Der emergentistische Systemismus Mario Bunges und das Systemtheoretische Paradigma der Sozialarbeits-wissenschaft und der Sozialen Arbeit (SPSA)

Die Seite wird erstellt Jessica Langer
 
WEITER LESEN
Der Systemismus Mario Bunges und das Systemtheoretische Paradigma der Sozialen Arbeit 1

 Der emergentistische Systemismus Mario Bunges und
 das Systemtheoretische Paradigma der Sozialarbeits-
     wissenschaft und der Sozialen Arbeit (SPSA)
                                Interview mit Werner Obrecht

               Interviewer: Marcel Krebs, Redaktion SozialArbeit.ch, Konstanz

Krebs: Im theoretischen Diskurs der Sozialen Ar-        bezogene Ontologien, wie etwa zu den Klassen
beit finden zurzeit vor allem zwei Arten von Sys-       der physikalischen, der biologischen oder der
temtheorien Eingang: Zum einen die soziologische
                                                        sozialen Dinge (Systeme); die (allgemeine)
Systemtheorie nach Niklas Luhmann und zum
andern der emergentistische Systemismus nach            Ontologie systematisiert die Gemeinsamkeiten
Mario Bunge, der vor allem durch Sie und durch          der verschiedenen Klassen von Dingen und
Frau Staub-Bernasconi für die Soziale Arbeit pro-       der Beziehungen, die sie untereinander unter-
duktiv gemacht wird. Welches sind die Grundge-          halten.
danken dieser Theorie?                                  Niklas Luhmann war demgegenüber ein phi-
                                                        losophierender Soziologe (oder Soziologie
Obrecht: Die Frage verlangt vorab eine klären-
                                                        treibender Philosoph), der weder explizit zwi-
de Unterscheidung von dreierlei: Mario Bunge
                                                        schen Philosophie und Wissenschaft, noch
ist ein Wissenschaftler-Philosoph, der strikt
                                                        zwischen philosophischen Problemen unter-
zwischen Wissenschaft und Philosophie unter-
                                                        schiedlicher Art unterschied, und der keinerlei
scheidet, diese jedoch als aufeinander ange-
                                                        Beziehung zur modernen analytischen und
wiesen auffasst und behandelt, statt sie, wie
                                                        wissenschaftsorientierten Philosophie unter-
nach wie vor verbreitet, durch scharfe Grenzen
                                                        halten hatte.
zu trennen. Er hat ein System von philosophi-
                                                        Luhmanns Lehre postuliert die Existenz von
schen Theorien entwickelt, die neue Antwor-
                                                        sozialen Systemen ("Es gibt soziale Systeme"),
ten auf eine grosse Zahl von klassischen Prob-
                                                        die diese jedoch nicht als sich verändernde
lemen aus allen Bereichen der theoretischen
                                                        konkrete Dinge, sondern als (immaterielle)
(Ontologie, Erkenntnistheorie, Semantik) und
                                                        Prozesse auffasst. Damit diese von anderen,
der praktischen Philosophie (Methodologie,
                                                        seiner Auffassung ebenfalls immateriellen
Ethik, Praxeologie, politische Philosophie)
                                                        Prozessen (den personalen) unterschieden
geben.
                                                        werden können, nimmt er eine, verglichen mit
Zu diesem System von Theorien gehört auch
                                                        allen bisherigen Versuchen, die Beziehung
eine (systemistische) Ontologie. Statt sich, wie
                                                        zwischen Akteur und sozialen Systemen zu
die Wissenschaften, auf die Untersuchung
                                                        klären, extreme ontische Trennung zwischen
einer Klasse von Dingen zu beschränken, ist
                                                        beiden vor, indem er diese beiden Arten von
eine Ontologie eine (hyperallgemeine) Theorie
                                                        „Systemen“ als aus sich selbst heraus existie-
der Grundzüge all dessen, was es gibt, oder
                                                        rend, d.h. als "autopoietische" Prozesse kon-
anders gesagt, was die Wirklichkeit, das Uni-
                                                        zeptualisiert.
versum ausmacht. Der Unterschied zwischen
                                                        Dies ist eine Auffassung, die im Widerspruch
einer Ontologie und einer wissenschaftlichen
                                                        zur Ontologie des Systemismus und syste-
Theorie ist damit lediglich einer der Allge-
                                                        mistischen Theorien sozialer Systeme steht.
meinheit, d.h. der Extension der Klasse der
                                                        Nach der letzteren werden soziale Systeme
Referenten: Die verschiedenen Wissenschaften
                                                        durch Handlungen menschlicher Individuen
liefern Beiträge zu verschiedenen speziellen
                                                        geschaffen, in Gang gehalten, verändert oder
oder lokalen, auf Teilbereiche der Wirklichkeit
Der Systemismus Mario Bunges und das Systemtheoretische Paradigma der Sozialen Arbeit 2

zerstört, wobei diese (neuromotorischen)                Theorie sozialer Probleme entscheidende Ver-
Handlungen angetrieben werden durch emo-                knüpfung von Theorien, die sich auf biologi-
tio-kognitive Prozesse, die, wie etwa im Falle          sche, psychische und soziale Systeme beziehen
von wahrgenommenen Gefahren oder Anrei-                 und andererseits die für Handlungswissen-
zen in Bezug auf biologische, (bio)psychische           schaften und Professionen grundlegende Ver-
oder (biopsycho)soziale Bedürfnisse, durch              knüpfung von Beschreibungs-, Erklärungs-,
äussere Gegebenheiten stimuliert werden kön-            Bewertungs-, Prognose-, Ziel-, Plan- und
nen. Kurz, soziale Systeme sind konkrete Sys-           Handlungswissen. Die spezifische, für das
teme mit Individuen als (letzten) Komponen-             SPSA charakteristische Verknüpfung von The-
ten, und sie sind konkret, weil diese Kompo-            orien ist das Ergebnis der Entwicklungsarbeit
nenten konkret sindi. Menschliche Individuen            seiner Autorinnen und Autoren, nicht von
sind sozial lebende Lebewesen einer besonde-            Mario Bunge, der zwar um das SPSA weiss,
ren Art, nämlich neugierige, aktive, bezie-             aber direkt nichts mit ihm zu tun hat.
hungs- und mitgliedschaftsorientierte, lern-,           Was nun den Systembegriff betrifft, vorab
sprach- und selbstwissensfähige Biosysteme,             dies: Das gegenwärtige philosophische Welt-
die hineingeboren werden und lebenslang                 bild ist gespalten in zwei alternative Sichtwei-
eingebunden sind teils in gegebenen (wie ver-           sen, eine ontologisch und erkenntnistheore-
wandtschaftliche Verhältnisse), teils in frei           tisch idealistische und eine ontologisch materi-
gewählten sozialen Systemen.                            alistische sowie erkenntnistheoretisch realisti-
Das Systemtheoretische Paradigma der Sozial-            sche. „Nach der ersten stehen unsere individu-
arbeitswissenschaft und der Sozialen Arbeit             ellen Bewusstseine oder steht unser kollektives
(SPSA) schliesslich ist ein System von meta-            Bewusstsein (mein Ich versus unsere mitein-
theoretischen (d.h. philosophischen), objekt-           ander kommunizierenden Iche) im Zentrum
bzw. basiswissenschaftlichen, sowie von all-            allen Fragens oder gar der Welt. Nach dieser
gemeinen handlungswissenschaftlichen und                Sicht ist das - entweder in uns oder ausserhalb
speziellen handlungswissenschaftlichen Theo-            von uns existierende – Geistige das Primäre. In
rien bzw. Methoden. Entwickelt und gelehrt              der zweiten Sicht ist umgekehrt die reale Welt
wird das SPSA seit drei Jahrzehnten von einer           das Primäre, d.h. vor uns da und ausserhalb
Gruppe von SozialarbeitswissenschafterInnen             von uns, und der Mensch ist ihr Produkt. Und
(Staub-Bernasconi, Geiser, Brack, Gregusch,             wir können die Welt, einschliesslich unserer
Obrecht u.a.). Dies geschah durch die Anwen-            selbst erkennen, weil wir - samt unserem Geist
dung der frühen systemistischen (Weltgesell-            – Teil von ihr sind. Hier kommt dem Men-
schafts)Soziologie von Peter Heintz und später          schen keine zentrale Stellung in der Welt zu.“
der Metatheorien Mario Bunges, nicht zuletzt            (Bunge & Mahner 2004: 1)
seiner systemistischen Ontologie und einer mit          Während nun Niklas Luhmanns Systemlehre
ihr korrespondierenden realistischen Philoso-           eine ontologisch idealistische (und holistische)
phie der Sozialwissenschaften, auf die Frage-           Systemauffassung jenseits eines nomologi-
stellungen und das verfügbare Wissen der                schen Wissenschaftsverständnisses ist – Luh-
Sozialen Arbeit. Die Metatheorien Bunges sind           mann verwirft das Erkenntnisprogramm der
Mittel der Systematisierung und der systema-            nomologisch-erklärenden Wissenschaften bei-
tischen Synthese (oder Integration) von                 läufig bereits auf der ersten Seite des Vorworts
Beschreibungs- und Erklärungswissen aus                 von "Soziale Systemeii" und entwickelt dann
allen möglichen Bereichen des disziplinär und           eine eigene Variante eines verstehenden Er-
paradigmatisch hochgradig fragmentierten                kenntnisprogramms auf der Grundlage einer
Wissens dieser Profession. Sie ermöglichen die          prozessmetaphysischen Ontologie, das er in
umfassende Nutzung des einschlägigen wis-               die Tradition Webers stellt -, ist der Systemis-
senschaftlichen Wissens der Gegenwart durch             mus die explizierte und systematisierte Onto-
die Wissenschaft der Sozialen Arbeit. Im Be-            logie der Natur- sowie jenes Teils der Sozial-
sonderen erlauben diese Metatheorien einer-             wissenschaften, die ontologisch materialistisch
seits die für die Entwicklung einer erklärenden         und erkenntnistheoretisch realistisch sind.
Der Systemismus Mario Bunges und das Systemtheoretische Paradigma der Sozialen Arbeit 3

Während die materialistischen Ontologien des            Werdens ist: Neben ihr gibt es gesetzmässige
8. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung (In-           stochastische, teleonome und, wie wir seit ein
dien) bis in die jüngste Vergangenheit physi-           paar Jahren wissen, „chaotische“ Prozesse (die
kalistisch waren, indem materiell sein für sie          gesetzmässige Prozesse einer besonderen Art
gleichbedeutend war mit physikalisch sein,              und nicht chaotisch im Sinne der Alltagsspra-
unterscheidet sich der emergentistische Mate-           che sind). Gesetze – nicht zu verwechseln mit
rialismus (Systemismus) grundlegend von                 Gesetzesaussage, die Aussagen über Gesetze
dieser Sicht: Zwar ist er per definitionem mo-          sind, oder gar mit Vorschriften mit Erlasscha-
nistisch, bezogen auf die eine, materiell ver-          rakter, - sind Regelmässigkeiten oder Muster
standene Wirklichkeit, doch ist er gleichzeitig         im Verhalten der Dinge (z.B. Bunge & Mahner
pluralistisch, bezogen auf die Vielfalt ihrer           2004: 41). Anders gesagt sind sie Ausdruck der
Eigenschaften. D.h. er anerkennt, wie der               Tatsache, dass im betreffenden Ding bestimm-
nächste Abschnitt zeigt, die Existenz unter-            te Eigenschaften auf eine invariante (konstan-
schiedlicher Arten von Dingen, nämlich neben            te, kovariante) Art verknüpft sind.
physikalischen auch chemische, biologische              Da Eigenschaften mit den Dingen entstehen,
(und im besonderen solche mit psychischen               zu denen sie gehören, entstehen mit neuen
Subsystemen), soziale und technologische (von           Arten von Dingen, d.h. mit dem Auftauchen
Menschen hergestellte Dinge: Artefakte).                eines neuen „systemischen“ Niveaus, auch
Der elementarste Begriff des emergentistischen          neue (emergente) Eigenschaften (vgl. unten)
                                                        und damit auch neue Gesetzmässigkeiten. So
Systemismus ist der eines konkreten Dings,
dessen Existenz unabhängig davon ist, ob es             gibt es Biogesetze erst, seit es Organismen gibt,
beobachtbar ist oder nicht (wie ein Atom oder           und psychische Gesetzmässigkeiten erst, seit
                                                        es plastische Nervensysteme gibt, und viele
ein Elektron) und ob es ‚greifbar‘ ist oder nicht
(wie etwa ein physikalisches Feld, das weder            soziale Gesetzmässigkeiten sind Ausdruck des
das eine, noch das andere ist). Danach ist alles,       Gesellschaftstyps, mit dem sie evoluiert sind.
                                                        Marktgesetze zum Beispiel entstanden mit den
was einer Veränderung fähig ist, ein solches
Ding. Umgekehrt kann unveränderlichen Din-              ersten Märkten.
gen wie Ideen oder Prozessen, die als von               Eine Differenzierung des Bisherigen ergibt sich
                                                        aus der Unterscheidung von einfachen und
konkreten Dingen unabhängig gedacht wer-
den (wie die luhmannschen sozialen und per-             komplexen Dingen, d.h. von Systemen. Unter
sonalen Systeme), keine Existenz gesprochen             einem System versteht man ein komplexes
                                                        Objekt, dessen sämtliche Teile oder Kompo-
werden – sie sind (gegebenenfalls nützliche)
Fiktionen.iii                                           nenten mit anderen Teilen desselben Objektes
Konkrete Dinge haben Eigenschaften, die so              in einer Weise gekoppelt sind, dass das Ganze
                                                        einige Charakteristika aufweist, die seine
real sind wie jene selber, wobei intrinsische
von relationalen, primäre von sekundären,               Komponenten nicht aufweisen, d.h. emergente
essentielle von akzidentellen, quantitative von         Eigenschaften (vgl. dazu und zum Folgenden
                                                        Bunge 1996: 20ff).
qualitativen und resultante (aggregierte) von
emergenten Eigenschaften unterschieden wer-             Systeme können konkret sein wie Zellen, Schu-
den können.                                             len oder Ökosysteme, begrifflich wie Theorien
                                                        oder semiotisch wie Texte; nur semiotische
Die allgemeinste ontologische Hypothese des             Systeme sind hybrid (d.h. eine Mischung aus
emergentistischen Systemismus lautet: Die               realen und fiktionalen Komponenten).
Welt besteht ausschliesslich aus konkreten
                                                        •   Ein begriffliches System ist eines, das aus
(materiellen) Dingen (und "Materie" ist die
                                                            Begriffen (in Luhmanns Idiom: Unter-
Gesamtheit aller materiellen Objekte – und
                                                            scheidungen) gebildet wird, die miteinan-
damit als ein Begriff selbst kein Ding).                    der durch logische oder mathematische
Eine zweite Hypothese besagt: konkrete Dinge                Operationen verknüpft sind (z.B. Klassifi-
verhalten sich gesetzmässig, wobei Kausalität               kationen und Theorien).
ein wichtige, nicht aber die einzige Art des
Der Systemismus Mario Bunges und das Systemtheoretische Paradigma der Sozialen Arbeit 4

•   Ein konkretes oder materielles System ist              ein Individuum ist, dass P dank dem Um-
    eines, das gebildet wird aus konkreten                 stand besitzt, dass es Komponente eines
    Dingen, die miteinander durch nichtbe-                 Systems ist (d.h. b würde P nicht besitzen,
    griffliche (physikalische, chemische, biolo-           wenn es unabhängig oder isoliert wäre)”
    gische oder soziale) Bindungen verknüpft               (Bunge 1996: 20).
    sind (z.B. Atome und Moleküle, Zellen
                                                           Beispiele für ersteres in Bezug auf soziale
    und Organe, Familien, Wirtschafts- und
                                                           Systeme: „die Sozialstruktur, Kohäsion,
    nichtgouvernementale Organisationen wie
                                                           Stabilität und Geschichte eines Systems;
    auch Regierungen und informelle soziale
                                                           Beispiele für letzteres: Rolle, Bürgerrechte,
    Netzwerke).
                                                           Knappheit und Preis“ (ibid.).
•   Konkrete Systeme, die für andere stehen
    oder andere Objekte repräsentieren, wie             Fakten sind in dieser Sicht Zustände oder Zu-
    Sprachen, Texte und Diagramme, können               standsänderungen von konkreten Dingen;
    symbolisch oder semiotisch genannt wer-             Prozesse sind Abfolgen von Zuständen und
    den (z.B. vertreten mit Tinte geschriebene
                                                        damit eine besondere Form von Fakten, jedoch
    Notenzeichen – eine Partitur – einen musi-
                                                        keine Veränderungen jenseits von Dingen (wie
    kalischen Sinnzusammenhang, etwa eine
    Melodie eines Musikstückes, oder durch              antisubstantialistische radikale Prozessualisten
    vertikale Striche getrennte Buchstaben              oder -metaphysiker wie Whitehead, Russell
    symbolisieren die „Harmonien“ des Stü-              [zur Zeit seiner Analysis of Matter], oder
    ckes, d.h. die Abfolge der Akkorde, die             Luhmann meinten). Für Systeme gilt, dass sie
    seiner Melodie zugrunde liegen).                    sich laufend wandeln: Sein heisst Werden.
                                                        (Der Systemismus [und mit ihm die heutigen
Im Folgenden beschränke ich mich der erfor-             Wissenschaften] ist mit anderen Worten ein
derlichen Kürze halber auf konkrete Systeme;            moderater und substantialistischer Prozessua-
begriffliche werden im Zusammenhang mit                 lismus).
dem biopsychosoziokulturellen Erkenntnis-               Je nach ihren bindungsstiftenden Eigenschaf-
und Handlungsmodell des sozialen Akteurs                ten und äusseren Bedingungen können sich
am Schluss kurz gestreift, semiotische wie              Dinge durch Selbstvereinigung wiederholt zu
dieser Text und das Internet ermöglichen die            Systemen höherer Ordnung vereinigen, wo-
vorliegende verbale Kommunikation.                      durch jeweils ein neues ontisches Niveau mit
Zu jedem gegebenen Zeitpunkt ist ein konkre-            emergenten Eigenschaften entsteht und die in
tes System charakterisierbar durch seine Zu-            solche Systeme integrierten ursprünglichen
sammensetzung, seine Umwelt, seine Struktur             Systeme zu Subsystemen werden (Dies ent-
(Organisation oder Architektur) sowie durch             spricht dem Sinn der allgemeinen Evolutions-
seine Mechanismen, oder anders gesagt durch             hypothese, heute konkretisiert durch unsere
jene internen Prozesse, die es in Gang halten,          Kenntnisse der atomaren, chemischen [bis zur
d.h. die es in gewissen Hinsichten verändern,           Entstehung des Lebens], biologischen und
während sie es in anderen Hinsichten erhalten.          sozialen Evolution – eine kulturelle Evolution
Die Struktur eines Systems ist das Gesamt der           gibt es auch, doch folgt diese keinen Gesetz-
konkreten Bindungen seiner Komponenten                  mässigkeiten im klassischen Sinne, da Ideen
(Endostruktur) wie auch zwischen diesen und             keine konkreten Dinge sind).
Umweltitems (Exostruktur). Dabei können die             Ein Niveau (eine Ebene, ein level) kann dabei
Bindungen wie gesagt physikalisch, chemisch,            als die Gesamtheit von Dingen aufgefasst
biologisch oder sozial sein.                            werden, für die bestimmte Eigenschaften spe-
Ausschlaggebend für den emergentistischen               zifisch ist und deren Verhalten deshalb Ge-
Systembegriff ist der Begriff der Emergenz, der         setzmässigkeiten unterliegt, unter denen min-
wie folgt definiert werden kann:                        destens einige für die Systeme spezifisch sind,
                                                        die das entsprechende Niveau bilden.
    "P ist eine emergente Eigenschaft eines
    Dinges b wenn und nur wenn entweder b               Die genannte allgemeine Hypothese spezifizie-
    ein komplexes Ding (System) ist, von des-           rend, heisst das: Alles was es gibt, ist entweder
    sen Komponenten keine P besitzt, oder b             ein System oder eine Komponente eines Sys-
Der Systemismus Mario Bunges und das Systemtheoretische Paradigma der Sozialen Arbeit 5

tems. (Das Universum ist das System, das je-             befähigen; ein soziales System ist eines, dessen
des andere Ding als Komponente enthält [aber             Komponenten Tiere einer bestimmten biologi-
keine Umwelt mehr hat], und jedes System –               schen Gattung sind und ein menschliches So-
mit Ausnahme des Universums – ist ein Sub-               zialsystem ist eines mit menschlichen Indivi-
system eines anderen.)                                   duen als Komponenten zusammen mit ihren
Gegenwärtig können auf der Erde folgende                 Artefakten (unbelebte wie technische und
fünf Arten von konkreten, d.h. materiellen               technologische Systeme – lebende wie Zucht-
Systemen unterschieden werdeniv:                         tiere oder veredelte Pflanzensorten sowie se-
                                                         miotische Systeme aller Art); technische und
1.   natürliche wie Atome, das Sonnensystem,             technologische Systeme sind Systeme, die
     starre („festverdrahtete“) Nervensysteme,
                                                         durch Menschen mit Hilfe von technischem
     Organismen, Insektensozietäten;
                                                         oder technologischem (wissenschaftsbasier-
2.   biopsychische (oder genauer: biospsycho-            tem) Wissen konstruiert und in Gang gehalten
     soziale und biopsychosoziokulturelle) wie           werden, semiotische Systeme bestehen aus
     Meerkatzen, Bonobos (Menschenaffen)
                                                         Zeichen wie Worte, Texte oder Figuren sowie
     und Menschen;
                                                         aus Menschen, die diese Zeichen zu Zwecken
3.   soziale (bzw. biosoziale oder biosoziokul-          der Kommunikation benutzen, und ein artifi-
     turelle) wie Familien, Cliquen, Schulen,
                                                         zielles System ist eines, das menschengemach-
     Firmen, Netzwerke und Nationalstaaten,
     aber auch soziale Systeme höherer Prima-            te Dinge enthält.
     ten;
                                                         Krebs: Welches sind die Erkenntnis- und wissen-
4.   technische und technologische unter-                schaftstheoretischen Implikationen der systemisti-
     schiedlicher Art wie Maschinen, Strassen-           schen Ontologie?
     und Fernsehnetzwerke, das Internet;
5. semiotische wie Sprachen, Musikscores,                Obrecht: In der systemistischen Sicht ist, wie
     Pläne und Karten und Texte aller Art, zu-           gesagt, die Welt vor uns Menschen da, und wir
     sammen mit ihren NutzerInnen.                       können sie erkennen, weil wir, nachdem wir
                                                         uns innerhalb dieser Welt - samt unserem
Ein natürliches System ist eines, dessen Kom-            Geist – zu dem entwickelt haben, was wir sind,
ponenten wie auch die Bindungen zwischen                 Teil von ihr sind, wobei unsere Sensoren und
diesen zur Natur gehören, d.h. nicht                     unser Wahrnehmungsapparat uns diese Welt
menschengemacht sind; Biosysteme im beson-               nur äusserst ausschnitthaft zeigen und auch
deren sind halboffene, sich für eine bestimmte           das noch in einer gesetzmässig qualitativ und
Zeit selbsterhaltende und –regulierende und              quantitativ stark transformierten Weise (z.B.
durch einen Metabolismus lebende Chemosys-               Schalldruckwellen → Töne; Moleküle in der
teme, die sich von ihrer Umwelt durch eine               Luft → Gerüche; elektromagnetischen Wellen
flexible und semipermeable Biomembran ab-                → visuelle Wahrnehmung). Das Ergebnis die-
grenzen und die sich an einige Umweltverän-              ses Prozesses ist unsere Erfahrungswelt (auch
derungen anzupassen vermögen, ohne gleich                [Kant’s] „Welt“ der Erscheinungen oder Phä-
die Fortsetzung ihrer Existenz aufs Spiel zu             nowelt oder Husserls Lebenswelt), die er-
setzen (für eine präzise, aber umfangreichere            kenntnistheoretische Phänomenalisten wie die
Definition vgl. Mahner & Bunge 2000: 137f.);             Neopositivisten oder die Radikalen Konstruk-
ein biopsychisches System ist ein Biosystem              tivisten als das Einzige betrachten, worüber
mit einem plastischen, d.h. lernfähigen Teil             etwas (Gewisses) zu wissen möglich sei und
(Cortex) und Menschen sind biopsychische                 auf die sie deshalb Aussagen aller Art, im Falle
Systeme einer besonderen Art, nämlich gesel-             des Positivismus auch wissenschaftliche, be-
lig lebende Biosysteme mit einem plastischen             schränkt haben möchten. (Alle Aussagen über
Nervensystem und einem Sprechapparat, die                jenseits der Phänowelt liegende Dinge und
sie zum Erwerb einer vokalen Sprache und                 Vorgänge, d.h. auch das Gesamt der naturwis-
damit zu Selbstbewusstsein im engen Sinne                senschaftlichen Aussagen, belegen Phänome-
                                                         nalisten und Radikalkonstruktivisten mit dem
Der Systemismus Mario Bunges und das Systemtheoretische Paradigma der Sozialen Arbeit 6

abwertend gemeinten Ausdruck „Metaphy-                  rer Wahrnehmung entziehen, aber gerade für
sik“; die Neopositivisten, gegen die sich Luh-          deren Verständnis und für unser Wissen über
mann wendet (vgl. Fussnote 1), beschränken              unser Wissen von grundlegender Bedeutung
sich deshalb auf die Beschreibung von „Ge-              sind (Gehirn-Selbstregulations-Paradox oder
setzmässigkeiten“ in wahrnehmbaren Daten –              der „blinde Fleck“ in der Koppelung unserer
und damit, da Daten durch Beobachtung und               Gehirnprozesse mit der realen Welt). (Zum
Messung erzeugt sind, auf eine Form von Ar-             aktuellen Stand der Korrespondenztheorie der
tefakten – und sie verzichten auf jede Erklä-           Wahrheit vgl. Bunge 2003: 237-149; Mahner &
rung durch Mechanismen, da sie „metaphysi-              Bunge 2000: 125-129).
sche“ Aussagen involvieren würden, und                  Ziel aller Faktenwissenschaften ist die Be-
Pragmatiker wie die Radikalen Konstruktivis-
                                                        schreibung, Erklärung und (bedingt) Prognose
ten vermeiden den Begriff der [objektiven]              von Fakten aller, d.h. physikalischer, chemi-
Wahrheit im Sinne von wahren Aussagen über              scher, biologischer, (bio)psychischer und sozia-
Fakten anhand von Daten und ersetzen ihn
                                                        ler Art. Ihr Mittel ist die wissenschaftliche
durch den der [subjektiven] Nützlichkeit oder           Methode, die aus einer Abfolge von Schritten
Viabilität.)                                            besteht: „Hintergrundwissen → Problem →
Für wissenschaftliche Realisten, zu denen fak-          Lösungskandidat (Hypothese, experimenteller
tisch alle Realwissenschafter einschliesslich           Design oder Technik) → Test → Evaluation
eines Teils der Sozialwissenschafter gehören,           des Kandidaten → eventuelle Revision entwe-
ist unsere Sehnsucht nach Gewissheit zwar               der des Lösungskandidaten, Überprüfung des
verständlich (und die Quelle allen dogmati-             Verfahrens, des Hintergrundwissens oder gar
schen Glaubens), Gewissheit über Fragen der             des Problems. Die Überprüfung von Aussagen
Welt aber unerreichbar. Sie haben sich deshalb          besteht im Testen sowohl der (logischen) Kon-
damit abgefunden, dass das Beste, was zu                sistenz wie auch der (empirischen) Wahrheit,
haben ist, empirisch gut geprüftes und logisch          die sich oft als nur partiell erweist. Ein solcher
konsistentes, aber auf immer fallibles und da-          Test mag begrifflich, empirisch oder beides
mit vorläufiges wissenschaftliches Wissen ist.          sein. Kein Item, ausgenommen Konventionen
Und sie halten daran fest, dass die Wissen-             und mathematische Formeln, kann von empi-
schaften hinter die Welt der Erscheinungen zu           rischen Tests ausgenommen werden. Noch
blicken und die Dinge in ihrem Aufbau, ihren            gibt es irgendeine Wissenschaft ohne Test –
inneren Prozessen und in ihrem nach aussen              oder irgendeine Wissenschaft ohne die Suche
gerichteten Verhalten zu erkennen trachten,             oder Nutzung von Mustern” (Bunge 1998: 1).
die sich wegen ihren ihrer Gestaltlosigkeit,            Nach diesen Bemerkungen zum Wissenschaft-
ihrer (kleinen) Grösse, ihren besonderen Quali-
                                                        lichen Realismus nun zur Rolle der systemisti-
täten, ihrer hohen Geschwindigkeit oder gros-           schen Ontologie in dieser Wissenschaftsauffas-
sen räumlichen Entfernung durch unsere Sen-             sung: Zunächst postuliert diese Ontologie, wie
soren nicht erfassen und erst recht nicht mit
                                                        erwähnt, die Existenz einer ausschliesslich
begrifflichen Mitteln der vorwissenschaftli-            materiellen Welt, der wir selber (zusammen
chen magisch-religiösen und philosophischen             mit den Vorgängen in unserem Gehirn) ange-
Weltbilder angemessen beschreiben und erklä-
                                                        hören und über die wir, wie angedeutet, etwas
ren lassen. (Zur Ablehnung dieser Ziele durch           wissen können, weil unsere kognitiven (Ge-
Luhmann vgl. Luhmann 1993.) Mit zu den                  hirn)Prozesse in direkten Kontakt mit Vorgän-
Fragen der Wissenschaften gehören heute jene
                                                        gen in den sensorischen Bereichen unseres
nach den Wirkungen der realen Dinge auf                 Gehirns treten können, die eine gesetzmässige
unsere Sensoren und nach den Mechanismen                Folge von Ereignissen in unseren Sensoren
ihrer Transformation in wahrnehmbare neuro-
                                                        sind, die ihrerseits in gesetzmässiger Weise
nale Erregungsmuster in den sensorischen                Ereignisse in ihrer Umgebung zu registrieren
Bereichen des Cortex. Das sind Fragen nach              und weiterzuleiten vermögen. Sodann postu-
Prozessen, die sich bekanntlich ebenfalls unse-
                                                        liert sie, über elementare physikalische Dinge
Der Systemismus Mario Bunges und das Systemtheoretische Paradigma der Sozialen Arbeit 7

wie Elektronen, Photonen u.a. hinaus, die Exis-         Dieser mechanismische Begriff des Erklärens
tenz von Systemen unterschiedlicher Art und             ist nicht nur auf physikalische und biologische
besagt, dass jedes Ding und damit jeder mögli-          Systeme ohne (plastische) Nervensysteme
che Gegenstand einer wissenschaftlichen Un-             anwendbar, sondern auch auf biologische mit
tersuchung, entweder ein System ist oder eine           einem plastischen Nervensystem (höhere Wir-
Komponente eines Systems.                               beltiere, im besonderen Primaten, einschliess-
Der Begriff des konkreten Systems bildet nun            lich Menschen) sowie auf soziale Systeme, d.h.
die ontologische Grundlage des sich heute in            auf alle konkreten Systeme (methodologischer
den Wissenschaften durchsetzenden mecha-                Monismus): Da emotio-kognitive Prozesse wie
nismischen (nicht mechanistischen) Erklä-               Wahrnehmung, Begriffsbildung, Denken (Un-
rungsbegriffs des Wissenschaftlichen Realis-            terscheiden), Wollen, Planen, Entscheiden
mus (z.B. Bunge 1997, 2004 a, b). Dieser be-            Bioprozesse einer besonderen Art, nämlich
schränkt sich nicht, wie der rein formale „sub-         Prozesse in den plastischen Breichen von Ner-
sumtionistische Erklärungsbegriff“ des Neo-             vensystemen sind, sind sie auch gesetzmässig.
positivismus, auf die Verallgemeinerung von             Auf der Grundlage solcher interner Mecha-
Beziehungen (Gesetzmässigkeiten) zwischen               nismen kann menschliches Verhalten und im
(phänomenalen) Daten (vgl. Fussnote 1). Er              besonderen soziales Handeln genau so erklärt
versteht Daten vielmehr als Indikatoren für             werden wie irgendetwas anderes auch. Dies
konkrete Fakten, und Regelmässigkeiten in               geschieht durch das Postulieren bzw. Nach-
den Daten als mögliche Folge von und deshalb            weisen konkreter emotio-kognitiver (psychi-
als mögliche Hinweise auf Gesetzmässigkeiten            scher) und neuromotorischer Mechanismen
in den untersuchten Dingen, die er, statt sie           des sozialen Akteurs (z.B. durch bildgebende
nur zu verallgemeinern (Induktion), als eine            Verfahren oder Befragung oder beides (z.B.
Folge der Aktivität der Komponenten der in              Rilling 2002) unter den gegebenen äusseren
Frage stehenden Dinge unter gegebenen äus-              Bedingungen wie etwa vorangegangener In-
seren Bedingungen versteht und zu erklären              teraktionen und der Position des Akteurs in
versucht. Logische Subsumtion verschwindet              der Positionsstruktur des sozialen Systems, in
dabei nicht, sondern wird zum logischen As-             das er oder sie involviert ist. Dabei sind an
pekt des Erklärens, der um den entscheiden-             einem solchen Prozess verschiedene systemi-
den ontologischen Aspekt ergänzt wird, jenen            sche      Niveaus      beteiligt:  biologische,
des Identifizierens der wirksamen Mechanis-             (bio)psychische (emotio-kognitive) und sozia-
men. Eine Eigenschaft (oder eine gesetzmässi-           le, in Bezug auf die je bottom-up- und top-
ge Beziehung zwischen Eigenschaften) und im             down-Mechanismen wirksam sind und ent-
Besonderen ein Verhalten eines Systems zu               sprechend mikroreduktive und makroredukti-
erklären, heisst danach den Mechanismus oder            ve Erklärungen erforderlich sind. (In der Pra-
die Mechanismen aufzudecken, dem oder                   xis wird man sich je Disziplin oder Fall in der
denen sie ihre Existenz verdankt. Klar, aus der         Regel auf 3 Niveaus beschränken, auf das Ni-
Sicht von Phänomenalisten und Pragmatisten              veau des fokussierten Systems, auf dessen
(Radikalkonstruktivisten) ist all das „Meta-            Komponenten und auf dessen Umwelt, genau-
physik“. Wissenschafterinnen und Wissen-                er, auf dessen Position in einem oder mehrerer
schafter werden allerdings auch künftig kaum            Systeme, deren Mitglied (Komponente) es ist
davon abzubringen sein, die Welt zu beschrei-           (vgl. dazu auch die Antwort auf Frage 1). So
ben und zu erklären versuchen, wie sie (nach            können etwa, beginnend mit dem höchsten der
unserem gegenwärtigen Wissen) ist, und sich             betrachteten Niveaus, Eigenschaften sozialer
nicht damit begnügen zu erleben, wie sie uns            Systeme auf die Handlungen der involvierten
erscheint. Und schon gar nicht werden sie das,          Akteure zurückgeführt werden (bottom-up-
was in unseren Köpfen vorgeht, für die Wirk-            Erklärung bzw. Mikroreduktion 1) und diese
lichkeit halten.                                        ihrerseits auf deren Position in der Struktur
                                                        des Systems und ihre inneren Zustände (top-
                                                        down-Erklärung bzw. Makroreduktion 1).
Der Systemismus Mario Bunges und das Systemtheoretische Paradigma der Sozialen Arbeit 8

Dies ist eine mechanismische sozialwissen-              anderen, bis heute noch nicht expliziten Onto-
schaftliche Erklärung, indem bottom-up- mit             logie an.
top-down-Mechanismen kombiniert werden
statt entweder, wie es Individualisten tun, top-        Krebs: Der Begriff der Emergenz beinhaltet die
down- gegen bottom-up-Mechanismen auszu-                These, dass es zu einem Qualitätswechsel kommt.
spielen oder umgekehrt, wie in den verschie-            Mit welchem Mechanismus lässt sich dieser Quali-
                                                        tätswechsel erklären?
denen Varianten des Holismus. Handlungen
sind aber ein Verhalten eines Systems (hier             Obrecht: Ich beginne mit einer Klärung einer
eines Menschen), die ihrerseits mechanismisch           Konfusion um den für jede Systemtheorie
erklärt werden können, nämlich durch die                grundlegenden Begriff der Emergenz, wie sie
Aktivität von emotio-kognitiven neuronalen              im "starken” Emergenzbegriffs zum Ausdruck
Netzen (Psychonen) innerhalb des plastischen            kommt, den auch Luhmann verwendet (1987a:
Teils des Gehirns des Handelnden. Solche                43) und wonach Emerenz im Auftreten neuer
Netze werden etwa angeregt durch komplexe               Eigenschaften bestehe, die nicht erklärt werden
sensorische Muster in Sensoren und Sensorsys-           könnten. Hier liegt insofern ein "Kategorien-
temen, die den sensorischen Bereichen des               fehler” vor, als eine ontologische Eigenschaft,
Gehirns zugeführt werden und die ihrerseits             das Auftreten einer neuen Eigenschaft eines
durch äussere Ereignisse wie soziale Hand-              Dinges, durch eine erkenntnistheoretische defi-
lungen Dritter verursacht werden (MaR 2),               niert wird, die der Erklärbarkeit (dazu und
und sie aktivieren in der Folge über neuro-             zum Begriff der Subvenienz Jaegwon Kims als
motorische Mechanismen die Muskulatur der               einer modischen Variante des „starken“ Emer-
Extremitäten des Organismus so, dass eine               genzbegriffs vgl. Bunge & Mahner 2004: 154,
Handlung zustande kommt (MiR2). (Hand-                  244f.). Die bereits definierte Eigenschaft „e-
lungen können auch ohne äusseren Anlass                 mergent“ mit ihren beiden Bedeutungen ist zu
durch innere Aktivitäten wie bewusstes Den-             unterscheiden vom Prozess der Emergenz, der
ken oder nicht bewusste Bedürfnisse zustande            Entstehung neuer Eigenschaften (und seinem
kommen.) Während die Aktivität der Psycho-              Gegenstück, dem Submergieren); auf ihn zielt
nen in systemistischer Sicht identisch ist mit          die Frage. Es sind verschiedene Prozesse, die
dem, was wir subjektiv erleben, sind Psychone           zum Emergieren neuer Eigenschaften führen,
selber neuronale Systeme mit emergenten Ei-             so das Emergieren von neuartigen Systemen
genschaften als Folge der Aktivität von in neu-         oder von Systemen einer bereits existierenden
ronale Netze eingebundenen Neuronen. Es                 Art aus präexistierenden Dingen, das Inkorpo-
sind diese Neuronen, die in Abhängigkeit von            riertwerden solcher Dinge in ein existierendes
ihrer Mitgliedschaft und Position im Netz ak-           System oder ein anderweitig bedingter Wan-
tiviert werden (MaR3) und deren Aktivität im            del der Struktur eines Systems. Auf die Frage
Verein mit der Struktur des Netzes die emer-            nach Emergenzmechanismen gibt es keine
genten Eigenschaften und damit das Verhalten            allgemeine Antwort, denn es gibt noch viel
des Netzes erklären (MiR 3).                            mehr Mechanismen, als es Arten von Dingen
Dies ist eine der Leistungen des Systemismus:           gibt. Die Kenntnis der Mechanismen der Er-
Er erlaubt, das interdependente Geschehen in            zeugung neuer Eigenschaften ist deshalb für
und zwischen Dingen, die verschiedenen Sys-             die Definition des philosophischen Begriffes
temebenen angehören, via den Begriff des                der Emerenz irrelevant, während deren Erhel-
mechanismischen Erklärens zu erhellen und               lung eine Aufgabe der verschiedenen Wissen-
auf diesem Wege das Wissen ehemals durch                schaften ist und den wichtigsten Teil ihrer
unüberbrückbar scheinende Klüfte getrennte              Arbeit ausmacht. Meist sind einige dieser Me-
Disziplinen wie Biologie, Psychologie und               chanismen bekannt (z.B. die Entstehung eines
Soziologie in systematischer Weise zu ver-              neuen Lebewesens durch die Befruchtung
knüpfen. Für den Begriff der Autopoiese hat             einer Eizelle oder einer Ehe durch das Entste-
diese Sicht keine Verwendung; er gehört einer           hen und Legalisieren einer Liebesbeziehung),
                                                        während andere noch unverstanden sind (z.B.
Der Systemismus Mario Bunges und das Systemtheoretische Paradigma der Sozialen Arbeit 9

die Entstehung unserer Erfahrungswelt). Ob               ropäisches Denken deklassieren, an ihrer Stelle
verstanden oder nicht: das Emergieren neuer              jene von Prozessen postulieren und glauben,
Eigenschaften ist tatsächlich ein Wandel von             sie könnten so eine ontologiefreie Theorie
Qualität, entweder in Form der Veränderung               entwickeln. Dies ist genauso eine alte („alteu-
der in der Welt existierenden Qualitäten im              ropäische“) Illusion (Heraklit) wie ihr eleati-
Zuge des Auftretens neuer Arten von Dingen               sches Gegenstück, die Vorstellung der Existenz
(Phylogenese, Evolution) mit absolut neuen               unwandelbarer Dinge (Parmenides von Elea).
Eigenschaften (z.B. Wahrnehmungen bzw.                   Zunächst setzt jeder Anspruch, etwas zu er-
„Phänomenen“ und später von empirischen                  kennen, die Existenz der als seiend vermuteten
und dann transempirischen begrifflichen Sys-             Items voraus, ob diese nun als Substanz oder
temen innerhalb von Nervensystemen) oder                 als Prozess unabhängig von einer Substanz
des Hinzukommens einer oder mehrer Eigen-                verstanden werden (deshalb die Versicherung
schaften im Zuge der Veränderung eines Din-              Luhmanns, dass es Systeme gebe [Luhmann
ges (Ontogenese) wie der Erwerb einer Spra-              1987a: 30]). Ontologie aber ist die Lehre des-
che und das Lernen einer Theorie. Submergenz             sen, was es gibt und wie es sich wandelt,
ist im übrigen der umgekehrte Prozess. Bei-              gleichviel, welche Arten von Existierendem
spiel: Lernen ist das Emergieren neuer Eigen-            postuliert werden. Sodann sind Prozesse Ab-
schaften eines Lebewesens mit einem plasti-              folgen von Veränderungen; Veränderungen
schen Nervensystem, nämlich neuer Wissensi-              sind aber immer Veränderungen von etwas,
tems in Form neuer neuronaler Netze und der              d.h. eines Dinges, wie immer dieses auch kon-
Veränderung der Endo- oder Exostruktur be-               zeptualisiert sein mag. Die Vorstellung einer
stehender, das Vergessen von Items ist ihr               Veränderung „an sich“ ist eine logische Fehl-
Submergieren; oder: die Entstehung menschli-             konstruktion, zu der sich Theoretiker unter-
cher Gesellschaften war begleitet von der                schiedlichster Orientierung immer wieder
(erstmaligen) Emergenz der Eigenschaften von             haben verführen lassen, sei es um irgendeine
Stammesgesellschaften; mit dem Verschwin-                Form des (unhaltbaren) Eleatismus zu vermei-
den menschlicher Gesellschaften und mit ih-              den oder um der Veränderbarkeit der Dinge
nen von Menschen auf der Erde werden die                 der Welt Rechnung zu tragen. Kurz, das von
Eigenschaften von humansozialen Systemen                 Luhmann und anderen verfolgte Programm
submergieren wie auch die besonderen biolo-              der Deontologisierung von substantiven Theo-
gischen, psychischen und sozialen Eigenschaf-            rien ist undurchführbar und endet in Aporien.
ten ihrer Komponenten.                                   Bei Luhmann beginnt dies bereits mit seiner
                                                         zirkulären Definition des Systembegriffs: „Bei
Krebs: Im Gegensatz zur Theorie Niklas Luhmanns          der Frage »was ist...?«, (stösst) jeder Beobach-
ist die Theorie Mario Bunges eine explizit ontologi-     ter auf eine Paradoxie. Ein System ist die Diffe-
sche Theorie. Welches sind Ihrer Meinung nach die        renz von System und Umwelt, ist die Grenze,
Vor- und Nachteile einer ontologischen Theorie,
                                                         die eine innere Seite (System) und eine äussere
und wo sehen Sie die Vor- und Nachteile einer
Theorie, die deontologisiert?                            Seite (Umwelt) trennt.“ (Luhmann 1994: 51;
                                                         Hervorhebung im Original). Darüber hinaus
Obrecht: Um es vorweg zu nehmen: eine Theo-              verlangen bekanntlich auch Ausdrücke, mit
rie einer Real- oder besser einer Faktenwissen-          der im Rahmen einer Definition ein Begriff
schaft kann nicht nichtontologisch sein. Vertre-         definiert wird, nach einer Definition, zumin-
ter einer “Deontologisierung” der Erfahrung              dest solange sie nicht elementar und nur noch
wie Heidegger oder von basiswissenschaftli-              durch Hinweishandlungen definierbar sind. So
chen Theorien wie Luhmann meinten und                    ist in der Definition von Luhmann eine Grenze
meinen, auf den Substanz- bzw. Dingbegriff               etwas (?), was eine Seite (?) von einer anderen
verzichten zu können, indem sie die Existenz             Seite (?) trennt (?). All das sind Metaphern –
von Dingen im Sinne von substantiellen Indi-             wie neben Analogien das Meiste bei Luhmann.
viduen mit ihren Eigenschaften leugnen (und              Metaphern sind aber der Stoff, aus dem Poesie,
den Gebrauch solcher Begriffe etwa als alteu-            nicht aber wissenschaftliche Theorien gemacht
Der Systemismus Mario Bunges und das Systemtheoretische Paradigma der Sozialen Arbeit 10

ist und erst recht nicht die Begriffe wissen-          Widerspruch zu allen reifen Wissenschaften
schaftsbezogener Philosophie, die vielmehr die         steht und von Analogien, Metaphern und Pa-
Natur und Funktion verschiedener Arten von             radoxien lebt.
Begriffen zu klären und ungeeignete Arten zu
eliminieren hat (Bunge 2001a). In den Wissen-          Krebs: Wo sehen Sie nun die Stärken des System-
schaften geht es demgegenüber um die Her-              begriffs der systemistischen Ontologie im Bereich
kunft, den Aufbau, den Wandel und den Zer-             sozialwissenschaftlicher Fragestellungen oder an-
                                                       ders gesagt, in der lokalen Ontologie des Sozialen?
fall von konkreten Dingen jenseits der bildhaf-
ten Phantasien, die wir mit den Mitteln der            Obrecht: Zunächst ist die systemistische Onto-
Phänowelt zu erzeugen vermögen. Zum Ver-               logie eine zeitgemässe, in aller Breite, Tiefe
gleich der Begriff der Grenze, wie er im Rah-          und Präzision entwickelte Ontologie, wie man
men des systemistischen Systembegriff defi-            sie nicht (mehr) für möglich gehalten hat, und
niert und von jenem der (geometrischen) Ges-           eine materialistische von einem vollkommen
talt unterschieden wird: In dieser Sicht ist alles     neuen Zuschnitt obendrein: Sie ist eine Syste-
ein konkretes Ding, was einer Veränderung              matisierung der Ontologie der Faktenwissen-
fähig ist (also nicht nur ein Atom, ein Stein,         schaften (Bunge & Mahner 2004), die auch die
eine Zelle, ein Gehirn, sondern auch ein elekt-        Systematisierung der lokalen Ontologien und
romagnetisches Feld oder ein Ökosystem), und           allgemein die Philosophien der Physik (Bunge
komplexe Dinge sind Systeme aus Komponen-              1973), der Biologie (Mahner & Bunge 2001),
ten mit einer Endo- und einer Exostruktur, die         der Psychologie (Bunge & Ardila 1990) und
eine geometrische Gestalt und eine Oberfläche          der Sozialwissenschaften (Bunge 1996, 1998,
haben können (wie Steine, Pflanzen, Tiere)             1999, 2004 a, b) umfasst. Zusammen mit den
oder auch nicht (wie Atome, soziale und Öko-           anderen Teilen des Systems wie der Erkennt-
systeme). Alle Systeme aber haben in dieser            nis- und Wissenschaftstheorie, der Semantik,
Sicht eine Grenze, die gebildet wird durch             Axiologie, Praxeologie und Philosophie der
diejenigen Komponenten eines Systems, die              Technologie und der Ethik (für eine Übersicht
direkt mit einem oder mehreren Dingen aus              vgl. Mahner 2001) schlägt sie eine Vielzahl von
dessen Umgebung verknüpft sind. Nicht die              Lösungen für teils viel und teils wenig beach-
bindende Exostruktur eines Systems stellt so-          tete, aber grundlegende und schwierigste be-
mit dessen Grenze dar, sondern die Teilmenge           griffliche Probleme in den verschiedensten
seiner Komponenten, die in seine Exostruktur           Wissenschaften        vor.     (Zur    [säkular-
einbezogenen ist (Bunge & Mahner 2004: 76f).           humanistischen!] politischen und zur Sozial-
Luhmann wie auch die Positivisten, die er              philosophie Bunges, die ebenfalls zu seinem
ablehnt, lehnen Ontologie ab, ohne auf eine            philosophischen System gehört, vgl. ebenfalls
implizite Ontologie verzichten zu können; und          Mahner 2001.)v Entsprechend nützlich ist sie
er tut dies, wie auch die Positivisten, ohne den       für wissenschaftsorientierte Philosophen und
Ausdruck Ontologie zu definieren. Ihre Onto-           gegenüber metatheoretischen Problemen offe-
logie gehört damit zu ihrem "blinden Fleck".           ne Wissenschafter. Für die letzteren stellt sie
Während der Kampf der Positivisten dem                 ein gehaltvolles und produktives philosophi-
ontologischen und erkenntnistheoretischen              sches Hintergrundwissen bereit, das die Ent-
Realismus galt und sie bei einer Ontologie             wicklung wissenschaftlichen Wissens stimu-
landeten, die die Existenz von Phänomenen              liert und erleichtert. Wegen der breiten Be-
postulierte (was nicht falsch, aber unvollstän-        schäftigung mit Problemen der Philosophie
dig ist), galt der Kampf Luhmanns der vorwis-          der Praxis (Praxeologie) und der Technologie
senschaftlichen Substanzmetaphysik und un-             ist sie, anders als die bisherige Wissenschafts-
ausgesprochen wohl auch dem Materialismus.             theorie, nicht nur für die Grundlagenwissen-
Dieser Kampf gegen die alteuropäische Sub-             schaften von Bedeutung, sondern erst recht für
stanzmetaphysik endete in einer nicht weniger          die Handlungswissenschaftenvi. (Für die Sozi-
alteuropäischen Prozessmetaphysik, die im              alwissenschaften als Grundlagenwissenschaf-
                                                       ten vgl. Bunge 1998; für die Sozialarbeitswis-
Der Systemismus Mario Bunges und das Systemtheoretische Paradigma der Sozialen Arbeit 11

senschaft als Handlungswissenschaft vgl.               (a) eine gemeinsame Umwelt teilen und die (b)
Obrecht 2001, 2003, 2005).                             auf andere Mitglieder des Systems auf Arten
Die Ergänzung dieser Funktion der systemisti-          einwirken, die zumindest in einer Hinsicht
schen Ontologie und Philosophie im allgemei-           kooperativ sind. Ein menschliches Sozialsystem
nen besteht in ihrer Funktion als Ressource der        ist ein soziales System, das gebildet wird aus
Analyse, Systematisierung und Kritik von               menschlichen Individuen und ihren Artefak-
wissenschaftlichen und philosophischen Theo-           ten“ (Bunge 1996: 271). Darin eingeschlossen
rien und Lehren, wie sie hier in Bezug auf das         sind „symbolische“ Systeme aller Art.
imposante Werk Niklas Luhmanns angedeutet              Emergente Eigenschaften sozialer Systeme
worden ist.                                            sind insbesondere die Eigenschaften ihrer Inte-
                                                       raktions- und Positionsstruktur wie die Arten,
Was die Sozialwissenschaften und die Sozial-
                                                       Häufigkeiten und Intensitäten der Interaktio-
arbeitswissenschaft betrifft, hier – beschränkt
                                                       nen der Komponenten von Systemen (Kohä-
auf einige Bemerkungen zu Grundbegriffen
                                                       renz beziehungsweise Konflikt), Art und
und unter Einbezug eigener Vorstellungen – in
                                                       Ausmass der funktionalen Differenzierung,
aller Kürze dies: In einer wissenschaftlichen
                                                       die Zahl der institutionalisierten Statussysteme
Sicht sind menschliche Individuen konkrete
                                                       und deren Verteilungen (Schichtungen) sowie
Biosysteme einer besonderen Art (und keine
                                                       die Beziehungen zwischen diesen Verteilun-
Ansammlung von einander interpenetrieren-
                                                       gen (Kristallisation), die Geschlechter- und die
den autopoietischen Systemen, verstanden als
                                                       lebenszeitliche Differenzierung u.a.m.
„Einheit der Differenz von System und Um-
welt“). Soziale Handlungen sind entsprechend           Ins Leben gerufen und aufrecht erhalten wer-
Akte einer besonderen Art: Sie sind das, was           den soziale Systeme wie gesagt durch soziale
ein konkretes Ding einem anderen tut, das              Handlungen. Die überwiegende Zahl von
heisst eine Billardkugel einer anderen, ein            Handlungen beruht auf sozialen und kulturel-
Biomolekül in einer Zelle einem anderen, eine          len Voraussetzungen, die die involvierten Ak-
Lawine einem Bannwald oder eine ein Jungtier           teure entweder nicht kennen oder die ihnen
fütternde Amsel ihrem Jungen. Menschliche              zum Zeitpunkt der Handlung nicht bewusst
Handlungen („Praxis“) sind Akte einer beson-           sind, und sie haben physikalische, biochemi-
deren Art, nämlich was immer Menschen be-              sche, psychische, soziale und kulturelle Fol-
wusst oder nicht (voll) bewusst, aber absicht-         gen, die oft und nicht zuletzt auch im Falle
lich einem anderen Ding tun. Einer selbstbe-           sozialer Handlungen weit über die beabsichti-
wussten Handlung geht die Entwicklung eines            gen Handlungsziele hinausgehen (nicht antizi-
(Handlungs)Plans voraus. Und eine soziale              pierte Konsequenzen). Dauerhafte Sozialsyste-
Handlung ist eine Handlung, mit der ein Indi-          me verdanken ihre Existenz und Dynamik
viduum ein anderes (oder andere) zu verän-             dem Vermögen menschlicher Individuen, dau-
dern trachtet. Dabei ist der moralische Status         erhafte soziale Bindungen einzugehen, wobei
der Handlung unerheblich. Anders gesagt sind           dieses Vermögen biologische Wurzeln hat.
auch Mord und das Führen eines Krieges sozia-          Soziales Verhalten von Individuen erzeugt
le Handlungen (nicht aber das versehentliche           oder modifiziert aber nicht nur soziale Syste-
Töten eines Menschen, das eine „fahrlässige            me, sondern es verändert auch sie selbst: Zum
Tötung“ ist); das Streicheln eines Säuglings           Beispiel ist Mitglied eines solchen Interaktions-
nach der Geburt und die Geburtshilfe (nicht            systems zu sein, eine durch die Mitgliedschaft
aber das Gebären, das ein biologischer Akt ist).       bedingte emergente (relationale) Eigenschaft
Soziale Systeme sind eine der übergeordneten           der Komponenten des Systems, die durch das,
Klassen von konkreten Systemen. In Termini             was Individuen im Rahmen ihrer Mitglied-
des ontologischen Systemismus können sie               schaft über die Zeit hinweg erleben und erfah-
folgendermassen definiert werden: „Ein sozia-          ren, deren psychische Systeme modifiziert.
les System ist ein konkretes System, das zu-           Menschliche Sozialsysteme gibt es heute in
sammengesetzt ist aus geselligen Tieren, die           allen Grössen und Graden der Komplexität,
Der Systemismus Mario Bunges und das Systemtheoretische Paradigma der Sozialen Arbeit 12

von der Kernfamilie bis zur Weltgesellschaft,          ohne Beschreibung und Erklärung keine Wis-
und von der unterschiedlichsten Art: Familien          senschaft.
und andere Arten von Gruppen, Netzwerke,
                                                       Was schliesslich die Bedeutung der systemisti-
territorial definierte Systeme wie Gemeinden,
                                                       schen Ontologie und Philosophie im Allge-
Länder (Kantone, Provinzen) oder Nationen
                                                       meinen für die Sozialarbeitswissenschaft be-
oder aber Organisationen wie Kleinbetriebe,
                                                       trifft, seien hier nur drei Punkte hervorgeho-
Schulen, Föderationen, Kartelle, multinationale
                                                       ben (für eine ausführliche Darstellung vgl.
Wirtschaftskorporationen, Regierungen und
                                                       Obrecht 2001, 2003, 2005).
wirtschaftliche oder politische Allianzen zwi-
schen Nationen oder die Vereinten Nationen.            Ein erster Punkt betrifft die Struktur der Wis-
Die einfacheren unter ihnen sind interindivi-          senschaft der Sozialen Arbeit als einer Hand-
duelle Systeme, die komplexeren dagegen sind           lungswissenschaft. In der Sicht des SPSA ist
intersoziale oder intersozietale Supersysteme,         handlungswissenschaftliches und damit pro-
deren Entstehen und Überdauern davon ab-               fessionelles Wissen im allgemeinen in vier
hängt, dass die Intrasystemgrenzen stärker             logische Ebenen differenziert, in der jede Ebene
sind als jene der Intersysteme (Kohäsion).             mit den angrenzenden in einer logischen Be-
Zusammenfassend ermöglicht die systemisti-             ziehung steht:
sche Ontologie einen klaren und mit dem
                                                       IV.      Metatheorien wie Ontologie, Erkennt-
Dingverständnis anderer Wissenschaften har-
                                                                nis- und Wissenschaftstheorie, Seman-
monierenden Begriff sozialer Systeme. Zu-
                                                                tik, Axiologie, Praxeologie, Ethik;
sammen mit dem mechanismischen Begriff des
Erklärens ist dieser eine Voraussetzung der            III.     basiswissenschaftliche Theorien wie
                                                                biologische, solche der kognitiven und
theoretischen Integration von Hypothesen und
                                                                affektiven Neurowissenschaften, der
Theorien verschiedener Disziplinen wie etwa                     allgemeinen Psychologie, sowie Theo-
der Biologie, der Psychologie und der Sozial-                   rien aus den verschiedenen Sozialwis-
wissenschaften. Demgegenüber ist für Luh-                       senschaften);
mann das Teil-Ganzes-Verhältnis jenes Ver-
                                                       II.      die Allgemeine Handlungstheorie und
hältnis von Individuen zu sozialen Gebilden,
das er als Grundlage der Entwicklung einer             I.       die speziellen Handlungstheorien oder
                                                                wissenschaftsbasierten Methoden bzw.
soziologischen Theorie nicht mehr als tragfä-
                                                                Verfahren.
hig erachtete, weil er die Lösung der Probleme
der soziologischen Theorie, so wie er sie
                                                       Die logischen Beziehungen zwischen Items
verstand, auf der Basis eines prozessmetaphy-
                                                       innerhalb der Ebenen I – III und zwischen
sischen Gehirn-Geist-Dualismus (unpräziser:
                                                       ihnen sind in Termini von Metatheorien (Ebe-
Leib-Seele) suchte und dabei vermeiden muss-
                                                       ne IV) formuliert, zu denen neben der syste-
te, dass psychische und soziale Prozesse on-
                                                       mistischen Ontologie und der Wissenschafts-
tisch ununterscheidbar werden. ‚System’, ver-
                                                       theorie des Wissenschaftlichen Realismus eine
standen als Prozess, ‚Selbstreferenz’ ‚Autopoi-
                                                       realistische Semantik, eine Wertlehre, eine
ese’ und ‚Interpenetration’ als Prozess zwi-
                                                       philosophische Praxeologie und die Ethik ge-
schen Prozessen u.a. waren die begrifflichen
                                                       hören. In sehr geraffter Darstellung:
Mittel, mit denen er die beiden postulierten
Prozessarten hinreichend scharf trennen zu             I. Spezielle Handlungstheorien bzw. Methoden:
können glaubte. Da Prozesse ohne Dinge aber            Methoden sind (Systeme von) Regeln, die, falls
Fiktionen und keine reale Gegebenheiten [En-           sie auf der Kenntnis der Gesetzmässigkeiten
titäten] sind, gab es da allerdings nichts zu          im Interventionsbereich sowie der Mechanis-
trennen und deshalb auch nichts zu beschrei-           men beruhen, die durch ihre Anwendung im
ben, geschweige denn zu erklären: Ohne Ding            Rahmen von Handlungen in Gang gesetzt
(System) kein Prozess und keine Beschreibung,          werden, Technologien genannt werden kön-
ohne Prozess in einem Ding kein Mechanis-              nen.
mus, ohne Mechanismus keine Erklärung und
Der Systemismus Mario Bunges und das Systemtheoretische Paradigma der Sozialen Arbeit 13

Da es Gesetzmässigkeiten im Bereich psychi-            Prognostizieren von als problematisch erachte-
scher und sozialer Prozesse gibt, gibt es auch         ten Fakten, d.h. von Zuständen und Zustands-
Technologien in diesen Bereichen. In diesem            änderungen von Dingen irgendwelcher, d.h.
Sinne beruht die psychologische Therapie auf           physikalischer, chemischer biologischer, bio-
der Anwendung psychologischer Technolo-                psychischer oder sozialer Art. Die kognitive
gien (Grawe 2004), die Soziale Arbeit auf so-          Ressource aller drei Operationen sind basis-
zialen. Professionen sind, nebst sozialen Krite-       wissenschaftliche Theorien im Sinne von Sys-
rien, dadurch definiert, dass ihre Mitglieder          temen von Begriffen und von Aussagen über
zur Bearbeitung ihrer spezifischen praktischen         Gesetzmässigkeiten. In Termini ihrer Begriffe
Probleme spezifische Technologien benutzen;            und Propositionen werden Fakten beschrie-
die ihnen zugeordneten Disziplinen sind                ben, erklärt oder prognostiziert.
Handlungswissenschaften mit dem Ziel der
                                                       In dieser für professionelle Handlungen un-
Entwicklung von wirksamen Technologien.
                                                       verzichtbaren Nutzung basiswissenschaftli-
                                                       chen Wissens liegt die eine Hälfte der Koppe-
II. Allgemeine (normative) Handlungstheorie:
                                                       lung zwischen Basis- und Handlungswissen-
Professionelle Methoden sind keine Handlun-
                                                       schaften, die andere ist die erwähnte Funktion
gen, sondern kognitive Ressourcen zur Ent-
                                                       von nomologischen Theorien im Rahmen von
wicklung von Handlungsplänen bzw. Bera-
                                                       Technologien, die auf erklärenden Theorien
tungsplänen, die ihrerseits zur Steuerung von
                                                       beruhen (vgl. die Definition von Profession).
konkreten Handlungen dienen und deren
                                                       Die verschiedenen grundlagenwissenschaftli-
Anwendung eine Reihe weiterer kognitiver
                                                       chen Theorien beziehen sich auf die verschie-
Operationen involviert. Die Abfolge der wich-
                                                       denen Arten von Dingen, die verschiedene
tigsten Schritte, die zu einer professionellen
                                                       „ontische“ Niveaus bilden und zusammen die
Handlung gehören, lautet: 1. Beschreiben von
                                                       Welt ausmachen.
relevanten Fakten; 2. Erklären der beschriebe-
nen Fakten; 3. Formulieren von Prognosen               IV. Metatheorie: Zwar sind Professionen auf
über den weiteren Verlauf der „Situation“, 4.          bestimmte Arten praktischer Probleme spezia-
Bewerten der beschriebenen und erklärten               lisiert, doch treten in deren Zusammenhang
Fakten im Lichte der Prognose(n); 5. gegebe-           meist verschiedene Arten von (problemati-
nenfalls Feststellen eines Problems, d.h. von          schen) Fakten auf, Fakten, deren Beschreibung
Zuständen und Prozessen, die nicht in Über-            und Erklärung Theorien aus unterschiedlichen
einstimmung mit den Werten des Handelnden              Disziplinen involvieren. Anders als die Basis-
sind; 6. Formulieren eines Zieles; 7. Entwickeln       wissenschaften können sich damit die Hand-
von alternativen Handlungsplänen; 8. Evaluie-          lungswissenschaften und Professionen nicht
ren der Handlungspläne und Wahl des Planes             auf eine Art von Fakten beschränken. Damit
mit der besten Kosten/Nutzen-Bilanz; 9. Imp-           aber stellt sich das Problem der Verknüpfung
lementieren des Planes und 10. Evaluieren des          der Theorien unterschiedlichster Art, nicht
Handlungseffekts.                                      zuletzt aber unterschiedlicher disziplinärer
Alle diese Operationen sind, wie der nächste           Herkunft. So spielen in den Professionen ne-
Abschnitt zeigt, logisch miteinander ver-              ben den klassischen horizontalen oder Same-
knüpft, und der Zusammenhang zwischen                  level-Verknüpfungsproblemen typischerweise
ihnen wird über nomologische Theorien gestif-          auch die vertikalen oder Inter-level-
tet, denen damit eine grundlegende Rolle im            Verknüpfungen eine wichtige Rolle, wie sie im
professionellen Handeln zukommt (Für Ge-               Zusammenhang mit der Antwort auf Frage 2
naueres vgl. Obrecht 1996, 2001, 2004a).               umrissen wurden. Dadurch erhält die syste-
                                                       mistische Ontologie im Verein mit dem me-
III. Basis- bzw. grundlagenwissenschaftliche oder      chanismischen Erklärungsbegriff eine zentrale
auch Objekttheorien: Der Prozess der Hand-
                                                       Funktion im Rahmen des professionellen Prob-
lungsplanung endet mit einem Plan; seinen              lemlösungsprozesses, wie er in der Allgemei-
Anfang hat er im Beschreiben, Erklären und             nen Handlungstheorie beschrieben wird.
Sie können auch lesen