Prekarität als Narrativ und Narration - Bildungsportal Sachsen
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Prof. Dr. Roswitha Böhm Prekarität als Narrativ und Narration 10. Sitzung am 28.6.2018 Minijobs und Leiharbeit: le récit de la précarité Yves Pagès und Mustapha Belhocine Profitorientierung u. Phrasendrescherei: le roman de l‘entreprise Anne Weber und Élisabeth Filhol
Gliederung I. Rückblick: Arbeitswelten in den Filmen Paolo Virzìs und Laurent Cantets II. Yves Pagès‘ Skizzen aus der prekären Arbeitswelt III. Précaire! Mustapha Belhocines Nouvelles édifiantes IV. Das Angestelltendasein in Anne Webers récits de bureau
Tutta la vita davanti (2008) • Film als „realistischer Albtraum“ (Willmann 2010) • extrinsische Motivation durch positive Botschaften und Gemeinschaftsrituale • Kontrolle der Arbeitsleistung mit anschließender öffentlicher Belohnung bzw. Bestrafung • Engagement, aber Machtlosigkeit der traditionellen Vertreter der Arbeitnehmerinteressen, der Gewerkschaften
L‘Emploi du temps (2001) Dystopische Elemente: • Vincent als „comédien de sa propre vie“ (Cantet) • Logik der Anpassung, (Selbst-)Vermarktung und des Verkaufs • Streben nach Autonomie, Unabhängigkeit und Freiheit • Misslingende Kommunikation u. gestörte soziale Beziehungen im familiären und beruflichen Bereich • Markierung der Nicht-Zugehörigkeit durch Beobachterposition des Protagonisten Utopisches Potenzial: • Kontrapunktische Einfügung von Gegenbeispielen • Doppelung von Motiven
II. Yves Pagès‘ Skizzen aus der prekären Arbeitswelt
Yves Pagès Les fictions du politique chez L.-F. Céline (1994) (wiss. Monographie) Petites natures mortes au travail (2000) 23 kurze Erzählungen: Oszillieren zwischen „témoignages vécus et jeux de rôle fictifs“, zwischen ‚realitätsnahen Zeugnissen und fiktiven Rollenspielen’ 23 Personen, „recrutés à contre-emploi ou exposés aux paradoxes de leur statut social“, Personen auf ausbildungs- und berufswegsfremden Arbeitsstellen, die den Widersprüchen ihres sozialen Status ausgesetzt sind Portraits crachés (2003) Skizzen der „sans dialogue fixe, omis de la première heure, caractères jamais imprimés […]“, der ‚Personen ohne festen Austausch, der von Anfang an Unbeachteten, der niemals gedruckten Charaktere/Buchstaben’ Le Théoriste (2001) (Roman)
Yves Pagès Kunstform des Fragmentarischen als spiegelbildliche Ergänzung der Romanarbeit: „C‘est aussi une manière […] d‘éviter les trous d‘air de l‘écriture, de me tenir compagnie dans les moments de doute solitaire… Quand j‘écris ces portraits, j‘ai le sentiment de tracer des lignes d‘équilibre. J‘ai découvert peu à peu que ce travail sur le ‚nous‘ hétérogène de personnages éphémères, fugaces, voués au presque rien d‘une ébauche sans suite, se situait à la périphérie du ‚je‘ romanesque du Théoriste qui lui s‘est sédimenté en cinq ou six années…“ (Paillardet 2003: o.P.) „Das ist auch eine Möglichkeit, die Luftlöcher des Schreibens zu vermeiden, mir in Momenten einsamen Zweifelns Gesellschaft zu leisten… Beim Schreiben dieser Porträts habe ich das Gefühl Gleichgewichtslinien zu ziehen. Ich habe nach und nach entdeckt, dass die Arbeit an dem heterogenen ‚Wir‘ all dieser ephemeren, flüchtigen, dem Fast-Nichts einer Skizze ohne Fortführung gewidmeten Figuren sich im Grenzbereich des Ich- Erzählers von Le Théoriste befindet, der fünf bis sechs Jahre lang gereift ist…“
Petites natures mortes au travail • vierseitige Aufzählung der Bezeichnungen von etwa einhundert prekären Arbeitsverhältnissen • erfunden anmutende Aushilfs-, Überbrückungs- und Minijobs, deren Mehrzahl sich jedoch der Realität vieler Arbeitssuchender annähert • Im Sinne Umberto Ecos: „chaotische Aufzählung“ im Übergang zwischen „der praktischen und der poetischen Liste“ (Eco 2009: 321 ff. u. 370 ff.) à Bei der chaotischen Aufzählung macht „man sich ein Vergnügen daraus […], das vollkommen Heterogene vorzuführen.“ Eco betont, „daß der Autor keineswegs Listen aufstellt, weil er nicht wüßte, wie er etwas sonst ausdrücken will, sondern daß er es durch ein Übermaß ausdrücken will, durch Hypertrophie und Gefräßigkeit des Wortes, durch fröhliche (und nur selten zwanghafte) Wissenschaft vom vielen und Unendlichen.“ (Eco 2009: 327)
Petites natures mortes au travail „Petits rats d’opérette en retraite précipitée, billettistes d’exposition temporaires, formateurs mercenaires de mercenaires formateurs, masseuses de cinq à sept, afficheurs sauvages de publicité, recenseurs de taux de fécondité, crieurs de mauvaises nouvelles sur papier journal, effaceurs d’encres murales, esclaves compressibles d’ateliers clandestins, chômeurs défigurés dans germinal, mitrons enfarinés dès minuit, bac+9 sans emploi avouable […].“ (Pagès 2008: 13) Kleine Ballettmäuse (Operettenmäuse) im vorgezogenen Ruhestand, Kartenverkäufer zeitlich befristeter Ausstellungen, söldnerische Ausbilder von Ausbildungs- söldnern, Masseurinnen von fünf bis sieben, illegale Plakatkleber, Geburtenratenstatistiker, Verkünder schlechter Nachrichten auf Zeitungspapier, Tintengraffitikiller, zu unterdrückende Sklaven schwarz arbeitender Werkstätten, in Germinal entstellte Arbeitslose, ab Mitternacht mehlbestäubte Bäckerlehrlinge, hyperqualifizierte Universitäts- absolventen ohne eingestehbaren Job […].
Petites natures mortes au travail Beispiele für weitere Protagonisten: • Éric, Dozent für moderne Mathematik im Fernstudium • José, „chômeur réinséré à quatre pattes“, ‚auf vier Beinen wiedereingegliederter Arbeitsloser‘ (= Comicfigur Pluto im Euro- Disney-Park) • Jeanne, die „ancienne-future-ex-néo-chômeuse“, die ‚ehemalige- zukünftige-Ex-Neu-Arbeitslose‘ (= Empfangssekretärin in Probezeit beim Arbeitsamt)
Petites natures mortes au travail Skizzen aus der neoliberalen Arbeitswelt abstrus-phantasievolle Abfolge von Gedankengängen zärtlich-sarkastische Sprache zwischen Spottlust und philosophischem Ernst changierende Wortspiele „une littérature de la fraternité“ – eine Literatur der Brüderlichkeit „à la première personne du pluriel“ – verfasst in der 1. Person Plural
Petites natures mortes au travail Reflexion der conditio humana der letzten Vertreter des Proletariats und der „clebs salariés“ (der ‚Angestelltenköter‘) des neuen Zeitalters sowie der Arbeitslosen und Bettler „Il y aurait donc, en surface, d‘immuables clochards qui ajoutent au pittoresque du décor urbain […].“ (Pagès 2008: 56) „Es gäbe somit, auf der Oberfläche, die unbeweglichen Obdachlosen, die zum Pittoresken des städtischen Ambientes beitragen […]“
Petites natures mortes au travail „[…] les pauvres plus récents qui, passant d‘une rame de métro à l‘autre, déclinent aux voyageurs leur identité, leur âge, leur situation familiale, judiciaire ou sanitaire et enfin le degré zéro de leur ressource.“ (Pagès 2008: 55) „[…] die Armen jüngeren Datums, die von einem Metrowagen zum nächsten voranschreitend, den Reisenden ihre Identität, ihr Alter, ihre familiären, juristischen und sanitären Umstände und schließlich den Nullpunkt ihrer Einnahmen durchdeklinieren.“
Petites natures mortes au travail „Tous ont dû résumer leur curriculum vitae en deux cents mots piégés et justifier leurs passages à vide entre deux dates d’activité. Tous ont blanchi des zones d’ombres au Typex, menti sur un point faible, bluffé sur une compétence, abusé d’un titre ronflant, fait l’impasse sur une faute grave.“ (Pagès 2008: 57 f.) „Allen waren schon einmal gezwungen, ihren Lebenslauf in zweihundert Worten zusammenzufassen und die Lücken zwischen zwei Daten zu rechtfertigen. Alle haben Schattenbereiche mit Typex aufgehellt, in Bezug auf eine Schwachstelle geschwindelt und auf eine verlangte Kompetenz geblufft, alle haben sich mit einem Eindruck schindenden Titel geschmückt und schwere Fehler unterschlagen.“
Petites natures mortes au travail Erzähltechnik: • Kombination zweier unterschiedlicher Motive, Ideen, Gedankengänge • Parallelisierung zweier einander fremder, da sozial entfernter Welten • „un art pauvre de l‘écriture“, schlichter Stil, doch flamboyantes Vokabular „Le jeu de l‘écrivain est de savoir quand ce personnage commence à exister. Généralement, il surgit d‘un nœud de contradictions, d‘une situation paradoxale, poussée à son paroxysme.“ (Paillardet 2003: o.P.) „Das Spiel des Schriftstellers besteht darin zu erkennen, wann diese Figur zu existieren beginnt. Normalerweise taucht sie aus einem Geflecht von Wider-sprüchen, aus einer paradoxalen, auf ihren Höhepunkt hin zugespitzten Situation auf.“
Petites natures mortes au travail • der Tierwelt entlehnte Metaphorik • Parallelen zwischen Fauna und Firma „Chaînes alimentaires“ Idyllischer Bauernhof „poulailler concentrationnaire“ (‚Hühner-KZ‘) „à tourner et à retourner son mauvais sommeil sur un vieil oreiller déplumé“ (‚sich schlaflos auf einem alten, gerupften Kopfkissen hin und her zu wälzen‘) „Elle se voyait en train de scanner un à un des hordes de poussins en peluche. Chacun portait un sobriquet différent sur l’étiquette pendue à son cou, une griffe connue et son matricule ISBN: Findus, Sony, Danone, Liebig, Cassegrain, et ainsi de suite […]“. (Pagès 2008: 38) „Sie sah sich dabei zu, wie sie eines nach dem anderen Horden von Plüschküken einscannte. Ein jedes trug einen anderen Spitznamen auf dem an seinem Hals hängenden Etikett, eine bekannte Marke und die ISBN-Nummer: Findus, Sony, Danone, Liebig, Cassegrain und so weiter […]“.
Petites natures mortes au travail „Désincarnation du garçon-boucher“ „la chair débitée en tranches uniformes“ (‚das in gleichförmige Scheiben geschnittene Fleisch‘) „en des organes aussi vulgaires résident [leurs] propres fonctions vitales“ (‚in solch gewöhnlichen Organen befinden sich ihre eigenen lebensnotwendigen Funktionen‘) „C‘était un cas de licenciement anatomique; désormais, il lui manquait certains organes pour remplir sa fonction. Pierre se sentait comme un poulet vidé de sa carcasse, bref ‚démotivé en profondeur‘ conclut l‘ancien patron sur le formulaire de l‘inspection de travail.“ (Pagès 2008: 86f.) „Es handelte sich um den Fall einer anatomisch begründeten Entlassung; von nun an fehlten ihm bestimmte Organe, um seine Funktion auszuüben. Pierre fühlte sich wie ein bis auf die Knochen ausgenommenes Huhn, kurz gesagt ‚bis ins Innere demotiviert‘, wie sein ehemaliger Chef auf dem Formular der Arbeitsschutzbehörde vermerkte.“
Prekäres Schreiben bei Yves Pagès Intention „de montrer des lignes de fractures transversales et […] de ne pas demeurer dans une vision figée et factice des idéologies manichéennes qui ne rendent pas compte des mutations actuelles du monde du travail.“ (Paillardet 2003) „Linien transversaler Frakturen aufzuzeigen und […] nicht in einer festgefahrenen und künstlichen Sicht dualistischer Ideologien stehen zu bleiben, die den aktuellen Veränderungen der Arbeitswelt nicht gerecht werden.“ à gegen dichotome Weltsicht à Gegen simplifizierende Festlegungen, wie die folgende: „[…] hors de l‘organisation du travail, hors de la sphère de l‘entreprise, point de vie, point de conscience…“ (Chollet/Lemahieu 2000) „[…] außerhalb der Arbeitsorganisation, außerhalb der Sphäre des Unternehmens, keinerlei Leben, keinerlei Bewusstsein...“
Prekäres Schreiben bei Yves Pagès • Mikroerzählungen auf der Grundlage eines aufgeschnappten Gesprächsfetzens, einer ‚wahren‘ Geschichte, einer Situation „qui concentre tous les éléments propres à susciter ce petit basculement, ce petit déraillement imaginaire“ (‚die in sich all die Elemente enthält, die dazu beitragen, dieses winzige Kippten, dieses winzige imaginäre Entgleisen hervorzurufen‘) • Darstellung der in ihren sozialen Rollen gefangenen Figuren, keine Stereotypen • Große Anzahl der Skizzen ermöglicht Herstellung gesellschaftlicher Querverbindungen
III. Précaire! Mustapha Belhocines Nouvelles édifiantes (2016)
Précaire! • vollständiger Titel: Précaire! Nouvelles édifiantes de Mustapha Belhocine qui raconte ici ses aventures picaresques de petit soldat réfractaire de l‘armée de réserve du capital, en apprenti sociologue consignant son quotidien pour survivre à la vieille exploitation moderne Prekär! Aufmunternde Novellen von Mustapha Belhocine der hier seine pikaresken Abenteuer als widerspenstiger Soldat der Reservearmee des Kapitals erzählt, als Soziologie-Lehrling, der seinen Alltag analysiert, um die moderne alte Ausbeutung zu überleben • ursprünglich: Masterarbeit an der l‘EHESS mit dem Titel Une expérience littéraire en milieu précaire (Eine literarische Erfahrung im Milieu der Prekarität) à „socio-analyse de la succesion chaotique d‘emplois à plein temps qui ont accompagné sa formation d‘apprenti sociologue“ (Discepolo 2016: VIII); „soziologische Analyse der chaotischen Abfolge von Vollzeit- Stellen, die seine Ausbildung als Lehrling der Soziologie begleitet haben“ • Teil-Vorabdruck in: Le Monde diplomatique (Januar 2015)
Précaire! „I. L‘Université du désespoir“ „Puis l‘onirique s‘est fait rattraper par la balayette. Comme un con, j‘ai choisi la mauvaise file, le mauvais groupe, ‚park support‘: les balayeurs et les laveurs du vomi… Comme un con, j‘ai suivi une jolie fille. Et il y a eu imcompréhension sur le terme. Moi qui me prenais pour un bilingue, je croyais que j‘allais me balader dans le parc au grand air, tourner, aiguiller les clients, les accueillir, je trouvais ça cool, ‚park support‘: ‚supporter le park‘. Eh bien non, j‘allais bien tourner dans le parc, mais avec une pelle et une balayette, de 14 heures à 23 heures.“ (Belhocine 2016: 5)
Précaire! „I. Die Universität der Verzweiflung“ „Dann wurde das Träumerische von einem Besen eingeholt. Wie ein Idiot habe ich die falsche Schlange ausgewählt, die falsche Gruppe, ‚park support‘: die Straßenkehrer und Kotze-Wäscher… Wie ein Idiot bin ich einem hübschen Mädchen gefolgt. Und habe den Begriff falsch verstanden. Ich, der ich mich doch für bilingual hielt, stellte mir vor, dass ich an der frischen Luft durch den Park spazieren, umherstreifen, die Kunden orientieren, sie empfangen würde, ich fand das cool, ‚park support‘: ‚den Park unterstützen‘. Und leider nein, ich würde durchaus durch den Park streifen, aber mit einer Schaufel und einem Besen, von 14 bis 23 Uhr.“
Précaire! „III. Quarante-huit heures“ „Je suis une file d‘ouvriers. On ouvre une cellule, une fois que nous sommes tous rentrés, on ferme la porte derrière nous. Le chef d‘équipe nous installe aux différents postes de travail. Je suis devant un tapis roulant long de trente mètres au moins, qui serpente comme un labyrinthe dans la cellule. Une boîte tombe du ciel, un carton arrive devant moi et je dois mettre la boîte dans le carton qu‘un ouvrier avant moi avait préparé et qu‘un autre après moi va emballer. Et tout ça en moins de trente secondes. On ne peut pas s‘arrêter, sinon les cartons et les boîtes s‘empilent sur le plan de travail et tout se renverse sur toi, les alarmes s‘enclenchent, les sirènes hurlent. J‘ai l‘impression de me retrouver à la place de Chaplin dans Les Temps modernes, en bien plus violent. Au bout de cinq minutes de ‚tapis roulant‘, je suis déjà épuisé, comment je vais tenir jusqu‘à 21 heures? Comment je vais tenir tout court? Comment peut-on tenir plusieurs mois? En plus, quand on a été placés à nos différents postes, on ne nous a rien dit sur les pauses, les repas, la localisation des toilettes, rien: tout simplement parce qu‘il n‘y a pas de pauses, pas de toilettes dans nos cellules.“ (Belhocine 2016: 40f.)
Précaire! III: „Achtundvierzig Stunden“ „Ich folge einer Reihe von Arbeitern. Eine Zelle wird geöffnet, sobald wir alle da drin sind, wird die Tür hinter uns verschlossen. Der Vorarbeiter bringt uns an verschiedenen Arbeitsplätzen unter. Ich stehe vor einem mindestens dreißig Meter langen Laufband, das sich labyrinthisch durch die ganze Zelle windet. Eine Kiste fällt vom Himmel, ein Karton kommt vor mir an, und ich muss die Kiste in den Karton legen, den ein Arbeiter vor mir vorbereitet hat und den ein anderer nach mir verschließen wird. Das Ganze in weniger als dreißig Sekunden. Man darf nie stoppen, sonst stapeln sich die Kisten und Kartons auf Deiner Arbeitsfläche und alles purzelt auf Dich, die Alarme werden ausgelöst, die Sirenen heulen. Ich komme mir vor wie Charlie Chaplin in Moderne Zeiten, nur in einer brutaleren Version. Nach fünf Minuten ‚Laufband‘ bin ich bereits erschöpft, wie soll ich das bis 21 Uhr durchhalten? Wie werde ich überhaupt durchhalten? Wie kann man das mehrere Monate durchhalten? Dazu kommt, dass man uns, als wir an unsere Arbeitsplätze gebracht wurden, nichts über Pausen, Mahlzeiten oder wo die Toiletten zu finden wären, gesagt hat, nichts: und zwar einfach aus dem Grund, dass es keine Pausen und keine Toiletten in unseren Zellen gibt.“
Prosaminiaturen • literarische Reflexion sozialer Fragen im postindustriellen Zeitalter • Darstellung von Prekarität in der spezifischen literarischen Form einer selbst prekär anmutenden, flexibel- unverbindlichen Abfolge aneinandergereihter Erzählskizzen • ≠ Hegelsche ‚Totalität einer Welt- und Lebensanschauung‘ im Roman
IV. Das Angestelltendasein in Anne Webers récits de bureau
„Écrire le travail“ Récits de bureau, romans de l‘entreprise • Chronotopos der Erzählungen: das Unternehmen • Beobachtungen über topologische und soziologische Besonderheiten des Bürolebens (Einrichtung, Arbeitsumfeld, kollegiale Rituale, Markierung und Durchsetzung von Machthierarchien, Inklusions- und Exklusionsmechanismen etc.) • Breite der Erzählweisen und -perspektiven vom distanziert-ethno- graphischen Blick bis zur affizierten Innensicht Bsp.: François Salvaing: La Boîte (1998); François Emmanuel: La Question humaine (2000); Frédéric Beigbeder: 99 francs (2000); Corinne Maier: Bonjour paresse. De l‘art et de la nécessité d‘en faire le moins possible en entreprise (2004); Anne Weber: Cendres & Métaux (2006), Chers Oiseaux (2006); Delphine de Vigan: Les Heures souterraines (2009); Élisabeth Filhol: La Centrale (2010); Nathalie Kuperman: Nous étions des êtres vivants (2010)
Anne Weber • geb. 1964 in Offenbach (Hessen) • Studium der Komparatistik in Paris an der Sorbonne • Wohnort: Paris und Bretagne • Übersetzerin dt. Autor/inn/en wie Jacob Burckhardt, Hans Mayer, Wilhelm Genazino, Birgit Vanderbeke und frz. Autor/inn/en wie Marguerite Duras und Pierre Michon • 2008: Europäischer Übersetzerpreis
Anne Weber Ida invente la poudre, Paris: Seuil 1998. Ida erfindet das Schießpulver, Ffm: Suhrkamp 1999. „pointensichere Prosaminiaturen mit philosophischem Tiefgang“ (Hueck 2004: o.P.) Ottmar Ette (2005), ZwischenWeltenSchreiben, S. 195: ein Sprach-Raum, der zum „Spiel-Raum [wird], von dem aus ein gleichsam ethnologischer Blick auf die Welt und ihre sich ständig neu konfigurierenden Zwischenwelten geworfen wird.“
Umweg über die französische Sprache „In der fremden Sprache denke ich mehr, da rieselt kein Gedanke unbeobachtet durch mich hindurch. […] Mein französisches Hirn […] baut mir keine bequemen Wege, auf denen es sich gedankenlos und vertrauensvoll umherspazieren lässt. […] Die fremden Wendungen winden sich von allein zu einem Fragezeichen, das mich zwingt, innezuhalten und nachzudenken und mit jedem Wort eine Weile allein zu sein.“ (Weber 2004: 17) à Reflexion über die jeweiligen Ausdrucks- möglichkeiten ihrer Mutter- und ihrer Adoptivsprache
Chers Oiseaux Ich-Erzählerin gefangen „dans une existence salariale aussi rassurante qu‘une condamnation à mort“ (Weber 2006a: Klappentext), ‚in einer Angestelltenexistenz, die ähnlich beruhigend wirkt wie ein Todesurteil‘ 31 instantanés, Momentaufnahmen Besonderheiten des Bürolebens • äußerliche Aspekte • psychologische, philosophische, soziologische Fragen
Chers Oiseaux Aufgabe der Aktenablage, le „classement des dossiers“ als Symbol der firmeninternen Hierarchisierung der ‚Angestelltenklassen‘: „Il y a ceux qui classent et ceux qui ne classent pas. Ils donnent à classer.“ (Weber 2006a: 23) „Es gibt diejenigen, die klassifizieren/Ablage machen und diejenigen, die nicht klassifizieren/keine Ablage machen. Sie lassen andere die Ablage machen/Sie geben Grund zu klassifizieren.“
Chers Oiseaux Ein gegen die conditions de travail aufbegehrender Abschiedsbrief voller Beobachtungen über die absurden Momente eines durchschnittlichen Tages- ablaufs Trennlinie zwischen den „oiseaux du ciel“ (den ‚Himmelsvögeln‘) und den „oiseaux du bureau“ (den ‚Bürovögeln‘) (Weber 2006a: 59) „Oiseaux de bureau“ = Kollegen „à la conscience anesthésiée“ (‚mit betäubtem Bewusstsein‘), Entscheidung für „le travail forcé“ (‚Zwangsarbeit‘) und „l‘enfermement salarial“ (‚Angestelltengefangen- schaft‘) (ebd.: 57)
Chers Oiseaux Offene Struktur, doch zwei Hauptthemen: 1. (negative) Poetik des Objekts Veränderte Beziehung zwischen Mensch u. Objekt „l‘agression muette et instinctive de ces objets qui sont là pour vous servir, et qui ont compris que la vraie révolte est silencieuse.“ (Weber 2006a: 14) „die stumme und instinktive Aggression all dieser Gegenstände, die eigentlich nur dafür da sind, Ihnen zu dienen, die aber verstanden haben, dass die wahre Revolte eine stille Revolte ist.“ „[leur] impassibilité, [leur] légitime dédain, [leur] indifférence absolue à mon destin comme au [leur].“ (ebd.: 14) „ihr Undurchdringlichkeit, ihre legitime Missachtung, ihre vollkommene Gleichgültigkeit gegenüber meinem Schicksal wie dem ihren.“
Chers Oiseaux 2. Infragestellung des Angestelltendaseins Der Durchschnittsangestellte als „oiseau de bureau“ ≠ Ich-Erzählerin als „oiseau-tempête“ (‚Sturmvogel‘) Leiden am „état d‘animal cloîtré“ (‚Zustand eines festgenagelten Tiers‘), „pétrifié dans son vol“ (‚im Flug versteinert‘), „figée sous une cloche de verre“ (‚festgehalten unter einer Glasglocke‘) Leiden am Büroalltag, an der „répétition douloureuse“ (‚schmerzhaften Wiederholung‘), der „fatalité laborieuse“ (‚arbeitsalltäglichen Fatalität‘)
Cendres & Métaux • „retrouver la proximité des hommes à la fois enfermés et protégés par leur travail quotidien“ (Weber 2006b: 52) • „die Nähe der in ihrer täglichen Arbeit zugleich gefangenen und beschützten Menschen wiederzufinden“ Vielgestaltiger, gattungsüber- greifender Text: Beschreibungen, Reflexionen, eingefügte kleinere Erzählungen
Cendres & Métaux Assoziative Schreibweise, metapoetische Thematisierung des Übergangslosen Erzählerin im Mittelpunkt eines Experiments der Selbst- beobachtung Fragmente eines politischen Diskurses, doch Inszenierung eines politischen und historischen entre-deux keine Sozialreportage, keine das Angestelltendasein demaskierende Satire à komischer u. philosophischer Text voller Detailbeobachtungen
Cendres & Métaux „Walter Wermuth, Laura Lippolis, Bernard Guggisberg et Markus Blümli“ (Weber 2006b: 8) à Detailbeobachtungen im Mikrokosmos Großraumbüro lassen sich auf Makrokosmos Gesamtgesellschaft übertragen
Cendres & Métaux Unvereinbarkeit des Daseins der Angestellten mit der Existenz des Schriftstellers Literarische Bestandsaufnahme ökonomischer Widersprüche Doch: „ […] cette activité régulière et l’intégration dans une communauté humaine [leur] procurent une enviable stabilité qui vaut bien quelques richesses.“ (Weber 2006b: 85) „[…] diese regelmäßige Tätigkeit und die Integration in eine menschliche Gemeinschaft vermitteln [ihnen] eine beneidens- werte Stabilität, die durchaus einigen Reichtum wert ist.“
Quellen – Weiterführende Lektüre Beinstingel, Thierry (2012), „Langages et littératures du travail chez les écrivains français depuis mai 1968“, in: Intercâmbio. Revue d‘études françaises. French Studies Journal 2.5, S. 50-60. Belhocine, Mustapha (2016), Précaire! Nouvelles édifiantes de Mustapha Belhocine qui raconte ici ses aventures picaresques de petit soldat réfractaire de l‘armée de réserve du capital, en apprenti sociologue consignant son quotidien pour survivre à la vieille exploitation moderne, Marseille: Éditions Agone. Bikialo, Stéphane; Engélibert, Jean-Paul (Hg.) (2012), Dire le travail. Fiction et témoignage depuis 1980, Rennes: Presses universitaires de Rennes. Böhm, Roswitha (2010), „'Vous avez fait de ma colère une mélodie': le monde de travail vu par Anne Weber et Yves Pagès“, in: Écrire le fiel, hg. von Matteo Majorano, Bari: Edizioni B.A. Graphis 2010 (Margini critici/Marges critiques) S. 169-185. Böhm, Roswitha (2011), „Vers une poétique du précaire: le monde des salariés dans l’œuvre d’Anne Weber“, in: Un retour des normes romanesques dans la littérature française contemporaine, hg. von Wolfgang Asholt u. Marc Dambre, Paris: Presses Sorbonne Nouvelle 2011, S. 197-211.
Quellen – Weiterführende Lektüre Chollet, M.; Lemahieu, T. (2000), „Le nouveau prolétariat, ce sont les précaires. Entretien avec Yves Pagès“, in: Périphéries (April 2000), www.peripheries.net/article247.html, Abruf: 7.1.2010. Discepolo, Thierry (2016), „Notule éditoriale en quatre mille cinq cents signes“, in: Mustapha Belhocine, Précaire! Nouvelles édifiantes, Marseille: Éditions Agone, S. V-IX. Ette, Ottmar (2005), „Oszillationen. Fremdschreiben in ZwischenWeltenSchreiben: Zur translingualen Fortschreibung deutschsprachiger Gegenwartsliteratur“, in: ders., ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz (ÜberLebenswissen II), Berlin: Kulturverlag Kadmos, S. 181-203. Eco, Umberto (2009), Die unendliche Liste, München: Hanser. Hueck, Carsten (2004), „Melancholie und Revolte. Verspielt im Geist der Romantik: Anne Webers Reisen führen diesmal bis an den Eingang des Totenreichs“, in: Frankfurter Rundschau (24.3.2004). Labadie, Aurore (2016), Le Roman d‘entreprise français au tournant du XXIe siècle, Paris: Presses Sorbonne Nouvelle.
Quellen – Weiterführende Lektüre Pagès, Yves (2008), Petites natures mortes au travail [2000], Paris: Gallimard/ Folio. Pagès, Yves (2003), Portraits crachés, Paris: Verticales. Paillardet, P. (2003), „Portraits cachés. Entretien avec Yves Pagès“, in: Le Matricule des Anges. Le mensuel de la littérature contemporaine, www.lmda.net/din/tit_lmda.php?Id=16390, Abruf: 7.1.2010. Willmann, Thomas (2010), „Regisseur Paolo Virzì spricht über Das ganze Leben liegt vor Dir – Tutta la vita davanti“, in: artechock, http://www.artechock.de/ film/text/interview/v/virzi_2010.html, Abruf: 5.5.2018. Tisseron, Serge (2002), Comment l‘esprit vient aux objets, Paris: Aubier. Weber, Anne (2004), „Im Schreiben steckt Schrei“, in: Andreas Maier; Anne Weber, Mainzer Poetik-Dozentur 2003, Mainz: Akademie der Wissenschaften und der Literatur/Stuttgart: Franz Steiner Verlag, S. 15-31. Weber, Anne (2006a), Chers oiseaux, Paris: Seuil. Weber, Anne (2006b), Cendres & Métaux, Paris: Seuil.
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