PHARMAKOTHERAPIE DES AKUTEN MIGRÄNEANFALLS
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Eingereicht von Lea Undine Wirth Angefertigt am Institut für Pharmakologie Beurteiler / Beurteilerin Univ.-Prof. Dr. Josef Donnerer Dezember 2021 PHARMAKOTHERAPIE DES AKUTEN MIGRÄNEANFALLS EINE LITERATURRECHERCHE ZU ETABLIERTEN UND NEUEN MEDIKAMENTÖSEN THERAPIEOPTIONEN Masterarbeit zur Erlangung des akademischen Grades Dr. med. univ. im Masterstudium Humanmedizin JOHANNES KEPLER UNIVERSITÄT LINZ Altenberger Straße 69 4040 Linz, Österreich jku.at DVR 0093696
EIDESSTATTLICHE ERKLÄRUNG Ich erkläre an Eides statt, dass ich die vorliegende Masterarbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe verfasst, andere als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel nicht benutzt bzw. die wörtlich oder sinngemäß entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe. Die vorliegende Masterarbeit ist mit dem elektronisch übermittelten Textdokument identisch. Egenhofen, 14.12.2021 Lea Wirth 14. Dezember 2021 2/72
Danksagung Ich möchte mich herzlich bei Herrn Univ.-Prof. Dr. Josef Donnerer bedanken, der mir die Erstellung dieser Arbeit ermöglicht hat. Vielen Dank für die Betreuung und die umfassende Unterstützung. 14. Dezember 2021 3/72
Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung .............................................................................................................................. 8 1.1. Definition ....................................................................................................................... 9 1.1.1. Klassifikationsschema ........................................................................................ 9 1.1.2. Diagnosekriterien.............................................................................................. 13 1.2. Epidemiologie .............................................................................................................. 15 1.3. Ätiologie ...................................................................................................................... 16 1.4. Pathophysiologie ......................................................................................................... 18 1.4.1. Prodromalstadium ............................................................................................ 19 1.4.2. Auraphase ........................................................................................................ 21 1.4.3. Kopfschmerzphase ........................................................................................... 22 1.4.4. Biomarker ......................................................................................................... 23 1.4.5. 5-Hydroxytryptamin-Rezeptoren (5-HT-Rezeptoren) ........................................ 24 1.4.6. Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP) ........................................................ 26 2. Methoden ........................................................................................................................... 28 3. Ergebnisse.......................................................................................................................... 29 3.1. Medikamentöse Therapie ............................................................................................ 29 3.1.1. Aktuelle Akuttherapie nach Leitlinie .................................................................. 29 3.1.1.1. Nicht-Opioid-Analgetika ..................................................................... 32 3.1.1.2. Triptane.............................................................................................. 37 3.1.2. Neue Therapieoptionen .................................................................................... 44 3.1.2.1. CGRP-Rezeptor-Antagonisten (Gepante) .......................................... 44 3.1.2.2. 5-HT1F-Rezeptor Agonist (Ditan) ........................................................ 50 3.2. Vergleich NSAR, Triptane, Ditane, Gepante ................................................................ 54 4. Diskussion .......................................................................................................................... 59 5. Fazit.................................................................................................................................... 62 6. Abbildungsverzeichnis ........................................................................................................ 63 7. Tabellenverzeichnis ............................................................................................................ 63 8. Abkürzungsverzeichnis ....................................................................................................... 64 14. Dezember 2021 4/72
9. Literatur .............................................................................................................................. 65 14. Dezember 2021 5/72
Zusammenfassung Die Migräne ist eine häufige und stark beeinträchtigende neurologische Erkrankung. Sie kann mit Kopfschmerzen, einer Aura und bestimmten Begleitsymptomen einhergehen. Dazu gehören beispielsweise Übelkeit und/oder Erbrechen, Photo- und/oder Phonophobie. In dieser Arbeit soll ein Einblick in die etablierte Therapie der akuten Migräneattacke gegeben und neue Therapieoptionen beleuchtet werden. Die Datenlage sollte in Bezug auf die Wirksamkeit, Sicherheit und Verträglichkeit der vorgestellten Arzneimittel untersucht werden. Zu diesem Zweck wurde eine umfassende Literaturrecherche anhand verschiedener Datenbanken, wie PubMed und Google Scholar, durchgeführt. Die Ergebnisse zeigen, dass die bisher gängige Akuttherapie einer Migräneattacke mit Nicht- Opioid-Analgetika und Triptanen nicht alle betroffenen Personen suffizient versorgen kann. Nicht- Opioid Analgetika wie Ibuprofen und Acetylsalicylsäure zeigten in systematischen Reviews ihre Überlegenheit gegenüber Placebo. Es ist jedoch, gerade bei einer längerfristigen Einnahme, an mögliche Nebenwirkungen im Gastrointestinaltrakt sowie an den Nieren zu denken. Ein wichtiger Vertreter der Triptane ist Sumatriptan. Es konnte ebenfalls in systematischen Reviews seine Wirksamkeit bei der Therapie akuter Migräneattacken unter Beweis stellen. Die Applikation von 6 mg Sumatriptan s.c. ist derzeit die wirksamste Akuttherapie. Eine Limitation der Triptane stellen ihre vasokonstriktorischen Eigenschaften dar. Für Personen mit kardiovaskulären Vorerkrankungen sind sie infolgedessen ungeeignet. Zudem kommt, dass Triptane bei einigen Personen keine Wirkung zeigen. In den USA wurden kürzlich Medikamente aus zwei neuen Substanzklassen zugelassen. Rimegepant und Ubrogepant sind CGRP-Rezeptor-Antagonisten, Lasmiditan ist ein 5-HT1F- Rezeptor-Agonist. Zu Rimegepant existieren drei Phase-III-Studien, bei denen die Behandlung einer einzelnen Migräneattacke untersucht wird. Die letzte Studie untersuchte Rimegepant in einer Formulierung als oraldispersible Tablette. Zu Ubrogepant existieren ebenfalls drei Phase-III- Studien, wovon eine die intermittierende Anwendung von Ubrogepant über den Zeitraum von einem Jahr hinweg untersuchte. Zwei Phase-III-Studien zu Lasmiditan beobachteten die Behandlung einer einzelnen Migräneattacke, zwei weitere seinen Einsatz über einen längeren Zeitraum hinweg. Sowohl Ubrogepant, als auch Rimegepant und Lasmiditan, bewiesen ihre Wirksamkeit in den Phase-III-Studien. Auch eine verbesserte kardiovaskuläre Sicherheit im Vergleich zu Triptanen zeichnete sich ab. Für bestimmte Personengruppen könnten Ditane und Gepante eine entscheidende Erweiterung des therapeutischen Spektrums darstellen. Die Zukunft liegt im Ausbau der bisherigen Forschungsergebnisse sowie in der Erforschung neuer Ansatzpunkte für Medikamente und Biomarkern, um individualisierte Therapiekonzepte erstellen zu können. 14. Dezember 2021 6/72
Abstract Migraine is a common and remarkably disabling neurological disease. Characteristics can be an aura and headache, but also symptoms like nausea and/or vomiting, photo- and/or phonophobia. The purpose of this Master thesis was to provide insight into the established therapy of acute migraine attacks and present new drug options. The data were analyzed regarding efficacy, safety and tolerability of the pharmacological agents. Therefore, a literature review, using various databases such as PubMed and Google scholar, was conducted. The research showed that the current therapy of an acute migraine attack with non-opioid- analgesics and triptans does not provide sufficient relief for all patients. Non-opioid analgesics such as ibuprofen and acetylsalicylic acid have been shown to be superior to placebo in systematic reviews. Possible side effects on the digestive system and kidneys have to be considered especially in case of long-term use. Sumatriptan is an important representative of the triptans. It also showed efficacy in therapy of acute migraine attacks in systematic reviews. Sumatriptan 6 mg s.c. is currently the most effective acute migraine treatment. The vasoconstrictive effect of triptans limits their use. Therefore triptans are unsuitable for patients with cardiovascular diseases. In addition triptans are ineffective in some individuals. Two new drug classes have recently been approved in the US. Rimegepant and ubrogepant are calcitonin gene-related peptide receptor antagonists, lasmiditan is a 5-HT1F receptor agonist. Currently, there are three phase-III-trials that have investigated the use of rimegepant. The subject of the investigation was the treatment of one separate migraine attack. One trial used an orally disintegrating tablet formulation of rimegepant. There can also be found three phase-III-trials investigating ubrogepant. One of them observed its intermittent use for the time range of one year. Two phase-III-trials of lasmiditan monitored one separate migraine attack. Two other trials observed its use on a long-term basis. Ubrogepant as well as rimegepant and lasmiditan demonstrated their efficacy in phase-III-trials. Compared to triptans they seem to have an improved cardiovascular safety. A certain group of patients could benefit from gepants and ditans. The future concepts will have to extend current knowledge as well as further exploration of drug targets and biomarkers that allow the development of individual therapy concepts. 14. Dezember 2021 7/72
Einleitung Bei der Migräne handelt sich um eine Erkrankung, welche weltweit circa eine Milliarde Menschen betrifft. Nicht nur die Anzahl an betroffenen Personen ist gravierend, sondern auch die Beeinträchtigung, die mit dieser Erkrankung einhergeht. Die Global Burden of Disease-Studie 2016 ermittelte anhand der “Years of life lived with disability” (YLD) das Ausmaß der Beeinträchtigung. Global gemessen ergab dies im Jahr 2016 circa 45 Millionen YLD für Migräne Erkrankte. (1) Somit ist Migräne die zweithäufigste Ursache einer Behinderung (2). In progredienten Stadien der Migräne kann es zu täglichen Kopfschmerzen kommen, was die Lebensqualität erheblich einschränkt (3). Zudem kann Migräne mit einigen Komorbiditäten wie kardiovaskulären oder psychischen Erkrankungen sowie Schlafstörungen einhergehen (4). Am Größten ist die Belastung für Frauen im Alter zwischen 15 und 49 Jahren und beeinflusst damit hauptsächlich das erwerbsfähige Alter (1, 5). Nicht nur für die betroffene Person selbst stellt die Migräne eine Belastung dar, sie ist auch eine nicht unerhebliche finanzielle Last für das gesamte Gesundheitssystem. In Europa verursacht die Erkrankung Kosten in Höhe von 27 Milliarden Euro im Jahr. (6) Schon sehr lange beschäftigt Migräne die Menschen. Ein Auszug aus dem Papyrus Ebers belegt eine erste Dokumentation eines Migräneanfalls von 1550 v. Chr. Der griechische Arzt Aretaios von Kappadokien benutze erstmals für die Beschreibung der Migräne das Wort Heterocrania. Später wurde als Synonym die Bezeichnung Hemicrania eingeführt. (7) Dies gilt als Grundlage für die spätere Entwicklung des Begriffs der Migräne. Frühere Behandlungsvorschläge gingen von dem auf den Kopf binden eines Krokodils über die Kompression der Temporalarterien bis hin zu der Empfehlung einer Zentrifugation der betroffenen Person, um einen vermeintlichen Blutstau zu lösen. (8) Heutzutage gibt es evidenzbasierte Methoden, um betroffene Personen in einem Migräneanfall Erleichterung zu verschaffen. Die Leitlinie für „Diagnostik und Therapie in der Neurologie“ von 2018 bietet hierfür Handlungsempfehlungen. Demzufolge können Migräneattacken mit Analgetika wie Acetylsalicysäure und nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR) wie Ibuprofen behandelt werden. Wenn die genannten Substanzen keine ausreichende Besserung der Symptomatik erzielen, können spezifische Migränemedikamente wie 5-HT1B/1D-Agonisten (Triptane) zum Einsatz kommen. (9) Trotz dieser Möglichkeiten gaben nur knapp ein Drittel von 688 Personen in einer Telefonumfrage an, sehr zufrieden mit ihrer Akuttherapie zu sein (10). Jedes wirksame Medikament bringt in der Regel auch mögliche unerwünschte Wirkungen mit sich. Bei Triptanen sind das ihre vasokonstriktorischen Eigenschaften.(11) In einer Bevölkerung, bei der sich zunehmend Erkrankungen wie Hypercholesterinämie und Diabetes verbreiten, kommt es letztendlich auch vermehrt zu kardiovaskulären Erkrankungen. Dies könnte den Einsatz von 14. Dezember 2021 8/72
Medikamenten mit vasokonstriktorischen Eigenschaften, wie Triptanen, in Zukunft noch weiter limitieren. (12) Zudem scheinen Triptane bei bestimmten Personen unwirksam zu sein (11). Deshalb sind neue Medikamente notwendig, um eine suffiziente Versorgung von möglichst vielen Personen mit Migräne zu gewährleisten. Mit Lasmiditan, Rimegepant und Ubrogepant sind nun Medikamente vorhanden, welche einen Teil dieser Problematik lösen könnten. Aufgrund ihres teilweise unterschiedlichen Wirkmechanismus könnten sie eine Option für Personen, die nicht auf Triptane ansprechen, darstellen. Da sie keine vasokonstriktorische Komponente besitzen, könnten auch Personen mit kardiovaskulären Risikofaktoren von ihnen profitieren. (13, 14) In dieser Arbeit sollen sowohl die wichtigsten bereits etablierten Medikamente der Akuttherapie einer Migräneattacke beleuchtet werden, als auch neue medikamentöse Therapieoptionen aus der Substanzklasse der Gepante und Ditane. 1.1. Definition Die Migräne ist eine neurologische Erkrankung bei der es zu rezidivierenden, plötzlich einsetzenden, unilateralen Kopfschmerzattacken kommt, welche mehrere Stunden bis Tage andauern können. Diese Attacken können mit einer typischen Begleitsymptomatik und/oder neurologischen Phänomenen auftreten. Teilweise können wenige Tage vor der Attacke Prodromi, wie z.B. Reizbarkeit, Heißhunger oder Depressivität, beobachtet werden. Auch nach der eigentlichen Attacke können noch Stunden oder Tage andauernde Symptome wie Kreislaufinstabilität, Konzentrationsstörungen oder ein Erschöpfungsgefühl vorhanden sein. (15) Die Diagnose der Migräne wird hauptsächlich durch eine ausführliche Anamnese sowie einem klinischen Status gestellt. Im Rahmen der Anamnese sollten vorangegangene Therapieversuche sowie ein eventuell vorhandenes Kopfschmerztagebuch besprochen werden. Apparative Diagnostik sollte nur zum Ausschluss von Differentialdiagnosen hinzugezogen werden. (15) 1.1.1. Klassifikationsschema Aufgrund der hohen Prävalenz von Kopfschmerzen ist eine systematische Klassifikation zur Untersuchung und Bewertung, sowie auch für die folgende Behandlung von großer Bedeutung. Über die Zeit wurden verschiedene Klassifikationen veröffentlicht. Eine international anerkannte Klassifikation wurde durch die International Headache Society (IHS) erarbeitet. (16) Nach dieser Klassifikation können Kopfschmerzerkrankungen, wie in Tabelle 1 zu sehen, in drei Kategorien eingeteilt werden. Primäre Kopfschmerzen umfassen zum einen die Migräne, zum 14. Dezember 2021 9/72
anderen Kopfschmerzen vom Spannungstyp, Trigemino-autonome Kopfschmerzerkrankungen und andere primäre Kopfschmerzen. Unter sekundären Kopfschmerzen können Kopfschmerzformen zusammengefasst werden, deren Genese auf strukturelle Erkrankungen zurückzuführen ist. Hierzu gehören Kopfschmerzen im Zusammenhang mit einem Trauma des Kopf-/Halsbereichs, kranialen und/oder zervikalen Gefäßstörungen, nicht-vaskulären intrakraniellen Störungen, Substanzen oder deren Entzug, Infektionen, Störungen der Homöostase, Erkrankungen des Schädels, des Halses, der Augen, Nase, Nasennebenhöhlen, Zähne, des Mundes oder anderen Strukturen des Kopf-/Halsbereichs. Als dritte Kategorie werden kraniale Neuropathien und Gesichtsschmerzen sowie andere Kopfschmerzformen aufgeführt, welche mit einer Läsion der Hirnnerven und anderen Gesichtsschmerzen einhergehen können.(17) Tabelle 1: Kopfschmerzklassifikation, in Anlehnung an die ICHD-3, 2018 (17) Primäre Kopfschmerzen Migräne Kopfschmerzen vom Spannungstyp Trigemino-autonome Kopfschmerzen Andere primäre Kopfschmerzen Sekundäre Kopfschmerzen Kopfschmerzen in Zusammenhang mit einem Trauma des Kopf/- Halsbereichs Kopfschmerzen aufgrund von kranialen und/oder cervikalen Gefäßstörungen Kopfschmerzen aufgrund von nicht-vaskulären intrakraniellen Störungen Kopfschmerzen aufgrund von Substanzen oder deren Entzug Kopfschmerzen aufgrund von Infektionen Kopfschmerzen aufgrund von Störungen der Homöostase Kopfschmerzen aufgrund von Erkrankungen des Schädels, des Halses, der Augen, Nase, Nasennebenhöhlen, Zähne, des Mundes oder anderen Strukturen des Kopf-/Halsbereichs Kraniale Neuropathien, andere Hirnnervenläsionen und andere Gesichtsschmerzen Gesichtsschmerzen und andere Kopfschmerzerkrankungen Andere Kopfschmerzerkrankungen 14. Dezember 2021 10/72
Zu den primären Kopfschmerzen zählen die Migräne mit und ohne Aura und die chronische Migräne. Außerdem gehören auch Komplikationen durch Migräne, die wahrscheinliche Migräne und episodische, mit Migräne assoziierte Syndrome dieser Kategorie an. (17) Die Migräne mit Aura wiederum wird in vier Bereiche unterteilt. Die Migräne mit typischer Aura, die Migräne mit Hirnstammaura, die hemiplegische Migräne sowie die retinale Migräne. Bei der Migräne mit typischer Aura wird weiter zwischen dem Auftreten mit und ohne Kopfschmerz unterschieden. Die hemiplegische Migräne untergliedert sich in die familiäre hemiplegische Migräne (FHM) und die sporadische hemiplegische Migräne (SHM). (17) Bei den Migräne Komplikationen werden der Status migraenosus, die persistierende Aura ohne Infarkt, der migränöse Infarkt und der Migräne getriggerte epileptische Anfall aufgeführt (17). Die wahrscheinliche Migräne kann mit und ohne Aura auftreten (17). Mit Migräne assoziierte episodische Syndrome umfassen rezidivierende gastrointestinale Störungen, wobei diese in das zyklische Erbrechen und die abdominelle Migräne aufgegliedert sind, den gutartigen paroxysmalen Schwindel sowie den gutartigen paroxysmalen Torticollis (17). Eine Übersicht über die Unterteilung der verschiedenen Migräne Unterformen ist in Tabelle 2 dargestellt. 14. Dezember 2021 11/72
Tabelle 2: Klassifikationsschema der Migräne, in Anlehnung an die ICHD-3, 2018 (17) Migräne ohne Aura Migräne mit typischer Typische Aura mit Migräne mit Aura Aura Kopfschmerz Typische Aura ohne Kopfschmerz Migräne mit Hirnstammaura Hemiplegische Migräne FHM FHM1 FHM2 FHM3 FHM anderer Genloci Sporadische hemiplegische Migräne Retinale Migräne Chronische Migräne Migräne Komplikationen Status migraenosus Persistierende Aura ohne Infarkt Migränöser Infarkt Migräne getriggerter Epileptischer Anfall Wahrscheinliche Wahrscheinliche Migräne Migräne mit Aura Wahrscheinliche Migräne ohne Aura Episodische, mit Rezidivierende Zyklisches Erbrechen Migräne assoziierte gastrointestinale Syndrome Störungen Abdominelle Migräne Benigner paroxysmaler Schwindel Benigner paroxysmaler Torticollis Abkürzungen: FHM= Familiäre hemiplegische Migräne 14. Dezember 2021 12/72
1.1.2. Diagnosekriterien Allgemein Finden sich Übereinstimmungen mit Diagnosekriterien verschiedener Migränetypen, darf mehr als eine Diagnose gleichzeitig vergeben werden (17). Migräne gehört zur Kategorie der primären Kopfschmerzen. Bei der Migräne und den sekundären Kopfschmerzen können jedoch Überschneidungspunkte bestehen. Zu den sekundären Kopfschmerzen gehören neu aufgetretene migräneartige Kopfschmerzen, welche durch eine andere Kopfschmerz- verursachende Grunderkrankung erklärbar sind. Kopfschmerz- verursachende Erkrankungen können zu einer chronischen Migräne führen und Auswirkungen auf die Qualität der Anfälle haben. In diesem Fall kann zu der vorbestehenden Migräne die Diagnose des sekundären Kopfschmerzes hinzugefügt werden. (17) Jeder Subtyp der Migräne hat seine eigenen spezifischen Diagnosekriterien. Im Folgenden wird der Fokus auf die beiden wesentlichen Unterformen der Migräne, und zwar der Migräne mit Aura und der Migräne ohne Aura gelegt. Zudem soll ein kurzer Überblick über die Diagnosekriterien der chronischen Migräne gegeben werden. Migräne ohne Aura In der „International Classification of Headache Disorders 3rd Edition“ (ICHD-3) wird die Migräne ohne Aura als wiederkehrender, einseitiger Kopfschmerz definiert. Die Attacken können über einen Zeitraum von vier bis 72 Stunden anhalten. Die Qualität des Kopfschmerzes ist meist pulsierend und von moderater bis hoher Intensität. Durch physische Aktivität kann der Kopfschmerz aggraviert werden und kann in Kombination mit Übelkeit, Photophobie und/oder Phonophobie auftreten. (17) 14. Dezember 2021 13/72
Tabelle 3: Diagnosekriterien der Migräne ohne Aura, in Anlehnung an die ICHD-3 (17) A. Mindestens 5 Attacken, welche die Kriterien B-D erfüllen B. Kopfschmerz Attacken dauern 4-72 Stunden (unbehandelt oder erfolglos behandelt) C. Der Kopfschmerz erfüllt mindestens 2 von 4 folgenden Charakteristika: 1. unilateral 2. pulsierend 3. Intensität moderat bis schwer 4. Verschlechterung durch, oder Vermeidung von routinemäßiger physischer Aktivität D. Während der Kopfschmerz Phase mindestens eines der Folgenden: 1. Übelkeit und /Erbrechen 2. Photophobie und Phonophobie E. Keine andere Diagnose aus dem ICHD-3 ist zutreffender Migräne mit Aura Bei der Migräne mit Aura können unilaterale, vollkommen reversible visuelle, sensorische oder andere zentralnervöse Symptome auftreten. Die Dauer der Aurasymptome liegt üblicherweise im Bereich von Minuten. Anschließend folgen in der Regel Kopfschmerzen mit Migränesymptomen. (17) Tabelle 4: Diagnosekriterien der Migräne mit Aura, in Anlehnung an die ICHD-3, 2018 (17) A Mindestens zwei Attacken erfüllen die Kriterien B und C B Ein oder mehr vollständig reversiblen Aurasymptomen trifft zu: 1. visuell 2. sensorisch 3. Sprechen und/oder Sprache 4. motorisch 5. Hirnstamm 6. retinal C Mindestens drei der folgenden sechs Charakteristika treffen zu: 1. mindestens ein Aurasymptom entwickelt sich über ≥5 min 2. zwei oder mehr Aurasymptome treten nacheinander auf 3. jedes einzelne Aurasymptom dauert 5-60 min 4. mindestens ein Aurasymptom ist unilateral 5. mindestens ein Aurasymptom ist positiv 6. die Aura wird begleitet, oder innerhalb von 60 min, gefolgt von Kopfschmerzen D Keine andere Diagnose aus dem ICHD-3 ist zutreffender 14. Dezember 2021 14/72
Chronische Migräne Für die Vergabe der Diagnose einer chronischen Migräne müssen bestimmte Kriterien über einen Zeitraum von mindestens drei Monaten erfüllt sein. Dazu gehört das Auftreten von Kopfschmerzen an mindestens 15 Tagen pro Monat, wovon die Symptome an mindestens acht Tagen den Diagnosekriterien einer Migräne entsprechen müssen. (17) 1.2. Epidemiologie Die Inzidenz von Migräne Epidemiologische Studien bezüglich der Migräne konzentrieren sich hauptsächlich auf die Prävalenz. Einige wenige beschäftigten sich mit der Inzidenz. So wurde in einer dänischen Longitudinalstudie über 12 Jahre, bei Personen ohne initiale Migräne, eine Inzidenz von 8,1 pro 1000 Personenjahren ermittelt. Bei den teilnehmenden Personen im Alter von 25-30 Jahren wurden die höchsten Inzidenzraten mit 23 pro 1000 Personenjahren bei den Frauen und 10 pro 1000 Personenjahren bei den Männern festgestellt. Mit steigendem Alter sanken die Inzidenzen. In einer weiteren, türkischen 5-Jahres Studie konnte eine Inzidenz von 23,8 pro 1000 Personenjahren festgestellt werden. Hier waren die Inzidenzen bei den Frauen ebenfalls höher als bei Männern. (18) In der „American Migraine Prevalence and Prevention Study” wurde das Alter, in dem die Migräne das erste Mal auftrat, zur Abschätzung der Inzidenz herangezogen. Hier war die höchste Inzidenz im Bereich von 20-24 Jahren bei den Frauen und 15-19 Jahren bei den Männern. Im Median war das Neuerkrankungsalter bei Frauen nur geringfügig niedriger als bei Männern. Bei 75% der Personen, sowohl Männer als auch Frauen, lag der Erkrankungsbeginn vor dem 35. Lebensjahr. (18) Die Prävalenz von Migräne Studien zur Prävalenz der Migräne beziehen sich häufig auf den Zeitraum von einem Jahr. Hierbei wird bei einer Migräneattacke innerhalb eines Jahres bereits von einer aktiven Kopfschmerzerkrankung ausgegangen. Für die Untersuchung der Prävalenz in Populationsstudien weltweit wurden standardisierte Methoden entwickelt. (18) Global wird die 1-Jahres-Prävalenz auf 15% eingeschätzt, am höchsten in Nepal mit 25-30% und am niedrigsten in China mit 9%. Die hohe Prävalenz in Nepal wird mit dem Leben in dessen 14. Dezember 2021 15/72
Höhenlage erklärt. Mit geschlechtsadaptierten Daten aus 9 Europäischen Ländern ermittelte das „Eurolight Project“ eine 1-Jahres-Prävalenz von 35% an. Im Gegensatz hierzu wird in den USA die Prävalenz mit 12-13% angegeben. Für diese Diskrepanz zwischen Europa und den USA werden zwei mögliche Ursachen aufgeführt: Das „Eurolight Project“ inkludierte neben der sicheren Migräne auch die Diagnose der wahrscheinlichen Migräne, welche ca. 40% der registrierten Fälle ausmachte. Kopfschmerzen vom Spannungstyp wurden nicht berücksichtigt. Die Studien der USA inkludierten ausschließlich die Diagnose der sicheren Migräne. Ein weiterer Grund für die Diskrepanz der angegebenen Prävalenzen könnte sein, dass in den Studien der USA die teilnehmenden Personen gebeten wurden, nur von starken Kopfschmerzen zu berichten. Dies verringert die Anzahl der insgesamt gemeldeten Kopfschmerzattacken. (18) Ähnlich wie die Inzidenz ist auch die Prävalenz abhängig vom Alter. Jugendliche und Kinder, sowie die ältere Bevölkerung zeigen niedrigere Prävalenzraten im Vergleich zur Altersspanne im Bereich von 35-39 Jahren. (18) Prävalenz der Migräne und sozioökonomischer Status In einigen Studien wurde die Prävalenz der Migräne in Haushalten mit verschieden hohem Einkommen untersucht. Dabei ließ sich keine eindeutige Korrelation feststellen. Zwei Populationsstudien in den USA jedoch konnten eine höhere Prävalenz in Haushalten mit niedrigem Einkommen im Vergleich zu Haushalten mit höherem Einkommen ermitteln. In Russland und Georgien zeigte sich ebenfalls eine Verbindung zwischen Armut und Kopfschmerzerkrankungen. Es wird vermutet, dass ein Zusammenhang zwischen einem niedrigen sozioökonomischen Status, verbunden mit niedrigem Einkommen, dem beschränkten Zugang zu medizinischer Versorgung, und einer erhöhten Migräne Prävalenz besteht. (18) 1.3. Ätiologie Genetik In genomweiten Assoziationsstudien wurden ca. 40 Genloci identifiziert, die mit Migräne assoziiert werden. Diese Studien gaben unter anderem Hinweise darauf, dass bei häufigen Migräneformen mehrere genetische Variationen mit kleiner Effektstärke in Kombination mit Umweltfaktoren die Anfälligkeit für eine Migräne erhöht. Die Erblichkeit der Migräne wird in Familien- und Zwillingsstudien auf ca. 42% geschätzt. (19) Mit einem betroffenen Verwandten ersten Grades steigt das Risiko, je nach Migräne Subtyp, bis auf ein Vierfaches, selbst an einer Migräne zu erkranken (20). 14. Dezember 2021 16/72
Die genetische Belastung ist in Fällen von familiärer Migräne höher als bei der nicht-familiären Migräne. Auch bei der Migräne mit Aura und der familiären hemiplegischen Migräne ist die Belastung größer. Spezifische klinische Merkmale der Migräne scheinen durch genetische Faktoren bestimmt zu sein. Eine familiäre Migräne ist assoziiert mit einem niedrigeren Erkrankungsalter, höherer Frequenz der Attacken, vermehrter Medikamenteneinnahme und dem Subtyp der Migräne mit Aura. Es können allerdings auch verschiedene Migräne Subtypen innerhalb einer Familie koexistieren. (19) Neben genetischen Korrelationen innerhalb der Migräne Subtypen scheint die Migräne auch genetische Risikovarianten mit psychiatrischen Erkrankungen, wie z.B. Depressionen zu teilen (19). An Genloci, die in Zusammenhang mit Migräne stehen, scheinen vor allem Gene angereichert zu sein, welche in vaskulärem und gastrointestinalem Gewebe exprimiert werden. Umgekehrt scheinen viele Gene, welche für die Gefäßbiologie von Bedeutung sind, unter anderem Wundheilung und Zell-Zell-Wechselwirkungen, auf Genloci angereichert zu sein, welche Migräne- assoziierte Gene enthalten. Dies weist auf vaskuläre Mechanismen in der Pathophysiologie der Migräne hin. (21) Eine genetische Hyperkalziämie scheint zudem das Risiko für eine Migräne erhöhen zu können (21). Die Identifizierung genetischer Risikofaktoren könnte zu individualisierten Therapiekonzepten beitragen. Eine Proof-of-Concept Studie aus 2019 zeigte, dass eine hohe polygenetische Last mit einem erhöhten Ansprechen auf Triptane zusammenhängt. (22) Trigger Aus groß angelegten systematischen Übersichtsarbeiten gehen Stress, auditive Reize, Müdigkeit, Nüchternheit und die Menstruation als die häufigsten Auslöser für eine Migräneattacke hervor. Eine Verbindung zwischen diesen Triggern stellt die Veränderung von täglichen Aktivitäten oder der Umwelt dar. Die Akkumulation von mehreren Triggern scheint potenter als einzelne Trigger zu sein, um eine Migräneattacke auszulösen. Bei der Erhebung von Patienteninformationen bezüglich ihrer Migränetrigger kann es oft schwierig sein, zwischen Triggern und Prodromalsymptomatik zu unterscheiden. Beispielsweise kann Essen, welches bei Heißhungerattacken im Prodromalstadium verzehrt wurde, von den betroffenen Personen retrospektiv auch als initialer Trigger ihrer Migräneattacke interpretiert werden. Einige Personen überschätzen bestimmte Trigger oder nehmen subtile Trigger nicht war. (23) 14. Dezember 2021 17/72
Persistierendes Foramen ovale In einer Fall-Kontroll-Studie von 1998 wurden 44 Personen, welche an einer Migräne mit Aura litten, mit 73 unter 50-Jährigen, welche in ihrer Krankengeschichte eine fokale zerebrale Ischämie aufwiesen und 50 Personen einer Kontrollgruppe verglichen. Bei allen Personen wurde eine bilaterale transkranielle Dopplersonographie mit Injektion eines Kontrastmittels während normaler Ventilation und bei einem Valsalva Manöver durchgeführt. Hierbei konnten bei 41% der Personen mit Migräne ein Rechts-Links-Shunt festgestellt werden. In der Kontrollgruppe waren es 16% mit einem Rechts-Links-Shunt. Die Schlussfolgerung dieser Studie war, dass es einen signifikant höheren Anteil mit einem Rechts-Links-Shunt in der Gruppe der Personen mit Migräne gibt als in der der Kontrollgruppe.(24) In einer systematischen Übersichtsarbeit von 2008 mit Artikeln von 1966 bis 2007 wurde ebenfalls, jedoch mit einem niedrigen Evidenzgrad, ein Zusammenhang zwischen einem persistierenden Foramen ovale (PFO) und Migräne mit Aura festgestellt (25). Weitere Beobachtungsstudien kamen zu ähnlichen Ergebnissen (26). In einer anderen populationsbasierten Studie, bei der statt eines transkraniellen Dopplers eine transthorakale Echokardiographie zum Nachweis eines PFO verwendet wurde, konnte wiederum kein signifikanter Unterschied in der Prävalenz des PFO bei Personen mit Migräne und Personen ohne Migräne festgestellt werden (27). Randomisierte klinische Studien wie MIST, PREMIUM und PRIMA konnten keine signifikanten Ergebnisse hinsichtlich eines Vorteils für alle Personen mit Migräne zum Verschluss eines PFO zeigen. Es gab jedoch Hinweise darauf, dass es einen Vorteil bei speziellen Subtypen der Migräne haben könnte. (26) Es gibt eine Hypothese dazu, dass eine mögliche Korrelation zwischen Migräne und einem PFO darauf zurückzuführen sein könnte, dass genetische Faktoren prädisponierend für die Entwicklung dieser beiden Phänomene sein könnten (26). Eine weitere Hypothese beschreibt die Möglichkeit, dass vor allem Migräne mit Aura dadurch ausgelöst werden könnte, dass vasoaktive Substanzen, wie z.B. Serotonin, durch ein PFO und dem damit einhergehenden Rechts-Links-Shunt, den Lungenkreislauf umgehen können, womit sie in höheren Konzentrationen in den arteriellen Blutkreislauf und somit ins Gehirn gelangen (26). 1.4. Pathophysiologie Über die Zeit wurde eine Vielzahl an Theorien zu den zugrunde liegenden Mechanismen der Migräne hervorgebracht. Es formten sich drei wesentliche Theorien zum Ursprung einer Migräneattacke. Bei der vaskulären Theorie ging man davon aus, dass eine Vasokonstriktion bzw. 14. Dezember 2021 18/72
Vasodilatation die Symptome einer Migräne hervorrufen könnten. Moskowitz stellte die trigeminovaskuläre Theorie auf, welche auf einer Vasodilatation und Ödembildung mit einer Albumin Extravasation beruht. Ein Augenmerk wurde auch auf biochemische Prozesse gelegt. Eadie und Tyrer untersuchten die Bedeutung von vasoaktiven Substanzen, unter anderem Serotonin und Prostaglandinen, in den Mechanismen der Migräne. (28) Aristides Leᾶo beschrieb die Cortical Spreading Depression, welche nicht nur bei der Migräne, sondern auch bei anderen neurologischen Erkrankungen wie z.B. der Epilepsie, eine entscheidende Rolle spielt. (29) 1.4.1. Prodromalstadium Bereits Stunden, bzw. Tage vor der eigentlichen Migräneattacke können Prodromi wie Müdigkeit, Gähnen, Photophobie oder Heißhungerattacken auftreten. Dies könnte auf eine Beteiligung des Hypothalamus und des Hirnstamms zurückzuführen sein. Aber auch das limbische System und bestimmte kortikalen Arealen könnten daran mitwirken. Migräne scheint zudem durch chronobiologische Mechanismen beeinflusst zu sein. (30) In einer Studie wurde der zerebrale Blutfluss als Indikator neuronaler Aktivität in einer Positronen- Emissions-Tomographie (PET) bei Personen mit, durch Nitroglycerin, initiierten Migräne dargestellt. Hierbei konnten Aktivierungen im posterolateralen Hypothalamus sowie im Tegmentum, im periaquäduktalen Grau, der dorsalen Pons und verschiedenen kortikalen Arealen verzeichnet werden. (30) Durch PET-Untersuchungen konnte außerdem ein Zusammenhang zwischen Photosensitivität im Prodromalstadium und einer gesteigerten Aktivität des okzipitalen Kortex hergestellt werden, sowie zwischen gesteigerter Aktivität des Hirnstamms und Übelkeit (21). Aus weiteren Untersuchungen zum Zeitpunkt zwischen den Migräneattacken wurden mittels Magnetresonanztomographie (MRT), im Vergleich zur Kontrollgruppe gesunder Personen, bei Personen mit Migräne stärkere funktionale Verbindungen zwischen dem Hypothalamus und Bereichen des Gehirns, welche an autonomen Funktionen sowie der Schmerzübertragung beteiligt sind, festgestellt (30). Neben den Hinweisen darauf, dass der Hypothalamus bereits in der frühen Phase der Migräne involviert sein könnte, wird dem Hypothalamus auch eine Schlüsselrolle bei der Förderung oder Verstärkung der Schmerzübertragung während einer Migräneattacke zugesprochen. Hierzu existieren zwei Hypothesen. (30) Die erste erklärt den Mechanismus mit dem verstärkten parasympathischen Tonus welcher dann meningeale Nozizeptoren aktiviert (30). Einige Symptome der Migräne wie Übelkeit, Erbrechen, aber auch z.B. Tränenfluss weisen auf veränderte autonome Funktionen im zentralen Nervensystem hin. Eine mögliche Erklärung hierzu wäre, dass Migräneauslöser wie z.B. Stress oder andere Veränderungen der physiologischen 14. Dezember 2021 19/72
oder emotionalen Homöostase, den parasympathischen Tonus erhöhen, wodurch nozizeptive Pfade aktiviert werden. In präklinischen Modellen konnte gezeigt werden wie Norepinephrin als Transmitter sympathischer Efferenzen durch Stimulierung duraler Afferenzen und Fibroblasten pronozizeptive Signale fördern kann. (30) Aktivierung des Kappa-Opioid-Rezeptors durch das Stress-induzierte Corticotropin-Releasing- Hormon und Dynorphine könnte ebenfalls eine Rolle in der durch Stress ausgelösten Migräne spielen (30). Durch afferente Bahnen könnten demzufolge also parasympathische Signale an den Nucleus salivatorius superior geleitet werden. Von diesem aus würden postganglionäre, parasympathische Neurone im Ganglion sphenopalatinum aktiviert werden, wodurch wiederum meningeale Nozizeptoren und das trigeminovaskuläre System stimuliert würde (siehe Abbildung 1). (30) Unter dem trigeminovaskulären System versteht man die intrakraniell liegenden trigeminalen afferenten Fasern sowie die Blutgefäße welche sie umspannen. Zu diesen zählen teilweise arterielle Gefäße der Hirnhäute aber auch große Hirnarterien. (31) Dies würde zu einer intrakraniellen Vasodilatation und lokalen Freisetzung von Entzündungsmolekülen führen. Das Resultat wäre eine Aktivierung des trigeminozervikalen Komplexes über das Ganglion trigeminale (siehe Abbildung 1). (30) Der trigeminozervikale Komplex stellt die wichtigste Schnittstelle zur Schmerzverarbeitung zwischen peripherem und zentralem Nervensystem dar (32). Die zweite beschreibt die Modulierung nozizeptiver Signale des Pars caudalis des Nucleus spinalis nervi trigemini an supratentorielle Strukturen, welche bei der Schmerzverarbeitung beteiligt sind (30). Exzitatorische bzw. inhibitorische Neuropeptide/-transmitter von Neuronen aus Hypothalamus und Hirnstamm könnten nozizeptive trigeminovaskuläre Signale an den Thalamus beeinflussen. Durch dieses Einwirken von Neuronen des Hypothalamus und Hirnstamms auf nozizeptive Signale könnten die Schwellenwerte für die allostatische Last, also die Menge an physischem oder emotionalen Stress, die das Gehirn bearbeiten kann, beeinflusst werden und somit bestimmen, ob diese Signale an den Kortex weitergegeben werden. Zyklische Veränderung der Hirnstamm Aktivität könnten also Einfluss auf die Schwellenwerte nehmen. Ist die Aktivität hoch, wird der Schwellenwert für die Weiterleitung nozizeptiver Signale heraufgesetzt und diese somit inhibiert. Im umgekehrten Fall, wenn die Aktivität und somit der Schwellenwert niedrig sind, könnte eine Migräne entstehen. (30) 14. Dezember 2021 20/72
Abbildung 1: Stimulierung meningealer Nozizeptoren , in Anlehnung an Dodick, 2018 (30) Abkürzungen: NSS=Nucleus salivatorius superior, GSP=Ganglion sphenopalatinum, GT=Ganglion trigeminale, TZK=Trigeminozervikaler Komplex 1.4.2. Auraphase Etwa 30 Prozent der betroffenen Personen mit Migräne weisen zusätzlich das Symptom der Aura mit fokal neurologischen Störungen auf (32). Der zugrunde liegende Mechanismus der Auraphase wird durch eine kortikale Streudepolarisierung („Cortical spreading Depression“, CSD) erklärt. Hierbei kommt es vermutlich durch wiederholte De- und Repolarisation von übererregbaren Neuronen des zerebralen Kortex zu einem erheblichen Kalium-Ausstrom und infolge dessen, auch zu einer extrazellulären Akkumulation. Dies führt zu einem Ungleichgewicht zellulärer Membranpotentiale, wodurch Natrium und Calcium in die Zellen verschoben werden, und Glutamat freigesetzt wird. So könnte sich schließlich über Gap Junctions eine Depolarisationswelle ausbreiten. Diese Depolarisationswelle erstreckt sich mit einer Geschwindigkeit von 2-6mm/min über Membranen von Neuronen und Gliazellen. Anschließend folgt eine bis zu 30 minütige Refraktärzeit, korrelierend mit der Dauer von Aurasymptomen. (30) Während der Depolarisationswelle scheint es zudem zu einer Hyperämie zu kommen, gefolgt von einer Phase zerebraler Hypoperfusion. (30, 33) 14. Dezember 2021 21/72
Die Aktivierung des trigeminovaskulären Systems durch die CSD könnte durch eine vorübergehende Öffnung von Pannexin-1-Kanälen erklärt werden. Dies würde zur Freisetzung von Entzündungsmediatoren führen, welche wiederum eine Dilatation intrakranieller Arterien hervorrufen. Diese aktivieren und sensibilisieren perivaskuläre trigeminale primäre Afferenzen, welche für die Übertragung von nozizeptiven Impulsen zuständig sind. Die Impulse wiederum werden in kortikalen Arealen verarbeitet und resultieren in der Empfindung eines Kopfschmerzes. (33) 1.4.3. Kopfschmerzphase Durch das trigeminovaskuläre System werden nozizeptive Signale von den Meningen an Teile des Gehirns geleitet (30). Afferente, nozizeptive Fasern erster Ordnung aus dem Ganglion trigeminale, hauptsächlich aus dem Ast des N. ophtalmicus, innervieren die Meningen und zerebrale Arterien (siehe Abbildung 2) (30, 33). Werden trigeminovaskuläre Neurone stimuliert, kommt es zur Freisetzung vasoaktiver Peptide, und eine lokale Entzündungsreaktion entsteht (33). Zu diesen Peptiden gehören unter anderem das Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP) und das Pituitary Adenylate Cyclase Activating Polypeptide (PACAP) (30). Hierdurch werden afferente Projektionen vom Ganglion trigeminale aktiviert, welche mit Neuronen extrakranieller Strukturen, wie z.B perikranielle und paraspinale Muskulatur aus C1-C2, konvergieren. Im trigeminozervikalen Komplex folgt dann die Umschaltung auf Neurone zweiter Ordnung. Von hier aus gehen Signale an verschiedene Nuclei in Hirnstamm, Thalamus, Hypothalamus und Basalganglien. Diese wiederum projizieren an unterschiedliche kortikale Areale, welche in Zusammenhang mit spezifischen Migränesymptomen, u.a. Photophobie und Phonophobie gebracht werden können (siehe Abbildung 2). (30) Bereits 1995 konnte mittels PET ein erhöhter Blutfluss in bestimmten Arealen des Hirnstamms während einer Migräneattacke nachgewiesen werden. Zu diesen Arealen gehörten der Locus coeruleus, das periaquäductale Grau und die Raphe-Kerne. (34) Wie genau trigeminovaskuläre Neurone stimuliert werden ist noch nicht genau geklärt. Die CSD könnte durch die, während dieser Phase ausgeschütteten Moleküle, wie ATP, Glutamat, Kalium, Wasserstoffionen, CGRP, und Distickstoffmonoxid, dafür verantwortlich sein. In Tierversuchen konnte diese These gestützt werden. Durch Stimulierung des visuellen Kortex bei Ratten wurde eine CSD, mit nachfolgend lang anhaltender Aktivierung meningealer Nozizeptoren ausgelöst (30). In anderen Experimenten zeigte sich, dass trotz einer sensorischen Blockade des Ganglion trigeminale, eine durch CSD hervorgerufene Aktivierung von trigeminovaskulären Neuronen zweiter Ordnung des trigeminozervikalen Komplexes nicht unterbrochen werden konnte. Dies 14. Dezember 2021 22/72
führt zu der Vermutung, dass nicht nur periphere, sondern auch zentrale Mechanismen eine Rolle bei der Aktivierung des trigeminovaskulären Systems spielen. (30) Aufgrund peripherer Sensibilisierung trigeminovaskulärer Neurone kommt es zu den charakteristischen pochenden Kopfschmerzen, sowie zu einer Aggravierung der Schmerzen beim Vornüberbeugen des Kopfes oder beim Husten. Aus einigen Tierstudien ging hervor, dass CGRP an dieser peripheren Sensibilisierung beteiligt sein könnte. (30) Neben der peripheren Sensibilisierung kommt es auch zu einer zentralen Sensibilisierung von Neuronen im trigeminozervikalen Komplex und thalamischer Nuclei. Diese wird für die Allodynie, z.B. im Bereich der Kopfhaut und Kopfhautmuskulatur während einer Migräneattacke verantwortlich gemacht. (30) Abbildung 2: Schmerzentstehung über das trigeminovaskuläre System, in Anlehung an Dodick, 2018 (30) Abkürzungen: V1=Nervus ophtalmicus, V2=Nervus maxillaris, V3=Nervus mandibularis, GT=Ganglion trigeminale, TZK=Trigeminozervikaler Komplex 1.4.4. Biomarker Über verschiedene Triggerfaktoren, wie endogene Signalmoleküle, können Migräneattacken ausgelöst werden, was Rückschlüsse auf die komplexen zugrundeliegenden Signalwege zulässt. Im Jahr 1993 wurden die ersten Provokationsstudien mit Nitroglycerin hierzu durchgeführt. Es zeigte sich, dass Personen mit Migräne daraufhin stärkere Kopfschmerzen entwickelten als 14. Dezember 2021 23/72
Gesunde. Seitdem wurden verschiedene Triggermoleküle in diesem Zusammenhang getestet. Hierzu gehören unter anderem CGRP, PACAP, Levcromakalim (öffnet ATP-sensitive Kaliumkanäle) und Maxipost (öffnet Calciumaktivierte Kaliumkanäle mit hoher Leitfähigkeit). Durch CGRP und PACAP Infusionen konnte bei ca. 60% der Personen mit Migräne ein Anfall ausgelöst werden. Nach der Gabe von Nitroglycerin und Phosphodiesterase-Hemmer waren es über 80%. Die Tatsache, dass all diese Moleküle ihre Wirkung über das cyclische Adenosinmonophosphat (cAMP) und das cyclische Guanosinmonophosphat (cGMP) entfalten, führt zu der Annahme, dass diese Second Messenger Veränderungen an Ionenkanälen, vor allem Kaliumkanälen bewirken. Es konnte gezeigt werden, dass über die Öffnung ATP abhängiger Kaliumkanäle bei Personen mit Migräne eine Attacke ausgelöst werden kann. Auch eine Aura konnte bei Personen mit Migräne mit Aura induziert werden. Diese Erkenntnisse könnten Ansätze zukünftiger Pharmakotherapie sein. (22) 1.4.5. 5-Hydroxytryptamin-Rezeptoren (5-HT-Rezeptoren) In der Familie der Serotonin-Rezeptoren wurden bisher sieben verschiedene entdeckt (5-HT1, 5- HT2, 5-HT3, 5-HT4, 5-HT6, 5-HT7) mit teils zahlreichen Subtypen (35). Das zugehörige Monoamin 5-HT (5-Hydroxytryptamin, bzw. Serotonin) fungiert als Neurotransmitter, Hormon und Mitogen (36). Die verschiedenen HT-Rezeptoren übernehmen teilweise inhibitorische, teils exzitatorische Funktionen. Der Großteil der Rezeptoren aus dieser Familie ist G-Protein gekoppelt und hat Einfluss auf die intrazelluläre cAMP-Konzentration. (35) Die Subtypen 5-HT1B/1D und 5-HT1F sind von besonderem Interesse bezüglich der Therapiemöglichkeiten bei Migräne. 5-HT1B/1D-Rezeptoren Zu den Subtypen der 5-HT1-Rezeptoren gehören unter anderem die 5-HT1B-Rezeptoren und die 5-HT1D-Rezeptoren. Diese beiden Subtypen zeigen eine strukturelle Ähnlichkeit von 63%. (35) 5-HT1B-Rezeptoren finden sich im ZNS vor allem in den Basalganglien, Striatum und dem Frontalkortex. Auch in zerebralen Arterien sind sie zu finden. (35) Zu seinen Funktionen gehören, je nach Lokalisation, die Inhibierung der Freisetzung von Dopamin und Serotonin. Er fungiert aber auch als Kontrolleinheit bei der Freisetzung anderer Neurotransmitter. (35) Im Gegensatz zu 5-HT1B-Rezeptoren ist die Anzahl der 5-HT1D-Rezeptoren sehr viel geringer. Sie sind im ZNS, in den dorsalen Raphe-Kernen, aber auch am Herzen lokalisiert. Sie dienen als Autorezeptoren und können die Freisetzung von Serotonin modulieren. Außerdem scheinen sie eine Vasokonstriktion zerebraler Arterien zu induzieren. (35) In einer Studie mit einem selektiven 14. Dezember 2021 24/72
5-HT1D-Rezeptor-Agonisten in Meerschweinchen konnte eine Blockade neurogener Plasmaextravasation und die Modulation der Nozizeption im trigeminalen System festgestellt werden (37). Anhand von 5-HT1B/1D-Rezeptor-Agonisten wurden noch weitere Effekte beschrieben. Zu diesen Agonisten gehören unter anderem Eletriptan, Ergotamin, Methysergid, Sumatriptan und Zolmitriptan. Neben ihren positiven Wirkungen im Migräneanfall, scheinen sie auch einen prokinetischen Einfluss auf den Gastrointestinaltrakt, sowie Thrombozyten-hemmende Eigenschaften zu haben. An zerebralen sowie pulmonalen Gefäßen bewirken sie eine Vasokonstriktion. (35) Bartsch et al., 2004 untersuchten an Laborratten die Wirkung von Triptanen außerhalb des trigeminovaskulären Systems. Sie zeigten, dass eine Aktivierung von 5-HT1B/1D-Rezeptoren im ventrolateralen periaquäduktalen Grau die Erregbarkeit der Dura mater herabsetzten kann. Dies legt nahe, dass Triptane nicht nur über den Nucleus spinalis nervi trigemini, sondern auch über supraspinale Strukturen ihre Wirkung entfalten. (38) 5-HT1F-Rezeptoren 5-HT1F-Rezeptoren besitzen strukturelle Ähnlichkeiten zu anderen Subtypen der 5-HT1- Rezeptoren Familie, insbesondere zu 5-HT1B, 5-HT1D und 5-HT1E (35, 39). 5-HT1F-Rezeptoren binden 5-Methoxytryptamin und einige Ergotamin-Derivate mit hoher Affinität (35). Die Rezeptoren sind an verschiedenen Stellen des trigeminovaskulären Systems zu finden. Sie konnten im Ganglion trigeminale, im Nucleus spinalis nervi trigemini und an zerebralen Gefäßen nachgewiesen werden. Auch außerhalb des trigeminalen Systems sind sie zu finden, wie z.B. am Neocortex sowie am Hippocampus und den Koronararterien. An der glatten Muskulatur zerebraler Mikrogefäße scheinen zwar 5-HT1B/1D-Rezeptoren vorhanden zu sein, nicht jedoch 5-HT1F- Rezeptoren. Diese und pharmakologische Beobachtungen führen zu der Annahme, dass selektiven 5-HT1F-Rezeptor Agonisten eine vasokonstriktorische Wirkung fehlt. (40) Zu den 5- HT1F-Rezeptor Agonisten gehören unter anderem Eletriptan, Naratriptan und Sumatriptan (35). Der genaue Wirkmechanismus über 5-HT1F-Rezeptoren ist noch nicht vollständig geklärt. Das selektive Ansprechen von 5-HT1F-Rezeptoren könnte über die Stabilisierung perivaskulärer trigeminaler Nervendigungen einen antimigränösen Effekt haben. Hierdurch würde die Ausschüttung vasoaktiver und nozizeptiver Signalmoleküle vermindert werden. Ein weiterer möglicher Wirkmechanismus könnte die Blockierung der nozizeptiven Weiterleitung im ZNS sein. (3) 14. Dezember 2021 25/72
1.4.6. Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP) Physiologische Funktionen CGRP ist ein, aus 37 Aminosäuren bestehendes, Neuropeptid. Seine zwei Isopeptide α-CGRP und β-CGRP unterscheiden sich in drei Aminosäuren. Sie werden auf Chromosom 11 synthetisiert. Ihre Eigenschaften sowie Wirkmechanismen sind demnach sehr ähnlich. CGRP spielt in verschiedenen Bereichen des menschlichen Körpers eine Rolle. Das α-CGRP ist hauptsächlich im zentralen sowie peripheren Nervensystem zu finden, β-CGRP scheint seine Hauptfunktion im Gastrointestinaltrakt zu entfalten. (31) CGRP ist jedoch auch außerhalb von Nervenzellen zu finden, z.B. in Endothelzellen und Adipozyten, aber auch Zellen des Immunsystems wie Makrophagen. Aktivierte B-Lymphozyten scheinen CGRP produzieren zu können. (11) Der CGRP-Rezeptor wird durch drei Komponenten gebildet. Dazu gehören der „Calcitonin receptor-like receptor” (CLR), das „Receptor activity-modifying protein” (RAMP-1) und das „Receptor component protein” (RCP) (31). Die CLR und RAMP Interaktion spielt eine wichtige Rolle. Hierdurch kommt es unter anderem zur Verschiebung des CLR an die Plasmamembran. Die Kopplung ist überdies wichtig für die Ligandenbindung sowie das in Gangsetzen intrazellulärer Mechanismen. (11) Diese laufen über G-Proteine und weiters über die Adenylatzyklase sowie das cAMP (11, 31). Die Bindung von CGRP kann über Proteinkinase A zur Öffnung von Ionenkanälen führen. Außerdem gibt es Hinweise darauf, dass CGRP Einfluss auf die Gentranskription hat. (11) Nervenschädigung, Inflammation und eine Veränderung des Blutdrucks scheinen die Ausschüttung von CGRP zu beeinflussen. Die Aktivierung des Capsaicin-Rezeptors TRPV1 scheint eine Freisetzung von CGRP zu bewirken. Dieser Rezeptor wird unter anderem durch Anandamid, ein Endocannabinoid und Rutaecarpin, einem pflanzlichen Inhaltsstoff, stimuliert. Aber auch die Aktivierung anderer TRP-Kanäle kann zu einer Freisetzung von CGRP führen. (11) CGRP wird in Vesikeln von sensorischen Nervenendigungen gespeichert und über kalziumabhängige Exozytose freigesetzt (11). Die Effekte von CGRP im menschlichen Körper sind vielzählig. Es ist beteiligt an der Entwicklung neuronaler Sensibilisierung sowie der Schmerzentstehung, es wirkt vasodilatatorisch und kann als Neurotransmitter die glutamaterge Signalübertragungen zwischen Neuronen erleichtern (30). Über Genexpression könnte es außerdem zur neuronalen Plastizität beitragen (31). Zudem scheint es wichtige protektive Funktionen zu besitzen: einerseits im Gastrointestinaltrakt, aber auch am Herzen, den Nieren und dem Gehirn. Bei der Gabe von CGRP-hemmenden Substanzen muss hierzu, bezüglich möglicher negativer Auswirkungen, ein besonderes Augenmerk liegen. Bei der Gewebereparatur und Wundheilung könnte ein Herabsetzen der Wirksamkeit von CGRP einen negativen Effekt haben, da es Einfluss auf die Proliferation von Fibroblasten und 14. Dezember 2021 26/72
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