Perspektiven für den Globus - welche Zukunft liegt vor uns
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F. J. Radermacher, Perspektiven für den Globus – welche Zukunft liegt vor uns (Teil 1) Fachbeiträge Perspektiven für den Globus – welche Zukunft liegt vor uns* Teil 1 Franz Josef Radermacher Zusammenfassung years. Particularly important here are insights in the systemic Der vorliegende Text entstand für die Eröffnungsveranstal- nature of humankind as a super organism and in the working tung der INTERGEO® in Hamburg am 17.9.2003. Er beschäf- of this process. This leads one to conclude that certain charac- tigt sich mit Grundsatzfragen der Menschheit. Den Ausgangs- teristics of humankind’s development until now must change punkt bildet die Beobachtung der Weltbevölkerungsentwick- within the short term, because an increasingly higher use of lung über die letzten 4 Mio. Jahre, vor allem Einsichten in den resources and, to an even greater degree, the increasingly ex- systemischen Charakter der Menschheit als Superorganismus treme acceleration of all growth processes are bringing about und in die Gesetzmäßigkeiten dieses Prozesses. Dies führt zu intolerable conditions. Mathematically speaking, we are ap- der Beobachtung, dass sich bestimmte Charakteristiken der proaching a pole in our development which demands a phase bisherigen Entwicklung der Menschheit kurzfristig werden transition. Sergey P. Kapitza’s work on this subject is parti- ändern müssen, da ein immer höherer Ressourcenverbrauch, cularly relevant here (Kapitza 2000). in noch stärkerem Maße aber die immer extremere Beschleu- The second part deals with the challenges humankind is nigung vieler Veränderungsprozesse zu untragbaren Zustän- facing today, the role and the potential that science and den führen. Mathematisch gesprochen nähern wir uns einer technology have in this context, and the significance of the Polstelle der Entwicklung, die einen Phasenübergang er- so-called rebound effect, because of which new technology zwingt. Die entsprechenden Überlegungen gehen auf Arbei- sometimes increases rather than overcomes problems as solu- ten von Sergey P. Kapitza zurück (Kapitza 2000). tions for old problems result in new, even bigger problems. This In einem zweiten Teil geht es um die Herausforderungen, mainly concerns ecological and social issues which constitute vor der die Menschheit heute steht, die Rolle und das Poten- the framework conditions for the implementation of techno- tial von Wissenschaft und Technik in diesem Kontext und die logy. Jacques Neirynck’s work is especially helpful in regard to Bedeutung des so genannten Bumerang-Effekts, aufgrund this subject (Neirynck 1994). dessen neue Technik manchmal die Probleme vergrößert, The third part deals with the future options of a world that statt sie zu überwinden, in dem nämlich als Folge von Lösun- has gotten out of hand. With reference to the author’s work gen für alte Probleme neue, noch größere Probleme entste- three fundamental futures are discussed that will concern hen. Dies betrifft insbesondere ökologische und soziale Fra- with increasing probability the following approaches: an eco- gen, die Rahmenbedingungen für die Umsetzung von Technik collapse, a peaceful ecosocial world order of balance, or, the darstellen. Zu diesem Thema wird auf das einschlägige Buch most threatening scenario, a resource dictatorship – poor von Jacques Neirynck verwiesen (Neirynck 1994). against rich. From the author’s point of view signs of this Im dritten Teil geht es um die Zukunftsoptionen einer aus pattern can already be found in politics, for instance, in the dem Ruder gelaufenen Welt. Mit Bezug auf Arbeiten des USA’s strategic doctrine since September 11, 2001, and in the Autors werden drei prinzipielle Zukünfte diskutiert, die in increasingly unbearable conditions in Palestine. Observations aufsteigender Wahrscheinlichkeit die folgenden Ansätze be- made in this context on how an ecosocial model of balance treffen: Einen Ökokollaps, eine friedliche ökosoziale Welt- like the one in Europe could open up a perspective for the ausgleichsordnung oder, als das bedrohlichste Szenario, eine globe round off the lecture. Ressourcendiktatur – arm gegen reich. Dieses Muster deutet sich aus Sicht des Autors mittlerweile in der Politik bereits an, etwa der neuen strategischen Doktrin der USA nach dem 11.9.2001, und in den zunehmend unerträglichen Verhältnis- 1 Einleitung sen in Palästina. Überlegungen, wie in diesem Kontext ein ökosoziales Ausgleichsmodell im Sinne Europas eine Perspek- Sehr geehrter Herr Präsident Graeff, sehr geehrte Gäste tive für den Globus eröffnen könnte, runden den Vortrag ab. aus Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Verwaltung, meine sehr verehrten Damen und Herren. Summary Es ist mir eine große Freude und Ehre, heute bei Ihnen This text resulted from the opening event for INTERGEO® in zu sein. Dafür gibt es mehrere Gründe. Mir ist es ein be- Hamburg on September 17, 2003. It deals with fundamental sonderes Anliegen zum Ausdruck zu bringen, dass ich issues for humankind and is based on observations concerning ganz besonders gerne bei einem Fachkongress bin, der the world population’s development over the last 4 million sich mit Geodäsie, Geoinformation und Landmanagement beschäftigt, denn diese Themen haben in den letzten 15 Jahren eine substantielle Rolle in meinem Leben ge- * Festvortrag im Rahmen der INTERGEO® Hamburg 2003 spielt. Das verdanke ich wesentlich einem sehr engagier- 129. Jg. 3/2004 zfv 149
Fachbeiträge F. J. Radermacher, Perspektiven für den Globus – welche Zukunft liegt vor uns (Teil 1) ten und übergreifend denkenden Geodäten, nämlich Herrn aus einem Gehirn heraus bekommt. Zusammengefasst: Dipl. Ing. Roland Mayer-Föll, der für das Umweltinfor- Kommunikation ist schwierig. mationssystem des Landes Baden-Württemberg (UIS BW) Ich selber habe bei der EXPO 2000 mitgewirkt und im Ministerium für Umwelt und Verkehr (UVM) feder- habe seit einigen Jahren die spannende Aufgabe, in Köln führend ist. Das FAW Ulm hatte das Glück, das UIS im an einer großen Wissenschafts- und Zukunftsplattform Auftrag des UVM und der Landesanstalt für Umwelt- für Kommunikation, dem ODYSSEUM Köln als Gesamt- schutz zusammen mit Wasserwirtschafts-, Vermessungs-, koordinator für die Themen Inhalt, Kommunikation, Flurneuordnungs-, Straßenbau- und Naturschutzverwal- Szenografie, Partnerbeziehungen und Geschäftsmodell tung sowie Firmen und Institutionen in Baden-Württem- mitwirken zu dürfen. Neben der Vermittlung bestimmter berg aufbauen zu dürfen. Davon ausgehend kam es dann wissenschaftlicher Einsichten und aktueller Innovatio- auch zu Verbindungen mit weiteren Stellen wie Bayeri- nen, z. B. in den Themenfeldern Gehirnforschung, Infor- sches Landesamt für Wasserwirtschaft, Hessisches Lan- mationstechnik, Gentechnik und Hochleistungsmedizin, desamt für Umwelt und Geologie, Koordinierungsstelle geht es dabei auch um die Kommunikation weltweiter Umweltdatenkatalog/Umweltinformationsnetz Deutsch- Anliegen und Problemstellungen im Umfeld einer nach- land (GEIN) im Niedersächsischen Umweltministerium, haltigen Entwicklung. Das alles wäre in einer vertieften Bundesamt für Naturschutz und im Besonderen mit dem Behandlung auch schon ausreichend für einen Vortrag, Umweltbundesamt (UBA). aber das ist ja heute nicht mein Thema. Es stellt sich heraus, dass das digital vorhandene und laufend neu erzeugte Wissen in diesem Bereich besonders reichhaltig ist. Es bietet sich für eine Mehrfachnutzung in besonderem Maße an. Die Organisation eines effizienten 2 Von der Vergangenheit in die Zukunft Zugriffs führt mitten hinein in die Themenfelder Daten- banken, Methodenbanken, Geoinformationssysteme und Das Thema heute ist ein Blick in die Zukunft. Es geht Methoden der künstlichen Intelligenz. Dazu korrespon- um die Frage: »Was liegt vor uns, was zeichnet unsere dierend geht es um Fragen wie die Ablage von Begriffs- Lage aus, was sind die Optionen?« Es ist mir am Anfang strukturen, Datenkataloge, Metainformationssysteme. wichtig, daran zu erinnern, dass die Menschheit, die sich Man muss sich dann auch mit der Abbildung verschiede- ja zunehmend im Zustand einer Wissensgesellschaft ner digitaler Wissensbestände aufeinander beschäftigen. wähnt, wahrscheinlich noch nie so wenig über die Zu- Besonders attraktiv, aber auch besonders schwierig ist die kunft gewusst hat wie im Moment. Vor zehntausend Jah- Frage, wie man umweltrelevantes Wissen (semi-)automa- ren war es ziemlich einfach zu sagen, wie die Zukunft in tisch aus Satellitenbildern ableiten kann, wobei der Ab- 50 Jahren aussehen würde – nämlich genauso wie zum gleich der Ergebnisse mit schon vorhandenen (digitalen) Zeitpunkt der Frage. Heute sagen zu wollen, was in Karten ein wichtiges Prinzip bildet. 50 Jahren sein wird, ist unmöglich. Wir befinden uns als Ich könnte mich jetzt tiefer in diese Themen hinein- Weltgemeinschaft in einem nah-chaotischen Zustand, bewegen, z. B. auch in das internationale Projektumfeld der mehrere Möglichkeiten von Zukunft beinhaltet, ohne »Digital Earth«. Dies zielt in internationaler Kooperation dass erkennbar wäre, welche es konkret sein wird. auf eine weltweite Verfügbarmachung und Verknüpfung kartographischer und sozioökonomischer Informationen. Das sind alles spannende und drängende Themen für eine Die Menschheit als System Menschheit, die verstehen will, in welcher Lage sie sich befindet. Es sind dies auch Themen mit enormen welt- Ich will später mehr zu diesen Zukünften sagen und zwar machtpolitischen Implikationen. Seit Jahren engagiere vor dem Hintergrund von Überlegungen, die ich mit an- ich mich hier dafür, dass die Europäer mit GALILEO end- deren für die EU-Kommission, aber auch mit dem Club of lich ein eigenes weltweites System zur Geo-Positionie- Rome und dem Ökosozialen Forum Europa entwickelt ha- rung aufbauen, und bin froh, dass dieser Prozess nun- be. In einer gewissen Systematik ergeben sich dabei sys- mehr sehr weit fortgeschritten ist. temisch betrachtet drei wesentlich verschiedene Optionen Und natürlich haben wir es hier mit einem spannenden für Zukünfte. Aber bevor ich das tue, bevor ich diesen Kommunikationsthema zu tun. Es geht ja um Wissen Blick in die Zukunft werfe, in einer Situation, in der man über den Globus und über die Menschheit. Aber Kommu- weiß, dass man sehr wenig darüber weiß, welche dieser nikation ist alles andere als einfach und wir erahnen Zukünfte sich tatsächlich einstellen wird, will ich zu- alle, dass das menschliche Gehirn nicht nur lernfähig ist, nächst das aufgreifen, was meine Vorredner angespro- sondern auch eine besondere effiziente »Verteidigungs- chen haben, nämlich den Blick zurück. bastion« gegen Neues darstellt. Es ist nämlich fast un- Denn die Zukunft kann man allenfalls dann verstehen, möglich, irgendwas gezielt in ein Gehirn hinein zu be- wenn man die Vergangenheit versteht: Zukunft hat Her- kommen. Das wissen alle Eltern, aber ebenso Pädagogen kunft. Dabei scheint mir ein aggregierter Blick in die Ver- und Professoren. Das andere Problem ist an dieser Stelle, gangenheit wichtig zu sein, der auf Prinzipielles abhebt dass man das, was einmal drin ist, dann auch nicht mehr und sich nicht im Detail verliert. Man kommt dann zu 150 zfv 3/2004 129. Jg.
F. J. Radermacher, Perspektiven für den Globus – welche Zukunft liegt vor uns (Teil 1) Fachbeiträge einem Blick auf 4 Mio. Jahre Menschheitsgeschichte und haben und wie lange es jeweils dauerte, bis z. B. ein deren Abstraktion. Ich beziehe mich hier insbesondere Zehntel dieser Menschen gelebt hatte? Integriert kommt auf moderne Arbeiten im Bereich der Komplexitätstheo- man gemäß Kapitza über diese Zeit auf etwa 100 Mrd. rie; die sehr stark von der Physik her beeinflusst sind und Menschen. Es dauerte fast 1 Mio. Jahre, bis die erste sich systemisch mit dem Superorganismus Menschheit Milliarde zusammenkam. Man fing ja mit einigen tau- beschäftigen, also mit der Menschheit als einem »Körper«, send Menschen an. 1 Mio. Jahre, das sind etwa 50 000 als einem Wesen, angesiedelt oberhalb der Ebene der ein- oder 75 000 Generationen. Seit Christi Geburt – nur zur zelnen Individuen. Angestrebt wird ein besseres Ver- Erinnerung – sind erst 100 bis 150 Generationen vergan- ständnis der Evolution dieses Superorganismus Mensch- gen. Jetzt reden wir über 50 000 oder 75 000 Generatio- heit über die letzten 4 Millionen Jahre. Den Anfang nen. Wenn im Mittel pro einigen Generationen auch nur machte eine kleine Gruppe von Hominiden, vielleicht ei- ein weiterer Mensch hinzu kommt, ein ziemliches lang- nige tausend Menschen, die sich in einem Prozess hin zu sames Wachstum, dann sind es am Ende der Periode viel- dem entwickelt haben, was heute unser Leben ist. Im Ver- leicht 50 000 Menschen, ein Vielfaches der Zahl, mit der ständnis dieses Prozesses gilt es zu erarbeiten, was das man gestartet war, trotz des sehr langsamen Wachstums. Besondere an unserer jetzigen Lage ist, warum diese Lage Nach 1 Mio. Jahren hatte man also vielleicht die ersten nicht einfach ist und wie unsere Optionen für die Zukunft 10 Milliarden Menschen zusammen. Im Weiteren ging es aussehen. dann immer schneller. Ich will an dieser Stelle einen bekannten russischen Die Größe der Menschheit wuchs und wuchs, langsam Autor, S. Kapitza, Physiker, Mitglied des Club of Rome, aber sicher. Zu Beginn des Neolithiums, vor Erfindung zitieren, der einen wichtigen Beitrag zu dieser Thema- von Ackerbau und Viehzucht, vor 10 000 Jahren waren es tik vorgelegt hat, und gleichzeitig allen Interessenten vielleicht 20 Millionen, zu Christi Geburt vielleicht empfehlen, sich mit seinem, leider noch nicht allgemein 200 Millionen, 1865 war die erste Milliarde erreicht, 1965 verfügbaren, Buch »Global Population – Blow up« zu waren es 3 Milliarden, im Jahr 2000 dann 6 Milliarden, beschäftigen. Prof. Kapitza beschäftigt sich seit Jahr- im Jahr 2050 werden es 9 bis 10 Milliarden sein. Dann zehnten mit diesem Thema und bezieht ein breites inter- werden allein in Indien und China über 3 Milliarden disziplinäres Wissen in seine Überlegungen ein. Die Menschen leben – die Weltbevölkerung des Jahres 1965. Menschheit entwickelt sich nach seinen Analysen seit Und zum Schluss ist man da, wo wir heute sind, also über 4 Mio. Jahren nach einem Wachstumsgesetz, das im in einer Welt, in der in einem Zeitraum von 50 bis Kern quadratisch von der Anzahl der Menschen abhängt, 100 Jahren 10 Mrd. Menschen auf diesem Globus leben. einem Prinzip der Selbstähnlichkeit genügt und dabei Denn wir sind heute 6 Mrd. und wir werden im Jahr 2050 eine hyperbolische Gestalt besitzt. Diese Entwicklung 9 bis 10 Mrd. Menschen sein. Das heißt, dass in diesem läuft um das Jahr 2030 gegen eine Polstelle. Die Wachs- Zeitraum ein Zehntel der Menschen leben wird, die je ge- tumsexplosion verläuft in den letzten 100 Jahren extrem lebt haben. schnell, schneller als exponentiell, was selber schon Daraus folgt übrigens ein weiterer interessanter Hin- kaum noch zu verkraften wäre. weis. Wir fragen uns ja manchmal, wie es denn rein sta- Die Polstelle um das Jahr 2030 bedeutet lebensprak- tistisch überhaupt sein kann, dass wir gerade das erleben, tisch, dass um diesen Zeitpunkt herum etwas Fundamen- was jetzt ansteht, nämlich diesen schwierigen Transi- tales passieren muss. Das ist die große Herausforderung, tionsprozess und Phasenübergang nach 4 Millionen Jah- vor der die Menschheit steht. Physikalisch gesprochen ren. Wie kann es sein, dass wir gerade zufällig im Verlauf wird ein Phasenübergang stattfinden, so wie man ihn von von 4 Mio. Jahren die sind, die dieses miterleben oder anderen Systemen her kennt, wenn z. B. der System- auch durchleben müssen. So kann man die Frage stellen, zustand Eis irgendwann in Wasser übergeht und Wasser also vom Zeitraum her. Wenn man allerdings die Frage irgendwann in einen gasförmigen Zustand wechselt. Ein von der Anzahl der Menschen her ansieht, die ja gelebt Phasenübergang bedeutet den Übergang zu etwas völlig haben, dann lebt etwa ein Zehntel dieser Menschen in Neuem, auch wenn wir im Fall der Menschheit heute diesem Übergangszeitraum und die Wahrscheinlichkeit, noch nicht wissen, wie dies aussehen wird. Jedenfalls gilt dabei zu sein, ist etwa 1:10, wenig spektakulär. das, was bis dahin galt, nicht mehr, weil nämlich die Ver- Die gegebene Betrachtung übersetzt sich unmittelbar hältnisse fundamental andere sind. Alte Erfahrungen in eine Betrachtung der Eigenzeit des Systems Mensch- werden dann u. U. zu einem Problem. Muster, die Millio- heit mit Blick auf Fragen der Selbstähnlichkeit. Zum Bei- nen Jahre galten, »mehr Menschen als Erfolg, als Aus- spiel kann man die Zeit für die Hervorbringung von druck der Leistungsfähigkeit der Menschheit, als ins- 10 Milliarden Menschen als eine Art Eigenzeit sehen. gesamt positiv« gelten dann nicht mehr. Das ist der Die Verkürzung dieser Zeit startet mit vielleicht 1 Mio. wesentliche Befund, wenn wir die aktuelle Situation in Jahre und verdichtet sich am Schluss zu weniger als 100 eine Historie von 4 Mio. Jahre Geschichte der Menschheit Jahren. einzuordnen versuchen. Es ist interessant, sich dann auch zu fragen, wie viele Menschen insgesamt in diesen 4 Millionen Jahren gelebt 129. Jg. 3/2004 zfv 151
Fachbeiträge F. J. Radermacher, Perspektiven für den Globus – welche Zukunft liegt vor uns (Teil 1) Die zentrale Rolle der Kommunikation Das heißt, Kommunikation ist nicht immer von der Art, dass man miteinander spricht. Es gibt viele Formen Wichtig ist es dabei zu verstehen, dass z. B. Kommunika- der Wechselwirkung, des Austauschs, der Kommunika- tionsprozesse am Anfang genauso schnell verliefen wie tion. Kommunikation ist ein komplexes Phänomen. Auch heute, wenn man die Zeit für den Kommunikationsvor- Krieg ist eine Form der Kommunikation, sogar eine sehr gang im Verhältnis zu der jeweiligen Eigenzeit sieht, die effiziente, und Terror ebenso. Und wenn jemand kein Ge- am Anfang vielleicht ein Zehntausendstel der heutigen hör findet bzw. seine Sicht der Dinge ausgeblendet wird, Eigenzeit war. So konnte das, was heute ein Jahr dauert, dann ist ein Selbstmordanschlag eine Mitteilung, die damals 10 000 Jahre dauern und war relativ betrachtet nicht so einfach »überhört« werden kann. In der Entwick- doch genauso schnell. Die Referenz auf die Eigenzeit ist lung der Menschheit konnten Gruppen jedenfalls nur dabei zentral. Sie erlaubt nämlich ein adäquates Verständ- dann überleben, wenn sie zumindest insoweit kommuni- nis für die Rolle von Kommunikation in der Entwicklung kativ eingebunden waren, dass sie ausreichend schnell der Menschheit. Kommunikation war immer zentral. die jeweils beste Technik, vielleicht über sexuelle Ver- In ihr kommt nämlich die systemische Dimension der mischung auch besonders wichtiger Gene und Gen- Menschheit als Superorganismus zum Ausdruck, also die kombinationen anderer, zu übernehmen in der Lage Tatsache, dass wir mehr sind als eine Ansammlung von waren, bezogen auf Zeiträume, die die Eigenzeit für An- Menschen. Und eben diese Tatsache macht auch dann passungen zur Verfügung stellt. Anpassungsprozesse verständlich, warum das Quadrat der Anzahl der Men- hatte also früher hunderte und tausende Jahre Zeit, heu- schen das Wachstumsgesetz der Größe der Menschheit te teilweise nur noch Jahre oder Monate, aber unter Be- bestimmt und nicht einfach die Zahl der Menschen. Das trachtung der verfügbaren Kommunikationsmittel waren Quadrat reflektiert nämlich die Potentiale der Kommu- und sind das Tempo und der Anpassungsdruck damals nikation, übrigens nicht anders als bei Analysen der und heute dennoch vergleichbar. Wachstumsraten für Telefonnetzwerke oder das Internet, In der Summe kann man es vielleicht so ausdrücken: die ebenfalls alle von einem quadratischen Term her be- Die Menschheit musste wachsen und musste dem Druck stimmt werden. des Wachstums ausgesetzt sein, um das Wissen zu pro- Das Wachstum der Menschheit ist also wesentlich be- duzieren, das es der Menschheit erlaubte, anschließend stimmt durch die Umfänge an Wechselwirkungen zwi- weiter zu wachsen. Die vielleicht wichtigste Leistung schen Menschen und damit vom Wissenspotential, das technischen Fortschritts bestand dabei immer wieder in die Menschheit als Ganzes über ihre Kommunikations- der Möglichkeit, immer mehr Menschen auf einem immer prozesse über die Jahrhunderte und Jahrtausende auf- höheren Niveau lebensfähig zu halten. Wenn der Mensch baut und vorhält, und die Anzahl möglicher kommunika- z. B. irgendwann das Feuer zu beherrschen lernt, dann tiver Partnerschaften wächst quadratisch mit der Größe kann das u. U. einen Faktor 10 an Wachstumspotential der Population. bzgl. der dauerhaft reproduzierbaren, insbesondere er- Dabei ist Kommunikation allerdings ein sehr weiter nährbaren, Anzahl der Menschen bedeuten. Selbst wenn Begriff. Wenn zum Beispiel eine Hominidengruppe sehr dann auf Grund von Eiszeiten die Gesamtzahl der Men- erfolgreich bestimmte Techniken entwickelt und eine an- schen zwischenzeitlich auch einmal wieder zurückgehen dere Hominidengruppe diese nicht übernimmt, wird sie sollte, spielt das keine Rolle bzgl. des erreichten Poten- u. U. sehr bald als Folge von Verdrängungsprozessen tials. Solange die Menschheit das Wissen über die Be- marginalisiert bzw. aussterben (vgl. das Schicksal der In- herrschung des Feuers in ihren Gruppen erhalten kann, dianer in Nord- und Südamerika). Die eine Gruppe wird kann die Population ganz schnell, wenn sich die Umwelt- zurückgedrängt, weil die andere Gruppe in das eigene bedingungen wieder verbessern, von der geschrumpften Biotop hineindrückt, weil die andere Gruppe Wild effi- Größe auf die deutlich höhere Zahl ansteigen, die bei Be- zienter tötet, das man selber zum Überleben benötigen herrschung des Feuers ernährbar und damit reproduzier- würde. Wir kommen zu Abläufen, die wir in der Früh- bar ist. geschichte im Nebeneinander von Neandertaler und mo- dernem Menschen oder in der Neuzeit etwa bei der Besiedlung Nordamerikas, Südamerikas oder Australiens sehr gut beobachten konnten. Die Reste der ursprünglich 3 Aktuelle Herausforderungen an das System in den Ländern beheimateten Völker und Stämme, falls es Menschheit solche überhaupt noch gibt, finden sich heute in der Regel in unattraktiven Biotopen, ein paar Aborigines Aufgrund des Gesagten akkumuliert das System noch irgendwo in der Wüste, dort, wo keiner hin will. Die »Menschheit« Wissen, hält es in Form eines gesellschaft- Prärieindianer waren endgültig erledigt, als der weiße lichen bzw. kulturellen Gedächtnisses vor und solange Mann mit neuen Gewehren innerhalb von fünf Jahren dies gelingt, bildet es zugleich die Basis für einen weite- etwa 5 Mio. Bisons tötete. Die technische Fähigkeit, ren, für den nächsten Schritt der Wissensgenerierung und 5 Mio. Bisons kurzfristig zu töten, besiegelt das Ende der Innovation. Das Gedächtnis kann dabei verteilt sein und selbstständigen Kultur der Prärieindianer, für immer. auch in seiner räumlichen Verankerung wechseln, in der 152 zfv 3/2004 129. Jg.
F. J. Radermacher, Perspektiven für den Globus – welche Zukunft liegt vor uns (Teil 1) Fachbeiträge Dynamik dieses Geschehens immer relativ zu der jeweili- knüpft sind. Die Schaltstellen in solchen Netzwerken sind gen Eigenzeit. Es war insofern auch kein Problem, dass so genannte Konnektoren oder Fat-Hubs (fette Knoten), wir Europäer nach dem Fall von Rom ein dunkles Mittel- Personen mit vielen und extremen Vernetzungen über alter hatten, denn das Wissen der Antike, das Wissen große Distanzen in sehr unterschiedlichen Lebenszusam- Griechenlands, verknüpft mit dem Wissen Persiens und menhängen, z. B. die Präsidenten von Ländern, Fernseh- Indiens, wurde zwischenzeitlich in Arabien vorgehalten reporter, Stars etc. und kam dann später über die spanische Halbinsel, Sizi- lien, Venedig und weitere Kanäle wieder zu uns zurück. Solange das Wissen in einer vernetzten Struktur noch Warum die Zeit drängt irgendwie vorhanden ist, kann es immer wieder aktiviert werden. Im kollektiven Gedächtnis des »Körpers Mensch- Wenn man insgesamt den hier verfolgten Blick auf das heit« muss es hierzu vorgehalten werden. Wo, ist dabei Thema hat, dann weiß man, dass bald etwas Fundamen- nicht die zentrale Frage, da die Menschheit ein System, tales passieren muss, ein Phasenübergang bzgl. der Ent- ein Superorganismus ist. wicklung der Größe der Menschheit. Es war passend, dass eben hierzu der Philosoph Lübbe zitiert wurde mit dem Bild der Verkürzung der Gegenwart. Ja, in der Sprache Potenzgesetze in Netzwerkstrukturen Kapitzas haben wir heute eine Eigenzeit, die kürzer ist als die Zeit, die man braucht, um die nächste Generation Aufgrund des Gesagten ist es wichtig, sich mit der Ver- aufzuziehen. Und daraus resultiert das vielleicht größte netzung von Strukturen und den systemischen Zusam- Problem, das die Menschheit heute hat. Dass wir so viel menhängen innerhalb von Netzwerken zu beschäftigen. Wissen akkumuliert haben und es sich so schnell ver- Hier hat es in den letzten Jahren ebenfalls wesentlich mehrt, dass nun in der Folge so viele Menschen auf neue Einsichten gegeben. Ich erwähne in diesem Zusam- einem so hohen Wissens- und Wertschöpfungsniveau menhang einige wenige Beiträge. Für die heutige welt- existieren, dass wir an irreversible Ressourcengrenzen weite Situation der Verbindung zwischen Menschen sind stoßen und wir nicht mehr die Zeit haben, das Neue zur so genannte »kleine Welten« von Bedeutung, die gemäß Bewältigung dieser Knappheiten schnell genug zu erfin- so genannter »Potenzgesetze« (Power-Laws) miteinander den und zu implementieren. Denn Implementation kostet verknüpft sind. Eine praktische Konsequenz dieser Struk- Zeit, muss mit Abschreibungszyklen kompatibel sein und tur ist die Folgende: Obwohl auf diesem Globus im Mo- braucht Gehirne, die sich auf das Neue einstellen können. ment die meisten Menschen nur in Nachbarschaftsbezie- In der Folge der Generationen ist das vergleichsweise hungen verankert sind, in denen jeder jeden kennt (so einfach, wenn aber alles über lebenslanges Lernen bewäl- genannte kleine Welten), sind dennoch je zwei Menschen tigt werden muss, sind irgendwann die Grenzen der An- maximal neun Handschläge voneinander entfernt. Wenn passungsfähigkeit ausgebildeter Gehirne erreicht – Hard- man Menschen mit Vernetzungscharakteristika wie hier waregrenzen. Gleichzeitig ist es so, dass eine neue Ge- in diesem Raum betrachtet, sind es vermutlich sogar nur neration nicht so schnell nachwächst und ausgebildet noch maximal sieben Handschläge von jedem solchen zu werden kann, dass sie als Träger des Fortschritts die An- jedem anderen Menschen auf dem Globus und nur noch passungsprobleme lösen könnte. Im Gegenteil, Ausbil- maximal fünf Handschläge zu irgendeinem anderen dung ist heute selber kaum noch adäquat möglich, weil Menschen ähnlicher Positionierung irgendwo. Aber selbst noch während ausgebildet wird, sich schon wieder alles der einsamste Indianer, im brasilianischen Regenwald, geändert hat. Das führt irgendwann zu nah-chaotischen ist von dem einsamsten Eskimo höchstens neun Hand- Zuständen und betrifft insbesondere auch den kulturel- schläge entfernt. Das will man normalerweise nicht glau- len Bereich, in dem die Anpassungszeiträume besonders ben, aber ist eigentlich ganz einfach zu verstehen. Auch lange dauern. Sitten und Gebräuche sind nicht rasch zu der einsamste Eskimo kennt nämlich wenigstens einen ändern, denn alle Kinder lieben ihre Großmütter. Und normalen Eskimo und der kennt einen Eskimohäuptling. wenn die Großmutter etwas erzählt, was für ihr Leben Dieser kennt den Eskimobeauftragten des Landes, dieser wesentlich war, dann wird das tief im eigenen Herzen den Staatspräsidenten. Der Staatspräsident kennt natür- verankert. Und wenn ein anderer das zerstört, was der lich persönlich den Präsidenten von Brasilien, der den Großmutter wichtig war, dann ist dieses im eigenen Ver- Regierungsbeauftragten für die Indianer des Landes halten nur schwer rational zu bewältigen, weil die Ver- kennt, der wiederum jeden Häuptling kennt. Von dort änderungen emotional-seelisch sehr weh tun. kommt man über einen geeigneten normalen Indianer Ein Problem einer Globalisierung des heutigen Typs auch zu unserem einsamen Indianer im brasilianischen und Tempos ist, dass siegreiche Kulturmodelle sich ande- Regenwald. Es geht insofern schnell und das ist auch der ren Kulturmodellen rein lebenspraktisch in sehr kurzen tiefere Grund, warum sich schlechte Witze so schnell ver- Zeiträumen aufzwingen, also Menschen in ihrer Lebens- breiten. Es dauert ja nur Tage, bis man von vielen Seiten zeit zu tiefgreifender Umorientierung im kulturellen Be- denselben neuen Witz hört, eine Folge der Tatsache, dass reich gezwungen werden, obwohl das aus der Sicht der wir alle systemisch so unglaublich eng miteinander ver- bedrängten Kulturmodelle vollkommen unerträglich ist, 129. Jg. 3/2004 zfv 153
Fachbeiträge F. J. Radermacher, Perspektiven für den Globus – welche Zukunft liegt vor uns (Teil 1) wie eine Vergewaltigung oder Usurpation oder Folter. haupt – dann lassen sich die Volumina, die zu bewältigen Denken Sie als Frau an eine Frau, die ein ganzes Leben sind, und es geht mittelfristig sicher um einen Faktor 10 lang in der Öffentlichkeit verschleiert war und ist und das an Steigerung gegenüber dem heutigen Weltbruttosozial- für sich akzeptiert hat. Sie hat lange daran gearbeitet, das produkt, allenfalls durch einen technischen Fortschritt auch ihren Kindern zu vermitteln, ist aber jetzt damit bewältigen, der es erlauben würde, in 50 bis 100 Jahren konfrontiert, dass das Fernsehen ganz andere Bilder etwa 10 Mal soviel Güter und Services wie heute bereit- transportiert. zustellen, aber ohne vermehrte Umweltbelastungen und Wenn man etwas ein ganzes Leben lang gemacht hat, ohne vermehrten Ressourcenverbrauch zu verursachen. wenn das die Großmutter auch schon so gemacht hat, Das ist die größte technische, ingenieurwissenschaftliche wenn man jahrelang der Tochter erklärt hat, dass das so und naturwissenschaftliche Herausforderung, vor der die richtig ist, dann ist es generell, d. h. völlig unabhängig Menschheit je gestanden hat, und ohne die Lösung dieser von der Einzelthematik, schwierig, wenn plötzlich eine Herausforderung sehe ich keine friedliche Zukunft für Werbung kommt, in der alles anders und erlaubt ist, zum uns. Konsequenterweise stehen große wissenschaftliche Beispiel westliche Werbung, in der der nackte Körper per- Veranstaltungen wie diese hier im Kontext dieser Heraus- manent als selbstverständlich verfügbar präsentiert wird. forderung – eine große Aufgabe und eine große Verant- Und wenn sie erst einmal erleben müssen, wie die reiche wortung. Welt ihnen für 1 000 Euro die Tochter weg kauft und wenn sie dann sehen, wie diese dann nach drei Jahren verbraucht, zerstört und krank zurück kommt, wenn man Der Bumerang-Effekt – das Problem hinter dem als schwache, gedemütigte »Verlierkultur« das alles aus- Problem halten muss, dann kann man sich gut vorstellen, wie ver- zweifelt teilweise die Reaktionen sein werden. Und wenn Daraus den Schluss zu ziehen, das Problem der Mensch- Dominanz der Siegerseite ausgelebt, Demütigungen zum heit sei im Wesentlichen ein technisches, wäre allerdings Normalfall und als solche nicht einmal mehr bemerkt ein völliges Missverständnis. Dazu möchte ich Ihnen einen werden, und wenn jede Mäßigung fehlt, dann muss man weiteren Autor ans Herz legen, nämlich Jacques Neirynck sich nicht wundern, dass wir uns heute in der Nähe eines und dessen Buch »Der göttliche Ingenieur«. Dieses Buch Chaos befinden. Wobei der Begriff »Kampf der Kulturen« ist eine Hommage auf den Ingenieur. Der Ingenieur, der an den wirklichen Ursachen völlig vorbeigeht. Naturwissenschaftler, das sind die Kreativen, die immer wieder unsere Probleme lösen, und wer sonst sollte den beschriebenen doppelten Faktor 10 umsetzen (10 mal so Technischer Fortschritt ist dringend erforderlich hohes Weltbruttosozialprodukt, 10 mal so hohe Ressourcen- effizienz). Das Buch ist allerdings auch insofern bemer- Das ist eine schwierige Situation. Wir wissen nicht, wie kenswert, als es aufzeigt, dass die technische Lösung den- wir mit dieser fertig werden sollen. Was wir allerdings noch nur der kleinere Teil der Zukunftsgestaltung ist. wissen ist, dass Wissen und technischer Fortschritt Denn historisch betrachtet hat die Menschheit mit immer weiterhin und eher noch vermehrt erforderlich sind, um mehr Technik immer mehr Ressourcen verbraucht und die Summe der Erwartungen zu erfüllen, die im Moment immer mehr Dreck gemacht. Denn die Technik löst die im Raum stehen, wenn dies überhaupt je gelingen sollte. Probleme oft nur um den Preis noch größerer neuer Prob- Wir sind heute 6 Mrd. Menschen, wir werden bald bei leme – der so genannte Bumerang-Effekt. 10 Mrd. sein. Etwa 20 % der Menschen verbrauchen im Konsequenterweise wird auch heute auf diesem Glo- Moment 85 % der Ressourcen, das Verhältnis im mittle- bus der meiste Dreck mit der saubersten Technik ge- ren Verbrauch zwischen Arm und Reich liegt bei etwa macht. Dabei werden die Produkte pro Einheit immer 20:1. Der Zugriff der reichen Welt auf die Ressourcen- sauberer, aber die Anzahl der Einheiten wächst immer basis und die Verschmutzungspotentiale ist massiv. Und noch schneller, als wir pro Einheit sauberer werden. Weil das Schlimmste, was dem Globus im Moment passieren die Menschheit nämlich immer dafür votiert, mit immer könnte, wäre, wenn die Ärmsten auch nur annähernd so besserer Technik trotzdem und gleichzeitig immer noch reich würden, wie die Reichen es heute schon sind, denn mehr Ressourcen zu verbrauchen und in immer noch das würde sofort zu einem Ökokollaps führen. Das darf mehr Wachstum umzusetzen. Darum ist das vermeintliche allerdings niemand so sagen. Der Norden muss vielmehr »papierlose Büro« heute auch der Ort des größten Papier- so tun, als würde er wollen, dass die Menschen im Süden verbrauchs in der Geschichte der Menschheit. Jacques so reich werden wie wir, wissend, dass wenn dies gesche- Neirynck zeigt uns insofern die Janusköpfigkeit des »gött- hen würde, ein sofortiger Kollaps des Globus die Folge lichen Ingenieurs«. Er ist Lösung und Problem zugleich, wäre, also der Norden das gar nicht wollen kann – und oder anders ausgedrückt, er liefert Instrumente, aber über der Süden genau dieses auch ahnt. Die Verlogenheit un- den Effekt dieser Lösungen entscheiden gesellschaftliche serer Aussagen ist insofern für jeden spürbar. Gegebenheiten, nicht Ingenieure. Das ist eine schwierige Lage und diese ist international Das heißt aber, dass sich neben Fragen der immer bes- nur schwer zu beherrschen. Noch einmal – wenn über- seren Technik, und damit verbunden dem Thema eines 154 zfv 3/2004 129. Jg.
F. J. Radermacher, Perspektiven für den Globus – welche Zukunft liegt vor uns (Teil 1) Fachbeiträge ungeheuren Innovationstempos, das der Mensch mittler- tabel an. Sie haben auch eine teils andere Vorstellung weile kaum noch aushält, dennoch als größte Heraus- vom Großvaterprinzip. Sie sind der Meinung, Familien forderung die politisch-gesellschaftliche Frage stellt, wie hätten Konten. Und wenn man das Pech hat, dass der man für Rahmenbedingungen des Wirtschaftens sorgt, die eigene Großvater das Konto bereits »geplündert« hat, angesichts eines dauernden technischen Fortschritts si- dann ist dort leider nichts mehr zu holen. Demgegenüber cherstellen, dass die ökologische Situation und die Res- haben die Chinesen und die Inder den Vorteil, dass ihre sourcensituation stabil bleiben bzw. sich verbessern und Großväter das Konto zulässiger CO2-Emmissionen noch jedenfalls nicht noch weiter verschlechtern, wie das in gar nicht spürbar angetastet haben, das Konto also noch der Historie bisher immer der Fall war. vergleichsweise voll ist. Die Chinesen und Inder meinen deshalb ernsthaft, sie dürften pro Kopf erst einmal nach- holen, was wir im Norden an CO2-Emissionen schon ge- Verteilungsfragen auf globaler Ebene – tätigt haben. Und es ist offensichtlich, dass eine (welt-) Verschmutzungsrechte demokratische Entscheidung dieser Frage, also eine Ab- stimmung, dazu führen würde, dass die ärmere Welt die Diese Herausforderungen kann man im Moment in Rein- Mehrheit hat, und nicht die reiche, von dem größten kultur im Umfeld der CO2-Emissionen der Menschheit Emittenten, also den USA, erst gar nicht zu reden. und des Ringens um den Kyoto-Vertrag studieren. Die Ich persönlich setze angesichts dieser Ausgangslage Menschheit ist zur Zeit überzeugt, dass sie ein Klima- schon lange auf einen Kompromiss, der da heißt: »Ver- problem hat, und dafür spricht vieles. Ich will jetzt aber gesst die Großväter.« Heute hat jeder Mensch ein Recht nicht auf diese Frage hinaus. Um unser Thema zu behan- auf ein Sechsmilliardstel des zulässigen Emissions- deln, reicht es völlig, dass die Menschheit im Moment der umfangs. Und diese Rechte sind global handelbar. Wer Überzeugung ist, sie hätte ein Klimaproblem. In diesem dann viel emittiert, weil er reich ist, muss dafür in Zu- Punkt sind sich alle einig. Es gibt keine Regierung, die die kunft bezahlen, weil er dabei Verschmutzungsrechte ver- gegenteilige Position vertreten würde, es gebe mit Sicher- braucht, die einem anderen gehören. Wer weniger ver- heit kein Klimaproblem und wir müssten uns dieser Fra- braucht, als er Rechte hat, wird dafür bezahlt. In diesem ge nicht annehmen. Nicht einmal die USA nehmen eine Sinne hat der Rechtehandel die Wirkung einer globalen solche Position ein. Auf der Weltkonferenz in Rio in 1992 Ökosteuer, die sich ständig selber nach oben taxiert. waren sich die Regierungen deshalb auch alle einig, dass Wenn man so will, werden so die wahren Kosten der Um- die von Menschen verursachten weltweiten CO2-Emmis- weltbelastung in das welt-ökonomische System internali- sionen reduziert werden müssen. Wo wir uns weltweit siert, die Preise sagen anschließend endlich die Wahrheit. allerdings überhaupt nicht einig sind, betrifft die Frage, Aber der reiche Norden mag das nicht. Er weicht der was das nun für ein einzelnes Land und einen einzelnen Rechtefrage aus, um weiter preiswert »plündern« zu dür- Menschen bedeutet. fen. Würde man das ändern, wäre zum Beispiel sofort Und natürlich kann auch der größte Emittent für sich Schluss mit einem weltweiten Handel von Gütern nied- der Meinung sein, die Welt müsste ihren Verbrauch zwar rigster Wertschöpfung. insgesamt reduzieren, aber er selber dürfte noch zulegen. Wenn wir Orangen um den Globus transportieren, da- Das bedeutet ja nur, dass die anderen dann mit ihren bei auch noch das Wasser des Südens plündern, dafür Emissionen umso mehr nach unten müssen, damit die- noch nicht einmal richtig bezahlen, dann rechnet sich jenigen noch zulegen können, die ohnehin schon die das alles nur, weil die Umweltschäden und die induzier- größten Verbraucher sind. Meistens meinen ja auch die, ten sozialen Verwerfungen nicht in Rechnung gestellt wer- die schon das meiste verdienen, dass man bei den ande- den. Und anschließend müssen wir dann noch darüber ren sparen muss. Solche Meinungen werden oft vertre- diskutieren, ob wir unsere Bauern subventionieren dür- ten – offen oder trickreich versteckt. Menschen vertreten fen. Dies selbst da, wo die Bedingungen für Landwirt- gelegentlich überhaupt die merkwürdigsten Meinungen. schaft in Europa höchst ungünstig sind, z. B. in den Ber- Die Frage ist nur, wie das andere sehen. Der argumen- gen, wo wir andererseits aber bäuerliches Wirken zum tative Kampf geht hier um die Anwendbarkeit des so ge- Schutz des Landschaftsbildes und vor Lawinengefahr nannten »Großvaterprinzips«. Das Großvaterprinzip wür- wünschen. Dabei ist der internationale Marktdruck selber de Folgendes besagen: Wenn die Menschheit 20 % CO2- vor allem eine Folge der viel zu niedrigen Transportkos- Emissionen einsparen will, muss jeder 20 % einsparen. So ten – in beide Richtungen. Will man das ändern, müsste geht es oft auch bei Tarifverhandlungen zu, proportio- die reiche Welt erst einmal jedem Menschen die gleichen nale Anpassungen. Dann wird der Großemittent, der am Verschmutzungsrechte zugestehen. Von einer solchen meisten Dreck macht, am Ende auch noch erklären, er sei Position sind wir aber noch weit entfernt. der Einzige, der wirklich einspart. Denn nur wer richtig Die Ordnungsfrage wird allerdings im Bereich der Um- viel Dreck macht, leistet bei einer 20 % Reduktion auch welt immer mehr zur zentralen Frage. Wenn wir die Um- eine ernstzunehmende Einsparung im absoluten Sinne. welt schützen wollen, müssen wir uns weltweit einigen. Allerdings sehen die Chinesen und Inder diese Art der Wenn wir uns nicht einigen und jeder in der Folge tun Lösung aus irgendeinem Grund als vollkommen inakzep- darf, was er will, wird es so sein, dass wir in der Summe 129. Jg. 3/2004 zfv 155
Fachbeiträge F. J. Radermacher, Perspektiven für den Globus – welche Zukunft liegt vor uns (Teil 1) immer mehr tun von dem, was der Globus nicht aushält. könnt ihr beide das Geld behalten. Weigert er sich, be- Weil nämlich die Armen zu Recht tendenziell nachzu- komme ich das Geld zurück. holen versuchen, was die Reichen schon immer getan Das ist ein interessantes Spiel. Für einen pareto-opti- haben, und die reiche Welt nicht über Kofinanzierungs- mierenden Neoliberalen ist vollkommen klar, wie sich der maßnahmen und dazu korrespondierende Standards da- Kollege entscheiden muss. Denn selbst wenn ihm nur ein bei hilft, dies in einer umweltverträglichen Weise zu er- Euro angeboten wird, muss er »Ja« sagen. Denn wenn möglichen. Und dafür zahlen zum Schluss alle einen sehr beide mehr haben als vorher ist das Pareto-optimal, also hohen Preis. in individueller Betrachtungsweise für beide besser als vorher. Und wenn der eine 999 Euro mehr als vorher hat und der andere einen Euro mehr als vorher hat, dann ist Das soziale Problem – Überwindung von Armut als das rein zahlenmäßig zweifelsfrei besser für beide als der Herausforderung Zustand zuvor. Wieso soll sich auch jemand beschweren, wenn er, ohne etwas zu leisten, einen Euro geschenkt Aber die Umwelt, mit der man bekanntlich keine Kon- bekommt. Wenn der Betreffende dennoch nein sagt, ist sensgespräche führen kann, ist ja nicht das einzige welt- er ein Spielverderber, ein maßloser Sozialist, jemand der weite brennende Thema. So wichtig Nachhaltigkeit auch nicht gönnen kann, ein typischer Neiddebattler. So je- als Element von Gerechtigkeit zwischen den Generatio- mand ist kein Homo oeconomicus. nen, also als ein Thema der intergenerationellen Gerech- Interessanterweise ist es auf diesem Globus empirisch tigkeit ist, so sehr betrifft Nachhaltigkeit auch aktuelle allerdings ganz anders, als die marktfundamentalistische Gerechtigkeitsfragen, also Fragen einer intrageneratio- Theorie unterstellt. Unter einem Drittel Anteil wird bei nellen Gerechtigkeit. Tatsächlich ist es so, dass Gerechtig- normalen Größenordnungen und wenn Menschen nicht keitsfragen innerhalb unserer Welt-Gesellschaft heute die in Not sind, immer nein gesagt. Normale Menschen ak- Frage der Gerechtigkeit zwischen den Generationen völ- zeptieren in dieser Situation einfach keine Aufteilung lig dominieren. Das Hemd ist näher als der Rock. Reich unterhalb von einem Drittel. Es gibt eine Subgruppe, bei beutet Arm aus und beide zusammen die zukünftigen Ge- der das angeblich anders zu sein scheint, das sind ausge- nerationen. Wem soll man an dieser Stelle einen Vorwurf bildete MBA-Studenten. Diese akzeptieren wohl teilweise machen? Sicher nicht den Armen dafür, dass sie ihre legi- auch bereits fünf Euro. Man kann fast den Eindruck ha- timen Ansprüche nicht zugunsten zukünftiger Generatio- ben, dass ein Studium, das zumindest an manchen Orten nen zurückstellen wollen. zu nahe an marktfundamentalistischen Ideen platziert ist, Wenn man also eine total ungerechte Verteilung auf zu einer gewissen Veränderung des Gehirns beiträgt. Da diesem Globus etabliert und dem Armen sagt, er müsse kann man in mentale Zustände kommen, in denen man sich bescheiden zugunsten zukünftiger Generationen, Dinge akzeptiert, die eigentlich für Menschen und ihr Ge- dann sagt der zu Recht, die gibt es noch nicht, aber ich rechtigkeitsgefühl vollkommen unakzeptabel sind. bin schon da. Kümmere dich erst um mich, dann um die Wichtig ist für unsere Überlegungen, dass die meisten Zukunft. Wenn du dir also Gedanken über zukünftige Menschen auf diesem Globus eine Vorstellung davon ha- Generationen machst, dann mach’ dir erst einmal Ge- ben, was gerecht ist. Moderne Gehirnforschung zeigt auf danken über mich und die Generation, die hier vor die NMR-Tomographiebildern, dass bei unfairen Angeboten Hunde geht, und dann machen wir uns gemeinsam Ge- das Schmerzzentrum aktiviert wird. Und das ist schon bei danken über zukünftige Generationen. Wenn du aber Schimpansen so. Dabei ist in der oben beschriebenen Art meinst, dass du meine Entwicklung blockieren kannst mit des Ultimatumspiels die Willkür in der Zuordnung des dem Hinweis auf zukünftige Generationen, dann sage ich ersten Vorschlagsrechts wichtig. Denn das menschliche »Nein«. Gerechtigkeitsgefühl ist sehr weit ausdifferenziert. Wenn z. B. die Zuteilung des Rechts auf den ersten Zugriff auf irgendeiner objektiven, zuvor erbrachten Leistung be- Das Ultimatumspiel – Menschen sagen »Nein« ruht, dann werden sehr viel schlechtere Angebote akzen- tuiert. Wenn sich also jemand in akzeptabler Weise ver- Wir nähern uns jetzt einer sehr interessanten Thematik, dient hat, dass er den ersten Zugriff hat, dann ist die Vor- die man seit einiger Zeit in der empirischen Ökonomie im stellung von dem, was eine gerechte Aufteilung ist, ganz Kontext des so genannten Ultimatumspiels analysiert. anders, als wenn beide wissen, dass die erste Zuordnung Das ist ein Spiel, das naive Neoliberale und Marktfunda- vollkommen willkürlich und zufällig war. mentalisten mit ihren merkwürdigen Theoriekonstrukten à la Homo oeconomicus zutiefst irritiert. Das Spiel geht wie folgt: Der reiche Onkel aus Amerika legt 1 000 Euro Aktuelle weltpolitische Herausforderungen auf den Tisch, an dem zwei Personen sitzen. Er spricht zum ersten und gibt ihm den ersten Zugriff. Nimm Dir Übertragen wir die gemachten Beobachtungen jetzt auf davon soviel du willst, gib dem Kollegen den Rest – kei- die heutige Weltsituation, auf die Frage von Abkommen ne Kommunikation! Wenn der Kollege nicht ablehnt, zwischen Reich und Arm, z. B. zum Schutz der Umwelt, 156 zfv 3/2004 129. Jg.
F. J. Radermacher, Perspektiven für den Globus – welche Zukunft liegt vor uns (Teil 1) Fachbeiträge dann ergeben sich folgende Konsequenzen. Wenn der rei- stimmten Niveau sozialen Ausgleichs. Aber sozialer Aus- che Norden dem armen Süden ein Angebot macht, und gleich darf hier nicht so interpretiert werden, wie Markt- dieses Angebot beinhaltet auch für den Süden einen fundamentalisten das gerne versuchen, wenn sie sozialen (kleinen) Zuwachs, dann folgt daraus dennoch längst Ausgleich als wertevernichtend anprangern. Da wird nicht automatisch, dass der Süden »Ja« sagt. Wenn das dann immer die folgende Vorstellung transportiert: Wir Angebot zu schlecht ist, ist aufgrund des Gesagten eher hier arbeiten und die anderen liegen in der Hängematte zu erwarten, dass der Süden »Nein« sagt. und werden via sozialem Ausgleich mit Schampus für ih- Wie sagt man auf diesem Globus Nein? Die eine Art, re Party versorgt, bei der sie sich über uns, die wir fleißig dies zu tun, ist systematisch mit dazu beizutragen, die arbeiten, lustig machen. Umwelt zu zerstören. Man kann das im Moment ganz gut In Wirklichkeit leistet sozialer Ausgleich etwas ganz in Brasilien beobachten. Die reiche Welt erklärt zwar im- anderes. Sozialer Ausgleich besteht zunächst darin, eine mer, die Regenwälder seien wichtig und müssten erhalten Bevölkerung auf ein hohes Ausbildungsniveau zu bringen bleiben, zahlt aber nicht dafür, dass sie erhalten werden, und sie mit einer vernünftigen Infrastruktur zu versor- sondern zahlt nur, wenn man sie abholzt. Dann kaufen gen. Und zwar auch die Kinder »ärmerer« Eltern, was not- wir nämlich die Edelhölzer. In der Folge zerstören die wendigerweise eine substantielle Umverteilung über das Brasilianer immer schneller ihren Regenwald, auch um Ausbildungssystem und seine Finanzierung beinhaltet. uns zu zeigen, was das Ergebnis ist, wenn sie das tun, Das ist der wichtigste Beitrag des sozialen Ausgleichs. Als was wir ökonomisch honorieren. Es ist jedenfalls absurd, Folge tritt allerdings das ökonomische Problem auf, dass wenn die reiche Welt von ärmeren Ländern erwartet oder Gehirne, in die man soviel investiert hat, zu wertvoll gar fordert oder mit moralischem Unterton einzuklagen sind, um an Husten zu sterben. Weshalb eine Gesell- versucht, angesichts ihrer ohnehin begrenzten eigenen schaft, die die gesamte Bevölkerung gut ausbildet, die ge- ökonomischen Möglichkeiten eine wichtige ökologische samte Bevölkerung dann auch auf ein vernünftiges Ge- Ressource für die Menschheit zu erhalten, dies aber der sundheitsniveau bringen und halten muss. Dies bedeutet Menschheit, und vor allem ihrem reichen Teil, offenbar auch eine vernünftige Gesundheitsversorgung, u. a. auch keine substantiellen finanziellen Kompensationszahlun- wieder für den ärmeren Teil der Bevölkerung, was erneut gen wert ist. Das ist eine Stelle, wo der Süden »Nein« sagt ein Umverteilungselement beinhalten muss. Womit ein zu unserem Ansinnen, dass er auf seine Kosten für uns weiteres Problem auftritt. Wenn nämlich die gesamte Be- wesentliche globale Umwelt- und Bioressourcen schützt. völkerung gut ausgebildet und auch noch gesund ist, Eine andere Stelle, an der »Nein« gesagt wird, ist Ter- dann wird sie alt, eine weitere Problematik der Umvertei- ror. Terror ist auch eine systemische Reaktion auf Ver- lung und des sozialen Ausgleichs. Und jetzt haben Sie hältnisse, die man als zutiefst ungerecht empfindet und das zentrale Problem aller reichen Länder. Gut ausgebil- als auf legalem Wege nicht veränderbar ansieht. Wie dete Bevölkerungen, die gesund sind, mit Infrastruktur oben ausgeführt, ist dies auch eine Form von Kommuni- ausgestattet und alt werden. Nur – ist das eigentlich das kation, die dann bleibt, wenn die dominante Seite über Problem oder ist es das, was wir wollen? die Kontrolle der Spielregeln die anderen in einer Verlier- Jedenfalls gibt es kein reiches Land auf diesem Globus, position einzementiert und dann über ihre Kontrolle der bei dem der reichste Teil, die reichsten 20 %, mehr als die Medien der anderen Seite zudem faire Artikulations- Hälfte (50 %) des Bruttosozialprodukts bei sich allokieren möglichkeiten vorenthält, wie das in unseren Medien mit würde. Und in vielen der erfolgreichen Länder, vor allem ihren Sprachregulierungen der Political Correctness zu- Deutschland, Italien, Österreich, Nordeuropa, Japan, Ka- nehmend der Fall ist. nada, ist der Wert noch deutlich niedriger (etwa 40 %). Das heißt, dass ein hoher sozialer Ausgleich im Sinne einer begrenzten Allokation von Werten an der Spitze der Mathematische Instrumente zur Beschreibung von Pyramide offenbar eine notwendige (wenn auch nicht sozialer Ungleichheit hinreichende) Bedingung dafür ist, dass ein Land reich ist (im Sinne eines hohen Bruttoinlandprodukts pro Kopf). Ich habe mich lange damit beschäftigt, wie man mathe- Und das heißt auch Folgendes: So wahr es ist, dass sich matisch geeignet die Ungleichheit im sozialen Bereich Leistung lohnen muss, so falsch wäre es doch, wenn zu- beschreibt und wie eine gedeihliche Balance zwischen viel an der Spitze landet – hier stehen die lateinamerika- reich und arm aussehen könnte. Bzgl. der Einkommens- nischen und afrikanischen Länder als abschreckende Bei- verteilung gelten ähnliche Power-Law-Gesetze, wie sie spiele. Nirgendwo landet soviel an der Spitze wie dort. Da oben für Kommunikationsbeziehung in Netzen, z. B. zwi- lohnt sich Spitze wirklich. Aber die Länder sind bitterarm. schen Menschen, beschrieben wurden (Rolle der fetten Knoten). Im Kern läuft ein vernünftiger Ausgleich darauf hinaus, dass man dafür sorgt, dass die Schwächsten in Der »mittlere Wert des deutschen Gehirns« einer Bevölkerung mindestens über die Hälfte des Durch- schnittseinkommens verfügen. Das entspricht der euro- Es gibt eine interessante Untersuchung der Herrhausen- päischen Armutsdefinition, das entspricht einem be- Stiftung über die mittleren Werte des deutschen Gehirns, 129. Jg. 3/2004 zfv 157
Fachbeiträge F. J. Radermacher, Perspektiven für den Globus – welche Zukunft liegt vor uns (Teil 1) inklusive Abschreibung und nicht monetärer Inputs. sie diese Verhältnisse fort, die ungerecht sind und die Dieser liegt im Moment bei 125 000 Euro. Das ist unge- gleichzeitig das Land arm halten? fähr 5 mal das mittlere Bruttosozialprodukt pro Jahr in Wir sollten diese Frage nicht zu intensiv stellen. Das Deutschland und das ist mehr Geld, als die Deutschen im Problem für uns ist nämlich, dass der Globus als Ganzes Mittel als Vermögen besitzen. Das heißt auch, dass das in einem noch viel schlechteren Ausgleichszustand ist als wesentliche deutsche Anlagevermögen in den Gehirnen Brasilien. der Menschen steckt und nicht auf dem Konto. Und na- Brasilien als eines der Länder mit der höchsten Un- türlich ist es eine enorme politische Aufgabe des sozialen gleichheit ist so organisiert, dass die 20 % Reichsten etwa Ausgleichs, so etwas hinzubekommen. Die Schwierigkeit 65 % vom Kuchen haben. Solche Verhältnisse finden sich ist nur, dass der Preis dafür ist, dass die Spitze der Pyra- vor allem in Lateinamerika und Afrika. Auf diesem Glo- mide nicht beliebig über dem Durchschnittseinkommen bus als Ganzes betrachtet ist die Ungleichheit aber noch liegen kann. Es können nur sehr wenige sehr weit über viel extremer, da haben die Reichsten 85 % vom Kuchen. dem Durchschnitt liegen, wenn alle so gut ausgebildet Und wir alle in diesem Raum gehören zu den 20 %. Gegen werden, dass sie später mit ihrem Einkommen oberhalb den Globus als Ganzes ist Brasilien insofern eine Oase des der Hälfte des Durchschnitts platziert sind. sozialen Ausgleichs. Wir haben auf diesem Globus mit Ich will das Problem am Beispiel Brasilien beschreiben. seiner Weltökonomie in Zeiten der Globalisierung einen Brasilien ist ein sehr schönes Land und hat viele Gesich- Zustand, wie es ihn in der Geschichte der Menschheit ter. Aber es ist auch ein armes Land in einer pro-Kopf- wohl noch nie gegeben hat. Wir sitzen hautnah aufeinan- Betrachtung und hat zudem immer noch eine alte Kolo- der, wir tragen die Bilder der Möglichkeiten über Fern- nialstruktur. Dort landen etwa 65 % des Kuchens bei den sehen in die letzte Hütte und wir haben Einkommens- reichsten 20 %. Dieses Land ist in einem schwierigen Zu- unterschiede, wie es sie auf dem Globus noch nie gab. stand, in Teilen Afrikas sind die Verhältnisse noch prob- Als ich das vor ein paar Jahren in Zahlen sah, war lematischer. In Brasilien liegt das Bruttosozialprodukt pro mein Schluss, dass es Terror geben wird, wie immer in der Kopf etwa bei einem Achtel des deutschen Wertes, in Historie der Menschheit, wenn die materiellen Ungleich- Afrika in der Regel noch niedriger. Wenn Sie aber fragen, heiten und die Wirkungsmechanismen der Macht als völ- wie viele Menschen dort in einer Million Menschen mehr lig ungerecht erlebt wurden. Terror hat viele Gesichter, als 50 Mal das mittlere deutsche Bruttosozialprodukt aber oft ist er eine systemische Antwort auf einen Zu- verdienen – und das bedeutet für brasilianische Verhält- stand, der human unerträglich ist. Das ist oft ein Zustand nisse mehr als 400 Mal das mittlere brasilianische Brutto- von dem Charakter eines unfairen, aufgezwungenen Ulti- sozialprodukt –, dann gibt es in Brasilien mehr solcher matumspiels, wie es oben diskutiert wurde. Zustände, in Menschen als bei uns. denen Macht sich über einen legalisierten, aber unfairen Was aber hinzukommt, ist, dass hohe Einkommen für Mechanismus perpetuiert. Wenn aber jemand etwas als diese Reichen dort in mancher Hinsicht viel attraktiver unerträglich empfindet, z. B. als Verlierer dieser Prozesse, sind als das selbe Geld bei uns, weil nämlich personen- entscheidet er für sich selber, auch wenn die Gewinner an nahe Dienstleistung in Brasilien extrem preiswert, hier der Spitze der Pyramide das alles nicht so schlimm oder aber sehr teuer ist. Das ist auch ein Grund, warum unse- sogar in Ordnung finden. Und je mehr die Gewinner sich rer Diplomaten immer so frustriert sind, wenn sie aus einer ehrlichen Debatte entziehen, um so größer werden Afrika oder Lateinamerika zurückkommen, weil sie dann Hass und Wut. nämlich wieder alles selber machen müssen. Systemisch betrachtet muss aber ein Land arm sein, in dem zu viele Menschen mit der Teetasse hinter anderen Wie arm sind die Armen dieser Welt Menschen herlaufen. Denn es ist nicht besonders wert- schöpfend, hinter einem anderen die Teetasse herzu- Um Ihnen hierzu noch einmal ein paar Zahlen zu geben, tragen. Das ist der Grund, warum ich mich freue, dass wir sei folgendes erwähnt: Nach europäischer Armutsdefini- in Deutschland nicht zu viel preiswerte personennahe tion sollte kein Mensch auf diesem Globus unterhalb von Dienstleistung haben, auch wenn uns manche daher als 2 500 Dollar pro Jahr liegen, denn das durchschnittliche Dienstleistungswüste schmähen. Ich bin froh, in einer so Bruttosozialprodukt auf dem Globus ist momentan 5 000 verstandenen Dienstleistungswüste zu leben, denn wäre Dollar und niemand sollte unter 50 % des Durchschnitts es anders, wären wir ein armes Land. Wir sind aber kein liegen. Das würde bedeuten, dass niemand weniger als armes Land und genau deshalb haben wir nicht viel gut 6 Dollar pro Tag haben sollte. Tatsächlich liegt mehr preiswerte personennahe Dienstleistung. als die Hälfte der Menschen unter 2 Dollar und mehr Nun kann man sich fragen, warum Eliten in Brasilien als 1 Mrd. Menschen unter 1 Dollar pro Tag. In diesem diese Lage nicht ändern, wenn solche Verhältnisse bedeu- Kontext sei dann erwähnt, dass jede Kuh in Europa, aus ten, dass das Land viel ärmer ist, als es sein müsste. Wol- durchaus nachvollziehbaren Gründen, mit 2 Dollar pro len die Brasilianer arm bleiben, wollen die Eliten in Bra- Tag subventioniert wird. Was durchaus Sinn machen silien das? Wir hier im Saal erheben jetzt vielleicht inner- kann, denn indirekt wird so ein sozialer Ausgleich für die lich Vorwürfe gegen die Elite in Brasilien. Warum führen Bauern geleistet und für nicht agrarische Funktionen, die 158 zfv 3/2004 129. Jg.
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