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Rundbrief der LOBBI #15 / Winter 2019 perspektiven Berichte aus dem Gerichtssaal – Interview: Von Rassismus betroffene Kinder Antisemitismus erkennen und benennen – Viele Fragen zum Thema »Nordkreuz« Auf der Stelle: Der Untersuchungsausschuss zum sogenannten NSU
Liebe Leserin, lieber Leser, »Eine abscheuliche Tat!« wenn knapp vor Redaktionsschluss immer wieder Eine Haftstrafe von zwei Jahren und drei Monaten – so neue Meldungen zu den Texten einer Ausgabe lautete am 26. April 2019 das Urteil für David B. vor dem hereinkommen, ist es manchmal schwierig einen Rostocker Landgericht. Er hatte im Juli 2018 einen jungen Abschluss zu finden. Deshalb erscheint diese Mann mit Messerstichen in den Oberkörper verletzt. Das hoffentlich informative Ausgabe der perspekti- ven deutlich später als geplant und ist an einigen Amtsgericht hatte ihn im vergangenen Dezember lediglich Stellen möglicherweise nicht auf dem topaktuellen zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Eine rassistische Tat- Nachrichtenstand. Wir werden uns daher inten- motivation hielt es damals für möglich, aber nicht erwie- siv damit auseinandersetzen, ob dieses Format sen. weiterhin die geeignete Form ist, um Analysen und Der Betroffene war erst kurz vor dem Angriff nach Rostock Informationen zu verbreiten. gezogen. Er hatte sich an der Universität für ein Studium So hat der NSU-Untersuchungsausschuss des eingeschrieben. Am Tattag war er abends mit Bekannten Schweriner Landtages, dem wir eine »Ernüch- unterwegs, als er auf David B., Matthias P. sowie eine jun- ternde Bilanz« attestiert haben, nach seiner ge Frau traf. Nachdem diese die jungen Männer aus Syrien Sommerpause zumindest mit den öffentlichen Ver- wiederholt rassistisch beleidigten, wollte der Betroffene nehmungen von Zeug*innen begonnen. Welche Er- wissen, warum sie so etwas sagen. Ohne weiteres wurde kenntnisse diese im weiteren Verlauf bringen, wird er angegriffen. Ein Hund wurde auf ihn gehetzt und Mat- sich zeigen. Dem Thema Antisemitismus widmeten thias P. schlug ihm mit einem Fahrradschloss auf den Kopf. sich Medien nach dem furchtbaren Anschlag von Halle kurzzeitig mit größerer Aufmerksamkeit und Dann griff der mehrfach vorbestrafte B. den Betroffenen auch der Landtagsbeschluss aus dem Frühjahr zur an. Er stach ihm mit einem Messer zweimal in den linken Schaffung der Stelle eine*r Antisemitismusbeauf- Achselbereich und verletzte ihn dabei so schwer, dass er tragten in M-V wurde Ende Oktober endlich umge- später operiert und sieben Tage stationär behandelt wer- setzt. Auch hier haben wir bereits zuvor versucht, den musste. Matthias P. wurde vom Amtsgericht Rostock eine aktuelle Bestandsaufnahme zu geben. zu einer Bewährungsstrafe verurteilt, die kurze Zeit später Schwerpunkt liegt auf dem Thema »Nordkreuz«. rechtskräftig wurde. Das Gericht hielt auch für die Mes- Hier beginnt noch in diesem Monat, mit dem Pro- serstiche von David B. eine Bewährungsstrafe von knapp zess gegen ein mutmaßlich führendes Mitglied der zwei Jahren für angemessen – obwohl dieser keinerlei Reue Gruppe, die juristische Aufarbeitung des Treibens zeigte. Vielmehr prahlte er im Verhandlungszeitraum in so- des rechten Netzwerkes in M-V. Mit einem Text zialen Medien mit seiner Tat und machte dabei aus seiner versuchen wir, die bisher bekannten Recherchen politischen Gesinnung keinen Hehl. Die LOBBI kritisierte und Informationen zu sortieren. Ein zweiter Text das Urteil seinerzeit als verheerendes Signal. zur Thematik beschäftigt sich mit dem Informa- tionsunwillen des Innenministeriums und soll Auch die Staatsanwaltschaft hielt das Urteil für nicht an- versuchen, die Wahrnehmung der Betroffenen und gemessen und legte Berufung ein. In der Verhandlung am ihre Forderungen in den Mittelpunkt der Betrach- Landgericht schilderte der Betroffene, der in beiden Pro- tung zu rücken. Was es bedeutet, wenn Kinder zessen als Nebenkläger auftrat, erneut die Tat und deren Ziel rechter Angriffe werden, hat uns ein mittler- Folgen. Er hatte Rostock wenige Wochen nach der Tat ver- weile Jugendlicher Betroffener in einem Interview lassen und studiert jetzt in einer anderen Stadt. Er leidet geschildert. bis heute unter den physischen und psychischen Angriffs- folgen. Impressum: Anders als sein Kollege am Amtsgericht stellte der vorsit- PERSPEKTIVEN / November 2019 zende Richter die geschilderten Beleidigungen nicht in Fra- Hrsg.: LOBBI e.V. / Tilly-Schanzen-Str. 2, 17033 ge. Er nannte die Tat abscheulich und betonte, dass dem Neubrandenburg / 0395.455 07 18 Angeklagten die potentiell tödlichen Folgen des Messeran- mail@lobbi-mv.de griffs egal gewesen seien. Sein Leben sei von einer durch V.i.s.d.P.: Robert Schiedewitz Titelfoto: Graffito am »Peter-Weiss-Haus« und durch kriminellen Entwicklung geprägt. Eine Bewäh- in Rostock / Quelle: Bildwerk Rostock rungsstrafe, so der Richter, stand unter diesen Vorausset- zungen »auf einem anderen Stern«. Die ausgesprochene Bitte informieren Sie uns, wenn Sie den Rundbrief Haftstrafe, in die eine Verurteilung einer anderen Tat ein- [nicht mehr] regelmäßig erhalten wollen. bezogen wurde, ist noch nicht rechtskräftig. Der Verteidiger des B. hat Revision eingelegt. Der Betroffene hofft unter- Ältere Ausgaben des LOBBI-Newsletters dessen auf einen baldigen Abschluss des Strafverfahrens. finden sie auf unserer Internetseite unter: Nach über einem Jahr möchte er endlich mit dem Erlebten lobbi-mv.de/perspektiven/ abschließen. 2 perspektiven
Rassistischer Angriff verhandelt – Betroffener zuvor abgeschoben Gut ein Jahr nach einer rassistisch motivierten Attacke auf zwei Männer aus Eritrea in Friedland im April 2018 mussten sich zwei mehrfach vorbestrafte Schläger wegen gefährlicher Körperverletzung vor dem Neubrandenburger Amtsgericht verantworten. Der Angriff sorgte seinerzeit bundesweit für Schlagzei- len. Nach Schilderungen der Betroffenen wurden aus der Gruppe der Angreifer Hunde auf sie gehetzt, bevor sie rassistisch beleidigt und geschlagen wurden und man ihre Fahrräder in den angrenzenden Teich warf. Bereits am ersten der zwei Verhandlungstage räum- So wurde am 27. Juni schließlich nur der 31-Jähri- ten die beiden 21- und 31-jährigen Männer die ge Maik M. wegen gefährlicher Körperverletzung Taten teilweise ein – auch wenn einer der beiden zu acht Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt. seine Handlungen damit zu rechtfertigen versuch- In das Strafmaß flossen weitere Taten mit ein. Eine te, dass ihm einer der Betroffenen zuvor den Mit- positive Prognose, die eine Aussetzung der Haft auf telfinger entgegengestreckt habe. Diese Geschichte Bewährung rechtfertigen würde, konnte das Ge- konnte jedoch nicht einmal von anderen Personen richt dem mehrfach vorbestraften Mann nicht zu- aus der Gruppe der Angreifer glaubhaft bezeugt gestehen. Das offensichtliche rassistische Tatmotiv werden – und selbst wenn, wäre der Angriff bei ei- wurde dagegen nicht strafschärfend berücksichtigt. ner solchen Geste nicht zu rechtfertigen gewesen, M., der seine rechten Tätowierungen während der so die Staatsanwältin. Die Stimmung der Gruppe Verhandlung stets abgeklebt hatte, legte gegen das wurde jedoch durch die Aussagen der eingesetz- Urteil Berufung ein. ten Polizeibeamt*innen deutlich. Sie berichteten, Die Perspektive des zweiten Betroffenen, der eben- dass der 21-Jährige Tony K. sich bei ihrer Ankunft falls als Zeuge aussagen sollte, fehlte vor Gericht. in »aufgeplusterter« Pose vor sie stellte und von Dieser wurde einige Tage zuvor aus Deutschland ab- seinen Freunden beruhigt werden musste. Als die geschoben. Es wurde lediglich seine bei der Polizei beiden Betroffenen wieder hinzu kamen, fielen in getätigte Aussage vorgetragen. In der Regel ist eine Anwesenheit der Polizei weitere rassistische Belei- bevorstehende Verhandlung ein Abschiebungshin- digungen. dernis, allerdings war diese der Ausländerbehörde Welche Folgen die Attacke für die Betroffenen hat- wohl nicht bekannt. te, legte einer der beiden, der auch als Nebenkläger Dem Prozess ging neben dem bundesweiten Inter- im Verfahren auftrat, vor Gericht offen. Der 27-Jäh- esse am Übergriff eine zum Teil relativierende und rige schilderte den Hergang ruhig und sachlich und tendenziöse Berichterstattung in der Regionalpres- machte deutlich, dass für ihn nur ein rassistisches se voraus. So wurde trotz rassistischer Äußerungen Motiv in Frage kommt. Er machte auch klar, dass er das Motiv angezweifelt und der Angriff auf die Alko- sich nicht wegen seiner Hautfarbe beleidigen las- holisierung oder kriminelle Vorgeschichte der Täter se, denn er sei stolz darauf »Schwarz« zu sein. Er zurückgeführt. Außerdem wurde gemutmaßt, dass schilderte außerdem eindrücklich wie er, nachdem die Betroffenen wegen fehlender Deutschkennt- die Fahrräder ins Wasser geworfen wurden, dachte, nisse falsch verstanden haben könnten, was die er wäre als nächstes dran. Da er nicht schwimmen Angreifer sagten. Berichtet wurde auch von einer könne, fürchtete er um sein Leben. Er berichtete Entschuldigung, die die Betroffenen von den Tätern auch, dass er seit dem Vorfall immer noch Alpträu- erhalten und angenommen hätten. Dies wurde zu- me habe. mindest von dem Betroffenen, der vor Gericht er- Besonders beunruhigend sei der Umstand, dass er scheinen konnte, nicht bestätigt. Vielmehr berich- einem der beiden Angreifer weiterhin begegnen tete er eben von den anhaltenden Bedrohungen müsse und dieser ihm vor der Verhandlung sogar durch einen der Täter. Es ist die rassistische Dimen- noch gedroht habe. Das Verfahren gegen K. wurde sion des Angriffs, die für den Betroffenen konkre- im Verlauf der Verhandlung abgetrennt und ruht te Folgen hat und es ihm erschwert, seinen Alltag seitdem. Zunächst soll ein Gutachten klären, ob sei- ohne Angst zu bestreiten – nicht die Zugehörigkeit ne erheblich verminderte Intelligenz möglicherwei- der Angreifer zu einem vermeintlichen Milieu, wie se die Schuldfähigkeit in Frage stellt. in der Lokalpresse dargestellt. 3 www.lobbi-mv.de
»Ich wusste erst gar nicht, was „Ausländer“ bedeutet« Fadi (Name geändert) ist heute 14 Jahre alt. Er und seine Familie lebten mehr als ein Jahr in einer Klein- stadt, in der sie die einzige syrische Familie waren. Dort wurden sie immer wieder angegriffen, bedroht und beleidigt. Mit Unterstützung der LOBBI und zahlreichen Kooperationspartner*innen konnte sie schließlich in eine andere Stadt umziehen. Das folgende Interview wurde in deutsch und arabisch ge- führt. Hallo Fadi, wir geht es dir heute? Gab es dort auch Menschen, die Euch gehol- fen haben? Wir wohnen jetzt seit fünf Monaten hier. Es gefällt mir sehr gut. Es ist viel besser als vorher. Ich habe Frau H. aus meiner Schule hat uns sehr geholfen. deutsche und arabische Freunde. Auch in der Schu- Von unseren Nachbarn hat uns niemand unter- le ist es gut. Ich hatte dort noch keine Probleme. stützt. Ich glaube, die mochten alle keine Ausländer. Die meisten waren gegen uns. Wir wurden immer böse angeguckt. Wir wollten draußen spielen, aber Vorher habt Ihr in einer anderen Stadt ge- das konnten wir dann nicht mehr. Wir sind eine gan- wohnt. Was ist dort passiert? ze Woche nicht mehr raus gegangen. Wir dachten, Wir hatten viele Probleme mit anderen Kindern. Zu- dass es sich dann vielleicht ändert. Aber das war erst haben wir zusammen gespielt. Dann sagten sie nicht so. irgendwann: »Wir mögen keine Ausländer« oder so ähnlich. Ich habe das erst gar nicht verstanden. Wie war es dann in der Schule? Damals konnte ich noch nicht so viel Deutsch. Ich Es gab viele Kinder, die mich nicht mochten. Ich wusste nicht, was sie mit »Ausländer« meinen. hatte dann noch oft Probleme mit ihnen. Ich wurde In der Schule sagte dann ein Junge zu mir: »Auslän- beschimpft und mir wurde der Mittelfinger gezeigt. der raus!« und hat mich geschlagen. Ich habe mich Ich wusste erst gar nicht, was das bedeutet. Mein gewehrt. Die Schulleiterin hat uns dann getrennt. Vater hat mir dann gesagt, was das bedeutet. Die An einem anderen Tag bin ich mit meinen beiden Lehrer haben das meistens gar nicht bemerkt. Oft Brüdern zum Supermarkt gegangen. Wir haben so ist das auch auf dem Schulweg passiert. Ich wollte acht oder neun deutsche Kinder getroffen. Sie ha- dann gar nicht mehr zur Schule gehen. ben uns mit Steinen beworfen und wollten uns mit Stöcken schlagen. Wir sind weggelaufen. So was ist Was würdest Du heute anderen Kinder sagen, dann öfter passiert. denen so was passiert? Wie ging es Dir? Worüber hast Du nachge- Ich würde ihnen sagen, dass sie mit den Lehrern re- dacht? den sollen, damit sie ihnen helfen. Wenn das nichts bringt, sollen sie zur Polizei gehen. Nicht gut. Es ging uns sehr schlecht und wir wussten nicht, warum sie das machen. Wir haben ja nichts Was möchtest Du sonst noch dazu erzählen? getan. Ich habe dann aber schon gedacht, vielleicht Einmal haben Erwachsene, die bei uns in der Nähe mögen sie keine Ausländer. Sie haben dann auch wohnten einen Hund auf uns gehetzt. Da hatten wir gesagt: »Sprich deutsch!« und so. große Angst. Wir mussten da raus. Ich hatte dort Was hast Du Dir damals gewünscht? gar keine Freunde. Vorher haben wir ja in der Türkei gelebt. Dort hatte ich viele Freunde. Als wir dann Ich wollte nur noch weg von dort. Ich wollte das al- hier waren, war es ganz anders. Wir hatten immer- les nicht mehr haben. Wir hatten immerzu Angst. zu Ärger. Ich dachte zum Anfang, alle Deutsche has- Ich habe es gehasst. sen Ausländer. Aber jetzt weiß ich, dass es auch vie- le gute Menschen gibt. Ich lebe jetzt gerne hier. 4 perspektiven
Ernüchternde Bilanz Am 26. April 2018 beschloss der Schweriner Landtag die Einsetzung eines Parlamentarischen Untersu- chungsausschusses (PUA) zum Thema Nationalsozialistischer Untergrund (NSU). Mehr als sechs Jahre nach Selbstenttarnung des NSU-Kerntrios schien damit auch in Mecklenburg-Vorpommern eine ernst- hafte politische Aufarbeitung des neonazistischen Terrornetzwerks möglich. Doch geschehen ist seitdem wenig. Zuvor hatte über ein Jahr ein Unterausschuss, an- nicht selten bis zur Unlesbarkeit geschwärzt. Andere gesiedelt beim Innen- und Europaausschuss des waren als derartig geheim eingestuft, dass sie we- Landtages, zum Thema gearbeitet. Bereits früh der in öffentlichen Sitzungen noch im Abschlussbe- zeichnete sich ab, dass dieses Gremium nicht die richt des Ausschusses verwendbar sind. Für einen notwendigen Kompetenzen besaß, um relevan- ernsthaften Willen zur Aufklärung, wie er von den te Akten einzusehen und Zeug*innen zu hören. So Verfasser*innen des erwähnten Offenen Briefs ein- blieb es bei der Anhörung von Expert*innen, die den gefordert wurde, spricht dies nicht. Öffentlich wahr- Parlamentarier*innen jedoch zahlreiche wichtige nehmbar kritisierten dieses Vorgehen bisher ledig- Hinweise gaben und zentrale Fragestellungen auf- lich die Abgeordneten der Fraktion der LINKEN. zeigten. Derart vorbereitet hätte der PUA eigentlich Am 14. Juni und damit mehr als ein Jahr nach seiner direkt nach der konstituierenden Sitzung am 24. Mai Einsetzung tagte der PUA zum zweiten Mal öffent- mit der inhaltlichen Arbeit beginnen können. Doch lich. Diesmal war es Antonia von der Behrens, Ne- dazu kam es nicht. Zunächst bremsten Anforderun- benklagevertreterin im Münchner NSU-Prozess, die gen an die Sicherheitsausstattung der genutzten zahlreiche Verbindungen des Terrornetzwerkes nach Räume das Agieren des Ausschusses. Ausgerechnet und in M-V aufzeigte. Sie war nicht die erste Exper- der Verfassungsschutz, also jene Behörde, die zent- tin, die das Bundesland als eines der Schwerpunkte raler Untersuchungsgegenstand des Ausschusses ist, im NSU-Komplex bezeichnete, in dem es gleichzeitig verlangte nach Räumlichkeiten mit schusssicherem einen besonders niedrigen Erkenntnisstand gibt. Glas und separaten Eingängen. Standards, die nicht Aktuell spricht wenig dafür, dass sich dies in abseh- ohne weiteres erfüllt werden können, in anderen barer Zeit ändern wird. Bei den ersten öffentlichen Bundesländern so aber auch gar nicht gefordert Zeug*innenvernehmungen im September und Ok- wurden. So beschäftigte sich der Ausschuss in insge- tober bestätigte sich lediglich, dass ein rassistisches samt sieben Sitzungen im Jahr 2018 weitestgehend Motiv für die ermittelnden Polizeibeamt*innen mit Beweisbeschlüssen. Die Öffentlichkeit war dabei überhaupt keine Rolle spielte. Einige der gehörten ausgeschlossen. Zeug*innen beriefen sich zudem – mehr oder we- Erst im Januar 2019 fand die erste Anhörung von niger glaubhaft – auf erhebliche Erinnerungslücken. Sachverständigen und damit die erste öffentliche Außerdem kritisierten Mitglieder des Ausschusses Sitzung statt. Die Abgeordneten Dorothea Marx und eine Verzögerungstaktik des Innenministeriums, das Katharina König-Preuss berichteten vor gut gefüllten ihnen weiterhin Akten vorenthält, die bereits vor Besucher*innenrängen ausführlich von der parla- über einem Jahr im Rahmen von Beweisbeschlüssen mentarischen Aufarbeitung im Thüringer Landtag. angefordert wurden. Sie zeichneten dabei das Bild eines PUA, der seinen Weitreichende Erkenntnisse und damit zukunftswei- Auftrag tatsächlich ernst nimmt. So wären öffentli- sende Ideen, wie rechtem Terror wirkungsvoller als che Sitzungen dort an der Tagesordnung. Auch be- in der Vergangenheit begegnet werden kann, sind so stünden die Parlamentarier*innen auf ungeschwärz- nicht zu erwarten. Im Herbst 2021 wählt Mecklen- te Akten, denn sie besäßen das Recht und die Pflicht, burg-Vorpommern einen neuen Landtag. Bis dahin behördliche Informationen einzufordern. Ähnliches muss der Ausschuss seinen Abschlussbericht vorle- hatten zahlreiche zivilgesellschaftliche Akteur*innen gen. Sollte sich in dessen Arbeit nicht noch grund- im Vorfeld der Sitzung ebenfalls angemahnt. In ei- sätzliches ändern, wird er sowohl vom Umfang als nem Offenen Brief an Abgeordnete des hiesigen PUA auch vom Inhalt her mehr als überschaubar ausfal- forderten sie Transparenz durch öffentliche Sitzun- len. Ob es in der folgenden Legislaturperiode, den gen und ein zügiges Vorankommen. politischen Willen bzw. die notwendigen Mehrhei- Viele Ausschussmitglieder schien dies alles wenig ten für einen erneuten Ausschuss zum Thema geben zu beeindrucken. Sie warteten weiterhin geduldig wird, muss stark bezweifelt werden. Nicht wenige auf die Zuarbeit der Behörden. So vergingen wei- Akteur*innen scheinen genau darauf zu setzen und tere Monate. Wenn Akten eintrafen, waren diese auf Zeit zu spielen. 5 www.lobbi-mv.de
Zu allem bereit Rechte Polizeibeamte und Bundeswehrangehörige, die sich privat bewaffnen, Daten über vermeintliche politischer Gegner*innen sammeln und Gedanken über deren Liquidierung austauschen; Razzien unter Umgehung der Landesbehörden, Sonderermittlungsgruppen und immer wieder neue Enthüllungen durch journalistische Recherchen – das was bisher zur sogenannten Gruppe Nordkreuz und dem dazugehörigen Netzwerk bekannt ist, ist so beunruhigend wie unübersichtlich. Im Folgenden daher der Versuch eines aktuellen Überblicks. Ausgangspunkt des Bekanntwerdens der Gruppe ihren Waffen zu töten. Zu dieser Personengruppe Nordkreuz waren zunächst die Ermittlungen gegen sollen die Beschuldigten eine Liste mit Namen und den Soldaten Franco A. aus Hessen. Dieser hätte weiteren Personalien angelegt haben.« Unter an- Anschläge, unter anderem auf die Vorsitzende der derem soll J. als damaliger Polizist in Ludwigslust Amadeu-Antonio-Stiftung, Anetta Kahane, geplant, unbemerkt seinen Dienstrechner genutzt haben, die er anschließend Geflüchteten anlasten wollte. um an Meldedaten potentieller Opfer der Gruppe Dafür hatte er sich Ende 2015 als syrischer Flüchtling Nordkreuz zu gelangen. BKA-Beamte finden sowohl registrieren lassen und pendelte bis zu seiner Fest- bei ihm als auch bei H. Adresslisten, auf denen zu nahme im April 2017 zwischen seiner Kaserne und knapp 30 Personen handschriftlich Adressen und einer Unterkunft für Geflüchtete, um seine Maske- weitere nicht öffentlich verfügbare Informationen rade aufrecht zu halten. ergänzt wurden. Darunter unter anderem die Skiz- Bei der Auswertung seiner Kontakte stießen ze der Wohnung eines Mannes aus Ludwigslust. Ermittler*innen erstmals auf eine Gruppe mit dem Dieser hatte im Jahr 2015 ein Drohschreiben beim Namen Nordkreuz und somit auf erste Hinweise auf Staatsschutz angezeigt und in der Diskussion mög- ein größeres Netzwerk. licher Schutzmaßnahmen ebenjene Skizze gezeich- Nach über einem Jahr intensiver Recherchen be- net, berichtet die taz. Wie sie vom Staatsschutz in richten Ende 2018 taz und Focus dann fast zeitgleich die Hände des Nordkreuz-Umfeldes gelangt ist, ist von einer ganzen »Schattenarmee«, die sich in Bun- nur eine der vielen noch offenen Fragen. deswehr und Reservistenverbänden gebildet habe. In anderen Fällen hingegen, scheint es sich um gro- In deren Zentrum stünden zwei Elitesoldaten, die ße Datensätze aus dem Hack eines Punk-Versand- sich selbst »Hannibal« und »Petrus« nennen und handels zu handeln, die in rechten Kreisen als Liste als Gründer und Administratoren der Gruppen auf- mit Antifa-Adressen weitergeleitet wurden. In der treten würden, die sich entlang der Wehrbereichs- bundesweiten Presse macht der Begriff der »Todes- verwaltung in die Gruppen Süd, Ost, West und eben listen« die Runde. Das Schweriner Innenministeri- auch Nord gliedern. um betont derweil, dass es keine Gefährdung gäbe, ohne dies näher zu begründen und verweist ansons- Gewaltphantasien und Adresslisten ten auf den GBA als leitende Ermittlungsbehörde. Offensichtlich sind diese Hinweise auf die bundes- Wenige Tage nach den Durchsuchungen werden zu- weite Vernetzung Franco A.s tatsächlich schon im dem die Korrespondenzen zwischen dem damaligen Sommer 2017 so alarmierend, dass das Bundeskri- AfD-Landtagsabgeordneten Arppe und Fraktions- minalamt (BKA) am 28. August im Auftrag des Ge- kollegen aus dem Jahr 2015 bekannt. Der Rostocker neralbundesanwalts (GBA) auch mehrere Objekte Arppe ergeht sich dabei nicht nur in detaillierten in Mecklenburg-Vorpommern durchsucht. Vorwurf, Schilderungen, wie er politische Gegner*innen der Verdacht der Vorbereitung einer schweren ermorden würde, er spricht auch lobend von Jan- staatsgefährdenden Gewalttat. Das hiesige Innen- Hendrik H.: »Der Typ«, so Arppe, »würde perfekt in ministerium wird erst kurz zuvor informiert, Polizei- unsere Reihen passen. Er hasst die Linken« und be- beamte von vor Ort sind nicht involviert. Dies hat sitze reichlich Waffen. Gründe: Einer der beiden Tatverdächtigen, Haik J., Vorbereitungen auf den »Tag X« ist Polizeibeamter in Ludwigslust. Der Zweite ist Jan- Hendrik H., Rechtsanwalt und zum damaligen Zeit- Durchsucht werden im August 2017 auch die Räu- punkt Mitglied der Rostocker Bürgerschaft. Der GBA me von vier weiteren Personen, die bis dahin nicht wirft den beiden vor, geplant zu haben, »Vertreter als tatverdächtig gelten. Unter ihnen Marco G., laut des politisch linken Spektrums festzusetzen und mit Medienberichten Administrator der Chatgruppe 6 perspektiven
Nordkreuz, in der sich 30 bis 60 Personen vernetzt das Waffengesetz und das Sprengstoffgesetz in zwei haben sollen. G. ist ebenfalls Polizeibeamter und Fällen. Der Gerichtsprozess begann im November. langjähriges Mitglied des Spezialeinsatzkommandos Durchsucht wird im Juni auch ein Schießplatz in (SEK) der Landespolizei. Davor war er Elitesoldat in Güstrow. Dort hatten jahrelang SEK-Einheiten, der Bundeswehr. nicht nur aus Mecklenburg-Vorpommern, trainiert Wenige Tage nach den Durchsuchungen gibt er sich – unter Schirmherrschaft von Landesinnenminister in einem Beitrag der Sendung Panorama selbstbe- Caffier. Beliebt war der Schießplatz laut Medienbe- wusst. Er und seine Bekannten seien ganz normale richten aber auch bei weiteren Personen aus dem Bürger, die sich lediglich auf Krisensituationen vor- Nordkreuz-Netzwerk. bereiten. Schnell ist, insbesonders seitens der Lan- Unter ihnen auch wieder der Rostocker Rechts- desbehörden, stets von sogenannten Preppern die anwalt H., der außerdem hinter seinem Haus ein Rede: mitunter verwirrte, aber eigentlich harmlose Wettschießen veranstaltet haben soll. Erster Preis Personen, die ihr Geld für Bunker und Lebensmittel- ein Pokal, benannt nach Mehmet Turgut, der 2004 depots ausgeben und sich im Falle eines Untergangs in Rostock vom sogenannten Nationalsozialistischen der Zivilisation mit Waffen schützen wollen. Untergrund (NSU) erschossen wurde, berichtet die Dabei gerät aus dem Blick, was diese Gruppe tat- taz unter Berufung auf mit den Ermittlungen ver- sächlich plante. Am »Tag X« – in rechten Kreisen trauten Personen. ein beliebtes Synomym für den herbeigesehn- Alles unter Kontrolle? ten Tag des Umsturzes – wollten sie Menschen exekutieren, die sie als politische Gegner*innen All diese Ereignisse wurden nur in Bruchstücken ansahen. So wird im Juni 2019 bekannt, dass Nord- bekannt, zumeist durch journalistische Recherchen kreuz sich mit Leichensäcken und Ätzkalk bevorra- oder nach anhaltendem öffentlichen Druck. Doch ten wollte. Sicherheitskreise sprechen laut Redakti- sie zusammen zu führen, fundierte Informationen onsnetzwerk Deutschland von Vorbereitungen, die zu liefern und diese einzuordnen wäre auch Aufgabe mit »enormer Intensität« vorangetrieben wurden. des Landesinnenministeriums gewesen. Die Ende Für so ein Treiben gibt es eine eindeutige Bezeich- 2017 eingesetzte »Prepperkommision« kündigte ei- nung: Rechtsterrorismus. nen Abschlussbericht für das dritte Quartal 2018 an. So ein Bericht liegt bis heute nicht öffentlich vor. Der Schießtrainings und Waffenlager Verfassungsschutz bezeichnet die rechten Bürger- Schon bei den ersten Razzien im August 2017 fan- kriegsvorbereitungen in seinem Bericht für das 2018 den BKA-Beamte Waffen und Munition, auch bei vom Mai diesen Jahres als »Krisenvorsorge« – das Marko G.. Da diese nicht ordnungsgemäß gesichert Nordkreuz-Netzwerk wird nicht einmal erwähnt. waren, wurde gegen ihn ein Ermittlungsverfahren Nach den Waffenfunden vom Juni 2019 sieht sich eingeleitet. der Innenminister erneut unter Druck. Selbst Ab- Wirklich ernst wird es für ihn und weitere Polizisten geordnete der Regierungsfraktion sprechen mitt- allerdings erst im Juni 2019. Auf seinem Grundstück lerweile von »Schattenstrukturen« in der hiesigen finden Beamte des LKA mindestens 30.000 Schuss Polizei. Er entschuldigt sich im Landtag für die »Vor- Munition und eine Maschinenpistole vom Typ Uzi. fälle« und richtet eine weitere Kommission ein. Die- Ein Teil davon stammt wohl aus Bundeswehrbestän- se legt Ende November ihren Abschlussbericht vor. den, der Rest wurde seit 2012 bei Schießtrainings im Darin ist von einer rechten »Subkultur« die Rede, Bundesland entwendet. Gegen G. und einen weite- die sich über Jahre ungestört im SEK entwickeln ren Tatverdächtigen wird Haftbefehl erlassen. Zwei konnte. Der Direktor des LKA und der Leiter der Po- festgenommene Personen werden gegen Auflagen lizeiabteilung im Innenministerium werden versetzt. entlassen. Alle vier haben eine gemeinsame Ver- Doch es bleiben viele offene Fragen. Ebenso stehen gangenheit im SEK. Gleichzeitig werden vier weitere zahlreiche Forderungen nach weitreichenden Kon- Mitglieder dieser Spezialeinheit wegen ihrer Verbin- sequenzen und strukturellen Veränderungen in den dungen zu Nordkreuz versetzt. Gegen G. erhebt die Sicherheitsbehörden im Raum, wie die Schaffung Staatsanwaltschaft Schwerin im September diesen wirksamer Beschwerdestellen und parlamentari- Jahres schließlich Anklage wegen des Verdachts des scher Kontrollinstrumente. Verstoßes gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz, 7 www.lobbi-mv.de
Unsicherheitsbehörden Würden Sie wissen wollen, ob Ihr Name auf einer Feindesliste steht? Zumal, wenn die Verfasser Zugang zu Waffen und Ihren persönlichen Daten haben? Würden Sie mehr über die Hintergründe wissen wollen? Würden Sie wissen wollen, welche Konsequenzen die beteiligten Behörden gezogen haben? – Nach der Aufdeckung rechter Netzwerke in Polizei und Bundeswehr sollten Transparenz und die Rückgewinnung von Vertrauen an vorderster Stelle stehen - die Informationspolitik von Bundeskriminalamt und dem Landesin- nenministerium hat bei Betroffenen bislang jedoch eher das Gegenteil bewirkt. Spät und schlecht informiert haften Bewertungen aus dem politischen Raum und durch Medien reagierte. In dem Zusammenhang ist es Schon als im Sommer 2017 die BKA-Ermittlungen ihm insbesondere wichtig, den »Begriff der „Feindes-“ öffentlich wurden, fragten sich in Mecklenburg-Vor- oder gar „Todesliste“ (…) konsequent zurückzuwei- pommern politische aktive Menschen, ob sie in den sen« und möchte ihn durch »Materialsammlungen« Fokus der Nordkreuz-Mitglieder geraten sind und ob mit »personenbezogenen Daten« ersetzt wissen. sie in Gefahr schweben. Die LOBBI forderte deshalb Dabei war es die Generalbundesanwaltschaft, die be- bereits damals unter anderem, eine Hotline einzu- reits in ihrer ersten Presseinformation 2017 mitteilte, richten, bei der sich besorgte, potentiell betroffene dass »die Beschuldigten den von ihnen befürchteten Menschen informieren könnten. Offenbar regte in- Krisenfall als Chance gesehen haben, Vertreter des tern damals auch das BKA die Landesbehörden an, die politisch linken Spektrums festzusetzen und mit ihren Betroffenen zu »sensibilisieren«. Doch lange passierte Waffen zu töten. Zu dieser Personengruppe sollen nichts, während Medien immer weitere Zusammen- die Beschuldigten eine Liste mit Namen und weite- hänge aufdeckten und bei weiteren Durchsuchungen ren Personalien angelegt haben.« Dass Medien und Waffen und Munition gefunden wurden. Betroffene diese Sätze in »Feindes- oder Todesliste« Man habe »nicht unnötig verunsichern« wollen, be- übersetzen, ist naheliegend. Die Wortklauberei wirkt gründete das Innenministerium später die monate- relativierend, betrachtet man den Sinn und Zweck die- lang fehlende Information an Betroffene. Dieser et- ser Listen. Auch wenn »Nordkreuz« nicht kurz davor was paternalistische Blick auf mündige Bürger*innen stand, seine Gewaltphantasien in die Tat umzusetzen ist umso unverständlicher, da die Verunsicherung bei – so haben deren Mitglieder doch Energie investiert, vielen erklärtermaßen bereits bestand. Erst nachdem um aus öffentlichen und nichtöffentlichen Quellen In- das BKA einzelne Personen von der Feindesliste zu formationen über Politiker*innen, Journalist*innen, Vernehmungen vorlud und bereits bundesweit die Aktive in der Flüchtlingshilfe und engagierte Projek- Betroffeneninformation gefordert wurde, sah man te zu sammeln. Diese Informationen waren dafür sich ab Ende Juli genötigt, etwa 1200 Menschen und gedacht, irgendwann benutzt zu werden. Das gilt Organisationen im Bundesland anzuschreiben. auch für größere und bereits öffentliche Datensätze Besonders hilfreich war dies allerdings auch nicht. wie die gefundene Kund*innen -Liste eines Versan- Für überraschte Menschen, die von den Feindeslis- des. Die durch rechte Hacker erbeuteten Namen und ten nichts mitbekommen hatten oder diese nicht auf Adressen wurden und werden in der Szene weiter- sich bezogen, erschloss sich aus dem Brieftext nicht gegeben, in der Hoffnung damit aktives Handeln bei einmal, worum es überhaupt geht. Aber auch für Be- Gesinnungskamerad*innen zu provozieren. troffene, die die Berichterstattung verfolgt hatten, blieben viele Fragen offen. Entsprechend ratlos und Gemeinsam aktiv werden irritiert waren viele der Empfänger*innen. Es wäre vorhersehbar gewesen, dass ihre Vorerfahrungen mit Die Zusicherung der Behörden, dass eine konkrete den Erkenntnissen aus der Berichterstattung resonie- Bedrohung durch ein »schädigendes Ereignis« nie ren. Viele von ihnen waren bereits von rechter Gewalt bestand, beruhigte etliche Betroffene daher nicht. Sie betroffen oder kennen die rechte Drohkulisse aus ei- wussten, dass auch der sogenannte Nationalsozialis- genem politischen Engagement. Doch dem Duktus tische Untergrund, der bis zu seiner Selbstenttarnung und Inhalt des Briefes ist anzumerken, dass er nicht unter dem Radar der Behörden mordete, »Daten- geleitet von Betroffenenperspektiven verfasst wurde. sammlungen« angelegt hatte. Der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, der am 2. Juni Semantische Spitzfindigkeit vor seinem Wohnhaus erschossen wurde, war ihnen So machte das Innenministerium deutlich, dass es mit allen ebenfalls präsent. Auch er stand auf einer rech- dem Brief vor allem auf die, aus ihrer Sicht, fehler- ten »Feindesliste«. 8 perspektiven
Aus der Chronologie Auch deshalb wandten sich seit Ende Juni zahlreiche Betroffene an die LOBBI. Einige suchten individuelle 23. Januar 2019 – Rostock Beratung, viele andere wollten sich austauschen und Vor einer Schule wird ein Jugendlicher von drei gemeinsam aktiv werden. anderen Jugendlichen rassistisch beschimpft und In mehreren Treffen entschieden sie, sich an die Öf- bedrängt. Ein Mitschüler, der ebenfalls einen fentlichkeit und politische Entscheidungsträger*innen Migrationshintergrund hat, will ihm beistehen auf Bundes- und Landesebene zu wenden. In Offenen und den Streit schlichten. Er wird von einem der Briefen formulierten sie Fragen, auf die sie Antworten Angreifer festgehalten und von den anderen erwarteten. Etwa warum sie so wenig öffentliche Un- beiden solange geschlagen, bis er zu Boden geht. Dann schlagen die drei weiter auf ihn ein und terstützung aus der Landesregierung erfuhren oder fliehen, bevor die Polizei eintrifft. warum es fast zwei Jahre dauerte, bis sie informiert wurden. Vor allem aber stellten sie Forderungen auf. Nach Schaffung einer wirksamen und nachhaltigen Fehlerkultur in den betroffenen Behörden, nach kon- sequenten Ermittlungen wegen Bildung einer terro- 06. März 2019 – Anklam ristischen Vereinigung oder nach einer konsequenten Am Rande einer Schülerdemonstration unter dem Motto »Fridays For Future« wird der 16-Jährige parlamentarischen Aufarbeitung rechter Vernetzun- Anmelder, der sich auch in der linken Jugendor- gen innerhalb staatlicher Behörden. ganisation solid engagiert, von einem zwei Jahre Verheerender Vertrauensverlust droht Jüngeren attackiert. Der Angreifer, Angehöriger der rechten Szene angehört, drückt eine Zigarette Tatsächlich wurden in Mecklenburg-Vorpommern am Kopf des Jugendlichen aus und schlägt ihm mittlerweile erste Schritte angekündigt, wie ein anschließend ins Gesicht. Verfassungsschutzcheck von neu eingestellten Polizist*innen, stärkere Kontrollen bei der Munitions- ausgabe und die Überprüfung von Ausbildungsinhal- ten. 23. März 2019 – Neubrandenburg Ein Landtagsbeschluss vom September, dem die Ab- Ein Mann wird auf dem Heimweg von einer geordneten aller Fraktionen mit Ausnahme der AfD Demonstration gegen ein rechtes Bekleidungs- zustimmten, forderte die Landesregierung auf, Betrof- geschäft von einer Gruppe Männer verfolgt und drangsaliert, vermutlich weil er eine Regenbo- fene zukünftig schneller und umfassender zu informie- genfahne bei sich trug. Einer der Rechten wirft ren und konsequenter gegen gewaltbereite Rechte eine Bierflasche nach dem Mann, worauf dieser vorzugehen. in einen Hausflur flüchtet. Am Notruf der Polizei Der Innenminister kündigte eine unabhängige Unter- wird dem Betroffenen mitgeteilt, dass zur Zeit suchung durch externe Berater*innen an. Man muss kein Einsatzwagen zur Verfügung stünde. allerdings nicht besonders polizeikritisch sein, um, diesen Ankündigungen und Versprechen zum Trotz, skeptisch zu bleiben. Die Rede von »Verfehlungen ein- zelner Landesbediensteter« lassen wenig Hoffnung zu, 27. März 2019 – Neukloster dass eine ernsthafte Fehlerkultur entwickelt wird. Ein Mädchen wird an einer Schule von einem Mit- Doch genau solche Schritte sind gerade jetzt notwen- schüler massiv bedroht. Er hatte die Betroffene in dig. Denn der Vertrauensverlust geht weit über die di- der Vergangenheit schon mehrfach rassistisch be- rekt vom Datenmissbrauch Betroffenen hinaus. Wenn leidigt und bedrängt. Nachdem er ihr dieses Mal engagierte Bürger*innen sich fragen müssen, ob ihre jedoch damit droht, sie umzubringen, bringt die Mutter der Betroffenen den Vorfall zur Anzeige. Daten in den Sicherheitsbehörden sicher sind vor dem Zugriff durch rechtsterroristische Gruppierungen, gerät die politische Kultur dieses Landes generell in Gefahr. Wenn Betroffene rechter Anfeindungen sich ernsthaft überlegen müssen, ob sie sich weiterhin an die Polizei richten sollen, die ihren Schutz zu gewähr- leisten hat, steht unsere offene Gesellschaft einmal mehr zur Diskussion. 9 www.lobbi-mv.de
Antisemitismus sichtbar machen Der antisemitische und rassistische Terroranschlag von Halle in Sachsen-Anhalt wäre, so lässt sich an vie- len Stellen lesen, eine Zäsur. Insbesondere gegen Antisemitismus werden nun deshalb wirksame Maß- nahmen gefordert. Doch schon zuvor war vor allem den Betroffenen klar, die Zahl registrierter antise- mitischer Straftaten steigt bundesweit seit längerem an, auch in Mecklenburg-Vorpommern. Doch eine realistische Situationsbeschreibung kann allein die Kriminalstatistik auch nicht geben – ein Monitoring nicht strafbarer Vorfälle fehlt im Bundesland bis heute. Gleich zweimal war im vergangenen Jahr der jüdi- Gemeinden und die Schändung von Stolpersteinen sche Friedhof in Boizenburg das Ziel – im September häuften sich um Gedenktage herum oder wenn sich und im November wurde die Eingangstreppe mit der Nahostkonflikt zuspitze. Hakenkreuzen besprüht. In diesem Frühjahr traf es Nicht zu viel Angst haben Stolpersteine in Strasburg – Unbekannte versuchten die Namen des 1942 deportierten und ermordeten Zugang zu persönlich Betroffenen einer antisemi- jüdischen Ehepaares Wiersch von den Gedenkob- tischen Straftat zu finden, ist nicht leicht. Die Vor- jekten zu tilgen. Im Oktober, nur wenige Tage nach standssprecherin der Schweriner Jüdischen Ge- dem Anschlag von Halle wurden in Neustrelitz an- meinde, Natella Levi, sagt, in ihrer Gemeinde seien tisemitische Hetzbotschaften und Hakenkreuze in keine Vorkommnisse bekannt. Ihr Kollege in Ros- der Nähe eines Gedenksteines geschmiert. Für das tock, der Gemeindevorsitzende Juri Rosov, berich- Jahr 2018 meldete die Landesregierung insgesamt tet von zunehmenden Ängsten unter den Gemein- 56 solcher antisemitischen Straftaten (2017: 46, demitgliedern, sieht aber in der Hansestadt keine 2016: 39), die mit zwei Ausnahmen alle der Politisch erhöhte Gefährdung: »Ich kann nicht bestätigen, Motivierten Kriminalität (PMK) rechts zugeordnet dass es viel mehr Probleme mit Antisemitismus gibt wurden. als früher.« Rosov nimmt dennoch eine wachsende Doch diese Zahlen dürften nicht das tatsächliche Unsicherheit unter seinen Mitgliedern wahr. Sie be- Ausmaß widerspiegeln. So gibt es, wie bei allen gännen, ihr Verhalten zu ändern, kämen etwa nur Deliktarten, auch in der PMK ein Dunkelfeld an Ta- noch selten ins Gemeindezentrum, weil sie mehr ten, von denen die Ermittler nie erfahren, weil sie Angst als früher hätten. Besonders fatal sei dies, nicht angezeigt werden. Laut einer Umfrage der EU- weil viele der Mitglieder als Einwander*innen ohne- Grundrechteagentur zeigen dreiviertel der Betrof- hin nicht besonders gut integriert seien und so noch fenen nicht einmal schwerwiegende Ereignisse an, mehr zu Hause säßen. »Wenn sie nur noch zum Ein- weil sie den Eindruck haben, »dass eine Meldung kaufen raus gehen, ist das schlecht, denn dann ist nichts bewirken würde«. Integration wirklich gescheitert.« Zudem kam der Unabhängige Expertenkreis Antise- Doch natürlich ist Antisemitismus real, auch in Ros- mitismus des Deutschen Bundestags in einem Son- tock. So sei ein junger Mann angefeindet worden, derbericht zu dem Schluss: »Man darf […] die Zah- wenn er außerhalb des Gemeindehauses Kippa trug. len der PMK-Statistik nicht als Abbild der Realität »Er wurde von anderen Jugendlichen attackiert und missverstehen, vielmehr ist aufgrund des Aufbaus geschubst«, sagt Rosov. Bei älteren Mitgliedern pas- des PMK-Erfassungssystems und der Routinen der siere das aber nicht. »Oft vergesse ich, wenn ich aus polizeilichen Erhebungspraxis mit einer systemati- der Gemeinde gehe, meine Kippa abzunehmen.« schen Unterschätzung antisemitischer Vorfälle zu Allerdings werden die Gemeindemitglieder in Ros- rechnen.« Unter dieser Maßgabe müssen auch Mel- tock eher als Russen und nicht als Juden wahrge- dungen rückläufiger Zahlen gelesen und hinterfragt nommen. »Wir sollten die Gefahr nicht kleinreden, werden, wie es sie beispielsweise in Folge antisemi- aber wir müssen auch nicht zu viel Angst haben«, tischer Schmierereien wiederholt gab. sagt Rosov. Das versuche er auch immer wieder sei- Dem »Lagebild Antisemitismus in Mecklenburg-Vor- ner Gemeinde zu erklären. pommern« von Amadeu-Antonio-Stiftung und Lola Monitoring in anderen Bundesländern für Demokratie zufolge, zeigt sich Antisemitismus im Alltag an unterschiedlichen Stellen, vor allem »Das bedeutet nicht, dass es keine antisemitische über Schmierereien - aber auch über tätliche Angrif- Gefahr gibt. Wir kriegen E-Mails, die sind auch ziem- fe auf Menschen. Insbesondere Schändungen jüdi- lich eindeutig und kommen aus der rechten Ecke.« scher Friedhöfe, Angriffe auf Gebäude der jüdischen Doch nicht alle antisemitischen Vorfälle sind straf- 10 perspektiven
Aus der Chronologie rechtlich relevant und werden demnach auch nicht statistisch durch die Polizei erfasst. Für die Betrof- 15. Mai 2019 – Rostock fenen wirken sich diese Anfeindungen dennoch ne- Auf einem Schulhof einer Grundschule werden gativ auf ihr Sicherheitsempfinden aus. mehrere Jungen von Mitschülern rassistisch Um sich einem realistischeren Lagebild zu nähern, beleidigt und angegriffen. Einer der Betroffenen erfassen die Recherche- und Informationsstellen wird gewürgt, die anderen werden geschlagen. Einem Jungen treten die Angreifer so brutal auf Antisemitismus (RIAS) zusätzlich auch verletzendes die Hand, dass ein Finger bricht. Die Betroffenen Verhalten, Massenzuschriften und Versammlun- berichten, dass sie schon mehrfach von Mitschü- gen mit antijüdischen Inhalten. Ziel des Vereins ist lern beleidigt und angegriffen wurden. dabei, die flächendeckende und bundesweit ein- heitliche Dokumentation antisemitischer Vorfälle über regionale Meldestellen zu gewährleisten. In Berlin betreibt RIAS schon seit 2015 eine derartige Meldestelle. In Bayern und Brandenburg startete 31. Mai 2019 – Schwerin In einer Straßenbahn wird eine hochschwangere das Projekt im Frühjahr diesen Jahres. Der baye- Frau von einem Mann rassistisch beleidigt und be- rische Antisemitismusbeauftragte Ludwig Spaenle droht. Er schubst und schlägt die Frau mehrfach. (CSU) hält die Einrichtung für unverzichtbar und Mitreisende kommen ihr zur Hilfe und können begründete dies gegenüber dem jüdischen Online- Schlimmeres verhindern. Die alarmierte Polizei portal Hagalil: »Das Melderegister kann aus meiner nimmt eine Anzeige wegen Körperverletzung auf und ruft erst nach mehrfacher Aufforderung Sicht entscheidend dazu beitragen, Antisemitismus einen Krankenwagen, der die Betroffene in ein in seinen Ausprägungen im Alltag sichtbar zu ma- Krankenhaus bringt. Dort wird sie aufgrund ihrer chen, und liefert einen Ansatz, dagegen anzuge- Verletzungen und ihrer weit voran geschrittenen hen.« Schwangerschaft stationär behandelt. RIAS setzt mit der regionalen Verankerung in den Bundesländern und der mehrsprachigen Website report-antisemitism.de auch auf Informationen durch die Betroffenen selbst und von Zeug*innen. 19. Juni 2019 – Penzlin Dadurch würden Vorfälle gemeldet, die sonst nicht Ein Mann, der bei seiner Partnerin zu Besuch ist, bekannt geworden wären. Die gezielte Ansprache wird vor deren Hausaufgang von anderen Mietern auf das Thema Antisemitismus und der niedrig- des Hauses rassistisch beleidigt und bedroht. schwellige Zugang erleichtert es offenbar, mit den Einer der Männer versucht ihn zu schlagen. Der Meldestellen in Kontakt zu treten. Wünschen die 22-Jährige kann den Angriff jedoch abwehren und sich verteidigen. Betroffenen weitere Unterstützung, vermittelt sie RIAS zu bestehenden Angeboten von Opferbera- tungen, Mobiler Beratung und Antidiskriminie- rungsberatungen in den jeweiligen Bundesländern. 25. Juni 2019 – Anklam Erste Schritte in M-V Ein Unbekannter beleidigt zwei Kinder und zeigt den Hitlergruß. Anschließend schlägt er die Ein Monitoring antisemitischer Bedrohungslagen beiden, die über Schmerzen im Brustkorb und und Vorfälle existiert in Mecklenburg-Vorpom- Atemnot klagen. mern bislang nicht. Im April hatte der Landtag mit den Stimmen von Fraktionen der CDU, SPD, DIE LINKE und Freie Wähler/BMV lediglich beschlos- sen, den Posten eines Antisemitismusbeauftragen zu schaffen. Seit Ende Oktober ist dieser nun eh- renamtlich im Auftrag des Justizministeriums tätig. Es muss angezweifelt werden, ob der Problematik damit genüge getan ist. mehr unter: lobbi-mv.de/chronologie 11 www.lobbi-mv.de
Immer wieder werden in Mecklenburg-Vorpommern Menschen aus rassistischen, antisemitischen, homo- und transfeindlichen oder anderen rechten Motiven angegriffen. Um ein deutliches Zeichen der Solidarität zu setzen, bietet die LOBBI den Betroffenen Beratung und Beistand an – zusätzlich ermöglicht ein eigener Hilfsfonds unbürokratische und zeitnahe finanzielle Unterstützung. Der Hilfsfonds speist sich ausschließlich aus Spenden und Bußgeldern. Damit Betroffene rechter Gewalt in Mecklenburg- Vorpommern weiterhin materielle Unterstützung erhalten können, benötigt die LOBBI Ihren Beitrag. Am einfachsten ist die Zahlung per Überweisung oder ein Dauerauftrag an das Spendenkonto mit dem Betreff »Hilfsfonds«. Spenden an den Hilfsfonds kommen zu 100 Prozent den Betroffenen zugute: Empfängerin LOBBI IBAN DE82 1305 0000 0201 0388 46 BIC NOLADE21ROS Verwendung Hilfsfonds Spenden an den Hilfsfonds der LOBBI sind steuerlich abzugsfähig und Spendenbescheinigungen können auf Nachfrage ausgestellt werden. Steuer-Nr.: 072/141/08156 / Gemeinnützig nach § 52 AO für die Förderung der Opfer von Straftaten und die Förderung der Kriminalprävention Beraten Stärken Informieren Die LOBBI berät nach rassistischen, ho- Die LOBBI unterstützt die Selbstorgani- Die LOBBI fördert die Wahrneh- mophoben, antisemitischen und ande- sation von Betroffenengruppen rech- mung der Perspektive der Betrof- ren politisch rechts motivierten Angrif- ter Gewalt und vermittelt Netzwerk- fenen in der Öffentlichkeit. Die fen die direkt Betroffenen, Angehörige kontakte. Der Verein regt auf lokaler Mitarbeiter*innen recherchieren und Zeug*innen. Wir unterstützen u.a. Ebene Prozesse an, die eine Solidari- und dokumentieren den Umfang bei rechtlichen, finanziellen und psy- sierung mit den Opfern zum Ziel ha- rechter Gewalt in Mecklenburg- chischen Fragen. Das Angebot ist auf- ben. Vorpommern. Über die Situation suchend, freiwillig, kostenlos und auf der Betroffenen informieren wir Wunsch anonym. Eine Anzeige bei der unter anderem mit Vorträgen und Polizei ist keine Bedingung. Infotischen. Kontakt Unsere Regionalbüros LOBBI Ost Tilly-Schanzen-Straße 2 LOBBI West 17033 Neubrandenburg Hermannstraße 35 Mobil: 0160.844 21 89 18055 Rostock Telefon: 0395.455 07 18 Mobil: 0170.528 29 97 Fax: 0395.455 07 20 Telefon: 0381.200 93 77 ost@lobbi-mv.de Fax: 0381.200 93 78 west@lobbi-mv.de Unsere Bankverbindung LOBBI wird gefördert durch LOBBI Ostseesparkasse Rostock IBAN: DE22 1305 0000 0205 0405 94 SWIFT-BIC: NOLADE21ROS
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