Prekarität als Narrativ und Narration - Bildungsportal Sachsen

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Prekarität als Narrativ und Narration - Bildungsportal Sachsen
Prof. Dr. Roswitha Böhm
    Prekarität als Narrativ und Narration

                 10. Sitzung am 28.6.2018

         Minijobs und Leiharbeit: le récit de la précarité
       Yves Pagès und Mustapha Belhocine
Profitorientierung u. Phrasendrescherei: le roman de l‘entreprise
          Anne Weber und Élisabeth Filhol
Prekarität als Narrativ und Narration - Bildungsportal Sachsen
Gliederung

I. Rückblick: Arbeitswelten in den Filmen Paolo Virzìs
und Laurent Cantets
II. Yves Pagès‘ Skizzen aus der prekären Arbeitswelt
III. Précaire! Mustapha Belhocines Nouvelles édifiantes
IV. Das Angestelltendasein in Anne Webers récits de
    bureau
Prekarität als Narrativ und Narration - Bildungsportal Sachsen
I. Rückblick: Arbeitswelten in den Filmen
    Paolo Virzìs und Laurent Cantets
Prekarität als Narrativ und Narration - Bildungsportal Sachsen
Tutta la vita davanti (2008)

• Film als „realistischer Albtraum“ (Willmann 2010)
• extrinsische Motivation durch positive Botschaften und
Gemeinschaftsrituale
• Kontrolle der Arbeitsleistung mit anschließender
öffentlicher Belohnung bzw. Bestrafung
• Engagement, aber Machtlosigkeit der traditionellen
Vertreter der Arbeitnehmerinteressen, der
Gewerkschaften
Prekarität als Narrativ und Narration - Bildungsportal Sachsen
L‘Emploi du temps (2001)
Dystopische Elemente:
• Vincent als „comédien de sa propre vie“ (Cantet)
• Logik der Anpassung, (Selbst-)Vermarktung und des Verkaufs
• Streben nach Autonomie, Unabhängigkeit und Freiheit
• Misslingende Kommunikation u. gestörte soziale Beziehungen im
familiären und beruflichen Bereich
• Markierung der Nicht-Zugehörigkeit durch Beobachterposition
des Protagonisten
Utopisches Potenzial:
• Kontrapunktische Einfügung von Gegenbeispielen
• Doppelung von Motiven
II. Yves Pagès‘ Skizzen aus der
      prekären Arbeitswelt
Yves Pagès   Les fictions du politique chez L.-F. Céline
                (1994) (wiss. Monographie)
             Petites natures mortes au travail (2000)
             23 kurze Erzählungen: Oszillieren zwischen
                 „témoignages vécus et jeux de rôle fictifs“,
                 zwischen ‚realitätsnahen Zeugnissen und
                 fiktiven Rollenspielen’
             23 Personen, „recrutés à contre-emploi ou
                 exposés aux paradoxes de leur statut social“,
                 Personen auf ausbildungs- und
                 berufswegsfremden Arbeitsstellen, die den
                 Widersprüchen ihres sozialen Status
                 ausgesetzt sind
             Portraits crachés (2003)
             Skizzen der „sans dialogue fixe, omis de la
                 première heure, caractères jamais imprimés
                 […]“, der ‚Personen ohne festen Austausch,
                 der von Anfang an Unbeachteten, der
                 niemals gedruckten Charaktere/Buchstaben’
             Le Théoriste (2001) (Roman)
Yves Pagès
Kunstform des Fragmentarischen als spiegelbildliche Ergänzung der
  Romanarbeit:
„C‘est aussi une manière […] d‘éviter les trous d‘air de l‘écriture, de me tenir
compagnie dans les moments de doute solitaire… Quand j‘écris ces
portraits, j‘ai le sentiment de tracer des lignes d‘équilibre. J‘ai découvert peu
à peu que ce travail sur le ‚nous‘ hétérogène de personnages éphémères,
fugaces, voués au presque rien d‘une ébauche sans suite, se situait à la
périphérie du ‚je‘ romanesque du Théoriste qui lui s‘est sédimenté en cinq ou
six années…“ (Paillardet 2003: o.P.)
„Das ist auch eine Möglichkeit, die Luftlöcher des Schreibens zu vermeiden,
mir in Momenten einsamen Zweifelns Gesellschaft zu leisten… Beim
Schreiben dieser Porträts habe ich das Gefühl Gleichgewichtslinien zu
ziehen. Ich habe nach und nach entdeckt, dass die Arbeit an dem
heterogenen ‚Wir‘ all dieser ephemeren, flüchtigen, dem Fast-Nichts einer
Skizze ohne Fortführung gewidmeten Figuren sich im Grenzbereich des Ich-
Erzählers von Le Théoriste befindet, der fünf bis sechs Jahre lang gereift
ist…“
Petites natures mortes au travail
• vierseitige Aufzählung der Bezeichnungen von etwa einhundert
prekären Arbeitsverhältnissen
• erfunden anmutende Aushilfs-, Überbrückungs- und Minijobs, deren
Mehrzahl sich jedoch der Realität vieler Arbeitssuchender annähert
• Im Sinne Umberto Ecos: „chaotische Aufzählung“ im Übergang
zwischen „der praktischen und der poetischen Liste“ (Eco 2009: 321
ff. u. 370 ff.)
à Bei der chaotischen Aufzählung macht „man sich ein Vergnügen
    daraus […], das vollkommen Heterogene vorzuführen.“ Eco
    betont, „daß der Autor keineswegs Listen aufstellt, weil er nicht
    wüßte, wie er etwas sonst ausdrücken will, sondern daß er es
    durch ein Übermaß ausdrücken will, durch Hypertrophie und
    Gefräßigkeit des Wortes, durch fröhliche (und nur selten
    zwanghafte) Wissenschaft vom vielen und Unendlichen.“ (Eco
    2009: 327)
Petites natures mortes au travail
              „Petits rats d’opérette en retraite précipitée, billettistes
              d’exposition temporaires, formateurs mercenaires de
              mercenaires formateurs, masseuses de cinq à sept,
              afficheurs sauvages de publicité, recenseurs de taux de
              fécondité, crieurs de mauvaises nouvelles sur papier
              journal, effaceurs d’encres murales, esclaves
              compressibles d’ateliers clandestins, chômeurs défigurés
              dans germinal, mitrons enfarinés dès minuit, bac+9 sans
              emploi avouable […].“ (Pagès 2008: 13)
              Kleine Ballettmäuse (Operettenmäuse) im vorgezogenen
              Ruhestand, Kartenverkäufer zeitlich befristeter
              Ausstellungen, söldnerische Ausbilder von Ausbildungs-
              söldnern, Masseurinnen von fünf bis sieben, illegale
              Plakatkleber, Geburtenratenstatistiker, Verkünder
              schlechter Nachrichten auf Zeitungspapier,
              Tintengraffitikiller, zu unterdrückende Sklaven schwarz
              arbeitender Werkstätten, in Germinal entstellte
              Arbeitslose, ab Mitternacht mehlbestäubte
              Bäckerlehrlinge, hyperqualifizierte Universitäts-
              absolventen ohne eingestehbaren Job […].
Petites natures mortes au travail

Beispiele für weitere Protagonisten:
• Éric, Dozent für moderne Mathematik im Fernstudium
• José, „chômeur réinséré à quatre pattes“, ‚auf vier Beinen
   wiedereingegliederter Arbeitsloser‘ (= Comicfigur Pluto im Euro-
   Disney-Park)
• Jeanne, die „ancienne-future-ex-néo-chômeuse“, die ‚ehemalige-
   zukünftige-Ex-Neu-Arbeitslose‘ (= Empfangssekretärin in
   Probezeit beim Arbeitsamt)
Petites natures mortes au travail
Skizzen aus der neoliberalen
  Arbeitswelt
abstrus-phantasievolle Abfolge von
  Gedankengängen
zärtlich-sarkastische Sprache
zwischen Spottlust und
  philosophischem Ernst
  changierende Wortspiele
„une littérature de la fraternité“ – eine
   Literatur der Brüderlichkeit
„à la première personne du pluriel“ –
   verfasst in der 1. Person Plural
Petites natures mortes au travail

Reflexion der conditio humana der letzten Vertreter des Proletariats
    und der „clebs salariés“ (der ‚Angestelltenköter‘) des neuen
    Zeitalters sowie der Arbeitslosen und Bettler
„Il y aurait donc, en surface, d‘immuables clochards qui ajoutent au
    pittoresque du décor urbain […].“ (Pagès 2008: 56)
„Es gäbe somit, auf der Oberfläche, die unbeweglichen Obdachlosen,
    die zum Pittoresken des städtischen Ambientes beitragen […]“
Petites natures mortes au travail

„[…] les pauvres plus récents qui, passant d‘une rame de métro à
   l‘autre, déclinent aux voyageurs leur identité, leur âge, leur
   situation familiale, judiciaire ou sanitaire et enfin le degré zéro
   de leur ressource.“ (Pagès 2008: 55)
„[…] die Armen jüngeren Datums, die von einem Metrowagen zum
   nächsten voranschreitend, den Reisenden ihre Identität, ihr
   Alter, ihre familiären, juristischen und sanitären Umstände und
   schließlich den Nullpunkt ihrer Einnahmen durchdeklinieren.“
Petites natures mortes au travail
„Tous ont dû résumer leur curriculum vitae en
deux cents mots piégés et justifier leurs
passages à vide entre deux dates d’activité.
Tous ont blanchi des zones d’ombres au
Typex, menti sur un point faible, bluffé sur une
compétence, abusé d’un titre ronflant, fait
l’impasse sur une faute grave.“ (Pagès 2008:
57 f.)
„Allen waren schon einmal gezwungen, ihren
Lebenslauf in zweihundert Worten
zusammenzufassen und die Lücken zwischen
zwei Daten zu rechtfertigen. Alle haben
Schattenbereiche mit Typex aufgehellt, in
Bezug auf eine Schwachstelle geschwindelt
und auf eine verlangte Kompetenz geblufft, alle
haben sich mit einem Eindruck schindenden
Titel geschmückt und schwere Fehler
unterschlagen.“
Petites natures mortes au travail

Erzähltechnik:
• Kombination zweier unterschiedlicher Motive, Ideen, Gedankengänge
• Parallelisierung zweier einander fremder, da sozial entfernter Welten
• „un art pauvre de l‘écriture“, schlichter Stil, doch flamboyantes Vokabular

„Le jeu de l‘écrivain est de savoir quand ce personnage commence à
exister. Généralement, il surgit d‘un nœud de contradictions, d‘une
situation paradoxale, poussée à son paroxysme.“ (Paillardet 2003: o.P.)
„Das Spiel des Schriftstellers besteht darin zu erkennen, wann diese Figur
zu existieren beginnt. Normalerweise taucht sie aus einem Geflecht von
Wider-sprüchen, aus einer paradoxalen, auf ihren Höhepunkt hin
zugespitzten Situation auf.“
Petites natures mortes au travail
• der Tierwelt entlehnte Metaphorik
• Parallelen zwischen Fauna und Firma

„Chaînes alimentaires“
Idyllischer Bauernhof  „poulailler concentrationnaire“ (‚Hühner-KZ‘)
„à tourner et à retourner son mauvais sommeil sur un vieil oreiller
    déplumé“ (‚sich schlaflos auf einem alten, gerupften Kopfkissen hin und her
    zu wälzen‘)
„Elle se voyait en train de scanner un à un des hordes de poussins en
    peluche. Chacun portait un sobriquet différent sur l’étiquette pendue à son
    cou, une griffe connue et son matricule ISBN: Findus, Sony, Danone,
    Liebig, Cassegrain, et ainsi de suite […]“. (Pagès 2008: 38)
„Sie sah sich dabei zu, wie sie eines nach dem anderen Horden von
   Plüschküken einscannte. Ein jedes trug einen anderen Spitznamen auf
   dem an seinem Hals hängenden Etikett, eine bekannte Marke und die
   ISBN-Nummer: Findus, Sony, Danone, Liebig, Cassegrain und so weiter
   […]“.
Petites natures mortes au travail

„Désincarnation du garçon-boucher“
„la chair débitée en tranches uniformes“ (‚das in gleichförmige Scheiben
    geschnittene Fleisch‘)
„en des organes aussi vulgaires résident [leurs] propres fonctions vitales“ (‚in
    solch gewöhnlichen Organen befinden sich ihre eigenen
    lebensnotwendigen Funktionen‘)
„C‘était un cas de licenciement anatomique; désormais, il lui manquait certains
   organes pour remplir sa fonction. Pierre se sentait comme un poulet vidé
   de sa carcasse, bref ‚démotivé en profondeur‘ conclut l‘ancien patron sur le
   formulaire de l‘inspection de travail.“ (Pagès 2008: 86f.)
„Es handelte sich um den Fall einer anatomisch begründeten Entlassung; von
   nun an fehlten ihm bestimmte Organe, um seine Funktion auszuüben.
   Pierre fühlte sich wie ein bis auf die Knochen ausgenommenes Huhn, kurz
   gesagt ‚bis ins Innere demotiviert‘, wie sein ehemaliger Chef auf dem
   Formular der Arbeitsschutzbehörde vermerkte.“
Prekäres Schreiben bei Yves Pagès
Intention
„de montrer des lignes de fractures transversales et […] de ne pas demeurer
    dans une vision figée et factice des idéologies manichéennes qui ne
    rendent pas compte des mutations actuelles du monde du
    travail.“ (Paillardet 2003)
„Linien transversaler Frakturen aufzuzeigen und […] nicht in einer
    festgefahrenen und künstlichen Sicht dualistischer Ideologien stehen zu
    bleiben, die den aktuellen Veränderungen der Arbeitswelt nicht gerecht
    werden.“

à gegen dichotome Weltsicht
à Gegen simplifizierende Festlegungen, wie die folgende:
„[…] hors de l‘organisation du travail, hors de la sphère de l‘entreprise, point
de vie, point de conscience…“ (Chollet/Lemahieu 2000)
„[…] außerhalb der Arbeitsorganisation, außerhalb der Sphäre des
Unternehmens, keinerlei Leben, keinerlei Bewusstsein...“
Prekäres Schreiben bei Yves Pagès

• Mikroerzählungen auf der Grundlage eines aufgeschnappten
   Gesprächsfetzens, einer ‚wahren‘ Geschichte, einer Situation „qui
   concentre tous les éléments propres à susciter ce petit
   basculement, ce petit déraillement imaginaire“ (‚die in sich all die
   Elemente enthält, die dazu beitragen, dieses winzige Kippten,
   dieses winzige imaginäre Entgleisen hervorzurufen‘)
• Darstellung der in ihren sozialen Rollen gefangenen Figuren, keine
   Stereotypen
• Große Anzahl der Skizzen ermöglicht Herstellung gesellschaftlicher
   Querverbindungen
III. Précaire! Mustapha Belhocines
     Nouvelles édifiantes (2016)
Précaire!
• vollständiger Titel: Précaire! Nouvelles édifiantes de Mustapha Belhocine
    qui raconte ici ses aventures picaresques de petit soldat réfractaire de
    l‘armée de réserve du capital, en apprenti sociologue consignant son
    quotidien pour survivre à la vieille exploitation moderne
   Prekär! Aufmunternde Novellen von Mustapha Belhocine der hier seine
   pikaresken Abenteuer als widerspenstiger Soldat der Reservearmee des
   Kapitals erzählt, als Soziologie-Lehrling, der seinen Alltag analysiert, um
   die moderne alte Ausbeutung zu überleben
• ursprünglich: Masterarbeit an der l‘EHESS mit dem Titel Une expérience
    littéraire en milieu précaire (Eine literarische Erfahrung im Milieu der
    Prekarität) à „socio-analyse de la succesion chaotique d‘emplois à plein
    temps qui ont accompagné sa formation d‘apprenti sociologue“ (Discepolo
    2016: VIII); „soziologische Analyse der chaotischen Abfolge von Vollzeit-
    Stellen, die seine Ausbildung als Lehrling der Soziologie begleitet haben“
• Teil-Vorabdruck in: Le Monde diplomatique (Januar 2015)
Précaire!

„I. L‘Université du désespoir“
„Puis l‘onirique s‘est fait rattraper par la balayette. Comme un con, j‘ai
choisi la mauvaise file, le mauvais groupe, ‚park support‘: les
balayeurs et les laveurs du vomi… Comme un con, j‘ai suivi une jolie
fille. Et il y a eu imcompréhension sur le terme. Moi qui me prenais
pour un bilingue, je croyais que j‘allais me balader dans le parc au
grand air, tourner, aiguiller les clients, les accueillir, je trouvais ça
cool, ‚park support‘: ‚supporter le park‘. Eh bien non, j‘allais bien
tourner dans le parc, mais avec une pelle et une balayette, de 14
heures à 23 heures.“ (Belhocine 2016: 5)
Précaire!

„I. Die Universität der Verzweiflung“
„Dann wurde das Träumerische von einem Besen eingeholt. Wie ein
Idiot habe ich die falsche Schlange ausgewählt, die falsche Gruppe,
‚park support‘: die Straßenkehrer und Kotze-Wäscher… Wie ein Idiot
bin ich einem hübschen Mädchen gefolgt. Und habe den Begriff
falsch verstanden. Ich, der ich mich doch für bilingual hielt, stellte mir
vor, dass ich an der frischen Luft durch den Park spazieren,
umherstreifen, die Kunden orientieren, sie empfangen würde, ich fand
das cool, ‚park support‘: ‚den Park unterstützen‘. Und leider nein, ich
würde durchaus durch den Park streifen, aber mit einer Schaufel und
einem Besen, von 14 bis 23 Uhr.“
Précaire!
„III. Quarante-huit heures“
„Je suis une file d‘ouvriers. On ouvre une cellule, une fois que nous sommes
tous rentrés, on ferme la porte derrière nous. Le chef d‘équipe nous installe
aux différents postes de travail. Je suis devant un tapis roulant long de trente
mètres au moins, qui serpente comme un labyrinthe dans la cellule. Une
boîte tombe du ciel, un carton arrive devant moi et je dois mettre la boîte
dans le carton qu‘un ouvrier avant moi avait préparé et qu‘un autre après moi
va emballer. Et tout ça en moins de trente secondes. On ne peut pas
s‘arrêter, sinon les cartons et les boîtes s‘empilent sur le plan de travail et tout
se renverse sur toi, les alarmes s‘enclenchent, les sirènes hurlent. J‘ai
l‘impression de me retrouver à la place de Chaplin dans Les Temps
modernes, en bien plus violent. Au bout de cinq minutes de ‚tapis roulant‘, je
suis déjà épuisé, comment je vais tenir jusqu‘à 21 heures? Comment je vais
tenir tout court? Comment peut-on tenir plusieurs mois? En plus, quand on a
été placés à nos différents postes, on ne nous a rien dit sur les pauses, les
repas, la localisation des toilettes, rien: tout simplement parce qu‘il n‘y a pas
de pauses, pas de toilettes dans nos cellules.“ (Belhocine 2016: 40f.)
Précaire!
III: „Achtundvierzig Stunden“
„Ich folge einer Reihe von Arbeitern. Eine Zelle wird geöffnet, sobald wir alle
da drin sind, wird die Tür hinter uns verschlossen. Der Vorarbeiter bringt uns
an verschiedenen Arbeitsplätzen unter. Ich stehe vor einem mindestens
dreißig Meter langen Laufband, das sich labyrinthisch durch die ganze Zelle
windet. Eine Kiste fällt vom Himmel, ein Karton kommt vor mir an, und ich
muss die Kiste in den Karton legen, den ein Arbeiter vor mir vorbereitet hat
und den ein anderer nach mir verschließen wird. Das Ganze in weniger als
dreißig Sekunden. Man darf nie stoppen, sonst stapeln sich die Kisten und
Kartons auf Deiner Arbeitsfläche und alles purzelt auf Dich, die Alarme
werden ausgelöst, die Sirenen heulen. Ich komme mir vor wie Charlie Chaplin
in Moderne Zeiten, nur in einer brutaleren Version. Nach fünf Minuten
‚Laufband‘ bin ich bereits erschöpft, wie soll ich das bis 21 Uhr durchhalten?
Wie werde ich überhaupt durchhalten? Wie kann man das mehrere Monate
durchhalten? Dazu kommt, dass man uns, als wir an unsere Arbeitsplätze
gebracht wurden, nichts über Pausen, Mahlzeiten oder wo die Toiletten zu
finden wären, gesagt hat, nichts: und zwar einfach aus dem Grund, dass es
keine Pausen und keine Toiletten in unseren Zellen gibt.“
Prosaminiaturen
• literarische Reflexion sozialer
Fragen im postindustriellen
Zeitalter
• Darstellung von Prekarität in
der spezifischen literarischen
Form einer selbst prekär
anmutenden, flexibel-
unverbindlichen Abfolge
aneinandergereihter
Erzählskizzen
• ≠ Hegelsche ‚Totalität einer
Welt- und Lebensanschauung‘
im Roman
IV. Das Angestelltendasein in Anne
     Webers récits de bureau
„Écrire le travail“
Récits de bureau, romans de l‘entreprise
• Chronotopos der Erzählungen: das Unternehmen
• Beobachtungen über topologische und soziologische
   Besonderheiten des Bürolebens (Einrichtung, Arbeitsumfeld,
   kollegiale Rituale, Markierung und Durchsetzung von
   Machthierarchien, Inklusions- und Exklusionsmechanismen etc.)
• Breite der Erzählweisen und -perspektiven vom distanziert-ethno-
   graphischen Blick bis zur affizierten Innensicht
Bsp.: François Salvaing: La Boîte (1998); François Emmanuel: La Question
   humaine (2000); Frédéric Beigbeder: 99 francs (2000); Corinne Maier: Bonjour
   paresse. De l‘art et de la nécessité d‘en faire le moins possible en entreprise
   (2004); Anne Weber: Cendres & Métaux (2006), Chers Oiseaux (2006);
   Delphine de Vigan: Les Heures souterraines (2009); Élisabeth Filhol: La
   Centrale (2010); Nathalie Kuperman: Nous étions des êtres vivants (2010)
Anne Weber
 • geb. 1964 in Offenbach (Hessen)
 • Studium der Komparatistik in Paris
    an der Sorbonne
 • Wohnort: Paris und Bretagne
 • Übersetzerin dt. Autor/inn/en wie
    Jacob Burckhardt, Hans Mayer,
    Wilhelm Genazino, Birgit
    Vanderbeke und frz. Autor/inn/en
    wie Marguerite Duras und Pierre
    Michon
 • 2008: Europäischer Übersetzerpreis
Anne Weber

Ida invente la poudre, Paris: Seuil 1998.
Ida erfindet das Schießpulver, Ffm: Suhrkamp 1999.
„pointensichere Prosaminiaturen mit philosophischem
   Tiefgang“ (Hueck 2004: o.P.)
Ottmar Ette (2005), ZwischenWeltenSchreiben, S. 195: ein
   Sprach-Raum, der zum „Spiel-Raum [wird], von dem aus
   ein gleichsam ethnologischer Blick auf die Welt und ihre
   sich ständig neu konfigurierenden Zwischenwelten
   geworfen wird.“
Umweg über die französische Sprache

  „In der fremden Sprache denke ich mehr, da rieselt
  kein Gedanke unbeobachtet durch mich hindurch.
  […] Mein französisches Hirn […] baut mir keine
  bequemen Wege, auf denen es sich gedankenlos
  und vertrauensvoll umherspazieren lässt. […] Die
  fremden Wendungen winden sich von allein zu einem
  Fragezeichen, das mich zwingt, innezuhalten und
  nachzudenken und mit jedem Wort eine Weile allein
  zu sein.“ (Weber 2004: 17)
à Reflexion über die jeweiligen Ausdrucks-
  möglichkeiten ihrer Mutter- und ihrer Adoptivsprache
Chers Oiseaux
Ich-Erzählerin gefangen „dans une
   existence salariale aussi
   rassurante qu‘une condamnation
   à mort“ (Weber 2006a:
   Klappentext), ‚in einer
   Angestelltenexistenz, die ähnlich
   beruhigend wirkt wie ein
   Todesurteil‘
31 instantanés, Momentaufnahmen
Besonderheiten des Bürolebens
• äußerliche Aspekte
• psychologische, philosophische,
   soziologische Fragen
Chers Oiseaux

Aufgabe der Aktenablage, le „classement des dossiers“
    als Symbol der firmeninternen Hierarchisierung der
    ‚Angestelltenklassen‘:
„Il y a ceux qui classent et ceux qui ne classent pas. Ils
    donnent à classer.“ (Weber 2006a: 23)
„Es gibt diejenigen, die klassifizieren/Ablage machen
    und diejenigen, die nicht klassifizieren/keine Ablage
    machen. Sie lassen andere die Ablage machen/Sie
    geben Grund zu klassifizieren.“
Chers Oiseaux

Ein gegen die conditions de travail aufbegehrender
  Abschiedsbrief voller Beobachtungen über die
  absurden Momente eines durchschnittlichen Tages-
  ablaufs
Trennlinie zwischen den „oiseaux du ciel“ (den
  ‚Himmelsvögeln‘) und den „oiseaux du bureau“ (den
  ‚Bürovögeln‘) (Weber 2006a: 59)
„Oiseaux de bureau“ = Kollegen „à la conscience
  anesthésiée“ (‚mit betäubtem Bewusstsein‘),
  Entscheidung für „le travail forcé“ (‚Zwangsarbeit‘)
  und „l‘enfermement salarial“ (‚Angestelltengefangen-
  schaft‘) (ebd.: 57)
Chers Oiseaux
Offene Struktur, doch zwei Hauptthemen:
1. (negative) Poetik des Objekts
Veränderte Beziehung zwischen Mensch u. Objekt
„l‘agression muette et instinctive de ces objets qui sont là pour
    vous servir, et qui ont compris que la vraie révolte est
    silencieuse.“ (Weber 2006a: 14)
„die stumme und instinktive Aggression all dieser Gegenstände,
    die eigentlich nur dafür da sind, Ihnen zu dienen, die aber
    verstanden haben, dass die wahre Revolte eine stille Revolte
    ist.“
„[leur] impassibilité, [leur] légitime dédain, [leur] indifférence
    absolue à mon destin comme au [leur].“ (ebd.: 14)
„ihr Undurchdringlichkeit, ihre legitime Missachtung, ihre
    vollkommene Gleichgültigkeit gegenüber meinem Schicksal wie
    dem ihren.“
Chers Oiseaux
2. Infragestellung des Angestelltendaseins
Der Durchschnittsangestellte als „oiseau de bureau“
≠ Ich-Erzählerin als „oiseau-tempête“ (‚Sturmvogel‘)
Leiden am „état d‘animal cloîtré“ (‚Zustand eines festgenagelten
    Tiers‘), „pétrifié dans son vol“ (‚im Flug versteinert‘), „figée sous
    une cloche de verre“ (‚festgehalten unter einer Glasglocke‘)
Leiden am Büroalltag, an der „répétition
    douloureuse“ (‚schmerzhaften Wiederholung‘), der „fatalité
    laborieuse“ (‚arbeitsalltäglichen Fatalität‘)
Cendres & Métaux
    • „retrouver la proximité des hommes
        à la fois enfermés et protégés par
        leur travail quotidien“ (Weber
        2006b: 52)
    • „die Nähe der in ihrer täglichen
        Arbeit zugleich gefangenen und
        beschützten Menschen
        wiederzufinden“
    Vielgestaltiger, gattungsüber-
        greifender Text: Beschreibungen,
        Reflexionen, eingefügte kleinere
        Erzählungen
Cendres & Métaux

Assoziative Schreibweise, metapoetische Thematisierung
   des Übergangslosen
Erzählerin im Mittelpunkt eines Experiments der Selbst-
   beobachtung
Fragmente eines politischen Diskurses, doch Inszenierung
   eines politischen und historischen entre-deux
keine Sozialreportage, keine das Angestelltendasein
   demaskierende Satire
à komischer u. philosophischer Text voller
   Detailbeobachtungen
Cendres & Métaux

„Walter Wermuth, Laura Lippolis, Bernard Guggisberg
  et Markus Blümli“ (Weber 2006b: 8)
à Detailbeobachtungen im Mikrokosmos
  Großraumbüro lassen sich auf Makrokosmos
  Gesamtgesellschaft übertragen
Cendres & Métaux

Unvereinbarkeit des Daseins der Angestellten mit der
  Existenz des Schriftstellers
Literarische Bestandsaufnahme ökonomischer
   Widersprüche
Doch:
„ […] cette activité régulière et l’intégration dans une communauté
   humaine [leur] procurent une enviable stabilité qui vaut bien
   quelques richesses.“ (Weber 2006b: 85)
„[…] diese regelmäßige Tätigkeit und die Integration in eine
   menschliche Gemeinschaft vermitteln [ihnen] eine beneidens-
   werte Stabilität, die durchaus einigen Reichtum wert ist.“
Quellen – Weiterführende Lektüre
Beinstingel, Thierry (2012), „Langages et littératures du travail chez les écrivains
   français depuis mai 1968“, in: Intercâmbio. Revue d‘études françaises. French
   Studies Journal 2.5, S. 50-60.
Belhocine, Mustapha (2016), Précaire! Nouvelles édifiantes de Mustapha
   Belhocine qui raconte ici ses aventures picaresques de petit soldat réfractaire
   de l‘armée de réserve du capital, en apprenti sociologue consignant son
   quotidien pour survivre à la vieille exploitation moderne, Marseille: Éditions
   Agone.
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