Persönlichkeitsstörungen - Überblick über Diagnostik, Behandlungsmethoden und -techniken
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Persönlichkeitsstörungen – Überblick über Diagnostik, Behandlungsmethoden und –techniken Sabine C. Herpertz, Heidelberg 31. Heidelberger Kongress des Fachverbandes Sucht e.V. 21. Juni 2018 Fakultät der Universität Heidelberg
Epidemiologie der Persönlichkeitsstörungen Prävalenz: 8% in der deutschen Bevölkerung Prävalenz in klinischen Gruppen: 30-50% Prävalenz von Achse I Störungen bei PS: ~60% Höchste Prävalenz von Achse I Störungen bei Borderline PS: 85% Fakultät der Universität Heidelberg 2
Kritik an bisheriger Klassifikation Nach 30 Jahren intensiver PersönIichkeitsstörungsforschung stehen wir vor der Notwendigkeit einer neuen Klassifikation. Gründe: • Überhöhte Prävalenzen an Störungskategorien bei Schwellenproblem mit häufigen falsch positiven Diagnosen • Exzessive Komorbidität (im Mittel werden die Kriterien von drei P.S. erfüllt) • Hohe Prävalenz der Kategorie PNOS • Geringe Stabilität der Diagnosen bei andauernder Dysfunktionalität • Anspruch an individualisierte anstelle störungsspezifischer Behandlung Fakultät der Universität Heidelberg 3
Verlauf von Persönlichkeitsstörungen • Hohe Remissionsrate mit geringem Rückfallrisiko BPS Remissionsrate: CLPS 100 100 GAF Mean GAF Score * not meeting criteria by both the DIPD & DIB-R 90 87 80 ▲ MDD 70 68 70 ■ OPD 58 60 ♦ BPD % Remitted 50 CLPS 0 cutoffs survival 0 1 2 4 6 8 10 40 remission = 0 30 ≥ 12 mos GSA Mean GSA Score 30 20 10 0 2 4 6 8 10 Years of Follow-up 5 Follow-up, y 0 1 2 4 6 8 10 Nur 21% erreichen gutes Funktionsniveau vs. 61% bei MD u. 48% bei Cluster C PS, 1/3 volle Arbeitsfähigkeit Fakultät der Universität Heidelberg Gunderson et al. 4 2011
Auflage einer kategorialen Klassifikation auf ein dimensionales Konstrukt Keine Persönlich- Schwierige Leichte Moderate Schwere keitspathologie Persönlicheit Persönlich- Persönlich- Persönlich- keitsstörung keitsstörung keitsstörung Keine Störung Störung Fakultät der Universität Heidelberg 5
Zukünftige dimensionale P.S. Klassifikation im ICD-11 • Allgemeine Kriterien einer P.S. – Anhaltende Störung über mehr als 2 Jahre – Beeinträchtigungen im Selbstfunktionsniveau und in interpersonellen Beziehungen – Manifestiert sich als maladaptive, rigide Muster der Kognition, der emotionalen Erfahrung und des emotionalen Ausdrucks sowie im Verhalten • Schweregradbeschreibung („Schwierigkeiten“, leicht, mittelschwer, schwer) – 1) Funktionsbeeinträchtigungen des Selbst (Identität, Selbstwert, Selbstbild, Selbstlenkungsfähigkeit) – (2) Funktionsbeeinträchtigungen der interpersonellen Beziehungen (Interesse, Empathie, Vertrautheit und Wechselseitigkeit in Beziehungen, Konfliktbewältigung) – (3) emotionale, kognitive und Verhaltensmanifestationen – (4) Ausmaß an Leiden und Einschränkungen im privaten sowie beruflichen Kontext • Persönlichkeitsdomänen (Personality Inventory of ICD-11; PiCD) • Negative Emotionalität • Dissozialität • Enthemmung • Anankasmus • Distanziertheit Fakultät der Universität Heidelberg 6
Aspekte der Funktionsfähigkeit für die Schweregradeinteilung Schweregrad, Durchdringungsgrad und Chronizität von Funktionsstörungen: – des Selbst • Identität: Stabilität und Kohärenz des Identitätsgefühls • Selbstwertgefühl: insgesamt positives und stabiles Selbstwertgefühl • Genauigkeit der eigenen Sicht auf die eigenen Stärken und Grenzen • Fähigkeit zur Selbststeuerung – der zwischenmenschlichen Funktion • Interesse an Beziehungen • die Perspektiven anderer verstehen und schätzen • Entwicklung und Aufrechterhaltung enger, wechselseitig befriedigender Beziehungen • Konflikte lösen – was zu emotionalen (z. B. unter- oder überreaktiv), kognitiven (z. B. Genauigkeit von situativen und zwischenmenschlichen Bewertungen, insbesondere unter Stress) und Verhaltensmanifestationen (z. B. Flexibilität bei der Steuerung von Impulsen von Persönlichkeitsstörungen führt – Und zu Stress und/oder erheblichen Beeinträchtigungen in persönlichen, familiären, sozialen, pädagogischen, beruflichen oder anderen wichtigen Bereichen führen Fakultät der Universität Heidelberg 7
Diagnostische Prozedur Persönlichkeitsstörungen in ICD-11 • Eine vollständige Beschreibung von PS enthält die Bewertung des Schweregrads und die zutreffenden Merkmalsdefinitionen. Die WHO erkennt an, dass es nicht möglich sein wird, eine solche vollständige Evaluierung in allen Situationen durchzuführen. • Optionaler Qualifier für "Borderline-Muster" können den klinischen Nutzen erhöhen, indem die Identifizierung von Individuen erleichtert wird, die auf bestimmte störungsspezifische psychotherapeutische Behandlungen ansprechen können. Fakultät der Universität Heidelberg 8
Persönlichkeitsdomänen und Internet Spielsucht Online Fragebogen bei N = 640 smart-phone Nutzern, mit Ten-Item Personality Inventory u. Internet Gaming Disorder Scale Short-Form Hussain et al. 2017 Fakultät der Universität Heidelberg 9
Persönlichkeitsdomänen und Videospiele National Population Registry of Norway (N=3389) – Stichprobe von Spielern Spielsucht korrelierte positiv mit Neurotizismus und negativ mit Gewissenhaftigkeit, Sozialer Verträglichkeit und Extraversion. Wittek et al. 2016 Fakultät der Universität Heidelberg 10
Borderline P.S.: Symptomatik Borderline Persönlichkeitsstörung Interpersonelle Kognitive/Selbst- und Behaviorale Emotionale Dysregulation Instabilität Selbstwert-Störung Dysregulation Hypersensibel Emotionale Ärger- gegenüber Instabile, aber Hypersensi- gefühle, Leere - Zurückweisung, intensive tivität, Ärger- gefühle Gefühl der Nicht- Beziehungen Negativitäts- Rumination Zugehörigkeit Bias Paranoide Ideen, Suizidales und Pseudohallu- selbstschä- Reaktive zinationen, Identitätsstörung Selbsthass Impulsivität Süchte digendes Aggressivität dissoziative Verhalten Symptome Gunderson, Herpertz et al, Nature Disease Primer 2018 Fakultät der Universität Heidelberg 11
Epidemiologie der Borderline- Persönlichkeitsstörung % 0 5 10 15 20 25 30 Lebenszeitprävalenz (1) Erstversorgung (2) Psychiatrische Patienten (3) Notfallbehandlungen (4) (1) (NESARC-Studie; Grant et al. 2008), kumulative Prävalenz zwischen dem 14.- und 32. Lj. 5,5% (Johnson et al. 2008) (2) (Gross et al. 2002) (3) (Barnow et al. 2010; Tomko et al. 2014) (4) (Chaput et al. 2007) Fakultät der Universität Heidelberg 12
Komorbidität bei der Borderline P.S. • Angststörungen (Soziale Phobie, Generalisierte Angststörung, Panikstörung) (65%-84%) • Major Depression (50%-80%), Dysthymie 40% • Substanz-bezogene Störungen (50-75%) • PTSD (50%) • Essstörungen (50%); häufiger Wechsel zu anderen Essstörungen • ADHS (20%) • Bipolare Störung I und II (10-20%) • Somatoforme Störungen (v.a. chronischer Schmerz) (10%) • Andere Persönlichkeitsstörungen, v.a. paranoide, vermeidende und dependente P.S. • Dissoziative Störungen • Somatische Erkrankungen (kardiovaskuläre Erkrankungen, Autoimmunerkrankungen) Fakultät der Universität Heidelberg 13
Risikofaktoren für Komorbidität zwischen Sucht und Borderline P.S. Auf der Suche nach Behandlung Total% SUD% SUD+BPD% Gewalt in der Familie & Missbrauchserfahrungen finden sich häufiger in der komorbiden Gruppe Wapp et al. 2015 In der komorbiden Gruppe sind die Geschlechter ausgeglichen Fakultät der Universität Heidelberg 14
Komorbidität Borderline P.S. mit Sucht: Prävalenz US National Epidemiologic Survey on Alcohol and Related Conditions (repräsentative Stichprobe) Carpenter et al. J Pers Dis 2016 Fakultät der Universität Heidelberg 15
Komorbidität Borderline P.S. mit Sucht: Odds Ratios US National Epidemiologic Survey on Alcohol and Related Conditions – logistische Regressionsanalyse Kovariaten: demographische Variablen, weitere Psychopathologie (v.a. Depression u. Angstst.) Carpenter et al. J Pers Dis 2016 Fakultät der Universität Heidelberg 16
Mögliche Ursachen für Komorbidität • Überlappende Symptome • Reduzierung der negativen Affektivität • Hohe Häufigkeit von Schmerzsyndromen • Alle drei Substanzen, die spezifisch für BPS sind, stimulieren das endogene Opiodsystem Fakultät der Universität Heidelberg 17
Besonderheiten von Pat. mit Alkoholabhängigkeit und P.S. Alkoholabhängige Pat. mit Persönlichkeitsstörung unterscheiden sich von denen ohne Persönlichkeitsstörung durch folgende Merkmale: - Eine erhöhte allgemeine psychopathologische Belastung - Einen früheren Beginn - Stärkere Abhängigkeitssymptome - Geringeres Niveau sozialen Funktionierens - Häufigerer Gebrauch anderer Drogen - Erhöhtes suizidales Verhalten - Kürzere Abstinenzzeiten und häufigere Rückfälle - Häufigerer Abbruch der Behandlung durch Patienten und/oder Zentren Kienast et al. 2016 Fakultät der Universität Heidelberg 19
Überblick zur Impulsivität bei der Borderline P.S. Selbstbeurteilung: impulsives Verhalten im Kontext negativer Emotionen, Mangel an planerischem Verhalten, keine erhöhte Reizsuche Probleme im Belohnungsaufschub (ohne Stress, ohne komorbide ADHS) und in der Antizipation von Belohnung und Bestrafung Hohe Interferenzanfälligkeit kognitiver Prozesse durch emotionale Distraktoren Eingeschränkte Inhibitionsfähigkeit nur unter Stress oder bei komorbider ADHS Turner et al. Curr Psychiatry Rep, 2017 McHugh et al. Curr Opin Psychiatry, 2017 Fakultät der Universität Heidelberg 20
Defizitäre Vorhersage von Belohnung und Bestrafung bei der Borderline P.S. Reduzierte Aktivität im ventralen Striatum gegenüber Hinweisreizen, die Belohnung und Verlust vorhersagen; korreliert mit Impulsivität Herbolt et al. 2016 Fakultät der Universität Heidelberg 21
Sucht und Schwere der Psychopathologie Heath et al. J Pers Dis 20178 N = 65 BPS Patienten Global Severity Index (SCL-90-R; past week) Total mood disturbance (POMS; past day) Number of lifetime DSM-IV Axis I disorders (CDIS) History Fakultät derof physical Universität abuse Heidelberg 22
Verlauf von Alkohol- und Drogen- abhängigkeit bei der Borderline P.S. 100 90 80 70 60 Alkohol 50 40 30 20 10 0 ■ Remission 2 YR FU 4 YR FU 6 YR FU 8 YR FU 10 YR FU ■ Recurrence 100 ■ New Onset 90 80 70 60 50 Drogen 40 30 20 10 0 Zanarini et al. 2013 2 YR FU 4 YR FU 6 YR FU 8 YR FU 10 YR FU Fakultät der Universität Heidelberg 23
Allgemeines zur Psychotherapie bei Menschen mit Persönlichkeitsstörungen Schwierigkeiten in der Behandlung • Einstellungen und Verhaltensweisen werden ich- synton erlebt. • Probleme in zwischenmenschlichen Beziehungen werden häufig externalisiert. • Psychotherapie wird aufgrund von Achse-I-Störungen aufgesucht (z. B. Depression, Sucht). • Veränderungsmotivation kann nicht vorausgesetzt werden. Fakultät der Universität Heidelberg 24
Individuelle Fallkonzeption bei Pat. mit P.S. Spannbreite psychopathologischer Symptomatik Schwere und Chronifizierungsgrad der Störung Therapeut Grad der Änderungsmotivation Coping-Stile individuelle Fallkonzeption Therapie und hohe Flexibilität Psychosoziale Situation Psychiatrische und somatische Komorbiditäten Geringe interpersonelle Fähigkeiten Fakultät der Universität Heidelberg 25
DBT bei Borderline P.S. und Sucht: Therapeutische Beziehung • Dialektische Haltung: fordert das ungebrochene Anstreben der absoluten Abstinenz und verbindet es mit der Anwendung von bewertungsfreien, lösungsorientierten Bewältigungsmethoden nach erneutem Konsum • Begleitendes Telefoncoaching ist ein essentieller Bestandteil von DBT-S. Um ein lösungsorientiertes Telefoncoaching durchführen zu können, müssen die Rahmenbedingungen vorher abgesprochen werden. • Strategien zur Erhöhung der therapeutischen Bindung (check-in-Anrufe, SMS, aufsuchende Hilfe) Fakultät der Universität Heidelberg 26
DBT bei Borderline P.S. und Sucht: Spezifische Interventionen • Fertigkeitentraining mit Ziel, emotionale Anspannungszustände und Craving nach Suchtstoffen zu erkennen und deren Schwere abzuschätzen. • Edukative Therapien dienen dazu, Experte in eigener Sache zu werden, und vermitteln die dafür notwendigen Hintergrundinformationen. Die vermittelten Inhalte können v.a. aktuellen Anlässen folgen. • Erlernen von Verhaltens- und Situationsanalysen: Identifizierung von typischen situativen Auslösern für selbstschädigendes Verhalten, kontinuierliche Selbstbeobachtung. • Erlernen von Affektregulationsskills und kognitiver Neubewertung. • Gruppen mit Selbsthilfecharakter: Sie bieten den Betroffenen die Möglichkeit, untereinander die Prinzipien von Problemanalysen gegenseitig zu präsentieren und Fehlerkorrekturen vorzunehmen. • Bei Bedarf zusätzliche edukative Suchtgruppe, in der Wirkungen und Folgen des Substanzkonsums besprochen werden. Fakultät der Universität Heidelberg 27
Hierarchie der Behandlungsthemen Suizidalität Fremdgefährdung Gefährdung der Therapie Störungen der Verhaltenskontrolle, Sucht Störungen des emotionalen Erlebens Probleme der Lebensgestaltung S2 Leitlinien P.S. 2008 Fakultät der Universität Heidelberg 28
Allgemeines Psychiatrisches Management (GPM) bei Borderline Pat. mit stoffbezogenen Süchten 2,4 2,2 2,0 1,8 None 1,6 Any SUD 1,4 1,2 1,0 Intake Discharge 10 h GPM hat keine schlechteren Outcomes bei Borderline-Pat. mit im Vergleich zu ohne Sucht; allein der Schweregrad ist höher. Penzenstadler et al. 2018 Fakultät der Universität Heidelberg 29
Therapie-Outcome bei Borderline Pat. mit vs. ohne substanzbezogene Süchte T0: 6 Monate vor spezifischer Behandlung T1: 6 Monate während Behandlung T3-T6: halbjährliche follow-ups Kein Unterschied im Therapie-Response Komorbide Pat. haben höheren Schweregrad bzw. höheren Behandlungsbedarf Lana et al. 2016 Fakultät der Universität Heidelberg 30
Alle Psychotherapien haben gemeinsam • Positive therapeutische Haltung und Wertschätzung • Hohe Expertise für beiden Erkrankungen • Skillstraining und Soziotherapie als zwei zusätzliche Behandlungsmodule • Die simultane Behandlung beider Störungen Fakultät der Universität Heidelberg 31 Kienast et al. 2016
Zusammenfassung o Hohe Komorbidität verschiedenster Süchte und Persönlichkeitsstörungen, v.a. mit Borderline P.S. o Komorbide Patienten zeigen eine höhere Psychopathologie und eine höhere Belastung mit frühen Missbrauchserfahrungen. o Es existieren störungsspezifische Therapien. o Behandlungsprognose bei Patienten mit Komorbidität nicht schlechter. Fakultät der Universität Heidelberg 32
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