rischen Regimen, sind zuweilen auch Enge Wohnverhältnisse gefangen in kulturellen und religiösen Freiburg musste in kurzer Zeit über Vorstellungen, die sich nicht mit unse- 3.000 Menschen aufnehmen und ren Werten vereinbaren lassen. Diese konnte diese nur in schnell errichteten aktiv zu vermitteln, ist für uns alle Wohnheimen unterbringen, weil an- eine wichtige Aufgabe. gesichts der großen ““ Wohnungsnot viel zu wenige Wohnungen Auch in Wohnheimen lassen sich zur Verfügung ste- Kontakte knüpfen, um die hen. In einem Wohn- Menschen aus ihrer heim gibt es wenig Kontakt zur deut- Isolierung zu holen.“ schen Bevölkerung, und es bedeutet, Gemeinsamkeiten oft jahrelang in engen Wohnverhält- zwischen den Religionen nissen zu leben. Die Wohneinheiten Die meisten Flüchtlinge kommen aus sind dicht belegt, es gibt viel Unruhe muslimischen Ländern. Der Islam ist und kaum Rückzugsmöglichkeiten. El- eine dem Christen- und Judentum tern müssen oft mit ihren heranwach- verwandte Religion. Das Bild, das bei senden Kindern einen Raum teilen, und uns infolge der schrecklichen Attentate die Schulkinder kommen zumeist viel und Kriegsgräuel vom Islam gezeichnet zu spät ins Bett, was sich auf die schu- wird, entspricht nicht dem Glauben der lische Leistung auswirkt. Andererseits Mehrheit der Muslime. Leider versu- ist es für eine gelingende Integration chen radikale Kräfte aus Saudi-Arabi- von höchster Bedeutung, dass die zu- en und anderen Ländern (Wahhabiten, gewanderten Menschen Wohnungen in Salafisten), den Islam auch bei uns im- der Nachbarschaft zu Einheimischen mer mehr in ihrem Sinne zu beein- beziehen und Kontakte zu diesen auf- flussen. Hier ist der Staat gefragt, bauen können. Aber auch in Wohn- der nicht dulden darf, dass diese heimen lassen sich Kontakte knüpfen Länder aktiv, d. h. durch radikale und Freundschaften schließen, um die Prediger und die Finanzierung von Menschen aus der Isolierung zu holen. Moscheen, Einfluss auf die hiesi- gen Muslime gewinnen. Uns damit Werte aktiv vermitteln auseinanderzusetzen, als Christen Wir leben in einer freiheitlichen Ge- Gespräche mit Muslimen und an- sellschaft, geregelt durch das Grundge- deren Glaubensgemeinschaften zu Gisela Maass setz, das u. a. die Gleichberechtigung führen, ist deshalb von großer Be- engagiert sich seit 25 zwischen Mann und Frau, Religions- deutung. Es gibt mehr Gemeinsam- Jahren ehrenamtlich und Meinungsfreiheit garantiert. Die keiten zwischen den Religionen, als im Asylhelferkreis des Flüchtlinge kommen oft aus diktato- uns dies zumeist bewusst ist. // Wohnheims St. Christoph Seite 24 vonWegen 3/16 – Thema: vertrieben
#thema ©photocase.com – boing Warteschleifen im Bürokratiedschungel Auf engem Raum in kurzer Zeit möglichst Straßenkindern verbrachte, machte ihr vielen Menschen zu helfen – so lässt sich klar: „Ich will Menschen aus anderen Kul- die Aufgabe von Laura Hirsch knapp zu- turen kennenlernen und unterstützen.“ sammenfassen. Die 27-Jährige ist eine von Der Wunsch zu helfen ist ihr geblieben, aber: vier Sozialberaterinnen der Evangelischen „Ich hatte nicht erwartet, dass ich so unter Stadtmission in der städtischen Flücht- Druck stehen werde und immer gegen die lingsunterkunft in der Wiesentalstraße. Zeit arbeiten muss, während andererseits der Seit fast einem Jahr arbeitet sie jetzt in der bürokratische Apparat sehr langsam läuft.“ Flüchtlingshilfe. Dass ihr die Beratungs- Die ersten Monate seien besonders heftig ge- arbeit liegt, hatte sie schon während ihres wesen, weil das gerade erst gebildete Bera- Praxissemesters gemerkt, das sie zum Teil terteam gleich für sehr viele Menschen auf beim Jugendmigrationsdienst absolvierte. einmal die grundlegenden Bedürfnisse regeln Der zweite Teil, den sie in Südafrika mit musste. vonWegen 3/16 – Thema: vertrieben Seite 25 >>
#thema Warteschleifen im Bürokratiedschungel >> Wenig Privatsphäre teilzeitbeschäftigt und wechseln sich bei der Beratung ab. Inzwischen habe sich die Situation etwas Dadurch ist das Büro der Sozialbetreuung montags bis frei- beruhigt, dafür tauchten andere Proble- tags von 9 - 18 Uhr besetzt. „Theoretisch haben wir zweimal me auf. „Die Unterkunft ist für 180 Men- am Tag eine allgemeine Sprechzeit, in der sich die Bewoh- schen gedacht, es leben aber 250 hier. ner Termine für die Einzelberatung holen sollen. Aber in der Anfangs gab es wenigstens noch abge- Praxis füllt sich der Warteraum, sobald unsere Tür offen grenzte Wohngruppen, die durch Türen ist“, berichtet Laura Hirsch. Die Zuständigkeiten haben sich getrennt waren. Die wurden jetzt aus die Beraterinnen als „Fallmanager“ aufgeteilt. Das bedeutet, Gründen des Brandschutzes entfernt. In den größeren Wohneinheiten gibt es für die Einzelnen noch weniger Privat- sphäre und dadurch mehr Konflikte.“ Alltagsstreitigkeiten vermischten sich ““ Ein Großteil der Flüchtlinge will sich integrieren.“ dann mit unterschiedlichen kulturellen dass jede von ihnen für bestimmte Personen oder Familien und religiösen Hintergründen. Trotzdem zuständig ist, für die sie dann rundum alles regelt. „Jede von bleibe es in der Unterkunft relativ ruhig uns muss alles machen und können.“ im Vergleich mit anderen Wohnheimen in Freiburg. Frust und Enttäuschung Wenn ein „Neuzugang“ bei ihr oder ei- Viele Flüchtlinge sind enttäuscht von Deutschland und frus- ner ihrer Kolleginnen zum Erstgespräch triert über die langen Wartezeiten. „Sie hatten sich vorge- vorbeikommt, muss eine Reihe von Din- stellt, dass sie schnell eine Wohnung finden, arbeiten und gen geklärt und beantragt werden. „Wir ihre Familie nachholen können; dann warten sie monatelang ermitteln zuerst den Bedarf: Müssen auf Termine. Das Verfahren für den Familiennachzug kann staatliche Leistungen beantragt wer- sich über Jahre hinziehen; so lange sind sie von ihren Part- den? Gibt es schon ein Bankkonto? Sind nern und Kindern getrennt.“ Als Blitzableiter für den Frust Krankheiten zu behandeln? Bei Kindern der Bewohner müssen die Beraterinnen aber nur selten her- klären wir, wo sie zur Schule oder in den halten. „Die Menschen verstehen, dass wir ihnen helfen wol- Kindergarten gehen können“, zählt Lau- len und bringen uns große Dankbarkeit entgegen. Manche ra Hirsch auf. Außerdem gibt sie einen laden uns zum Tee ein oder bringen uns Essen vorbei.“ Überblick über den Stadtteil, die nächs- Für sie selbst ist das Frustpotenzial ebenfalls groß, vor allem ten Einkaufsmöglichkeiten, Ärzte und wegen der „bürokratischen Vorschriften“ und des Personal- vieles mehr. Auch wenn alle grundle- schlüssels, der für die Beratung jedes Einzelnen zu wenig genden Dinge geregelt sind, kommen die Zeit lässt. Trotz der zeitlichen Knappheit baue man zu vielen Bewohner immer wieder zur Beratung, Geflüchteten eine Beziehung auf. „Man kämpft sich ja ge- und das Team der Flüchtlingshilfe ist in meinsam durch den Bürokratiedschungel.“ Erzählen ihr die vielen Fällen der Ansprechpartner für Flüchtlinge auch persönliche Dinge, sprechen sie über ihre Behörden, Schulen und Kitas. Kriegs- und Fluchterfahrungen? „Manche erzählen davon. Die vier Mitarbeiterinnen sind alle Seite 26 vonWegen 3/16 – Thema: vertrieben
Sie können auch lesen