Polizei und Moscheevereine - EIN LEITFADEN zur Förderung der Zusammenarbeit
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Umschlag_TIK_AKI 18.10.2005 20:51 Uhr Seite 2 EIN LEITFADEN zur Förderung der Zusammenarbeit Polizei und Moscheevereine
Inhalt_TIK2_AKIII 21.10.2005 13:57 Uhr Seite 2 VORWORT Gute Polizeiarbeit zeichnet sich auch da- kräfte bei der Präventionsarbeit mit muslimi- durch aus, dass sie interkulturelle Zusammen- schen Gemeinden. Der Leitfaden konkreti- hänge erkennt sowie beurteilen kann und siert, was unter der allseits geforderten daran ihre Maßnahmen im Rahmen der gesetz- „interkulturellen Kompetenz“ zu verstehen lichen Bestimmungen ausrichtet. Dazu muss die ist, jenseits abstrakter Begriffsdefinitionen Polizei vor allem mit dem Lebensumfeld von Ein- und rein moralischer Forderungen. Er beruht wanderern und mit seinen Strukturen, Spiel- auf der praktischen polizeilichen Arbeit vor regeln und Kommunikationsformen vertraut sein. Ort und berücksichtigt die Grenzen der poli- zeilichen Kooperationsfähigkeit. Gerade in der Präventionsarbeit mit musli- mischen Gemeinden sind neue Potenziale der Ziel des Leitfadens ist es, neben der Zusammenarbeit auszuschöpfen. Die An- Darstellung von Vorschlägen zur Zusammen- schläge von London unterstreichen dabei die arbeit mit Muslimen und Moscheevereinen Bedeutung solcher Kooperationen. Durch die insbesondere durch die Vermittlung von Einbindung von Moscheevereinen in die poli- Kenntnissen über die Kultur und Werte des zeiliche Präventionsarbeit können muslimi- islamischen Glaubens die interkulturelle sche Gemeinden einen unmittelbaren Beitrag Kompetenz der Polizei zu fördern. Er kann zur Kriminalitätsvorbeugung leisten. Dies för- zur polizeilichen Aus- und Fortbildung, aber dert die vertrauensvolle Zusammenarbeit auch zur persönlichen Orientierung oder zwischen Muslimen und den staatlichen Weiterbildung genutzt werden. Institutionen und damit die Integration mus- limischer Mitbürgerinnen und Mitbürger. Für Die Zusammenarbeit zwischen der eine solche Zusammenarbeit gibt es in Bundeszentrale für politische Bildung und der Deutschland bereits erfolgreiche Beispiele. polizeilichen Kriminalprävention der Länder und des Bundes ist ein wichtiger Schritt auf Der vorliegende Leitfaden der Polizei- dem Weg, die politische Bildung mit den lichen Kriminalprävention der Länder und Anforderungen professioneller Fortbildung in des Bundes – entstanden aus einem Modell- der Polizeiarbeit zu verknüpfen. Hier handelt projekt der Bundeszentrale für politische es sich um eine langfristige Aufgabe, damit die Bildung in Zusammenarbeit mit den Polizei- Polizei auf dem Gebiet interkultureller präsidien Berlin, Essen und Stuttgart – bietet Herausforderungen einer effizienten und eine Orientierung für polizeiliche Führungs- nachhaltigen Polizeiarbeit gerecht wird. Erwin Hetger Thomas Krüger Landespolizeipräsident und Vorsitzender der polizeili- Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung chen Kriminalprävention der Länder und des Bundes 2
Inhalt_TIK2_AKIII 21.10.2005 13:57 Uhr Seite 3 INHALT INHALT 1. EINLEITUNG 5 5.1.2 Praktische Hinweise 2. HANDLUNGSBEDARF 7 zum Kontaktaufbau 34 Erstkontakt 34 3. ZIELE DES LEITFADENS 11 Polizeilicher Ansprechpartner 35 Ansprechpartner seitens 4. INFORMATIONEN ZU KULTUR des Moscheevereins 36 UND RELIGION 13 Zeit 36 Örtlichkeit 36 4.1 Interkulturelle Kompetenz 13 Vorstellung 36 Polizei als „Freund und Helfer“ 37 4.2 Was man über den Islam wissen Einladungen zu sollte – in Stichworten 14 besonderen Anlässen 37 4.2.1 Einheit und Vielfalt 14 Kontaktpflege 37 4.2.2 Grundzüge im islamischen Gemeinsames Selbstverständnis 15 Interesse an Prävention 37 4.2.3 Die fünf Säulen des Islam 16 Einbeziehung 4.2.4 Islam und modernes Leben 18 muslimischer Frauen 38 4.2.5 Der Islam in Deutschland – so Einbindung in lokale Strukturen 38 vielfältig wie der Weltislam 20 5.1.3 Stolpersteine und 4.2.6 Muslimische Vereine Lösungsmöglichkeiten 39 und Dachverbände 22 Unangekündigter Besuch 39 Jüngere oder weibliche 4.3 Hinweise für die Dienstkräfte 39 Begegnung mit Muslimen 24 Zeitansatz 39 4.3.1 Vielfalt, Vielfalt, Vielfalt – Versuche der auch in der Kommunikation 24 Instrumentalisierung 39 4.3.2 Religiöse Feste sollte Projektarbeit mit man kennen! 24 den Kooperationspartnern 40 4.3.3 Frauenwelt – Männerwelt 25 Knappe Geldmittel 40 4.3.4 Traditionelle Familienorien- 5.1.4 Ansätze zur Einbindung tierung: Anknüpfungspunkt der Moschee 41 und Konfliktpotenzial 25 Unterstützung des Vereins 42 Unterstützung einzelner 5. PRAXISERFAHRUNGEN 27 Vereinsmitglieder 42 Aufbau von 5.1 Grundsätzliches zu Vermittlungspersonen 42 Kooperationen 27 Unterstützung der Polizei 42 5.1.1 Voraussetzungen seitens der Dienststelle 28 5.2 Thematische Anknüpfungs- Kooperationsprojekte punkte gegenüber sind Chefsache 28 muslimischen Gemeinden 43 Kooperationen Überblick über erfordern Projektarbeit 28 Zuständigkeiten der Polizei 43 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für Gewaltprävention, auch Kooperationsprojekte gewinnen 30 Gewalt im sozialen Nahraum 43 Kooperationen Suchtprävention 44 erfordern Kontinuität 30 Gesetzesänderungen 45 Geeignete Kooperationspartner 31 Informationsquellen 33 6. RESÜMEE 46 3
Inhalt_TIK2_AKIII 21.10.2005 13:57 Uhr Seite 5 EINLEITUNG Professionelle und zukunfts- ments begriff und bereit war, sie in die tägliche orientierte Polizeiarbeit wird Arbeit zu integrieren. künftig mehr interkulturelle Kompetenz erfordern. Gerade im Die Dienststellen im Modellprojekt bauten Umgang mit islamischen Gemein- über einen längeren Zeitraum Kooperationen den können die Chancen der mit Moscheevereinen auf und erwarben gesamtgesellschaftlichen Prävention noch dadurch praxisnahe Kenntnisse über den Islam besser genutzt und Muslime über die sowie seine Organisationen im Stadtteil. Moscheevereine stärker in die gemeinschaft- Hierbei entstanden auch Handlungsstrategien liche Bewältigung der anstehenden Sicher- zur vertrauensvollen Einbindung von Musli- heitsaufgaben vor Ort einbezogen werden. men in die gemeinsame Verantwortung für die Prävention von Kriminalität muslimischer Unser Leitfaden bietet dazu kein Jugendlicher, was für den Erfolg weiterer poli- „Patentrezept“, sondern eine Orientie- zeilicher Aktivitäten wichtig sein dürfte. rungshilfe zum Umgang mit den Erwar- tungen der islamischen Bevölkerung Die unterschiedlichen Erfahrungen aus gegenüber der deutschen Polizei. Ihm lie- Berlin, Essen und Stuttgart zeigen deutlich, gen die Erfahrungen eines 18-monatigen dass es für die Kooperationen mit Moscheen Modellprojekts „Kooperation von Polizei- kein generell gültiges „Rezept“ gibt: Was in der dienststellen mit Moscheevereinen“ in einen Stadt funktioniert, muss in einer anderen Berlin, Essen und Stuttgart im Auftrag keineswegs ebenso funktionieren. Moscheen der Bundeszentrale für politische Bildung haben – wie Polizeidienststellen – verschiedene (bpb) zugrunde. Voraussetzungen hinsichtlich ihrer Ausrichtung und Ansichten, eben auch im Hinblick auf Offen- Das Modellprojekt vermittelte einzelnen heit und Engagement für Kooperationen. Polizeibeamtinnen und -beamten sowie gan- zen Dienststellen der Polizei die Kompetenz in Grundsätzlich ist die Einbindung der polizeilicher Prävention gegenüber islamischen Moscheevereine in lokale Netzwerke aus Gemeinden; es basierte auf einer im Projekt Jugendamt, Schule und freien Trägern förder- „Transfer interkultureller Kompetenz“ (TiK)1 lich, wenngleich es auch hier Unterschiede entwickelten, bundesweit schon in Jugend- gibt. In manchen Sozialräumen arbeiten solche und Gesundheitsämtern bewährten Strategie: Netzwerke gut zusammen, in anderen nicht. Durch gezielte Projektarbeit machen sich Die Erfahrungen aus dem Modellprojekt sollen UNG Institutionen mit dem Lebensumfeld von Ein- helfen, Stolpersteine aus dem Weg zu räumen: wanderern mit seinen Strukturen, Spielregeln Durch die ständige Auswertung der Erfah- und Kommunikationsformen vertraut. rungen und die Anpassung der Strategie an etwa auftretende Hindernisse lassen sich auch Voraussetzung für das Modellprojekt war, in der sozialen Integration neue Wege finden, dass im Polizeibereich die örtliche Polizeifüh- um etwa Honoratioren aus der islamischen rung die Entwicklung interkultureller Kompe- Gemeinde in die Verantwortung für die tenz als Aufgabe ihres strategischen Manage- Prävention mit einzubeziehen. Tatiana Lima Curvello, Margret Pelkofer-Stamm: Interkulturelles Wissen und Handeln. Neue Ansätze zur Öffnung sozialer Dienste. 1 Dokumentation des Modellprojekts „Transfer interkultureller Kompetenz“ (TiK), Berlin 2003 5
Inhalt_TIK2_AKIII 21.10.2005 13:57 Uhr Seite 7 2. HANDLUNGSBEDARF Die Polizei steht – wie andere Gute Polizeiarbeit wird künftig die polizei- Institutionen auch – vor der Aufgabe, lichen Interventionsmöglichkeiten in inter- sich auf das Lebensumfeld von kulturellen Zusammenhängen besser erken- Einwanderern einzustellen. In Deutsch- nen, sachkundiger beurteilen und vermehrt HANDLUNGSBEDARF land, wo über sieben Millionen berücksichtigen müssen. Nur so kann die Ausländer leben, gibt es Städte mit Polizei ihre Aufgaben auch unter dem Stadtteilen, in denen Deutsche eine Eindruck einer verstärkten Zuwanderung Minderheit bilden. Wie Bevölkerungs- erfüllen. Die Antwort auf diese Herausforde- wissenschaftler schätzen, wird in zehn rung ist die Entwicklung von adäquaten Jahren über die Hälfte der unter 20-jähri- Kompetenzen. gen Einwohner einiger deutscher Groß- städte nichtdeutscher Herkunft sein. Die Anforderungen, auf die sich die Hinzu kommt die große Zahl eingebür- Polizei professionell einstellen muss, ergeben gerter Migranten sowie Aussiedler, die sich auf verschiedenen Handlungsfeldern2, so von der Statistik als Deutsche erfasst beispielsweise werden. • bei Kontakten von Polizeibeamtinnen Wenn Integration nicht gelingt und und -beamten mit einzelnen Bürge- sich in manchen Stadtvierteln schon rinnen und Bürgern nichtdeutscher Her- jetzt so genannte Parallelgesellschaften kunft, etwa bei Kontrollen, Ermittlun- entwickeln, wenn jugendliche Migran- gen, Vernehmungen oder Durchsu- tinnen und Migranten keine hinreichen- chungen, den schulischen Qualifikationen erlangen und ihre Arbeitslosenquote überdurch- • im Verhältnis der Polizeibehörde zu schnittlich hoch ist, dann betrifft das Minderheitengruppen insgesamt, vor letztlich auch die Polizei. Wo sich soziale allem zu ethnischen und religiösen Probleme mit ethnischer und/oder kultu- Minderheiten, reller Abschottung überlagern, greifen herkömmliche Methoden und Routine • in der internen Zusammenarbeit von der Polizeiarbeit oft nicht mehr. Polizeibeamtinnen und -beamten mit eigener unterschiedlicher ethnischer oder religiöser Herkunft, • im Erscheinungsbild der Polizei in der politischen Öffentlichkeit und bei den verschiedenen ethnischen und religiö- sen „Gemeinden” sowie • in der Präventionsarbeit, in der die Polizei ebenfalls die besonderen Lebens- NGSBEDARF umstände der Einwanderer berück- sichtigen muss. Rainer Leenen et al.: Interkulturelle Kompetenz bei der Polizei, Qualifizierungsstrategien, in: Gruppendynamik und Organisations- 2 beratung, Jahrgang 33, Heft 1, 2002, S. 97–120 7
Inhalt_TIK2_AKIII 21.10.2005 13:57 Uhr Seite 8 HANDLUNGSBEDARF Diese einzelnen Aspekte polizeilicher Viele in Deutschland ungewohnte Tätigkeit sind miteinander verwoben: So Verhaltensmuster im islamischen Umfeld kann ein Ermittlungserfolg ganz wesentlich stehen im Zusammenhang mit dortigen vom generellen Verhältnis zwischen der religiösen oder kulturellen Traditionen. Polizei und den Menschen einer jeweiligen Meist braucht man aber keine tiefer gehen- ethnischen Gruppe, aber auch von speziel- de Kenntnis dieser traditionellen Hinter- len polizeilichen Einzelkenntnissen über gründe, um bei polizeilichem Handeln das betreffende Lebensumfeld abhängen. Konflikte zu vermeiden; vielmehr reicht es völlig aus, bestimmte Verhaltensweisen In polizeilichen Einsatzsituationen im einfach nur zu kennen, zu verstehen und muslimischen Umfeld ergeben sich prakti- sich ganz pragmatisch darauf einzustellen. sche Probleme vielfach schon aus der Abweichung von den in Mitteleuropa übli- So steht die Gleichberechtigung der Frau chen Erwartungen. So kann es zu unvorher- in Europa außer Frage; in vielen arabischen gesehenen und ungewollten Konflikten oder auch türkischstämmigen Familien ist kommen, die sich mit einem Mindestmaß es Frauen hingegen nicht erlaubt, auf an Sachkenntnis und Sensibilität hätten Besuche, auf Fragen oder auf das Auftreten vermeiden lassen. der Polizei in der uns gewohnten Weise zu reagieren. Hier gilt allein der Ehemann oder ein sonstiges erwachsenes männliches Familienmitglied als kompetenter An- sprechpartner: Er würde es als Missachtung seiner Autorität empfinden, wenn man zuerst – wie bei uns üblich – die Frau begrüßt oder eine Frage an sie richtet. Das zu berücksichtigen, kann bei normalen Kontakten die Arbeit der Polizei erleich- tern. Im Einsatzfall oder bei der Durchführung von Ermittlungen kann es allerdings zur Erfüllung des polizeilichen Auftrags durchaus erforderlich sein, darauf keine Rücksicht zu nehmen. Ebenso gibt es erhebliche Unterschiede im Verhalten von Erwachsenen gegenüber Kindern, die polizeiliches Handeln ungüns- 8
Inhalt_TIK2_AKIII 21.10.2005 13:57 Uhr Seite 9 F tig beeinflussen können, wenn man die Schuhe den Einsatzerfolg aus polizeilicher Gewohnheiten des fremden Kulturkreises Sicht gefährden würde. nicht kennt oder nicht beachtet. Kinder sind im muslimischen Kulturkreis hoch Dennoch ist grundsätzlich auf die angesehen und oft noch mit einem (proble- Einhaltung westlicher Normen und Wertestan- matischen) Begriff von „Ehre“ verbunden; dards zu bestehen. Im Rahmen dieser Ordnung daher ist es schon vom Grundsatz her pro- sollte sich jedoch die Polizei als Repräsentant blematisch, Eltern mit einem Fehlverhalten des Staates auf kulturelle Besonderheiten ein- HANDLUNGSBEDARF ihrer Kinder konfrontieren zu müssen. lassen. Andererseits würde es auch als ungehörig empfunden, ein Kind in Gegenwart seines Selbstverständlich gibt es viele Beispiele Vaters direkt anzusprechen oder gar zu problemloser Zusammenarbeit mit muslimi- befragen, ohne das Vorgehen zuvor mit schen Persönlichkeiten und Vereinen; denn ihm als Familienoberhaupt besprochen und nicht alle Muslime pflegen Verhaltenswei- abgestimmt zu haben. Auch in diesen sen, die so deutlich von unseren Gepflogen- Fällen ist der Ermessensspielraum zwischen heiten abweichen. polizeilichen Notwendigkeiten und ver- nünftigem Rücksichtnehmen zu beachten. Wie bei Christen und Juden werden auch bei Muslimen die traditionellen oder religiö- Auch körperliche Berührungen einer Frau sen Verhaltensmuster ganz unterschiedlich oder eines Mädchens – selbst wo sie, wie stark beachtet. etwa bei der ersten Hilfe nach einem Unfall, unvermeidlich sind – können wegen der Nur eine Minderheit der hiesigen Muslime unterschiedlichen Verhaltensmuster zu ist in Moscheevereinen organisiert; gleich- Missverständnissen führen. Eine solche wohl haben gerade diese Moscheevereine in Maßnahme sollte auf das Notwendigste den sozial und wirtschaftlich schwachen beschränkt, nach Möglichkeit weiblichen Stadtvierteln unserer Großstädte einen wich- Dienstkräften vorbehalten und jedenfalls – tigen Einfluss auf viele der dort lebenden soweit einsatztaktisch möglich – von erklä- muslimischen Familien und Jugendlichen. Für renden Worten begleitet werden. Polizeibeamtinnen und -beamte in solchen Stadtvierteln wird es daher immer wichtiger, Ein gewisses Konfliktpotenzial birgt auch mehr über die sozialen und kulturellen das Tragen von Schuhen in Wohnungen und Besonderheiten muslimischer Vereine zu insbesondere in Moscheen – selbst dann, erfahren, damit sie ihren Dienst auch unter wenn es allein um polizeiliches Einschreiten diesen Bedingungen möglichst konfliktfrei geht und das sonst gebotene Ausziehen der ausüben können. 9
Inhalt_TIK2_AKIII 21.10.2005 13:57 Uhr Seite 10 ZIELE DES LEITF 10
Inhalt_TIK2_AKIII 21.10.2005 13:58 Uhr Seite 11 3. ZIELE DES LEITFADENS Vermittlung der Erfahrungen Schaffung von einsatzunabhängigen aus den Modellprojekten des Kontakten mit Muslimen TIK3-Projektes Der Leitfaden zeigt auf, dass es für die Der Leser erhält in kurzer, polizeiliche Arbeit wichtig und lohnenswert anschaulicher Weise einen Überblick ist, neben den sich in der Regel aus repressi- über die Vorgehensweise und die Er- ven Anlässen ergebenden Kontakten zu fahrungen der Polizeidienststellen in Muslimen bzw. zu Moscheevereinen auch Berlin, Essen und Stuttgart in der Zu- andere, insbesondere einsatzunabhängige sammenarbeit mit Moscheevereinen. Kontakte zu schaffen. Kompetenzaufbau für polizeiliche Inter- Schaffung von Netzwerken ventionsmöglichkeiten im interkulturel- len Kontext Die Erfahrungen des Modellprojektes zeigen, dass dort, wo es gelingt, die Der Leitfaden soll dem Leser Grundkenntnis über Moscheevereine in bestehende Netzwerke (z. B. Kommunale Kriminalprävention) zu interkulturelle Kompetenz und deren integrieren, die Synergieeffekte und der Bedeutung für die polizeiliche Arbeit, Nutzwert für alle am Netzwerk Beteiligten sehr groß sind. den Islam, die Normen und Werte der in der deutschen Gesellschaft lebenden Muslime sowie Einbinden der Moscheen in die sie betreffende Präventionsarbeit deren Sitten, Gebräuche und Formen der Kommunikation vermitteln und für die Präventive Konzepte greifen nur, wenn sich daraus ergebenden Besonderheiten sie auf die Zielgruppe abgestimmt sind. der polizeilichen Arbeit sensibilisieren. Dabei zeigen die Erfahrungen aus der Kommunalen Kriminalprävention, dass es Die im Zusammenhang mit der Umsetzung unerlässlich ist, die Bürgerinnen und Bürger der im Leitfaden dargestellten Kooperations- in die präventive Arbeit einzubinden. Dies möglichkeiten mit Moscheevereinen dienen gilt im Besonderen für die Zusammenarbeit dazu, anhand praktischer Arbeit („Learning mit Muslimen. Hier kann die Akzeptanz der by Doing“) interkulturelle Kompetenz bei polizeilichen Arbeit nachhaltig verbessert den eingesetzten Polizeibeamtinnen und werden. -beamten zu entwickeln bzw. diese in ihrer Handlungssicherheit zu stärken. TFADENS Transfer interkultureller Kompetenz 3 11
Inhalt_TIK2_AKIII 21.10.2005 13:58 Uhr Seite 12 INFORMATIONEN Z KULTUR UND RELI 12
Inhalt_TIK2_AKIII 21.10.2005 13:58 Uhr Seite 13 4. INFORMATIONEN ZU KULTUR UND RELIGION 4.1 Interkulturelle Kompetenz Aus der Praxis Teilweise begegnen Polizeibeamtin- Wenn Polizeibeamte beispielsweise an der nen und -beamte dem Begriff „interkul- Tür einer arabischen Familie klingeln, müs- turelle Kompetenz“ mit Skepsis. Damit sen sie damit rechnen, dass die in der verbinden sie nämlich zunächst den Wohnung allein anwesende Hausfrau nicht latenten Vorwurf der Diskriminierung öffnet, weil es ihr Ehemann verboten hat. Bis ethnischer Minderheiten und sodann als sie doch öffnet, kann es eine Weile dauern, Reaktion der Polizeiführung den weil sie vielleicht erst überredet werden Pflichtbesuch interkultureller Trainings- musste und dann noch Zeit brauchte, sich zu programme. verhüllen. Selbst die endlich geöffnete Wohnungstür bedeutet noch nicht, dass die Interkulturelle Kompetenz ist Frau, falls sie überhaupt Sprachkenntnisse die Fähigkeit, in „interkulturellen hat, auch tatsächlich Fragen beantwortet; Überschneidungssituationen“ an- denn üblicherweise ist es Frauen verboten, gemessen zu handeln. Solche mit Fremden – jedenfalls aber mit fremden Überschneidungssituationen tre- Männern – zu sprechen. Gelingt es doch, die ten auf, wenn wir mit Menschen Frau zum Reden zu bringen, so dürfte sie einer anderen Kultur umgehen zuerst das Versprechen verlangen, ihrem müssen, welche die Situation Mann nichts von dem Gespräch zu erzählen ... anders wahrnehmen und sich in bestimmten Lagen anders verhal- Allerdings sind die Lebensumstände der ten als wir. Einwanderer in sich vielfältig: So kann ein Polizeibeamter nicht davon ausgehen, jedes Wir leben in einer modernen Gesellschaft Mal, wenn er bei einer arabischen Familie mit einer kulturellen Vielfalt in den unter- klingelt, ähnliche Verhaltensformen vorzufin- schiedlichen Lebensbereichen. So kommen den; er kann ebenso gut eine Frau antreffen, wir täglich in Situationen oder auch die ihm die Tür aufmacht und selbstbewusst Institutionen, in denen andere als die im mit ihm verhandelt. eigenen Bezugsfeld gewohnten Sitten gelten, die auf uns befremdlich wirken. Das Interkulturelle Kompetenz bedeutet also Besondere an den Lebensumständen einiger nicht, bestimmten Einwanderergruppen Einwanderer – und das begründet die bestimmte Verhaltensmuster zuzuordnen! Notwendigkeit, eine spezielle interkulturelle Vielmehr sollen Polizeibeamtinnen und Kompetenz zu entwickeln – ist ihre kulturelle -beamte die Bandbreite möglicher Verhal- Fremdheit. Diese Fremdheit kann verunsi- tensmuster kennen und ein Gespür dafür ent- chern, weil der Unterschied zur eigenen wickeln, wie sie sich innerhalb dieser Wahrnehmung der Wirklichkeit und zu eige- Bandbreite von Möglichkeiten verhalten kön- nen Verhaltensmustern zu groß ist. Die nen. Ein solches Gespür entwickelt man im ZU Vermittlung interkultureller Kompetenz hilft, diese Verunsicherung zu überwinden und der Polizei Handlungssicherheit zu geben. Verlauf eines längeren Zeitraumes. Die Polizei hat mit ihren Mitarbeitern bereits besonders positive Voraussetzungen, inter- LIGION 13
Inhalt_TIK2_AKIII 21.10.2005 13:58 Uhr Seite 14 INFORMATIONEN ZU . kulturell kompetent zu handeln: Unter ihren 4.2 Was man über den Islam wissen besonderen Arbeitsbedingungen haben die sollte – in Stichworten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Polizei Eigenschaften entwickelt, die als Grundvor- 4.2.1 Einheit und Vielfalt aussetzung für den Erwerb interkultureller Kompetenz gelten – Belastbarkeit, Ertragen Mit über einer Milliarde Anhängern ist der von Situationen der Unsicherheit, Frustrati- Islam eine der größten und ältesten Weltreligio- onstoleranz und die ausgeprägte Fähigkeit nen neben dem Christentum, Judentum, dem zu lageangepasstem Handeln. Solche Eigen- Hinduismus und dem Buddhismus. Wie alle schaften werden in der Polizeiarbeit täglich Weltreligionen ist auch der Islam im Laufe seiner eingeübt; kaum ein anderer Beruf erfordert über 1400-jährigen Geschichte immer vielfälti- einerseits so formal korrektes, andererseits in ger geworden; die Vorstellung von einer rein heiklen, sensiblen Situationen spontanes, dabei arabisch geprägten Religion ist falsch. angemessenes und lösungsorientiertes Handeln. Die muslimische Weltbevölkerung erstreckt sich Zum polizeilichen Alltag gehören auch heute über 56 Staaten, zu denen die Türkei, soziale Kompetenzen wie die Fähigkeit zum Malaysia, Indien, Pakistan ebenso zählen wie der Rollen- und Perspektivenwechsel – also sich in Iran, nordafrikanische Staaten und schließlich die die Lage des Anderen hineinversetzen und klassischen islamischen Staaten auf der arabischen mögliche Handlungen vorausschauend er- Halbinsel. Etwa 80 Prozent der Muslime sprechen schließen zu können – sowie die Fähigkeit Arabisch nicht mehr als Muttersprache. So hat zum Aufbau von Beziehungen. Bei der „der Islam“ vielfältige, national und ethnisch ge- Entwicklung interkultureller Kompetenz hat prägte Gesichter. Dies zeigt sich auch an starken die Polizei die Aufgabe, mit diesen bereits vor- sprachlichen Unterschieden: Das Arabische ist handenen Eigenschaften zu lernen, auch in der zwar Sprache des Korans und dient als einheitliche Interaktion mit Einwanderer- oder Migran- Schriftsprache, es zerfällt im Gesprochenen aber tengruppen stets situationsadäquat zu handeln. in vielfältige Dialekte, die sich insbesondere zwi- schen den Ländern des Maghreb (Marokko, Wie das Modellprojekt gezeigt hat, ist der Tunesien, Algerien) und jenen des Nahen Aufbau einer Kooperation mit Moscheever- Ostens voneinander unterscheiden. einen eine ausgezeichnete Möglichkeit, sich diese Kompetenz zu erschließen, gleichzeitig Große Unterschiede gibt es auch zwischen die islamischen Gemeinden in die Verant- sunnitischen und schiitischen Muslimen: Im Irak wortung für die Kriminalprävention einzu- und Iran leben bekanntlich mehrheitlich binden und damit eine zusätzliche Möglich- Schiiten, während die meisten anderen islami- keit der Kriminalitätsbekämpfung zu nutzen. schen Staaten sunnitisch geprägt sind. Hinzu kommen weitere, von den klassischen Islamvorstellungen abweichende Strömungen wie die islamischen Mystiker mit ihren zahlrei- chen Orden und lokalen Vereinigungen und 14
Inhalt_TIK2_AKIII 21.10.2005 13:58 Uhr Seite 15 ... .. KULTUR UND RELIGION die Aleviten4, die immerhin 15 bis 20 Prozent Der Islam sieht sich als Schluss- und Höhe- der türkischen Bevölkerung ausmachen. punkt der Religions- und Prophetengeschich- te: Mohammed (auch Muhammad, 570 – 632 Viele Muslime sehen Religion ähnlich wie n. Chr.) gilt als der letzte Prophet, der nach in Europa primär als Privatsache und lehnen Moses und Jesus Offenbarungen und Weisun- Vorstellungen einer islamisch geprägten gen von Gott erhalten hat. Im Zentrum aller Politik vehement ab. Dies trifft insbesondere Offenbarungen und prophetischen Botschaf- für die modernen Städte der Türkei oder ten steht der Glaube an einen einzigen Gott Tunesiens zu. Weite Teile der islamischen (Monotheismus) – ein Glaube, den der Islam Welt haben die Trennung von Religion und also mit dem Christentum und dem Judentum Politik jedoch noch nicht vollzogen. Islamisti- teilt. Mit diesen Religionen beruft sich der sche Strömungen, für die „der Islam“ – oder Islam auf die biblische Urgestalt Abraham, den eine strikte Ausrichtung der Gesellschaft an Vater aller Gläubigen und Gottergebenen, islamischen Vorgaben – die Lösung sozialer daher werden diese drei großen monotheisti- und wirtschaftlicher Probleme bedeutet, sind schen Religionen auch „abrahamitisch“ genannt. nicht zu unterschätzen. Allen diesen hier nur kurz erwähnten Strömungen begegnet man Der Islam stützt sich auf den Koran, das auch in der muslimisch geprägten Bevöl- heilige Offenbarungsbuch der Muslime. Das kerung in Deutschland. in 114 Kapitel (Suren) unterteilte Buch enthält Offenbarungen, die Mohammed zwischen Fazit: In der polizeilichen Arbeit mit 610 und 632 in Mekka und Medina im heu- Muslimen in Deutschland muss man sich tigen Saudi-Arabien in „klarer arabischer auf eine große Vielfalt einstellen. „Den Sprache“ erhalten hat. Der Koran gilt als die Muslim“ gibt es ebenso wenig wie „den Bestätigung und Weiterführung von Thora Christen“; auch Muslime entwickeln und Bibel und enthält nach orthodoxer Auf- regelmäßig ihren eigenen, ganz persön- fassung die endgültige Festlegung der gesetz- lichen Stil im Umgang mit ihrer Religion. lichen Bestimmungen, die der islamischen Lebensführung zugrunde liegen. Die Bedeu- tung dieses Buches kann nicht überschätzt werden: Der Islam ist die Buchreligion an sich. Im 4.2.2 Grundzüge im islamischen Umgang mit dem Koran ist daher äußerste Selbstverständnis Sensibilität geboten. Trotz der angesprochenen Vielfalt gibt es Als „Wort Gottes“ sollte er von Nicht- Grundzüge im Selbstverständnis des Islam, muslimen nur auf Nachfrage berührt werden. die auch für die polizeiliche Arbeit mit Zudem darf man aus Gründen des Respekts Muslimen oder Moscheevereinen wichtig nichts essen und nichts anderes lesen, während sind. Wer diese „Selbstverständlichkeiten“ im Koran gelesen wird. Als Buch ist der Koran im Kopf hat, wird schneller und leichter von meist an seinem grünen Ledereinband – Grün den Kontaktpartnern akzeptiert und kann ist die Farbe des Islam – und seiner aufwändi- möglichen Konflikten begegnen. gen kalligraphischen Verzierung zu erkennen. 4 Bei den Aleviten handelt es sich ursprünglich um eine schiitische Untergruppe, die vor allem in Zentralanatolien angesiedelt ist. Im Laufe der Geschichte haben sich die Aleviten durch eine starke Besinnung auf mystische und vorislamische Elemente zu einer eigenständigen Glaubens- gruppe entwickelt. Beispielsweise sind weder die Wallfahrt noch das Fasten fester Bestandteil der religiösen Praxis und der Koran darf einer nichtwortwörtlichen Auslegung unterzogen werden. Aufgrund solcher Unterschiede werden die Aleviten sowohl von den Sunniten als auch von den Schiiten kritisch betrachtet. Obwohl die Aleviten in der Türkei eine Minderheit bilden, stellen sie aufgrund der relativ starken Auswanderung aus Zentralanatolien mit ca. 410.000 Personen nach den Sunniten (ca. 2,5 Mio.) die zweitstärkste muslimische Bevölkerungsgruppe in Deutschland. [vgl. hierzu: Aleviten, in: Kleines Islam-Lexikon, bpb 2002 und Müller, Christiane: Zum Umgang mit 15 Personen aus dem islamisch geprägten Kulturkreis in der Polizeiarbeit, Freistaat Sachsen 2004, S. 13 ff.]
Inhalt_TIK2_AKIII 21.10.2005 13:58 Uhr Seite 16 INFORMATIONEN ZU . 4.2.3 Die fünf Säulen des Islam Im Zentrum des islamischen Glaubens stehen 2. Das Gebet (Salat) in Form einer rituel- die fünf Säulen des Islam, die trotz der len Niederwerfung: Das Pflichtgebet wird Unterschiede für alle Muslime verbindlich fünf Mal täglich verrichtet, in der Morgen- sind. Bekleidungsvorschriften (wie das dämmerung, am Mittag, am Nachmittag, Kopftuch) gehören ausdrücklich nicht zu den nach Sonnenuntergang sowie am Abend. Die fünf Säulen. Gläubigen müssen sich hierzu in einem Zustand ritueller Reinheit (rituelle Waschung) 1. Das Glaubensbekenntnis (Schahada): befinden. „Ich bezeuge, es gibt keinen Gott neben Allah und Mohammed ist sein Prophet.“ Es wird in der Regel auf einem Gebetstep- Damit unterstreicht die Schahada den pich und nach Mekka ausgerichtet durchgeführt. Monotheismus als Glaubensgrundsatz des Islam. Wird sie in der Absicht, Muslim zu wer- Freitags wird das Gebet in der Regel den, vor Zeugen gesprochen, begründet dies gemeinsam in der Moschee verrichtet. den Übertritt zum Islam. Generell ist darauf zu achten: Im Gebets- bereich ist rituelle Reinheit vorgeschrieben, Neben dieser Art der Konversion kennt damit das Gebet gültig ist. Deshalb müssen der Islam auch die Annahme der Religion vor dem Betreten des Gebetsbereichs (auch durch die Geburt, wobei der Islam vom Vater von Nichtmuslimen) die Schuhe ausgezogen auf die Kinder übergeht. werden. Ebenso dürfen keine Tiere, insbeson- dere unreine Tiere wie Hunde, die Moschee betreten. Diese Regeln sollten auch beim Betreten privater Wohnbereiche beachtet werden. 16
Inhalt_TIK2_AKIII 21.10.2005 13:58 Uhr Seite 17 ... .. KULTUR UND RELIGION 3. Das Almosen (Zakat oder Zakah, ara- 5. Die Pilgerfahrt (Haj oder Hadsch): bisch für Reinigung): Es ist einmal jährlich von Jeder Muslim – ob Mann oder Frau – sollte allen erwachsenen Muslimen als obligatori- einmal im Leben die „große Pilgerfahrt“ nach sche Wohlfahrtsspende zu zahlen und auf 2,5 Mekka unternehmen. Die jährliche Prozent des Kapitalvermögens festgesetzt, Pilgerfahrt findet während des 12. Monats das ein definiertes Minimum übersteigt. statt. Einer der Höhepunkte ist das Opferfest, Neben der verpflichtenden Form des an dem in Erinnerung an das Opfer Abrahams Almosens gibt es auch die Form freiwilliger Schlachtopfer dargebracht und unter Geschenke. Bedürftigen verteilt werden. Das Opferfest wird auch in Deutschland gefeiert und von 4. Das Fasten (Siam oder Saum) wäh- den Moscheevereinen organisiert. rend des Ramadan: Der Beginn des Fasten- monats Ramadan wird durch die Beobach- tung des Mondes festgesetzt; er wechselt also jährlich. Das Fastengebot gilt während dieser Zeit für alle erwachsenen und gesunden Muslime solange es hell ist und bezieht sich auf das Essen, Trinken, Rauchen und den Geschlechtsverkehr. Abends erfolgt alltäglich das Fastenbrechen (iftar), am Ende des Ramadan findet das Fest des Fastenbrechens (id al-fitr) statt. Die Moscheen sind während des Ramadan in der Regel stärker besucht als üblich. Im Kontakt mit Moscheevereinen empfiehlt es sich, frühzeitig die Termine dieser zentralen religiösen Feste zu erfragen. 17
Inhalt_TIK2_AKIII 21.10.2005 13:58 Uhr Seite 18 INFORMATIONEN ZU . mungen des Korans. Der Koran wird als Verfügung Gottes mit absoluter Autorität angesehen. Neben dem Koran bildet die Sunna (= Tradition) die Hauptquelle für die Glaubens- und Pflichtenlehre des Islam: Mit Sunna sind die von Mohammed überlieferten Aussprüche, Entscheidungen und Verhaltensweisen gemeint, die im Islam als Richtschnur des Handelns für Einzelpersonen, Gesellschaften und Staaten gelten. Koran und Sunna schließ- lich bilden die Quellen der Scharia, die sich als Pflichtenlehre und religiöses Gesetz des Islam bezeichnen lässt. Hierzu gehören die kulti- schen Pflichten und die ethischen Normen, aber auch Rechtsgrundsätze für alle Lebens- bereiche, unter anderem für Ehe, Erbschaft, 4.2.4 Islam und Vermögen oder für Strafen. modernes Leben Das Problem: Die Scharia ist inzwischen Ansprüche auf Absolutheit und Endgültig- über tausend Jahre alt und spiegelt die keit prägen die orthodoxen Auslegungen des Rechtsverhältnisse, Sitten und Normen der Korans. Diese verbinden sich mit dem politi- damaligen Zeit wider. Von orthodoxen schen Anspruch des Islam, auch die staatlichen Muslimen wird die Scharia weiterhin als Angelegenheiten umfassend zu ordnen; denn Gottesrecht angesehen, das nicht verändert Mohammed sah sich als Prophet und Staats- werden darf. Eine praktische Umsetzung dieser mann. Der Islam (wörtlich = Hingabe an Gott) Vorstellungen ist mit dem deutschen Grund- fordert vom gläubigen Muslim einen vorbe- gesetz und mit allgemeinen Grundsätzen einer haltlosen Gehorsam gegenüber den Bestim- rechtsstaatlichen Demokratie europäischen 18
Inhalt_TIK2_AKIII 21.10.2005 13:58 Uhr Seite 19 ... .. KULTUR UND RELIGION Zuschnitts allerdings nicht vereinbar. Gelehrte des Islam, als Selbstbeschränkung der Entwick- wie der Großmufti von Marseille, Soheib lung der muslimischen Gesellschaften. Was in Bencheikh, verlangen daher einen neuen dem einen Jahrhundert Recht ist, wird zu Umgang mit dem Koran und der Scharia: „Im Unrecht in einem anderen.“ (Interview mit Le Islam ist der Gläubige frei in seiner Monde, 20. November 2001). Interpretation. (...) Der Islam besitzt nur einen Koran, er kennt dagegen eine Vielzahl von Wir beobachten eine heftige internationa- Interpretationen, die sich je nach Ort, le Diskussion um die Auslegung des Korans, Lebensumständen, Klasse und zivilisatorischem die noch nicht entschieden ist. Der Islam hat – Entwicklungsstand voneinander unterschei- anders als das Christentum – keine Kirche den.“ Und weiter: „Das aus patriarchalischen (geschweige denn einen mit göttlicher Auto- Gesellschaften stammende muslimische Recht rität ausgestatteten Papst). Auch in Deutsch- zu einer Art allzeit geltendem Universalrecht land gibt es erste Ansätze für eine Moderni- zu erheben, bezeichne ich als ,Beduinisierung’ sierung und Reform des Islam. 19
Inhalt_TIK2_AKIII 21.10.2005 13:58 Uhr Seite 20 INFORMATIONEN ZU . Anwerbevereinbarungen schloss, entstan- den ab den 1960er-Jahren auch bei uns isla- mische Diasporagemeinden. Als sich in den 1970er-Jahren für viele tür- kische „Gastarbeiter“ eine Rückkehr in die Türkei wegen der dortigen wirtschaftlichen Situation als schwierig erwies und der Anwerbestopp eine spätere Rückkehr nach Deutschland ausschloss, begann die Phase der Familienzusammenführung. Dadurch nahm die türkische Wohnbevölkerung in Deutschland zu, sie setzte sich nun nicht mehr primär aus männlichen Arbeitskräften, sondern vermehrt auch aus Frauen und Kindern zusammen. Daher sind heute zwei 4.2.5 Der Islam in Deutschland – so Drittel der schätzungsweise drei Millionen vielfältig wie der Weltislam Muslime in Deutschland türkischer Herkunft. Die wirtschaftliche Schwäche in vielen 80 Prozent der Muslime in Deutschland arabischen Staaten und auch in der Türkei sind Sunniten. Daneben finden sich die führte vor allem nach dem Zweiten Welt- Gruppen der Aleviten (vor allem aus der krieg zu einer zunehmenden islamischen Türkei) und der Ahmadiyya5, die allerdings Einwanderung nach Europa, wo teilweise von vielen Muslimen nicht als muslimisch großer Arbeitskräftemangel herrschte. akzeptiert werden. Als Minderheit unter den Hinzu kamen – wie in Frankreich – enge Muslimen leben in Deutschland auch Schiiten koloniale Verbindungen mit den islami- (vor allem aus dem Iran) und Angehörige des schen Staaten Nordafrikas. Da Deutschland mystischen Islam. Die Zahl der deutschen nicht nur mit südeuropäischen Staaten, son- Muslime – sei es durch die Annahme der dern auch mit der Türkei, Marokko, deutschen Staatsbürgerschaft durch Muslime Tunesien und dem damaligen Jugoslawien ausländischer Herkunft, sei es durch die Kon- 5 Die Ahmadiyya wurde Ende des 19. Jahrhunderts in Pakistan von Mirza G. Ahmad ins Leben gerufen, der sich selbst als christliche und islamische Reinkarnation des Messias begriff. Die Ahmadis werden von der Mehrheit der Muslime nicht als solche anerkannt und erhal- ten als verfolgte Minderheit in Deutschland Asylanspruch. [Vgl. hierzu auch Müller, Christiane: Zum Umgang mit Personen aus dem islamisch geprägten Kulturkreis in der Polizeiarbeit, Freistaat Sachsen 2004, S. 14] 20
Inhalt_TIK2_AKIII 21.10.2005 13:59 Uhr Seite 21 ... .. KULTUR UND RELIGION version deutscher Staatsbürger zum Islam – Rund drei Millionen Menschen muslimi- bildet eine im Wachsen begriffene Minder- schen Glaubens leben gegenwärtig in heit. Deutschland. Da – wie oben erwähnt – der Islam etwas Vergleichbares wie Konfessionen Die ersten islamischen „Gastarbeiter“ rich- oder Kirchen nicht kennt, ist nur ein Teil der teten in Wohnheimen und an ihren hier lebenden Muslime organisiert. Es gibt Arbeitsstätten Gebetsräume ein, um ihre reli- eine Vielzahl von Verbänden und giösen Pflichten erfüllen zu können. Gruppierungen, die sich um das religiöse Moscheen entstanden erst im Zuge der Leben in den Moscheen, aber auch um kultu- Familienzusammenführung und waren damit relle und soziale Fragen kümmern. Die auch Ausdruck für die Entscheidung, den Vielfalt in diesen Vereinen dürfte hinsichtlich Lebensmittelpunkt nach Deutschland zu ver- kultureller, nationaler, ethnischer und religiö- legen. Derzeit gibt es in Deutschland etwa ser Besonderheiten ebenso breit gefächert zweitausend islamische Gebetsstätten, deren sein, wie wir es aus den über 50 islamisch Gestaltung von Räumen in Hinterhöfen bis geprägten Staaten weltweit kennen. hin zu repräsentativen Moscheebauten reicht. Allerdings sind nach Expertenschätzungen nur etwa 10 bis 20 Prozent der hiesigen Muslime diesen Vereinen angeschlossen. Eine Moschee, auch wenn sie häufig in Über die nicht organisierte „schweigende Fabriketagen oder Hinterhäusern ange- Mehrheit“ der Muslime wissen wir nach wie siedelt ist, ist immer eine wichtige soziale vor sehr wenig. Anlaufstelle und mehr als ein Gebets- haus. Hier gibt es Aufenthaltsräume für Jugend- und Frauengruppen, es werden Korankurse angeboten. Oft finden wir auch Restaurants und Läden, die islami- sche Lebensmittel und Publikationen anbieten. Es ist wichtig, auch diese sozia- len Funktionen der Moscheen für die Präventionsarbeit nutzbar zu machen. 21
Inhalt_TIK2_AKIII 21.10.2005 13:59 Uhr Seite 22 INFORMATIONEN ZU . 4.2.6 Muslimische Vereine und Dachverbände DITIB (Türkisch-Islamische Union der Islamrat und Milli Görüs Anstalt für Religion) Der Islamrat als zweitgrößter Dachver- Die DITIB mit Sitz in Köln ist der größte band besteht im Wesentlichen aus der türki- Dachverband mit 776 Mitgliedsvereinen: Er schen Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs ist ein Ableger der staatlichen Religions- (IGMG) und zahlreichen zugeordneten behörde in Ankara (Diyanet = Präsidium für Vereinen, die oft weder im Namen noch in Religionsangelegenheiten), die in der Türkei der Satzung als Teil der IGMG erkennbar sind. für die staatliche Überwachung aller religiö- Mit etwa 26.500 Mitgliedern ist sie gleichzei- sen Angelegenheiten zuständig ist. tig die mitgliederstärkste islamistische Organisation in Deutschland. Die IGMG ist DITIB ist für die religiöse Betreuung der politisch und ideologisch mit der von türkischen Muslime in Deutschland zuständig Necmettin Erbakan beeinflussten türkisch- und vertritt die Interessen des türkischen islamistischen Partei verbunden und wird Staates. Die dort tätigen Imame werden aus vom Verfassungsschutz zu den ausländerex- Ankara entsandt und zurzeit nach drei Jahren tremistischen Organisationen gezählt (Ver- wieder ausgetauscht. Entsprechend schwach fassungsschutzbericht der BRD 2004; S. 186). sind in der Regel (noch) die Deutschkennt- Sie verhalten sich prinzipiell legal, wollen nisse; seit kurzer Zeit gibt es für sie jedoch jedoch politisch bei ihren Mitgliedern in ein Programm zum Deutschlernen. Deutschland ein „schariakonformes“ Leben – etwa in Bezug auf das Kopftuchtragen im Es empfiehlt sich daher, mit den öffentlichen Dienst, das Schächten, auf Vorständen der Mitgliedsvereine (Moschee- Sonderregelungen für muslimische Kinder in vereine) Kontakt aufzunehmen, die schon den Schulen und so weiter – durchsetzen. länger in Deutschland sesshaft geworden Dennoch ist auch hier von einer großen sind. Von den DITIB-Moscheen ist in der Regel Vielfalt der Erscheinungsformen und Verhal- eine große Kooperationsbereitschaft zu tensweisen auszugehen, die es möglich erwarten. machen, auch polizeiliche Kontakte nach kla- ren Vorgaben – ergänzt durch Informationen des zuständigen Amts für Verfassungsschutz – aufzunehmen. 22
Inhalt_TIK2_AKIII 21.10.2005 13:59 Uhr Seite 23 ... .. KULTUR UND RELIGION Zentralrat der Muslime (ZMD) Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ) Der Zentralrat der Muslime (ZMD) ist ein stark arabisch geprägter Verband, der nur Der VIKZ ist ein Verband der so genannten einen türkischen Verein (ATIB) in seinen Süleymancis, die der Lehre des türkischen Reihen hat. Hinzu kommen unterschiedliche Süleyman Efendi folgen, einer eher mystisch- so genannte „Islamische Zentren“ in München sufistischen Richtung des Islam. Der VIKZ ver- und Aachen, die den „Muslimbrüdern“ nahe tritt etwa 304 Moscheegemeinden mit 21.000 stehen; ferner so unterschiedliche Organi- Mitgliedern. Die Moscheen sind in der Regel sationen wie die Deutsche Muslimliga Bonn, klar dem VIKZ zugeordnet und an öffentli- die Muslimische Studentenvereinigung, das chen sowie sozialen Kontakten mit der deut- Schiitische Islamische Zentrum Hamburg schen Verwaltung interessiert. sowie die „Islamische Gemeinschaft Deutsch- land“, die ebenfalls vom Verfassungsschutz Einige der genannten Gruppen bekennen beobachtet wird. Auch hier gilt ebenso wie sich inzwischen zu einer stärkeren Integrati- für den Islamrat die große Vielfalt der loka- on der Muslime in die deutsche Gesellschaft; len, an den Zentralrat angeschlossenen einige bemühen sich auf unterschiedliche Moscheevereine, die oft mit der Verbands- Weise um eine staatliche Anerkennung als politik nichts zu tun haben. Anders als der Kooperations- sowie Ansprechpartner und Name vermuten lässt, ist der Zentralrat suchen eine Beteiligung am bekenntnisorien- jedoch nicht die größte Organisation unter tierten Religionsunterricht in den Schulen. den Dachverbänden, sondern repräsentiert Wegen der Zersplitterung der Verbände, der nur ca. 20.000 Mitglieder. Sitz des Zentralrats noch nicht abgeschlossenen Debatte über ihr ist Eschwege bei Aachen. Verhältnis zum Grundgesetz, der oft nicht durchsichtigen Verbindungen ins Ausland und der prinzipiell anderen organisatori- schen Aufstellung islamischer Religions- gemeinschaften wird dieses Bemühen jedoch immer wieder kritisch kommentiert. 23
Inhalt_TIK2_AKIII 21.10.2005 13:59 Uhr Seite 24 INFORMATIONEN ZU . 4.3 Hinweise für die Begegnung mit Muslimen Die beschriebene „Vielfalt in der Einheit“ werden, sondern signalisiert Achtung und macht es schwer, Verhaltensregeln in der Respekt. Vertrauen bildet sich auf der Basis Begegnung mit Muslimen aufzustellen. regelmäßiger, persönlicher Kontakte und Schon die Bezeichnung aller aus dem türki- nicht allein durch die Anerkennung des schen oder arabischen Raum stammenden Amtes, das jemand bekleidet. Kooperations- und in Deutschland lebenden Menschen als gespräche durch die Polizei sollten möglichst „Muslime“ bringt Probleme, da nicht jeder über einen längeren Zeitraum durch ein und türkischstämmige Mensch als gläubiger und dieselbe/denselben Beamtin/Beamten ge- praktizierender Muslim anzusehen ist und führt werden. auch nicht als solcher bezeichnet werden möchte. Für sie trifft eher die Bezeichnung 4.3.2 Religiöse Feste sollte man kennen! „Kulturmuslime“ oder „nominelle Muslime“ zu. Feiertage sind eine gute Ausgangsbasis. Dagegen ist im Umfeld der Moscheever- Bedenken Sie, wie stark sich etwa der Fasten- eine natürlich von einer hohen Bedeutung monat Ramadan oder das Zuckerfest auf das der Religion sowie einzelner Vorschriften, Leben des Einzelnen und der Gemeinde auswirkt Regeln und Feiertage auszugehen. Auf Grund und wie wichtig die zentralen religiösen Feste in der Projekterfahrungen konnten einige Leit- den Moscheegemeinden (vergleichbar mit christ- linien „herausgefiltert“ werden – sie bieten lichen Gemeinden) sind. Eine Aufmerksamkeit vor erste Orientierungen, sind aber keine fertigen oder während dieser Festtage, vielleicht auch nur „Gebrauchsanweisungen“. ein Anruf mit guten Wünschen, ist zu empfehlen. 4.3.1 Vielfalt, Vielfalt, Vielfalt – auch in der Kommunikation Islamische Feiertage (Richten sich nach dem islamischen Mondkalender Herkunftsland, soziale Schicht, familiäre und verschieben sich jährlich um etwa 11 Tage) Erfahrungen, Bildungsstand etc. sind mindes- tens ebenso wichtig wie die Religion. Ent- • Das Opferfest sprechend muss sich auch der Kommunikati- • Das Fastenbrechen- bzw. Zuckerfest onsstil flexibel gestalten: Insbesondere zu (Ende der Fastenzeit) Diese beiden Feste sind unumstritten für alle Beginn eines Kontaktes mit Moscheevereinen islamischen Völker verbindlich und gelten als die empfiehlt es sich, auch Gespräche über eigentlichen Feste im Islam. Unwesentliches (etwa Fußball!) zu führen Weitere wichtige Tage im und sich an den indirekten und sehr perso- islamischen Kalender: nenbezogenen Kommunikationsstil anzupas- • Das islamische Neujahr sen. Direkte Fragen sollten eher vermieden • Ashura werden; ein nur knappes „Ja“ oder „Nein“ (Fasten- und Rettungstag des Propheten Mose) gilt als unhöflich. Mangelnder Blickkontakt • Mevlid (Geburtstag des Propheten sollte nicht als Ausdruck der Verlegenheit Mohammed) oder eines schlechten Gewissens interpretiert • 1. Ramadan (Anfang des Fastenmonats) 24
Inhalt_TIK2_AKIII 21.10.2005 13:59 Uhr Seite 25 ... .. KULTUR UND RELIGION 4.3.3 Frauenwelt – Männerwelt In den meisten Moscheegemeinden haben einen Vater schlimmer sein, wenn seine überwiegend ältere Männer das Sagen. Nach Tochter öffentlich mit einem jungen Mann wie vor bleibt die Welt der Frauen und flirtet, als wenn sein Sohn einen Diebstahl Männer getrennt – weibliche Moscheevor- begeht. Aus arrangierten Ehen und Zwangs- stände sind nicht bekannt. Stellen Sie sich heiraten ergeben sich oft massive Familien- darauf ein, dass der Händedruck in der Regel probleme, falls sich die Töchter dem Zugriff nur von Mann zu Mann gepflegt wird; beim ihrer Familien entziehen wollen. Erstkontakt werden es Polizistinnen schwerer haben, mit traditionell orientierten Imamen Männliche Jugendliche werden in ihren oder Moscheevorständen zu verhandeln als Familien oft privilegiert behandelt, sind ihre männlichen Kollegen. Umgekehrt finden jedoch häufig nicht in der Lage, schulische Beamtinnen mit Sicherheit einen besseren oder berufliche Anforderungen zu erfüllen. Zugang zu den Müttern der Gemeinden, die Die daraus resultierende Unzufriedenheit unbedingt in die Präventionsarbeit einbezo- kann mit zur Ursache von Kriminalität wer- gen werden sollten. den durch Suche nach Anerkennung und Konsumsymbolen auf „schnellem Weg“. Hier handelt es sich um ein zentrales und noch unbewältigtes Problem. Schnelle Lösungen 4.3.4 Traditionelle Familienorientierung: sind nicht in Sicht. Die präventive Polizei- Anknüpfungspunkt und Konflikt- arbeit sollte sich auch auf diese Konfliktlagen potenzial vorbereiten; Aufklärungsveranstaltungen, Gespräche mit den Imamen, Zusammenarbeit Familie und Ehe gelten als zentrale und mit Schulen und Eltern können zur Präven- wertvolle Bestandteile im Leben aller tion beitragen. Muslime, das Wohlergehen der Kinder (Schutz vor Kriminalität oder Verkehrsunfäl- len) bildet also für alle Kontakte einen sehr guten Anknüpfungs- punkt. Viele Familien im Umkreis der Moschee- Weiterführende Literatur vereine stammen aus einem ländlichen und Müller, Christiane: Zum Umgang mit Perso- bildungsfernen Lebens- nen aus dem islamisch geprägten Kulturkreis umfeld: Absoluter Ge- in der Polizeiarbeit, Freistaat Sachsen, 2004 horsam der Kinder, Unterordnung der Khoury, Adel Theodor et. al.: Handbuch Frauen und Töchter, Recht und Kultur des Islams in der Ehrbegriffe aus einer Deutschen Gesellschaft, Gütersloher ländlichen Umgebung spielen hier oft noch Verlagshaus, 2000 eine zentrale Rolle. Das alles wird problema- tisch, sobald diese Werte auf eine moderne Metzger, Albrecht: Islam und Politik, Infor- Kultur in Deutschland treffen. So kann es für mationen zur politischen Bildung, bpb 2002 25
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Inhalt_TIK2_AKIII 21.10.2005 13:59 Uhr Seite 27 PRAXISERFAHRUNGEN 5. PRAXISERFAHRUNGEN 5.1 Grundsätzliches zu Kooperationen Beim Aufbau einer Koopera- Eine Kooperation sollte als ein langfristiger tion muss jede Dienststelle an Prozess gesehen werden. Dabei sollen die ihre individuellen Vorausset- Beteiligten ihr Wissen und ihre Handlungs- zungen anknüpfen, also an ihre kompetenz durch den Aufbau und die Kenntnisse über den islami- Konsolidierung der Kooperation schrittweise schen Kulturkreis und an etwa erweitern. Das heißt: Es ist nicht unbedingt bestehende Kontakte zu musli- mit schnellen Erfolgen zu rechnen, auch mischen Gemeinden ihres Sozial- Rückschläge und Enttäuschungen sind einzu- raums. Daran müssen sich auch die Ziel- planen! setzungen für ein Kooperationsprojekt orientieren. Eine Kooperation darf nicht Dabei soll die Kooperation von vornherein als bloße „Goodwillveranstaltung“ ohne auf Nachhaltigkeit ausgelegt sein, damit sie fest umrissene Aufgaben und Ziele miss- auf Dauer fortbestehen kann und nicht nach verstanden werden. Sie muss sich auf ein paar Einzelaktionen wieder versandet. aktuelle Konflikte beziehungsweise kon- Am besten ist es, ein Kooperationsprojekt krete Probleme aus der täglichen Polizei- langfristig in ein Netzwerk mit Schulen sowie arbeit beziehen. Beispiele für so konkrete kommunalen und freien Trägern der Kooperationsanlässe sind Gespräche mit Jugendarbeit einzubetten. Eltern auffälliger Jugendlicher, eine Ver- mittlung bei Streitigkeiten innerhalb von Hausgemeinschaften oder auch die Ver- mittlung von Tipps, wie sich die Kinder im Straßenverkehr verhalten sollen. RFAHRUNGEN 27
Inhalt_TIK2_AKIII 21.10.2005 13:59 Uhr Seite 28 PRAXISERFAHRUNGE Der Aufbau einer Kooperation verläuft in 5.1.1 Voraussetzungen seitens der mehreren Phasen: Dienststelle Kontakt aufnehmen Kooperationsprojekte sind Chefsache Der erste Schritt ist oft der schwerste – Kooperationen mit muslimischen Gemein- aber es gibt viele Gelegenheiten, einen den oder Vereinen werden nur gelingen, Anfang zu machen. wenn sie von der Behördenleitung uneinge- schränkt mitgetragen und gefördert werden. Vertrauen bilden Kooperationsprojekte sind Chefsache! Leite- Informationsveranstaltungen bei der rinnen oder Leiter der damit betrauten Moschee über Themen wie Verkehrssicher- Dienststellen müssen ihre Mitarbeiterinnen heit oder Schutz vor Kriminalität sowie und Mitarbeiter umfassend über Sinn und Kontaktvermittlung zu anderen Behörden Zweck einer Kooperation informieren und sie oder Polizeidienststellen können geeignete durch ihr persönliches Engagement von der Maßnahmen der Vertrauensbildung sein. Notwendigkeit und vom Nutzen der ange- strebten Kooperation überzeugen. Hier müs- Gemeinsame Interessen feststellen sen alle Vorgesetzten eindeutig Stellung Ein zusammen von der Polizei und den beziehen und darüber hinaus die notwendi- islamischen Gemeinden (Eltern, Moscheever- gen Freiräume für die Mitarbeiterinnen und eine, andere Vereine) erarbeiteter Katalog Mitarbeiter gewähren. Dabei gehören gerade zur Kriminalitätsprävention (z. B. bei Jugend- Dienstkräfte der örtlichen „Basisdienststel- lichen) hilft, gemeinsame Probleme zu erken- len“, also Kommissariate oder Dienstgruppen, nen und gemeinsame Interessen festzustellen. in solche Projekte. Konkrete Probleme kooperativ lösen Kooperationen erfordern Projektarbeit Zu gemeinsam definierten Problemberei- Es bietet sich an, die Kooperation als chen wie beispielsweise dem Umgang mit „Projekt“ anzulegen. Folgende Punkte soll- jugendlichen Mehrfachtätern oder Täter- ten beachtet werden: Opfer-Ausgleich können kooperative Lösungs- ansätze entwickelt werden. 1) Festlegen des Projektzieles (z. B.: Was genau wollen wir mit der Kooperation Im Folgenden werden als grobe Orientie- erreichen? Wo wollen wir hin? Was soll in rung beispielhafte Wege zum Aufbau einer einem Jahr, was in zwei Jahren anders sein solchen Kooperation aufgezeigt. als heute?). PRA 28
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