Der emergentistische Systemismus Mario Bunges und das Systemtheoretische Paradigma der Sozialarbeits-wissenschaft und der Sozialen Arbeit (SPSA)
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Der Systemismus Mario Bunges und das Systemtheoretische Paradigma der Sozialen Arbeit 1 Der emergentistische Systemismus Mario Bunges und das Systemtheoretische Paradigma der Sozialarbeits- wissenschaft und der Sozialen Arbeit (SPSA) Interview mit Werner Obrecht Interviewer: Marcel Krebs, Redaktion SozialArbeit.ch, Konstanz Krebs: Im theoretischen Diskurs der Sozialen Ar- bezogene Ontologien, wie etwa zu den Klassen beit finden zurzeit vor allem zwei Arten von Sys- der physikalischen, der biologischen oder der temtheorien Eingang: Zum einen die soziologische sozialen Dinge (Systeme); die (allgemeine) Systemtheorie nach Niklas Luhmann und zum andern der emergentistische Systemismus nach Ontologie systematisiert die Gemeinsamkeiten Mario Bunge, der vor allem durch Sie und durch der verschiedenen Klassen von Dingen und Frau Staub-Bernasconi für die Soziale Arbeit pro- der Beziehungen, die sie untereinander unter- duktiv gemacht wird. Welches sind die Grundge- halten. danken dieser Theorie? Niklas Luhmann war demgegenüber ein phi- losophierender Soziologe (oder Soziologie Obrecht: Die Frage verlangt vorab eine klären- treibender Philosoph), der weder explizit zwi- de Unterscheidung von dreierlei: Mario Bunge schen Philosophie und Wissenschaft, noch ist ein Wissenschaftler-Philosoph, der strikt zwischen philosophischen Problemen unter- zwischen Wissenschaft und Philosophie unter- schiedlicher Art unterschied, und der keinerlei scheidet, diese jedoch als aufeinander ange- Beziehung zur modernen analytischen und wiesen auffasst und behandelt, statt sie, wie wissenschaftsorientierten Philosophie unter- nach wie vor verbreitet, durch scharfe Grenzen halten hatte. zu trennen. Er hat ein System von philosophi- Luhmanns Lehre postuliert die Existenz von schen Theorien entwickelt, die neue Antwor- sozialen Systemen ("Es gibt soziale Systeme"), ten auf eine grosse Zahl von klassischen Prob- die diese jedoch nicht als sich verändernde lemen aus allen Bereichen der theoretischen konkrete Dinge, sondern als (immaterielle) (Ontologie, Erkenntnistheorie, Semantik) und Prozesse auffasst. Damit diese von anderen, der praktischen Philosophie (Methodologie, seiner Auffassung ebenfalls immateriellen Ethik, Praxeologie, politische Philosophie) Prozessen (den personalen) unterschieden geben. werden können, nimmt er eine, verglichen mit Zu diesem System von Theorien gehört auch allen bisherigen Versuchen, die Beziehung eine (systemistische) Ontologie. Statt sich, wie zwischen Akteur und sozialen Systemen zu die Wissenschaften, auf die Untersuchung klären, extreme ontische Trennung zwischen einer Klasse von Dingen zu beschränken, ist beiden vor, indem er diese beiden Arten von eine Ontologie eine (hyperallgemeine) Theorie „Systemen“ als aus sich selbst heraus existie- der Grundzüge all dessen, was es gibt, oder rend, d.h. als "autopoietische" Prozesse kon- anders gesagt, was die Wirklichkeit, das Uni- zeptualisiert. versum ausmacht. Der Unterschied zwischen Dies ist eine Auffassung, die im Widerspruch einer Ontologie und einer wissenschaftlichen zur Ontologie des Systemismus und syste- Theorie ist damit lediglich einer der Allge- mistischen Theorien sozialer Systeme steht. meinheit, d.h. der Extension der Klasse der Nach der letzteren werden soziale Systeme Referenten: Die verschiedenen Wissenschaften durch Handlungen menschlicher Individuen liefern Beiträge zu verschiedenen speziellen geschaffen, in Gang gehalten, verändert oder oder lokalen, auf Teilbereiche der Wirklichkeit
Der Systemismus Mario Bunges und das Systemtheoretische Paradigma der Sozialen Arbeit 2 zerstört, wobei diese (neuromotorischen) Theorie sozialer Probleme entscheidende Ver- Handlungen angetrieben werden durch emo- knüpfung von Theorien, die sich auf biologi- tio-kognitive Prozesse, die, wie etwa im Falle sche, psychische und soziale Systeme beziehen von wahrgenommenen Gefahren oder Anrei- und andererseits die für Handlungswissen- zen in Bezug auf biologische, (bio)psychische schaften und Professionen grundlegende Ver- oder (biopsycho)soziale Bedürfnisse, durch knüpfung von Beschreibungs-, Erklärungs-, äussere Gegebenheiten stimuliert werden kön- Bewertungs-, Prognose-, Ziel-, Plan- und nen. Kurz, soziale Systeme sind konkrete Sys- Handlungswissen. Die spezifische, für das teme mit Individuen als (letzten) Komponen- SPSA charakteristische Verknüpfung von The- ten, und sie sind konkret, weil diese Kompo- orien ist das Ergebnis der Entwicklungsarbeit nenten konkret sindi. Menschliche Individuen seiner Autorinnen und Autoren, nicht von sind sozial lebende Lebewesen einer besonde- Mario Bunge, der zwar um das SPSA weiss, ren Art, nämlich neugierige, aktive, bezie- aber direkt nichts mit ihm zu tun hat. hungs- und mitgliedschaftsorientierte, lern-, Was nun den Systembegriff betrifft, vorab sprach- und selbstwissensfähige Biosysteme, dies: Das gegenwärtige philosophische Welt- die hineingeboren werden und lebenslang bild ist gespalten in zwei alternative Sichtwei- eingebunden sind teils in gegebenen (wie ver- sen, eine ontologisch und erkenntnistheore- wandtschaftliche Verhältnisse), teils in frei tisch idealistische und eine ontologisch materi- gewählten sozialen Systemen. alistische sowie erkenntnistheoretisch realisti- Das Systemtheoretische Paradigma der Sozial- sche. „Nach der ersten stehen unsere individu- arbeitswissenschaft und der Sozialen Arbeit ellen Bewusstseine oder steht unser kollektives (SPSA) schliesslich ist ein System von meta- Bewusstsein (mein Ich versus unsere mitein- theoretischen (d.h. philosophischen), objekt- ander kommunizierenden Iche) im Zentrum bzw. basiswissenschaftlichen, sowie von all- allen Fragens oder gar der Welt. Nach dieser gemeinen handlungswissenschaftlichen und Sicht ist das - entweder in uns oder ausserhalb speziellen handlungswissenschaftlichen Theo- von uns existierende – Geistige das Primäre. In rien bzw. Methoden. Entwickelt und gelehrt der zweiten Sicht ist umgekehrt die reale Welt wird das SPSA seit drei Jahrzehnten von einer das Primäre, d.h. vor uns da und ausserhalb Gruppe von SozialarbeitswissenschafterInnen von uns, und der Mensch ist ihr Produkt. Und (Staub-Bernasconi, Geiser, Brack, Gregusch, wir können die Welt, einschliesslich unserer Obrecht u.a.). Dies geschah durch die Anwen- selbst erkennen, weil wir - samt unserem Geist dung der frühen systemistischen (Weltgesell- – Teil von ihr sind. Hier kommt dem Men- schafts)Soziologie von Peter Heintz und später schen keine zentrale Stellung in der Welt zu.“ der Metatheorien Mario Bunges, nicht zuletzt (Bunge & Mahner 2004: 1) seiner systemistischen Ontologie und einer mit Während nun Niklas Luhmanns Systemlehre ihr korrespondierenden realistischen Philoso- eine ontologisch idealistische (und holistische) phie der Sozialwissenschaften, auf die Frage- Systemauffassung jenseits eines nomologi- stellungen und das verfügbare Wissen der schen Wissenschaftsverständnisses ist – Luh- Sozialen Arbeit. Die Metatheorien Bunges sind mann verwirft das Erkenntnisprogramm der Mittel der Systematisierung und der systema- nomologisch-erklärenden Wissenschaften bei- tischen Synthese (oder Integration) von läufig bereits auf der ersten Seite des Vorworts Beschreibungs- und Erklärungswissen aus von "Soziale Systemeii" und entwickelt dann allen möglichen Bereichen des disziplinär und eine eigene Variante eines verstehenden Er- paradigmatisch hochgradig fragmentierten kenntnisprogramms auf der Grundlage einer Wissens dieser Profession. Sie ermöglichen die prozessmetaphysischen Ontologie, das er in umfassende Nutzung des einschlägigen wis- die Tradition Webers stellt -, ist der Systemis- senschaftlichen Wissens der Gegenwart durch mus die explizierte und systematisierte Onto- die Wissenschaft der Sozialen Arbeit. Im Be- logie der Natur- sowie jenes Teils der Sozial- sonderen erlauben diese Metatheorien einer- wissenschaften, die ontologisch materialistisch seits die für die Entwicklung einer erklärenden und erkenntnistheoretisch realistisch sind.
Der Systemismus Mario Bunges und das Systemtheoretische Paradigma der Sozialen Arbeit 3 Während die materialistischen Ontologien des Werdens ist: Neben ihr gibt es gesetzmässige 8. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung (In- stochastische, teleonome und, wie wir seit ein dien) bis in die jüngste Vergangenheit physi- paar Jahren wissen, „chaotische“ Prozesse (die kalistisch waren, indem materiell sein für sie gesetzmässige Prozesse einer besonderen Art gleichbedeutend war mit physikalisch sein, und nicht chaotisch im Sinne der Alltagsspra- unterscheidet sich der emergentistische Mate- che sind). Gesetze – nicht zu verwechseln mit rialismus (Systemismus) grundlegend von Gesetzesaussage, die Aussagen über Gesetze dieser Sicht: Zwar ist er per definitionem mo- sind, oder gar mit Vorschriften mit Erlasscha- nistisch, bezogen auf die eine, materiell ver- rakter, - sind Regelmässigkeiten oder Muster standene Wirklichkeit, doch ist er gleichzeitig im Verhalten der Dinge (z.B. Bunge & Mahner pluralistisch, bezogen auf die Vielfalt ihrer 2004: 41). Anders gesagt sind sie Ausdruck der Eigenschaften. D.h. er anerkennt, wie der Tatsache, dass im betreffenden Ding bestimm- nächste Abschnitt zeigt, die Existenz unter- te Eigenschaften auf eine invariante (konstan- schiedlicher Arten von Dingen, nämlich neben te, kovariante) Art verknüpft sind. physikalischen auch chemische, biologische Da Eigenschaften mit den Dingen entstehen, (und im besonderen solche mit psychischen zu denen sie gehören, entstehen mit neuen Subsystemen), soziale und technologische (von Arten von Dingen, d.h. mit dem Auftauchen Menschen hergestellte Dinge: Artefakte). eines neuen „systemischen“ Niveaus, auch Der elementarste Begriff des emergentistischen neue (emergente) Eigenschaften (vgl. unten) und damit auch neue Gesetzmässigkeiten. So Systemismus ist der eines konkreten Dings, dessen Existenz unabhängig davon ist, ob es gibt es Biogesetze erst, seit es Organismen gibt, beobachtbar ist oder nicht (wie ein Atom oder und psychische Gesetzmässigkeiten erst, seit es plastische Nervensysteme gibt, und viele ein Elektron) und ob es ‚greifbar‘ ist oder nicht (wie etwa ein physikalisches Feld, das weder soziale Gesetzmässigkeiten sind Ausdruck des das eine, noch das andere ist). Danach ist alles, Gesellschaftstyps, mit dem sie evoluiert sind. Marktgesetze zum Beispiel entstanden mit den was einer Veränderung fähig ist, ein solches Ding. Umgekehrt kann unveränderlichen Din- ersten Märkten. gen wie Ideen oder Prozessen, die als von Eine Differenzierung des Bisherigen ergibt sich aus der Unterscheidung von einfachen und konkreten Dingen unabhängig gedacht wer- den (wie die luhmannschen sozialen und per- komplexen Dingen, d.h. von Systemen. Unter sonalen Systeme), keine Existenz gesprochen einem System versteht man ein komplexes Objekt, dessen sämtliche Teile oder Kompo- werden – sie sind (gegebenenfalls nützliche) Fiktionen.iii nenten mit anderen Teilen desselben Objektes Konkrete Dinge haben Eigenschaften, die so in einer Weise gekoppelt sind, dass das Ganze einige Charakteristika aufweist, die seine real sind wie jene selber, wobei intrinsische von relationalen, primäre von sekundären, Komponenten nicht aufweisen, d.h. emergente essentielle von akzidentellen, quantitative von Eigenschaften (vgl. dazu und zum Folgenden Bunge 1996: 20ff). qualitativen und resultante (aggregierte) von emergenten Eigenschaften unterschieden wer- Systeme können konkret sein wie Zellen, Schu- den können. len oder Ökosysteme, begrifflich wie Theorien oder semiotisch wie Texte; nur semiotische Die allgemeinste ontologische Hypothese des Systeme sind hybrid (d.h. eine Mischung aus emergentistischen Systemismus lautet: Die realen und fiktionalen Komponenten). Welt besteht ausschliesslich aus konkreten • Ein begriffliches System ist eines, das aus (materiellen) Dingen (und "Materie" ist die Begriffen (in Luhmanns Idiom: Unter- Gesamtheit aller materiellen Objekte – und scheidungen) gebildet wird, die miteinan- damit als ein Begriff selbst kein Ding). der durch logische oder mathematische Eine zweite Hypothese besagt: konkrete Dinge Operationen verknüpft sind (z.B. Klassifi- verhalten sich gesetzmässig, wobei Kausalität kationen und Theorien). ein wichtige, nicht aber die einzige Art des
Der Systemismus Mario Bunges und das Systemtheoretische Paradigma der Sozialen Arbeit 4 • Ein konkretes oder materielles System ist ein Individuum ist, dass P dank dem Um- eines, das gebildet wird aus konkreten stand besitzt, dass es Komponente eines Dingen, die miteinander durch nichtbe- Systems ist (d.h. b würde P nicht besitzen, griffliche (physikalische, chemische, biolo- wenn es unabhängig oder isoliert wäre)” gische oder soziale) Bindungen verknüpft (Bunge 1996: 20). sind (z.B. Atome und Moleküle, Zellen Beispiele für ersteres in Bezug auf soziale und Organe, Familien, Wirtschafts- und Systeme: „die Sozialstruktur, Kohäsion, nichtgouvernementale Organisationen wie Stabilität und Geschichte eines Systems; auch Regierungen und informelle soziale Beispiele für letzteres: Rolle, Bürgerrechte, Netzwerke). Knappheit und Preis“ (ibid.). • Konkrete Systeme, die für andere stehen oder andere Objekte repräsentieren, wie Fakten sind in dieser Sicht Zustände oder Zu- Sprachen, Texte und Diagramme, können standsänderungen von konkreten Dingen; symbolisch oder semiotisch genannt wer- Prozesse sind Abfolgen von Zuständen und den (z.B. vertreten mit Tinte geschriebene damit eine besondere Form von Fakten, jedoch Notenzeichen – eine Partitur – einen musi- keine Veränderungen jenseits von Dingen (wie kalischen Sinnzusammenhang, etwa eine Melodie eines Musikstückes, oder durch antisubstantialistische radikale Prozessualisten vertikale Striche getrennte Buchstaben oder -metaphysiker wie Whitehead, Russell symbolisieren die „Harmonien“ des Stü- [zur Zeit seiner Analysis of Matter], oder ckes, d.h. die Abfolge der Akkorde, die Luhmann meinten). Für Systeme gilt, dass sie seiner Melodie zugrunde liegen). sich laufend wandeln: Sein heisst Werden. (Der Systemismus [und mit ihm die heutigen Im Folgenden beschränke ich mich der erfor- Wissenschaften] ist mit anderen Worten ein derlichen Kürze halber auf konkrete Systeme; moderater und substantialistischer Prozessua- begriffliche werden im Zusammenhang mit lismus). dem biopsychosoziokulturellen Erkenntnis- Je nach ihren bindungsstiftenden Eigenschaf- und Handlungsmodell des sozialen Akteurs ten und äusseren Bedingungen können sich am Schluss kurz gestreift, semiotische wie Dinge durch Selbstvereinigung wiederholt zu dieser Text und das Internet ermöglichen die Systemen höherer Ordnung vereinigen, wo- vorliegende verbale Kommunikation. durch jeweils ein neues ontisches Niveau mit Zu jedem gegebenen Zeitpunkt ist ein konkre- emergenten Eigenschaften entsteht und die in tes System charakterisierbar durch seine Zu- solche Systeme integrierten ursprünglichen sammensetzung, seine Umwelt, seine Struktur Systeme zu Subsystemen werden (Dies ent- (Organisation oder Architektur) sowie durch spricht dem Sinn der allgemeinen Evolutions- seine Mechanismen, oder anders gesagt durch hypothese, heute konkretisiert durch unsere jene internen Prozesse, die es in Gang halten, Kenntnisse der atomaren, chemischen [bis zur d.h. die es in gewissen Hinsichten verändern, Entstehung des Lebens], biologischen und während sie es in anderen Hinsichten erhalten. sozialen Evolution – eine kulturelle Evolution Die Struktur eines Systems ist das Gesamt der gibt es auch, doch folgt diese keinen Gesetz- konkreten Bindungen seiner Komponenten mässigkeiten im klassischen Sinne, da Ideen (Endostruktur) wie auch zwischen diesen und keine konkreten Dinge sind). Umweltitems (Exostruktur). Dabei können die Ein Niveau (eine Ebene, ein level) kann dabei Bindungen wie gesagt physikalisch, chemisch, als die Gesamtheit von Dingen aufgefasst biologisch oder sozial sein. werden, für die bestimmte Eigenschaften spe- Ausschlaggebend für den emergentistischen zifisch ist und deren Verhalten deshalb Ge- Systembegriff ist der Begriff der Emergenz, der setzmässigkeiten unterliegt, unter denen min- wie folgt definiert werden kann: destens einige für die Systeme spezifisch sind, die das entsprechende Niveau bilden. "P ist eine emergente Eigenschaft eines Dinges b wenn und nur wenn entweder b Die genannte allgemeine Hypothese spezifizie- ein komplexes Ding (System) ist, von des- rend, heisst das: Alles was es gibt, ist entweder sen Komponenten keine P besitzt, oder b ein System oder eine Komponente eines Sys-
Der Systemismus Mario Bunges und das Systemtheoretische Paradigma der Sozialen Arbeit 5 tems. (Das Universum ist das System, das je- befähigen; ein soziales System ist eines, dessen des andere Ding als Komponente enthält [aber Komponenten Tiere einer bestimmten biologi- keine Umwelt mehr hat], und jedes System – schen Gattung sind und ein menschliches So- mit Ausnahme des Universums – ist ein Sub- zialsystem ist eines mit menschlichen Indivi- system eines anderen.) duen als Komponenten zusammen mit ihren Gegenwärtig können auf der Erde folgende Artefakten (unbelebte wie technische und fünf Arten von konkreten, d.h. materiellen technologische Systeme – lebende wie Zucht- Systemen unterschieden werdeniv: tiere oder veredelte Pflanzensorten sowie se- miotische Systeme aller Art); technische und 1. natürliche wie Atome, das Sonnensystem, technologische Systeme sind Systeme, die starre („festverdrahtete“) Nervensysteme, durch Menschen mit Hilfe von technischem Organismen, Insektensozietäten; oder technologischem (wissenschaftsbasier- 2. biopsychische (oder genauer: biospsycho- tem) Wissen konstruiert und in Gang gehalten soziale und biopsychosoziokulturelle) wie werden, semiotische Systeme bestehen aus Meerkatzen, Bonobos (Menschenaffen) Zeichen wie Worte, Texte oder Figuren sowie und Menschen; aus Menschen, die diese Zeichen zu Zwecken 3. soziale (bzw. biosoziale oder biosoziokul- der Kommunikation benutzen, und ein artifi- turelle) wie Familien, Cliquen, Schulen, zielles System ist eines, das menschengemach- Firmen, Netzwerke und Nationalstaaten, aber auch soziale Systeme höherer Prima- te Dinge enthält. ten; Krebs: Welches sind die Erkenntnis- und wissen- 4. technische und technologische unter- schaftstheoretischen Implikationen der systemisti- schiedlicher Art wie Maschinen, Strassen- schen Ontologie? und Fernsehnetzwerke, das Internet; 5. semiotische wie Sprachen, Musikscores, Obrecht: In der systemistischen Sicht ist, wie Pläne und Karten und Texte aller Art, zu- gesagt, die Welt vor uns Menschen da, und wir sammen mit ihren NutzerInnen. können sie erkennen, weil wir, nachdem wir uns innerhalb dieser Welt - samt unserem Ein natürliches System ist eines, dessen Kom- Geist – zu dem entwickelt haben, was wir sind, ponenten wie auch die Bindungen zwischen Teil von ihr sind, wobei unsere Sensoren und diesen zur Natur gehören, d.h. nicht unser Wahrnehmungsapparat uns diese Welt menschengemacht sind; Biosysteme im beson- nur äusserst ausschnitthaft zeigen und auch deren sind halboffene, sich für eine bestimmte das noch in einer gesetzmässig qualitativ und Zeit selbsterhaltende und –regulierende und quantitativ stark transformierten Weise (z.B. durch einen Metabolismus lebende Chemosys- Schalldruckwellen → Töne; Moleküle in der teme, die sich von ihrer Umwelt durch eine Luft → Gerüche; elektromagnetischen Wellen flexible und semipermeable Biomembran ab- → visuelle Wahrnehmung). Das Ergebnis die- grenzen und die sich an einige Umweltverän- ses Prozesses ist unsere Erfahrungswelt (auch derungen anzupassen vermögen, ohne gleich [Kant’s] „Welt“ der Erscheinungen oder Phä- die Fortsetzung ihrer Existenz aufs Spiel zu nowelt oder Husserls Lebenswelt), die er- setzen (für eine präzise, aber umfangreichere kenntnistheoretische Phänomenalisten wie die Definition vgl. Mahner & Bunge 2000: 137f.); Neopositivisten oder die Radikalen Konstruk- ein biopsychisches System ist ein Biosystem tivisten als das Einzige betrachten, worüber mit einem plastischen, d.h. lernfähigen Teil etwas (Gewisses) zu wissen möglich sei und (Cortex) und Menschen sind biopsychische auf die sie deshalb Aussagen aller Art, im Falle Systeme einer besonderen Art, nämlich gesel- des Positivismus auch wissenschaftliche, be- lig lebende Biosysteme mit einem plastischen schränkt haben möchten. (Alle Aussagen über Nervensystem und einem Sprechapparat, die jenseits der Phänowelt liegende Dinge und sie zum Erwerb einer vokalen Sprache und Vorgänge, d.h. auch das Gesamt der naturwis- damit zu Selbstbewusstsein im engen Sinne senschaftlichen Aussagen, belegen Phänome- nalisten und Radikalkonstruktivisten mit dem
Der Systemismus Mario Bunges und das Systemtheoretische Paradigma der Sozialen Arbeit 6 abwertend gemeinten Ausdruck „Metaphy- rer Wahrnehmung entziehen, aber gerade für sik“; die Neopositivisten, gegen die sich Luh- deren Verständnis und für unser Wissen über mann wendet (vgl. Fussnote 1), beschränken unser Wissen von grundlegender Bedeutung sich deshalb auf die Beschreibung von „Ge- sind (Gehirn-Selbstregulations-Paradox oder setzmässigkeiten“ in wahrnehmbaren Daten – der „blinde Fleck“ in der Koppelung unserer und damit, da Daten durch Beobachtung und Gehirnprozesse mit der realen Welt). (Zum Messung erzeugt sind, auf eine Form von Ar- aktuellen Stand der Korrespondenztheorie der tefakten – und sie verzichten auf jede Erklä- Wahrheit vgl. Bunge 2003: 237-149; Mahner & rung durch Mechanismen, da sie „metaphysi- Bunge 2000: 125-129). sche“ Aussagen involvieren würden, und Ziel aller Faktenwissenschaften ist die Be- Pragmatiker wie die Radikalen Konstruktivis- schreibung, Erklärung und (bedingt) Prognose ten vermeiden den Begriff der [objektiven] von Fakten aller, d.h. physikalischer, chemi- Wahrheit im Sinne von wahren Aussagen über scher, biologischer, (bio)psychischer und sozia- Fakten anhand von Daten und ersetzen ihn ler Art. Ihr Mittel ist die wissenschaftliche durch den der [subjektiven] Nützlichkeit oder Methode, die aus einer Abfolge von Schritten Viabilität.) besteht: „Hintergrundwissen → Problem → Für wissenschaftliche Realisten, zu denen fak- Lösungskandidat (Hypothese, experimenteller tisch alle Realwissenschafter einschliesslich Design oder Technik) → Test → Evaluation eines Teils der Sozialwissenschafter gehören, des Kandidaten → eventuelle Revision entwe- ist unsere Sehnsucht nach Gewissheit zwar der des Lösungskandidaten, Überprüfung des verständlich (und die Quelle allen dogmati- Verfahrens, des Hintergrundwissens oder gar schen Glaubens), Gewissheit über Fragen der des Problems. Die Überprüfung von Aussagen Welt aber unerreichbar. Sie haben sich deshalb besteht im Testen sowohl der (logischen) Kon- damit abgefunden, dass das Beste, was zu sistenz wie auch der (empirischen) Wahrheit, haben ist, empirisch gut geprüftes und logisch die sich oft als nur partiell erweist. Ein solcher konsistentes, aber auf immer fallibles und da- Test mag begrifflich, empirisch oder beides mit vorläufiges wissenschaftliches Wissen ist. sein. Kein Item, ausgenommen Konventionen Und sie halten daran fest, dass die Wissen- und mathematische Formeln, kann von empi- schaften hinter die Welt der Erscheinungen zu rischen Tests ausgenommen werden. Noch blicken und die Dinge in ihrem Aufbau, ihren gibt es irgendeine Wissenschaft ohne Test – inneren Prozessen und in ihrem nach aussen oder irgendeine Wissenschaft ohne die Suche gerichteten Verhalten zu erkennen trachten, oder Nutzung von Mustern” (Bunge 1998: 1). die sich wegen ihren ihrer Gestaltlosigkeit, Nach diesen Bemerkungen zum Wissenschaft- ihrer (kleinen) Grösse, ihren besonderen Quali- lichen Realismus nun zur Rolle der systemisti- täten, ihrer hohen Geschwindigkeit oder gros- schen Ontologie in dieser Wissenschaftsauffas- sen räumlichen Entfernung durch unsere Sen- sung: Zunächst postuliert diese Ontologie, wie soren nicht erfassen und erst recht nicht mit erwähnt, die Existenz einer ausschliesslich begrifflichen Mitteln der vorwissenschaftli- materiellen Welt, der wir selber (zusammen chen magisch-religiösen und philosophischen mit den Vorgängen in unserem Gehirn) ange- Weltbilder angemessen beschreiben und erklä- hören und über die wir, wie angedeutet, etwas ren lassen. (Zur Ablehnung dieser Ziele durch wissen können, weil unsere kognitiven (Ge- Luhmann vgl. Luhmann 1993.) Mit zu den hirn)Prozesse in direkten Kontakt mit Vorgän- Fragen der Wissenschaften gehören heute jene gen in den sensorischen Bereichen unseres nach den Wirkungen der realen Dinge auf Gehirns treten können, die eine gesetzmässige unsere Sensoren und nach den Mechanismen Folge von Ereignissen in unseren Sensoren ihrer Transformation in wahrnehmbare neuro- sind, die ihrerseits in gesetzmässiger Weise nale Erregungsmuster in den sensorischen Ereignisse in ihrer Umgebung zu registrieren Bereichen des Cortex. Das sind Fragen nach und weiterzuleiten vermögen. Sodann postu- Prozessen, die sich bekanntlich ebenfalls unse- liert sie, über elementare physikalische Dinge
Der Systemismus Mario Bunges und das Systemtheoretische Paradigma der Sozialen Arbeit 7 wie Elektronen, Photonen u.a. hinaus, die Exis- Dieser mechanismische Begriff des Erklärens tenz von Systemen unterschiedlicher Art und ist nicht nur auf physikalische und biologische besagt, dass jedes Ding und damit jeder mögli- Systeme ohne (plastische) Nervensysteme che Gegenstand einer wissenschaftlichen Un- anwendbar, sondern auch auf biologische mit tersuchung, entweder ein System ist oder eine einem plastischen Nervensystem (höhere Wir- Komponente eines Systems. beltiere, im besonderen Primaten, einschliess- Der Begriff des konkreten Systems bildet nun lich Menschen) sowie auf soziale Systeme, d.h. die ontologische Grundlage des sich heute in auf alle konkreten Systeme (methodologischer den Wissenschaften durchsetzenden mecha- Monismus): Da emotio-kognitive Prozesse wie nismischen (nicht mechanistischen) Erklä- Wahrnehmung, Begriffsbildung, Denken (Un- rungsbegriffs des Wissenschaftlichen Realis- terscheiden), Wollen, Planen, Entscheiden mus (z.B. Bunge 1997, 2004 a, b). Dieser be- Bioprozesse einer besonderen Art, nämlich schränkt sich nicht, wie der rein formale „sub- Prozesse in den plastischen Breichen von Ner- sumtionistische Erklärungsbegriff“ des Neo- vensystemen sind, sind sie auch gesetzmässig. positivismus, auf die Verallgemeinerung von Auf der Grundlage solcher interner Mecha- Beziehungen (Gesetzmässigkeiten) zwischen nismen kann menschliches Verhalten und im (phänomenalen) Daten (vgl. Fussnote 1). Er besonderen soziales Handeln genau so erklärt versteht Daten vielmehr als Indikatoren für werden wie irgendetwas anderes auch. Dies konkrete Fakten, und Regelmässigkeiten in geschieht durch das Postulieren bzw. Nach- den Daten als mögliche Folge von und deshalb weisen konkreter emotio-kognitiver (psychi- als mögliche Hinweise auf Gesetzmässigkeiten scher) und neuromotorischer Mechanismen in den untersuchten Dingen, die er, statt sie des sozialen Akteurs (z.B. durch bildgebende nur zu verallgemeinern (Induktion), als eine Verfahren oder Befragung oder beides (z.B. Folge der Aktivität der Komponenten der in Rilling 2002) unter den gegebenen äusseren Frage stehenden Dinge unter gegebenen äus- Bedingungen wie etwa vorangegangener In- seren Bedingungen versteht und zu erklären teraktionen und der Position des Akteurs in versucht. Logische Subsumtion verschwindet der Positionsstruktur des sozialen Systems, in dabei nicht, sondern wird zum logischen As- das er oder sie involviert ist. Dabei sind an pekt des Erklärens, der um den entscheiden- einem solchen Prozess verschiedene systemi- den ontologischen Aspekt ergänzt wird, jenen sche Niveaus beteiligt: biologische, des Identifizierens der wirksamen Mechanis- (bio)psychische (emotio-kognitive) und sozia- men. Eine Eigenschaft (oder eine gesetzmässi- le, in Bezug auf die je bottom-up- und top- ge Beziehung zwischen Eigenschaften) und im down-Mechanismen wirksam sind und ent- Besonderen ein Verhalten eines Systems zu sprechend mikroreduktive und makroredukti- erklären, heisst danach den Mechanismus oder ve Erklärungen erforderlich sind. (In der Pra- die Mechanismen aufzudecken, dem oder xis wird man sich je Disziplin oder Fall in der denen sie ihre Existenz verdankt. Klar, aus der Regel auf 3 Niveaus beschränken, auf das Ni- Sicht von Phänomenalisten und Pragmatisten veau des fokussierten Systems, auf dessen (Radikalkonstruktivisten) ist all das „Meta- Komponenten und auf dessen Umwelt, genau- physik“. Wissenschafterinnen und Wissen- er, auf dessen Position in einem oder mehrerer schafter werden allerdings auch künftig kaum Systeme, deren Mitglied (Komponente) es ist davon abzubringen sein, die Welt zu beschrei- (vgl. dazu auch die Antwort auf Frage 1). So ben und zu erklären versuchen, wie sie (nach können etwa, beginnend mit dem höchsten der unserem gegenwärtigen Wissen) ist, und sich betrachteten Niveaus, Eigenschaften sozialer nicht damit begnügen zu erleben, wie sie uns Systeme auf die Handlungen der involvierten erscheint. Und schon gar nicht werden sie das, Akteure zurückgeführt werden (bottom-up- was in unseren Köpfen vorgeht, für die Wirk- Erklärung bzw. Mikroreduktion 1) und diese lichkeit halten. ihrerseits auf deren Position in der Struktur des Systems und ihre inneren Zustände (top- down-Erklärung bzw. Makroreduktion 1).
Der Systemismus Mario Bunges und das Systemtheoretische Paradigma der Sozialen Arbeit 8 Dies ist eine mechanismische sozialwissen- anderen, bis heute noch nicht expliziten Onto- schaftliche Erklärung, indem bottom-up- mit logie an. top-down-Mechanismen kombiniert werden statt entweder, wie es Individualisten tun, top- Krebs: Der Begriff der Emergenz beinhaltet die down- gegen bottom-up-Mechanismen auszu- These, dass es zu einem Qualitätswechsel kommt. spielen oder umgekehrt, wie in den verschie- Mit welchem Mechanismus lässt sich dieser Quali- tätswechsel erklären? denen Varianten des Holismus. Handlungen sind aber ein Verhalten eines Systems (hier Obrecht: Ich beginne mit einer Klärung einer eines Menschen), die ihrerseits mechanismisch Konfusion um den für jede Systemtheorie erklärt werden können, nämlich durch die grundlegenden Begriff der Emergenz, wie sie Aktivität von emotio-kognitiven neuronalen im "starken” Emergenzbegriffs zum Ausdruck Netzen (Psychonen) innerhalb des plastischen kommt, den auch Luhmann verwendet (1987a: Teils des Gehirns des Handelnden. Solche 43) und wonach Emerenz im Auftreten neuer Netze werden etwa angeregt durch komplexe Eigenschaften bestehe, die nicht erklärt werden sensorische Muster in Sensoren und Sensorsys- könnten. Hier liegt insofern ein "Kategorien- temen, die den sensorischen Bereichen des fehler” vor, als eine ontologische Eigenschaft, Gehirns zugeführt werden und die ihrerseits das Auftreten einer neuen Eigenschaft eines durch äussere Ereignisse wie soziale Hand- Dinges, durch eine erkenntnistheoretische defi- lungen Dritter verursacht werden (MaR 2), niert wird, die der Erklärbarkeit (dazu und und sie aktivieren in der Folge über neuro- zum Begriff der Subvenienz Jaegwon Kims als motorische Mechanismen die Muskulatur der einer modischen Variante des „starken“ Emer- Extremitäten des Organismus so, dass eine genzbegriffs vgl. Bunge & Mahner 2004: 154, Handlung zustande kommt (MiR2). (Hand- 244f.). Die bereits definierte Eigenschaft „e- lungen können auch ohne äusseren Anlass mergent“ mit ihren beiden Bedeutungen ist zu durch innere Aktivitäten wie bewusstes Den- unterscheiden vom Prozess der Emergenz, der ken oder nicht bewusste Bedürfnisse zustande Entstehung neuer Eigenschaften (und seinem kommen.) Während die Aktivität der Psycho- Gegenstück, dem Submergieren); auf ihn zielt nen in systemistischer Sicht identisch ist mit die Frage. Es sind verschiedene Prozesse, die dem, was wir subjektiv erleben, sind Psychone zum Emergieren neuer Eigenschaften führen, selber neuronale Systeme mit emergenten Ei- so das Emergieren von neuartigen Systemen genschaften als Folge der Aktivität von in neu- oder von Systemen einer bereits existierenden ronale Netze eingebundenen Neuronen. Es Art aus präexistierenden Dingen, das Inkorpo- sind diese Neuronen, die in Abhängigkeit von riertwerden solcher Dinge in ein existierendes ihrer Mitgliedschaft und Position im Netz ak- System oder ein anderweitig bedingter Wan- tiviert werden (MaR3) und deren Aktivität im del der Struktur eines Systems. Auf die Frage Verein mit der Struktur des Netzes die emer- nach Emergenzmechanismen gibt es keine genten Eigenschaften und damit das Verhalten allgemeine Antwort, denn es gibt noch viel des Netzes erklären (MiR 3). mehr Mechanismen, als es Arten von Dingen Dies ist eine der Leistungen des Systemismus: gibt. Die Kenntnis der Mechanismen der Er- Er erlaubt, das interdependente Geschehen in zeugung neuer Eigenschaften ist deshalb für und zwischen Dingen, die verschiedenen Sys- die Definition des philosophischen Begriffes temebenen angehören, via den Begriff des der Emerenz irrelevant, während deren Erhel- mechanismischen Erklärens zu erhellen und lung eine Aufgabe der verschiedenen Wissen- auf diesem Wege das Wissen ehemals durch schaften ist und den wichtigsten Teil ihrer unüberbrückbar scheinende Klüfte getrennte Arbeit ausmacht. Meist sind einige dieser Me- Disziplinen wie Biologie, Psychologie und chanismen bekannt (z.B. die Entstehung eines Soziologie in systematischer Weise zu ver- neuen Lebewesens durch die Befruchtung knüpfen. Für den Begriff der Autopoiese hat einer Eizelle oder einer Ehe durch das Entste- diese Sicht keine Verwendung; er gehört einer hen und Legalisieren einer Liebesbeziehung), während andere noch unverstanden sind (z.B.
Der Systemismus Mario Bunges und das Systemtheoretische Paradigma der Sozialen Arbeit 9 die Entstehung unserer Erfahrungswelt). Ob ropäisches Denken deklassieren, an ihrer Stelle verstanden oder nicht: das Emergieren neuer jene von Prozessen postulieren und glauben, Eigenschaften ist tatsächlich ein Wandel von sie könnten so eine ontologiefreie Theorie Qualität, entweder in Form der Veränderung entwickeln. Dies ist genauso eine alte („alteu- der in der Welt existierenden Qualitäten im ropäische“) Illusion (Heraklit) wie ihr eleati- Zuge des Auftretens neuer Arten von Dingen sches Gegenstück, die Vorstellung der Existenz (Phylogenese, Evolution) mit absolut neuen unwandelbarer Dinge (Parmenides von Elea). Eigenschaften (z.B. Wahrnehmungen bzw. Zunächst setzt jeder Anspruch, etwas zu er- „Phänomenen“ und später von empirischen kennen, die Existenz der als seiend vermuteten und dann transempirischen begrifflichen Sys- Items voraus, ob diese nun als Substanz oder temen innerhalb von Nervensystemen) oder als Prozess unabhängig von einer Substanz des Hinzukommens einer oder mehrer Eigen- verstanden werden (deshalb die Versicherung schaften im Zuge der Veränderung eines Din- Luhmanns, dass es Systeme gebe [Luhmann ges (Ontogenese) wie der Erwerb einer Spra- 1987a: 30]). Ontologie aber ist die Lehre des- che und das Lernen einer Theorie. Submergenz sen, was es gibt und wie es sich wandelt, ist im übrigen der umgekehrte Prozess. Bei- gleichviel, welche Arten von Existierendem spiel: Lernen ist das Emergieren neuer Eigen- postuliert werden. Sodann sind Prozesse Ab- schaften eines Lebewesens mit einem plasti- folgen von Veränderungen; Veränderungen schen Nervensystem, nämlich neuer Wissensi- sind aber immer Veränderungen von etwas, tems in Form neuer neuronaler Netze und der d.h. eines Dinges, wie immer dieses auch kon- Veränderung der Endo- oder Exostruktur be- zeptualisiert sein mag. Die Vorstellung einer stehender, das Vergessen von Items ist ihr Veränderung „an sich“ ist eine logische Fehl- Submergieren; oder: die Entstehung menschli- konstruktion, zu der sich Theoretiker unter- cher Gesellschaften war begleitet von der schiedlichster Orientierung immer wieder (erstmaligen) Emergenz der Eigenschaften von haben verführen lassen, sei es um irgendeine Stammesgesellschaften; mit dem Verschwin- Form des (unhaltbaren) Eleatismus zu vermei- den menschlicher Gesellschaften und mit ih- den oder um der Veränderbarkeit der Dinge nen von Menschen auf der Erde werden die der Welt Rechnung zu tragen. Kurz, das von Eigenschaften von humansozialen Systemen Luhmann und anderen verfolgte Programm submergieren wie auch die besonderen biolo- der Deontologisierung von substantiven Theo- gischen, psychischen und sozialen Eigenschaf- rien ist undurchführbar und endet in Aporien. ten ihrer Komponenten. Bei Luhmann beginnt dies bereits mit seiner zirkulären Definition des Systembegriffs: „Bei Krebs: Im Gegensatz zur Theorie Niklas Luhmanns der Frage »was ist...?«, (stösst) jeder Beobach- ist die Theorie Mario Bunges eine explizit ontologi- ter auf eine Paradoxie. Ein System ist die Diffe- sche Theorie. Welches sind Ihrer Meinung nach die renz von System und Umwelt, ist die Grenze, Vor- und Nachteile einer ontologischen Theorie, die eine innere Seite (System) und eine äussere und wo sehen Sie die Vor- und Nachteile einer Theorie, die deontologisiert? Seite (Umwelt) trennt.“ (Luhmann 1994: 51; Hervorhebung im Original). Darüber hinaus Obrecht: Um es vorweg zu nehmen: eine Theo- verlangen bekanntlich auch Ausdrücke, mit rie einer Real- oder besser einer Faktenwissen- der im Rahmen einer Definition ein Begriff schaft kann nicht nichtontologisch sein. Vertre- definiert wird, nach einer Definition, zumin- ter einer “Deontologisierung” der Erfahrung dest solange sie nicht elementar und nur noch wie Heidegger oder von basiswissenschaftli- durch Hinweishandlungen definierbar sind. So chen Theorien wie Luhmann meinten und ist in der Definition von Luhmann eine Grenze meinen, auf den Substanz- bzw. Dingbegriff etwas (?), was eine Seite (?) von einer anderen verzichten zu können, indem sie die Existenz Seite (?) trennt (?). All das sind Metaphern – von Dingen im Sinne von substantiellen Indi- wie neben Analogien das Meiste bei Luhmann. viduen mit ihren Eigenschaften leugnen (und Metaphern sind aber der Stoff, aus dem Poesie, den Gebrauch solcher Begriffe etwa als alteu- nicht aber wissenschaftliche Theorien gemacht
Der Systemismus Mario Bunges und das Systemtheoretische Paradigma der Sozialen Arbeit 10 ist und erst recht nicht die Begriffe wissen- Widerspruch zu allen reifen Wissenschaften schaftsbezogener Philosophie, die vielmehr die steht und von Analogien, Metaphern und Pa- Natur und Funktion verschiedener Arten von radoxien lebt. Begriffen zu klären und ungeeignete Arten zu eliminieren hat (Bunge 2001a). In den Wissen- Krebs: Wo sehen Sie nun die Stärken des System- schaften geht es demgegenüber um die Her- begriffs der systemistischen Ontologie im Bereich kunft, den Aufbau, den Wandel und den Zer- sozialwissenschaftlicher Fragestellungen oder an- ders gesagt, in der lokalen Ontologie des Sozialen? fall von konkreten Dingen jenseits der bildhaf- ten Phantasien, die wir mit den Mitteln der Obrecht: Zunächst ist die systemistische Onto- Phänowelt zu erzeugen vermögen. Zum Ver- logie eine zeitgemässe, in aller Breite, Tiefe gleich der Begriff der Grenze, wie er im Rah- und Präzision entwickelte Ontologie, wie man men des systemistischen Systembegriff defi- sie nicht (mehr) für möglich gehalten hat, und niert und von jenem der (geometrischen) Ges- eine materialistische von einem vollkommen talt unterschieden wird: In dieser Sicht ist alles neuen Zuschnitt obendrein: Sie ist eine Syste- ein konkretes Ding, was einer Veränderung matisierung der Ontologie der Faktenwissen- fähig ist (also nicht nur ein Atom, ein Stein, schaften (Bunge & Mahner 2004), die auch die eine Zelle, ein Gehirn, sondern auch ein elekt- Systematisierung der lokalen Ontologien und romagnetisches Feld oder ein Ökosystem), und allgemein die Philosophien der Physik (Bunge komplexe Dinge sind Systeme aus Komponen- 1973), der Biologie (Mahner & Bunge 2001), ten mit einer Endo- und einer Exostruktur, die der Psychologie (Bunge & Ardila 1990) und eine geometrische Gestalt und eine Oberfläche der Sozialwissenschaften (Bunge 1996, 1998, haben können (wie Steine, Pflanzen, Tiere) 1999, 2004 a, b) umfasst. Zusammen mit den oder auch nicht (wie Atome, soziale und Öko- anderen Teilen des Systems wie der Erkennt- systeme). Alle Systeme aber haben in dieser nis- und Wissenschaftstheorie, der Semantik, Sicht eine Grenze, die gebildet wird durch Axiologie, Praxeologie und Philosophie der diejenigen Komponenten eines Systems, die Technologie und der Ethik (für eine Übersicht direkt mit einem oder mehreren Dingen aus vgl. Mahner 2001) schlägt sie eine Vielzahl von dessen Umgebung verknüpft sind. Nicht die Lösungen für teils viel und teils wenig beach- bindende Exostruktur eines Systems stellt so- tete, aber grundlegende und schwierigste be- mit dessen Grenze dar, sondern die Teilmenge griffliche Probleme in den verschiedensten seiner Komponenten, die in seine Exostruktur Wissenschaften vor. (Zur [säkular- einbezogenen ist (Bunge & Mahner 2004: 76f). humanistischen!] politischen und zur Sozial- Luhmann wie auch die Positivisten, die er philosophie Bunges, die ebenfalls zu seinem ablehnt, lehnen Ontologie ab, ohne auf eine philosophischen System gehört, vgl. ebenfalls implizite Ontologie verzichten zu können; und Mahner 2001.)v Entsprechend nützlich ist sie er tut dies, wie auch die Positivisten, ohne den für wissenschaftsorientierte Philosophen und Ausdruck Ontologie zu definieren. Ihre Onto- gegenüber metatheoretischen Problemen offe- logie gehört damit zu ihrem "blinden Fleck". ne Wissenschafter. Für die letzteren stellt sie Während der Kampf der Positivisten dem ein gehaltvolles und produktives philosophi- ontologischen und erkenntnistheoretischen sches Hintergrundwissen bereit, das die Ent- Realismus galt und sie bei einer Ontologie wicklung wissenschaftlichen Wissens stimu- landeten, die die Existenz von Phänomenen liert und erleichtert. Wegen der breiten Be- postulierte (was nicht falsch, aber unvollstän- schäftigung mit Problemen der Philosophie dig ist), galt der Kampf Luhmanns der vorwis- der Praxis (Praxeologie) und der Technologie senschaftlichen Substanzmetaphysik und un- ist sie, anders als die bisherige Wissenschafts- ausgesprochen wohl auch dem Materialismus. theorie, nicht nur für die Grundlagenwissen- Dieser Kampf gegen die alteuropäische Sub- schaften von Bedeutung, sondern erst recht für stanzmetaphysik endete in einer nicht weniger die Handlungswissenschaftenvi. (Für die Sozi- alteuropäischen Prozessmetaphysik, die im alwissenschaften als Grundlagenwissenschaf- ten vgl. Bunge 1998; für die Sozialarbeitswis-
Der Systemismus Mario Bunges und das Systemtheoretische Paradigma der Sozialen Arbeit 11 senschaft als Handlungswissenschaft vgl. (a) eine gemeinsame Umwelt teilen und die (b) Obrecht 2001, 2003, 2005). auf andere Mitglieder des Systems auf Arten Die Ergänzung dieser Funktion der systemisti- einwirken, die zumindest in einer Hinsicht schen Ontologie und Philosophie im allgemei- kooperativ sind. Ein menschliches Sozialsystem nen besteht in ihrer Funktion als Ressource der ist ein soziales System, das gebildet wird aus Analyse, Systematisierung und Kritik von menschlichen Individuen und ihren Artefak- wissenschaftlichen und philosophischen Theo- ten“ (Bunge 1996: 271). Darin eingeschlossen rien und Lehren, wie sie hier in Bezug auf das sind „symbolische“ Systeme aller Art. imposante Werk Niklas Luhmanns angedeutet Emergente Eigenschaften sozialer Systeme worden ist. sind insbesondere die Eigenschaften ihrer Inte- raktions- und Positionsstruktur wie die Arten, Was die Sozialwissenschaften und die Sozial- Häufigkeiten und Intensitäten der Interaktio- arbeitswissenschaft betrifft, hier – beschränkt nen der Komponenten von Systemen (Kohä- auf einige Bemerkungen zu Grundbegriffen renz beziehungsweise Konflikt), Art und und unter Einbezug eigener Vorstellungen – in Ausmass der funktionalen Differenzierung, aller Kürze dies: In einer wissenschaftlichen die Zahl der institutionalisierten Statussysteme Sicht sind menschliche Individuen konkrete und deren Verteilungen (Schichtungen) sowie Biosysteme einer besonderen Art (und keine die Beziehungen zwischen diesen Verteilun- Ansammlung von einander interpenetrieren- gen (Kristallisation), die Geschlechter- und die den autopoietischen Systemen, verstanden als lebenszeitliche Differenzierung u.a.m. „Einheit der Differenz von System und Um- welt“). Soziale Handlungen sind entsprechend Ins Leben gerufen und aufrecht erhalten wer- Akte einer besonderen Art: Sie sind das, was den soziale Systeme wie gesagt durch soziale ein konkretes Ding einem anderen tut, das Handlungen. Die überwiegende Zahl von heisst eine Billardkugel einer anderen, ein Handlungen beruht auf sozialen und kulturel- Biomolekül in einer Zelle einem anderen, eine len Voraussetzungen, die die involvierten Ak- Lawine einem Bannwald oder eine ein Jungtier teure entweder nicht kennen oder die ihnen fütternde Amsel ihrem Jungen. Menschliche zum Zeitpunkt der Handlung nicht bewusst Handlungen („Praxis“) sind Akte einer beson- sind, und sie haben physikalische, biochemi- deren Art, nämlich was immer Menschen be- sche, psychische, soziale und kulturelle Fol- wusst oder nicht (voll) bewusst, aber absicht- gen, die oft und nicht zuletzt auch im Falle lich einem anderen Ding tun. Einer selbstbe- sozialer Handlungen weit über die beabsichti- wussten Handlung geht die Entwicklung eines gen Handlungsziele hinausgehen (nicht antizi- (Handlungs)Plans voraus. Und eine soziale pierte Konsequenzen). Dauerhafte Sozialsyste- Handlung ist eine Handlung, mit der ein Indi- me verdanken ihre Existenz und Dynamik viduum ein anderes (oder andere) zu verän- dem Vermögen menschlicher Individuen, dau- dern trachtet. Dabei ist der moralische Status erhafte soziale Bindungen einzugehen, wobei der Handlung unerheblich. Anders gesagt sind dieses Vermögen biologische Wurzeln hat. auch Mord und das Führen eines Krieges sozia- Soziales Verhalten von Individuen erzeugt le Handlungen (nicht aber das versehentliche oder modifiziert aber nicht nur soziale Syste- Töten eines Menschen, das eine „fahrlässige me, sondern es verändert auch sie selbst: Zum Tötung“ ist); das Streicheln eines Säuglings Beispiel ist Mitglied eines solchen Interaktions- nach der Geburt und die Geburtshilfe (nicht systems zu sein, eine durch die Mitgliedschaft aber das Gebären, das ein biologischer Akt ist). bedingte emergente (relationale) Eigenschaft Soziale Systeme sind eine der übergeordneten der Komponenten des Systems, die durch das, Klassen von konkreten Systemen. In Termini was Individuen im Rahmen ihrer Mitglied- des ontologischen Systemismus können sie schaft über die Zeit hinweg erleben und erfah- folgendermassen definiert werden: „Ein sozia- ren, deren psychische Systeme modifiziert. les System ist ein konkretes System, das zu- Menschliche Sozialsysteme gibt es heute in sammengesetzt ist aus geselligen Tieren, die allen Grössen und Graden der Komplexität,
Der Systemismus Mario Bunges und das Systemtheoretische Paradigma der Sozialen Arbeit 12 von der Kernfamilie bis zur Weltgesellschaft, ohne Beschreibung und Erklärung keine Wis- und von der unterschiedlichsten Art: Familien senschaft. und andere Arten von Gruppen, Netzwerke, Was schliesslich die Bedeutung der systemisti- territorial definierte Systeme wie Gemeinden, schen Ontologie und Philosophie im Allge- Länder (Kantone, Provinzen) oder Nationen meinen für die Sozialarbeitswissenschaft be- oder aber Organisationen wie Kleinbetriebe, trifft, seien hier nur drei Punkte hervorgeho- Schulen, Föderationen, Kartelle, multinationale ben (für eine ausführliche Darstellung vgl. Wirtschaftskorporationen, Regierungen und Obrecht 2001, 2003, 2005). wirtschaftliche oder politische Allianzen zwi- schen Nationen oder die Vereinten Nationen. Ein erster Punkt betrifft die Struktur der Wis- Die einfacheren unter ihnen sind interindivi- senschaft der Sozialen Arbeit als einer Hand- duelle Systeme, die komplexeren dagegen sind lungswissenschaft. In der Sicht des SPSA ist intersoziale oder intersozietale Supersysteme, handlungswissenschaftliches und damit pro- deren Entstehen und Überdauern davon ab- fessionelles Wissen im allgemeinen in vier hängt, dass die Intrasystemgrenzen stärker logische Ebenen differenziert, in der jede Ebene sind als jene der Intersysteme (Kohäsion). mit den angrenzenden in einer logischen Be- Zusammenfassend ermöglicht die systemisti- ziehung steht: sche Ontologie einen klaren und mit dem IV. Metatheorien wie Ontologie, Erkennt- Dingverständnis anderer Wissenschaften har- nis- und Wissenschaftstheorie, Seman- monierenden Begriff sozialer Systeme. Zu- tik, Axiologie, Praxeologie, Ethik; sammen mit dem mechanismischen Begriff des Erklärens ist dieser eine Voraussetzung der III. basiswissenschaftliche Theorien wie biologische, solche der kognitiven und theoretischen Integration von Hypothesen und affektiven Neurowissenschaften, der Theorien verschiedener Disziplinen wie etwa allgemeinen Psychologie, sowie Theo- der Biologie, der Psychologie und der Sozial- rien aus den verschiedenen Sozialwis- wissenschaften. Demgegenüber ist für Luh- senschaften); mann das Teil-Ganzes-Verhältnis jenes Ver- II. die Allgemeine Handlungstheorie und hältnis von Individuen zu sozialen Gebilden, das er als Grundlage der Entwicklung einer I. die speziellen Handlungstheorien oder wissenschaftsbasierten Methoden bzw. soziologischen Theorie nicht mehr als tragfä- Verfahren. hig erachtete, weil er die Lösung der Probleme der soziologischen Theorie, so wie er sie Die logischen Beziehungen zwischen Items verstand, auf der Basis eines prozessmetaphy- innerhalb der Ebenen I – III und zwischen sischen Gehirn-Geist-Dualismus (unpräziser: ihnen sind in Termini von Metatheorien (Ebe- Leib-Seele) suchte und dabei vermeiden muss- ne IV) formuliert, zu denen neben der syste- te, dass psychische und soziale Prozesse on- mistischen Ontologie und der Wissenschafts- tisch ununterscheidbar werden. ‚System’, ver- theorie des Wissenschaftlichen Realismus eine standen als Prozess, ‚Selbstreferenz’ ‚Autopoi- realistische Semantik, eine Wertlehre, eine ese’ und ‚Interpenetration’ als Prozess zwi- philosophische Praxeologie und die Ethik ge- schen Prozessen u.a. waren die begrifflichen hören. In sehr geraffter Darstellung: Mittel, mit denen er die beiden postulierten Prozessarten hinreichend scharf trennen zu I. Spezielle Handlungstheorien bzw. Methoden: können glaubte. Da Prozesse ohne Dinge aber Methoden sind (Systeme von) Regeln, die, falls Fiktionen und keine reale Gegebenheiten [En- sie auf der Kenntnis der Gesetzmässigkeiten titäten] sind, gab es da allerdings nichts zu im Interventionsbereich sowie der Mechanis- trennen und deshalb auch nichts zu beschrei- men beruhen, die durch ihre Anwendung im ben, geschweige denn zu erklären: Ohne Ding Rahmen von Handlungen in Gang gesetzt (System) kein Prozess und keine Beschreibung, werden, Technologien genannt werden kön- ohne Prozess in einem Ding kein Mechanis- nen. mus, ohne Mechanismus keine Erklärung und
Der Systemismus Mario Bunges und das Systemtheoretische Paradigma der Sozialen Arbeit 13 Da es Gesetzmässigkeiten im Bereich psychi- Prognostizieren von als problematisch erachte- scher und sozialer Prozesse gibt, gibt es auch ten Fakten, d.h. von Zuständen und Zustands- Technologien in diesen Bereichen. In diesem änderungen von Dingen irgendwelcher, d.h. Sinne beruht die psychologische Therapie auf physikalischer, chemischer biologischer, bio- der Anwendung psychologischer Technolo- psychischer oder sozialer Art. Die kognitive gien (Grawe 2004), die Soziale Arbeit auf so- Ressource aller drei Operationen sind basis- zialen. Professionen sind, nebst sozialen Krite- wissenschaftliche Theorien im Sinne von Sys- rien, dadurch definiert, dass ihre Mitglieder temen von Begriffen und von Aussagen über zur Bearbeitung ihrer spezifischen praktischen Gesetzmässigkeiten. In Termini ihrer Begriffe Probleme spezifische Technologien benutzen; und Propositionen werden Fakten beschrie- die ihnen zugeordneten Disziplinen sind ben, erklärt oder prognostiziert. Handlungswissenschaften mit dem Ziel der In dieser für professionelle Handlungen un- Entwicklung von wirksamen Technologien. verzichtbaren Nutzung basiswissenschaftli- chen Wissens liegt die eine Hälfte der Koppe- II. Allgemeine (normative) Handlungstheorie: lung zwischen Basis- und Handlungswissen- Professionelle Methoden sind keine Handlun- schaften, die andere ist die erwähnte Funktion gen, sondern kognitive Ressourcen zur Ent- von nomologischen Theorien im Rahmen von wicklung von Handlungsplänen bzw. Bera- Technologien, die auf erklärenden Theorien tungsplänen, die ihrerseits zur Steuerung von beruhen (vgl. die Definition von Profession). konkreten Handlungen dienen und deren Die verschiedenen grundlagenwissenschaftli- Anwendung eine Reihe weiterer kognitiver chen Theorien beziehen sich auf die verschie- Operationen involviert. Die Abfolge der wich- denen Arten von Dingen, die verschiedene tigsten Schritte, die zu einer professionellen „ontische“ Niveaus bilden und zusammen die Handlung gehören, lautet: 1. Beschreiben von Welt ausmachen. relevanten Fakten; 2. Erklären der beschriebe- nen Fakten; 3. Formulieren von Prognosen IV. Metatheorie: Zwar sind Professionen auf über den weiteren Verlauf der „Situation“, 4. bestimmte Arten praktischer Probleme spezia- Bewerten der beschriebenen und erklärten lisiert, doch treten in deren Zusammenhang Fakten im Lichte der Prognose(n); 5. gegebe- meist verschiedene Arten von (problemati- nenfalls Feststellen eines Problems, d.h. von schen) Fakten auf, Fakten, deren Beschreibung Zuständen und Prozessen, die nicht in Über- und Erklärung Theorien aus unterschiedlichen einstimmung mit den Werten des Handelnden Disziplinen involvieren. Anders als die Basis- sind; 6. Formulieren eines Zieles; 7. Entwickeln wissenschaften können sich damit die Hand- von alternativen Handlungsplänen; 8. Evaluie- lungswissenschaften und Professionen nicht ren der Handlungspläne und Wahl des Planes auf eine Art von Fakten beschränken. Damit mit der besten Kosten/Nutzen-Bilanz; 9. Imp- aber stellt sich das Problem der Verknüpfung lementieren des Planes und 10. Evaluieren des der Theorien unterschiedlichster Art, nicht Handlungseffekts. zuletzt aber unterschiedlicher disziplinärer Alle diese Operationen sind, wie der nächste Herkunft. So spielen in den Professionen ne- Abschnitt zeigt, logisch miteinander ver- ben den klassischen horizontalen oder Same- knüpft, und der Zusammenhang zwischen level-Verknüpfungsproblemen typischerweise ihnen wird über nomologische Theorien gestif- auch die vertikalen oder Inter-level- tet, denen damit eine grundlegende Rolle im Verknüpfungen eine wichtige Rolle, wie sie im professionellen Handeln zukommt (Für Ge- Zusammenhang mit der Antwort auf Frage 2 naueres vgl. Obrecht 1996, 2001, 2004a). umrissen wurden. Dadurch erhält die syste- mistische Ontologie im Verein mit dem me- III. Basis- bzw. grundlagenwissenschaftliche oder chanismischen Erklärungsbegriff eine zentrale auch Objekttheorien: Der Prozess der Hand- Funktion im Rahmen des professionellen Prob- lungsplanung endet mit einem Plan; seinen lemlösungsprozesses, wie er in der Allgemei- Anfang hat er im Beschreiben, Erklären und nen Handlungstheorie beschrieben wird.
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