PROGRAMMATIK ZUR INTERNATIONALEN BAUAUSSTELLUNG WIEN 2022 - RAHMEN STRUKTUR MEMORANDUM

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PROGRAMMATIK ZUR INTERNATIONALEN BAUAUSSTELLUNG WIEN 2022 - RAHMEN STRUKTUR MEMORANDUM
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INTERNATIONALEN
BAUAUSSTELLUNG
WIEN 2022

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RAHMEN
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PROGRAMMATIK ZUR INTERNATIONALEN BAUAUSSTELLUNG WIEN 2022 - RAHMEN STRUKTUR MEMORANDUM
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PROGRAMMATIK ZUR INTERNATIONALEN BAUAUSSTELLUNG WIEN 2022 - RAHMEN STRUKTUR MEMORANDUM
INHALT

VORWORT .................................................................................................................. 5

AUSGANGSLAGE, HERAUSFORDERUNGEN UND CHANCEN EINER IBA FÜR WIEN......... 7
     Zur Geschichte des Wiener Wohnbaus.................................................................. 7
     Aktuelle Herausforderungen................................................................................ 8
     Chancen einer IBA für Wien................................................................................. 12

DIE WOHNUNGSFRAGE IM KONTEXT DER INTERNATIONALEN BAUAUSSTELLUNGEN. 13
     Einordnung der IBA_Wien in die Tradition
     der Internationalen Bauausstellungen.............................................................. 14
     Der Wiener soziale Wohnbau auf internationaler Ebene................................... 18

MEMORANDUM ZUR IBA_WIEN 2022 - NEUES SOZIALES WOHNEN........................... 21
                                                                                                                                  3
     Wirkungsebenen der IBA_Wien.......................................................................... 23
     Leitthemen der IBA_Wien.................................................................................... 24
     Qualitätsanspruch, Qualifizierungsprozess und Kriterien.................................. 34

FORMATE DER IBA_WIEN.......................................................................................... 38

ORGANISATION UND AKTEURE.................................................................................. 40

DANK........................................................................................................................ 42

IMPRESSUM.............................................................................................................. 44

                                           PROGRAMMATIK ZUR INTERNATIONALEN BAUAUSSTELLUNG WIEN 2022
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PROGRAMMATIK ZUR INTERNATIONALEN BAUAUSSTELLUNG WIEN 2022 - RAHMEN STRUKTUR MEMORANDUM
VORWORT

                                                      Sicher ist: Der soziale Grundsatz, breiten Bevöl-
                                                      kerungsschichten den Zugang zu leistbaren und
                                                      qualitätsvollen Wohnungen zu ermöglichen,
                                                      wird uneingeschränkt das Fundament bilden,
                                                      auf dem auch alle zukünftigen Maßnahmen auf-
                                                      bauen werden. Es gilt jedoch, die Richtlinien,
                                                      Methoden und Verfahren im Hinblick darauf zu
                                                      überprüfen sowie innovative Lösungen für den
                                                      sozialen Wohnbau der Zukunft zu erarbeiten.

                                                      Unser Anspruch ist es, frühzeitig resiliente Stra-
                                                      tegien und Modelle für die kommenden Jahr-
                                                      zehnte zu entwickeln. Dies mit einem Blick, der
                                                      auf das Ganze gerichtet ist und der beispiels-
                                                      weise auch die wichtige soziale Dimension
                                                      des Zusammenlebens mit einschließt. Dieser
                                                      entscheidende Prozess wird im Rahmen einer
Wiens geförderter Wohnbau wurde seit den              mehrjährigen internationalen Bauausstellung,
1920er-Jahren kontinuierlich weiterentwi-             der IBA_Wien zum Thema „Neues soziales Woh-
                                                                                                           5
ckelt und genießt heute Weltruf. Regelmäßig           nen“, federführend vorangetrieben.
bestätigen auch internationale Auszeichnun-
gen und Studien, dass Wiens hervorragende             Einen besonderen Stellenwert hat die Mitspra-
Lebensqualität in hohem Maße auf den sozi-            che der Wiener Bevölkerung. Sie ist unsere
alen Wohnbau unserer Stadt zurückzuführen             wichtigste Ansprechpartnerin, deren Wünsche,
ist. So werden Bauträgerwettbewerbe, die im           Anregungen und Ideen direkt in die IBA_Wien
geförderten Wiener Wohnbau als Lenkungsin-            mit einfließen.
strument mit innovativen Qualitätsanforderun-
gen dienen, von UN-Habitat als „Best Practice“        Ich möchte daher auch Sie ganz herzlich dazu
geführt. Aber auch die sanfte Stadterneuerung         einladen, sich an den vielfältigen Aktivitäten
wurde mit dem höchsten Preis der Vereinten            der IBA_Wien zu beteiligen.
Nationen im Bereich des Wohnens, der „Scroll
of Honour“, prämiert.                                 Gestalten wir gemeinsam den sozialen Wiener
                                                      Wohnbau fit für die Zukunft!
Heute sind Metropolen immer stärker damit
konfrontiert, dass weltweit die Geschwindig-
keit und Dynamik wirtschaftlicher und gesell-
schaftlicher Veränderungsprozesse in Ausmaß
und Intensität zunehmen. Wenn wir also die
außerordentlich hohen Qualitäten Wiens im so-
zialen Wohnbau sichern und sogar noch weiter
ausbauen wollen, dann müssen neue Wege be-
schritten werden. Es ist erforderlich, die bisheri-
ge Praxis einer tiefgreifenden Analyse in Bezug       Dr. Michael Ludwig
auf ihre künftige Anwendbarkeit und Tragfähig-        Stadtrat für Wohnen, Wohnbau und Stadterneuerung
keit zu unterziehen.                                  und Präsident der IBA_Wien

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Karl-Marx-Hof

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    Wohnpark Alt-Erlaa
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AUSGANGSLAGE, HERAUSFORDERUNGEN
                             UND CHANCEN EINER IBA FÜR WIEN
                           Zur Geschichte des Wiener Wohnbaus

Die Geschichte des sozialen Wiener Wohnbaus       sichtlich der Infrastruktur, werden bei Wohn-
ist weltweit einzigartig. Sie prägt die Stadt     bauprojekten vorab von der Stadt definiert und
bis heute nicht zuletzt durch die zahlreichen     auch finanziert; Ähnliches gilt für die Architek-
Gemeindebauten in allen Wiener Bezirken.          tur. Wohnungsbau ist immer auch Städtebau
Die Stadt weist dadurch einen kommunalen          und Gesellschaftspolitik.
Wohnungsbestand von rund 220.000 Woh-
nungen auf. Es ist daher auch bei der IBA_Wien    Gleichzeitig muss sich der Wohnungsbau wei-
von den Kontinuitäten und Brüchen in der Ge-      terentwickeln. Globalisierung und neue Me-
schichte des sozialen Wohnbaus dieser Stadt       dien verändern die Gesellschaft und schaffen
auszugehen. Beginnend bei der Wohnsituati-        neue Herausforderungen. Mit experimentel-
on in der Hauptstadt des Habsburgerreiches,       len Themensiedlungen versuchte die Stadt
die für die meisten Bewohnerinnen und Be-         schon Ende des 20. Jahrhunderts, Anstöße zu
wohner nicht Glanz und Reichtum bereit-           geben: ökologische Experimentalbauten, au-
hielt, sondern unfassbare Not und elende          tofreie Siedlungen, Gender-Mainstreaming
Behausungen über die revolutionäre Selbst-        auch in der Planung, neue Formen des Woh-
hilfebewegung der Wiener Siedler nach dem         nens und Arbeitens, Integrationsprojekte. Vie-
Zusammenbruch der Monarchie, mit ihrem            le dieser Experimente fanden später Eingang
Anspruch auf selbstbestimmtes Leben und           in den breiten Wohnungsbau. Beispielsweise
Wohnen in demokratischen Gemeinschaften,          werden nun alle Neubauten im Niedrigener-
                                                                                                      7
bis hin zum Wohnbauprogramm des „Roten            giestandard errichtet, im mehrgeschoßigen
Wien“. Im Rahmen dieses Programms der ers-        Bau von Passivhäusern ist Wien europaweit
ten sozialdemokratisch regierten Millionen-       führend. Wettbewerbe sollen die Qualität
stadt der Welt, wurden – trotz schlechtester      steigern, zugleich aber Kosten senken. Und
wirtschaftlicher Voraussetzungen – in nur 15      nicht zuletzt soll innovative Architektur geför-
Jahren 60.000 „Gemeindewohnungen“ für             dert werden. Dass dies auch für die Architek-
Haushalte mit geringen Einkommen errich-          tenseite attraktiv ist, zeigt neben den zahlrei-
tet und dabei städtebaulich und sozial völlig     chen Bauten österreichischer Architektinnen
neue Qualitäten geschaffen. Hervorzuheben         und Architekten auch eine eindrucksvolle
sind insbesondere die großzügigen Gemein-         Liste internationaler „Stars“, die am Wiener
schaftseinrichtungen, die als Schritt zu einer    sozialen Wohnungsbau beteiligt waren oder
Vergesellschaftung des Wohnens gesehen            in laufenden Projekten engagiert sind. Für die
werden können.                                    IBA_Wien „Neues soziales Wohnen“ bedeutet
                                                  dies, dass die Antworten auf neue Herausfor-
Nach der erzwungenen Unterbrechung durch          derungen von einem hohen Standard aus zu
Faschismus und Krieg setzte Wien weiterhin        entwickeln sind.
auf den öffentlichen Wohnungsbau. Wieder-
aufbau, Siedlungsbau, industrialisierte Woh-
nungsproduktion und nicht zuletzt „sanfte“,
weil bewohnerorientierte, Stadterneuerung
werden getragen von der grundsätzlichen
Auffassung, dass Wohnen nicht zur Gänze dem
freien Markt überlassen werden soll. Die Stadt
hat dafür ein umfangreiches rechtliches, finan-
zielles und administratives Instrumentarium
geschaffen. Wichtige Bedingungen, etwa hin-

                                PROGRAMMATIK ZUR INTERNATIONALEN BAUAUSSTELLUNG WIEN 2022
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Aktuelle Herausforderungen

    In den vergangenen Jahren ist das Thema des        Die IBA_Wien wird daher ausgehend von der
    leistbaren Wohnens in fast allen mitteleuropä-     „Resolution für den sozialen Wohnbau“ auch
    ischen Städten ins Zentrum der Aufmerksamkeit      weiterhin europaweit Lobbying für sozialen
    gerückt. Aufgrund eines deutlichen Bevölke-        Wohnbau als maßgebliches gesellschafts- und
    rungswachstums wird Wohnraum in Städten            verteilungspolitisches Instrument des Wohl-
    zunehmend knapper. Steigende Mieten, Ver-          fahrtsstaates betreiben.
    drängung von einkommensschwächeren Be-
    völkerungsgruppen aus bestimmten Stadt-                „Wir wollen keine soziale Segregation, son-
    gebieten und die Privatisierung kommunaler             dern soziale Durchmischung. Alle Verantwort-
    Wohnungsbestände werden von Expertinnen                lichen sollten daran interessiert sein, dass es
    und Experten, von den Medien aber auch von             in ganz Europa für alle Menschen leistbare
    den Bürgerinnen und Bürgern selbst als Gefahr          Wohnungen gibt. Die Lebensqualität zu er-
    für die sozial gemischte Stadt und damit auch          halten und zu steigern, genügend Platz und
    für den sozialen Frieden gesehen. Immer häufi-         Grünraum bereit zu stellen – und das bei wach-
    ger ist die Wohnungsfrage in Europa ein Thema          senden Bevölkerungszahlen – ist der größte
    für die lokale Stadtpolitik, während ein allge-        Drahtseilakt der Zukunft.“
    meiner Rückzug der nationalen Politiken die Fi-                      Bürgermeister Dr. Michael Häupl
    nanzierung von Initiativen für den öffentlichen
    Wohnungsbau unterminiert hat. Städte haben         Seit einigen Jahren ist in Europa zu beobachten,
8
    eine herausragende Rolle bei der Gestaltung        dass die knapper werdenden öffentlichen Mittel
    und Steuerung der einschlägigen Politikberei-      sowie die zunehmend ungleiche Verteilung von
    che gespielt, und Wien ist dabei in vielen euro-   Einkommen und Vermögenswerten auch funkti-
    päischen Städten zu einem relevanten Bezugs-       onierende gesellschaftliche Systeme unter Druck
    rahmen für Governance Assets geworden.             geraten lassen. Das Erfordernis einer wesentli-
                                                       chen Steigerung der Wohnungsneubauleistung
    Der Ruf nach mehr kommunalem Engagement            samt erforderlicher technischer, sozialer sowie
    bei der Lösung der „Wohnungsfrage“ wird            Bildungs-, Arbeits- und Versorgungsinfrastruktur
    lauter. Vielerorts, wo sich Kommunen in den        stellt eine Herausforderung dar, mit der sich zahl-
    1990er-Jahren fast völlig aus dem sozialen         reiche europäische Städte auseinandersetzen
    Wohnbau zurückgezogen haben, werden am-            müssen. Hinzu kommen stark steigende Grund-
    bitionierte Wohnbauprogramme beschlossen.          stückspreise, ein geringes Wirtschaftswachstum
    Die europaweit zunehmende Bedeutung der            sowie damit verbunden durchschnittlich stagnie-
    Wohnungsfrage wird u. a. auch durch die brei-      rende bzw. sinkende Realeinkommen. Es liegt
    te Zustimmung zur – von Bürgermeister Micha-       daher auf der Hand, dass es einerseits erforder-
    el Häupl und Wohnbaustadtrat Michael Ludwig        lich ist, mit raschen Sofortlösungen darauf zu re-
    initiierten – „Resolution für den sozialen Wohn-   agieren, und andererseits die Kräfte in der Stadt
    bau“ deutlich. Diese wurde von Bürgermeiste-       und im Austausch mit anderen Städten Europas zu
    rinnen und Bürgermeistern aus über 30 europä-      bündeln. Die Aufgabe ist, gemeinsam nach neu-
    ischen Städten unterschrieben.                     en Lösungen zu suchen und dabei bewusst auch
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Freiräume vorzusehen, um dort, wo es notwen-        Bevölkerungsentwicklung in Wien
dig ist, eingefahrene und gut erprobte Wege zu
verlassen und einen experimentellen Raum für        Die starke sozio-demografische Veränderung
eine kreative und innovative Laborsituation – ei-   der Stadtgesellschaft ist ursächlich mit den Phä-
nen „Ausnahmezustand auf Zeit“ – zu schaffen.       nomenen des Stadtwachstums verknüpft. Welt-
                                                    weit zieht es die Menschen in die Städte. Im Jahr
In diesem Zusammenhang ist es wichtig, sämtli-      2050 sollen bereits zwei Drittel der prognosti-
che Akteurinnen und Akteure auf politischer und     zierten zehn Milliarden Menschen in Städten
administrativer Ebene zu motivieren und mitein-     leben. Eine verstärkte Zuwanderung aus um-
zubeziehen.                                         liegenden Regionen und stark benachteiligten
                                                    oder zerstörten Gebieten der Welt ist ein globa-
Gleichermaßen von Bedeutung ist die Aktivie-        les Faktum.
rung jener Akteurinnen und Akteure, die den
Wohnbau, das Quartier, die Stadt planen und         Vor dem Hintergrund der demografischen und
umsetzen: Bauträger, Architektinnen und Ar-         sozialen Entwicklungstrends der wachsenden
chitekten, Landschaftsplanerinnen und Land-         Stadt werden Wohnen und Wohnumfeld als
schaftsplaner, Soziologinnen und Soziologen,        Grundlage sozialräumlicher Integration auch
die Wirtschaft, soziale Träger etc. Nur mit ihrem   im Rahmen der IBA_Wien betrachtet. Dies be-
Know-how und ihrer tatkräftigen Hilfe kann es       trifft sowohl den Neubaubereich als auch den
                                                                                                        9
gelingen, die befristete Laborsituation frucht-     Bestand und seine Weiterentwicklung.
bringend für das Ausloten alltagstauglicher Ver-
änderungen zu nutzen. Über eine wesentliche         Einige demografische Fakten, die für den
Expertise verfügen allerdings auch die Bewoh-       IBA_Wien-Diskurs von Bedeutung sind:
nerinnen und Bewohner sowie die Beschäf-
tigten in den verschiedenen Quartieren, die           Die Bevölkerung Wiens wächst kontinuierlich
deshalb im Rahmen der IBA_Wien ebenfalls in           und nimmt in den letzten Jahren immer stär-
vielfältiger Weise in die Prozesse und Entwick-       ker zu. Alleine im Jahr 2016 stieg die Bevölke-
lungen einbezogen werden.                             rungszahl um 2,4 % auf rund 1,84 Mio. an.

                                                      Die Gruppe der älteren, insbesondere hoch-
                                                      betagten Menschen (75+) nimmt ebenfalls
                                                      laufend zu. Damit steigt auch der Bedarf an
                                                      Pflege- und Gesundheitsleistungen sowie an
                                                      sozialer Teilhabe.

                                                      Der Anteil an Kindern und Jugendlichen an
                                                      der Gesamtbevölkerung steigt besonders
                                                      stark und damit auch die entsprechenden
                                                      Anforderung an die Gestaltung von Bildungs-
                                                      und Betreuungseinrichtungen, an Wohnraum
                                                      und Wohnumfeld.

                                  PROGRAMMATIK ZUR INTERNATIONALEN BAUAUSSTELLUNG WIEN 2022
PROGRAMMATIK ZUR INTERNATIONALEN BAUAUSSTELLUNG WIEN 2022 - RAHMEN STRUKTUR MEMORANDUM
Parallel zur zunehmendem Vielfalt an Le-         Die angesprochenen demografischen Entwick-
     bensstilen (Patchwork-Familien, Alleinerzie-     lungen gehen auf Grund der Auswirkungen der
     hende, neue Großfamilien etc.) schreiten die     Finanz- und Wirtschaftskrise Hand in Hand mit
     Individualisierung und auch die Internationa-    einer zunehmenden Prekarisierung im Arbeits-
     lisierung der Bewohnerschaft durch Zuwan-        bereich, einer generellen Verschärfung auf dem
     derung voran.                                    Arbeitsmarkt und damit einer Veränderung der
                                                      verfügbaren Haushaltseinkommen. Soziale
     Der derzeitige Anteil an Singlehaushalten um-    Spannungen, Tendenzen der „Entsolidarisie-
     fasst rund 45 % aller Wiener Haushalte. Hier     rung“, Generationenkonflikte und wachsen-
     gilt es einerseits auch künftig ein adäquates    de Ängste charakterisieren heute zunehmend
     Angebot für die sehr unterschiedlichen Al-       Stadtgesellschaften und definieren auch für die
     tersgruppen zu bieten. Andererseits soll der     IBA_Wien Aufgabenstellungen. Dazu kommen
     Nachfrage nach dem Zusammenleben von             globale Herausforderungen durch den Klima-
     Singles in einem lockeren Verband („Wohn-        wandel und technologische Entwicklungen
     gemeinschaft“) besser entsprochen werden.        („Industrie 4.0“).

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                                            Bevölkerungsentwicklung in Wien, Stand 2014 © Statistik Austria, MA 23
Soziale Durchmischung und                        Das benötigte hohe Neubauvolumen wird zuneh-
sozial nachhaltige Stadtquartiere                mend in der Schaffung neuer Stadtquartiere und
                                                 Stadtteile umgesetzt werden und beschränkt sich
Wien hat durch seine kontinuierliche Woh-        nicht mehr nur auf die Errichtung von baulichen „In-
nungspolitik nicht nur einen besonderen          serts“ in der bereits gebauten Stadt. Die IBA_Wien
Beitrag zur sozialen Durchmischung aller Be-     sieht es daher als ihre Aufgabe an, diese neuen For-
völkerungs- und Einkommensgruppen im ge-         men des „Siedlungsbaus“ – im Sinne von gut aus-
samten Stadtgebiet geleistet, sondern auch       gestatteten und gleichzeitig entwicklungsfähigen
eine wesentliche Grundlage für soziale Durch-    Stadtquartieren – als neue soziale Entwicklungsräu-
lässigkeit und individuellen sozialen Aufstieg   me verstärkt in die Diskussion einzubringen.
ermöglicht.
                                                 Die Schnittstelle zwischen neu gebauter und
Dieser Status quo gerät jedoch in Bedrängnis.    bereits bestehender Stadt aber auch die Bezie-
Zählte zu Beginn der „Sanften Stadterneue-       hung zwischen diesen ist im Veränderungstem-
rung“ in den 1980er-Jahren der gründerzeitli-    po der aktuellen Wohnbauproduktion unter
che Althausbestand zum Billigsegment in der      dem Gesichtspunkt „Was kann Neues für Altes
Wohnversorgung und war damit u. a. auch ein      leisten“ besonders relevant.
wichtiger Ankunftsort für einkommensschwa-
che Bevölkerungsgruppen, so ist dieses pri-      Ziel der IBA_Wien „Neues soziales Wohnen“ ist
                                                                                                        11
vate Wohnungssegment auf Grund anhaltend         es daher auch, bestehende Modelle mit einem
hoher Investitionsinteressen in Immobilien       gelungenen Mix unterschiedlicher Typologien
und einer globalen Liberalisierung des Miet-     von Gebäuden, Wohnungen und Freiräumen in
rechtes von stark steigenden Mieten betroffen.   differenzierten Kostenstrukturen zu analysieren
Diese Veränderungen beeinflussen auch alle       und damit Impulse für einen umsetzbaren Wei-
anderen Wohnungssegmente: sowohl der Ver-        terentwicklungsprozess zu setzen. Dabei ist auch
sorgungsdruck auf besonders günstige kom-        die Einplanung notwendiger zielgruppenspezi-
munale und geförderte Wohnungsbestände           fischer Qualitäten (Wohnanforderungen im Alter,
als auch der Bedarf an besonders leistbaren      Kinder- und Jugendgerechtheit, partizipative,
geförderten Wohnungen im Neubaubereich           gemeinschaftsbildende und gemeinwesenori-
steigen. Darüber hinaus sind weitere kreative    entierte Modelle) zu beachten, ebenso wie die
Lösungen zur Schaffung von Angeboten für An-     Verbindung mit notwendigen Quartiersausstat-
kunfts- und Startwohnungen sowie von integ-      tungen im Bereich Bildung, Kultur, lokale Ökono-
rativen Wohnformen gefragt.                      mie und soziale Infrastruktur.

                                PROGRAMMATIK ZUR INTERNATIONALEN BAUAUSSTELLUNG WIEN 2022
Chancen einer IBA für Wien

     Die Erfahrung aus vergleichbaren Beispielen                      Auf internationaler Ebene bietet die IBA für Wien
     anderer Städte und Regionen zeigt, wie schwie-                   die Chance, aufbauend auf bereits laufenden
     rig es ist in gut funktionierenden Systemen Pro-                 Aktivitäten – z.B. jene zur „UNECE-Charter on Sus-
     zesse zu etablieren, die mit dem Anspruch inno-                  tainable Housing“ oder des Wiener Vorsitzes im
     vativer Entwicklungskraft initiiert werden und                   Rahmen einer EU-Partnerschaft zum Wohnen –
     sich daher mit einer überdurchschnittlich hohen                  Kooperationen mit Forschungsinstitutionen,
     Erwartungshaltung konfrontiert sehen, sei es                     Universitäten, Interessenvertretungen und Netz-
     im Bereich der Fachöffentlichkeit oder auf dem                   werken auszubauen und so wesentliche Themen
     Feld konkreter vorzeigbarer Ergebnisse.                          der Wohnbaupolitik über die IBA_Wien hinaus zu
                                                                      beeinflussen. Ein gemeinsames Ziel für viele eu-
     Eine Chance, die das Format der IBA für Wien bie-                ropäische Städte sollte es sein, Wohnbau und das
     tet, liegt darin, sich auf Grundlage dieser Erfah-               Wohnen generell als eine Querschnittmaterie aus
     rungen dem in jedem funktionierenden Gefüge                      sozialen, ökonomischen, ökologischen, architek-
     auch vorhandenen „aktuellen Problemdruck“1                       tonischen und politischen Aspekte zu begreifen.
     zu widmen und die Funktion der IBA darauf aus-
     zurichten, für diese Problemstellungen neue                      Die Chancen dafür stehen gut. Durch das rasche
     Lösungen zu entwickeln, die von den vorhan-                      Wachstum legen zahlreiche Städte, die sich in
     denen Akteurinnen und Akteuren und Systemen                      der Vergangenheit zum Teil bereits vom geför-
     aus welchen Gründen auch immer nachweislich                      derten Wohnbau und von der Gemeinnützig-
12
     nicht zustande gebracht werden können. Dafür                     keit verabschiedet hatten, neue „Wohnbau-
     ist es einerseits erforderlich, teilweise neue Ver-              programme“ auf. Das öffentliche Engagement
     netzungen und Interaktionen auch unter Beizie-                   im sozialen Wohnbau nimmt wieder zu, und
     hung bislang nicht „typischer“ Akteurinnen und                   viele Kommunen und Städte sind auf der Suche
     Akteure zu ermöglichen und andererseits einen                    nach Lösungen, wie auf die gegenwärtigen
     geschützten Bereich für Experimente und Labor-                   Herausforderungen reagiert werden kann. Die
     situationen einzurichten, der das Beschreiten                    IBA_Wien will diese Entwicklung proaktiv nüt-
     neuer Wege in gut erprobten Systemen über-                       zen und sich damit auch zukünftig als Haupt-
     haupt erst in den Bereich des Möglichen rückt.                   stadt des sozialen Wohnbaus etablieren.

     1
         Vgl. „Eine IBA entsteht aus konkreten Herausforderungen der Stadtgesellschaft, aus jeweils aktuellem Problemdruck“
         (in: „Memorandum zur Zukunft Internationaler Bauausstellungen“, 2009)
DIE WOHNUNGSFRAGE IM KONTEXT
                   DER INTERNATIONALEN BAUAUSSTELLUNGEN

Wien zählt zu den stark wachsenden Städten           Seit vielen Jahren richtet sich der Blick vieler
Europas. Das Wachstum und die damit verbun-          europäischer Städte auf Wien, verfügt diese
denen Anforderungen an die Schaffung von             Stadt doch über ein besonderes wohnungs-
Wohnraum und neuen Quartieren werden die             politisches Instrumentarium im Bereich des
Struktur der Stadt verändern. Bis zum Jahr 2025      sozialen Wohnungsbaus. Während beispiels-
soll Raum für bis zu 120.000 neue Wohnungen          weise in Deutschland in manchen Städten alte
bereitgestellt werden. Die über den Stadtent-        Wohnungsbestände und kommunale wie ge-
wicklungsplan 2025 zum Ausdruck gebrachte            meinnützige Wohnungsbaugesellschaften an
Zielrichtung ist unmissverständlich: Unter der       Höchstbieter verkauft und die Wohnungsfrage
Überschrift „Die Stadt weiterbauen“ geht es          der Immobilienwirtschaft überlassen wurde,
um die Weiterentwicklung des bebauten Stadt-         hat Wien konsequent an seiner 100-jährigen
gebietes ebenso wie um die Vorsorge für die          Tradition des geförderten Wohnungsbaus fest-
Stadterweiterung. Die Herausforderungen sind         gehalten. Dies unter anderem mit dem Ergeb-
groß: Schließlich geht es immer auch darum,          nis einer im internationalen Vergleich sehr
die Leistbarkeit des Lebens in der wachsenden        gedämpften Wohnkostenbelastung. Doch glei-
Stadt im Blick zu behalten. In vielen Städten sind   chermaßen ist auch in Wien zu beobachten, wie
steigende Mieten und Verdrängungsprozes-             der soziale Wohnbau angesichts stark steigen-
se die Konsequenz des steigenden Auseinan-           der Grundstückspreise, eines durchschnittlich
derklaffens zwischen Angebot und Nachfrage.          stagnierenden bzw. sinkenden Realeinkom-
                                                                                                        13
Immer mehr Menschen in prekären Arbeitsver-          mens und eines stagnierenden Wirtschafts-
hältnissen und Lebenssituationen konkurrieren        wachstums zunehmend unter Druck gerät.
um das sich verknappende Gut des leistbaren
Wohnraums.                                           Mit dem Instrument der Internationalen Bau-
                                                     ausstellung hat sich die Stadt Wien dazu ent-
Fehlt das entsprechende wohnungspolitische           schlossen, hier neue Akzente setzen zu wollen.
Steuerungsinstrumentarium, drohen die Städte         Das Instrument der Internationalen Bauausstel-
in krisenhafte Situationen zu geraten. Die Ge-       lung soll die Voraussetzungen dafür schaffen,
fahr ist groß, dass dies zu einer Zuspitzung so-     beispielgebende Antworten auf Fragen des
zialer Ungleichheiten führen wird.                   „Neuen sozialen Wohnens“ zu finden.

                                   PROGRAMMATIK ZUR INTERNATIONALEN BAUAUSSTELLUNG WIEN 2022
Einordnung der IBA_Wien in die Tradition
     der Internationalen Bauausstellungen 2

     Die Tradition der Bauausstellungen ist mittler-                 dium absolviert hatte, versinnbildlichte schon
     weile über 100 Jahre alt: Mitte des 19. Jahrhun-                damals die Anstrengungen der Stadt, modernes
     derts wurde es üblich, bautechnische Neuerun-                   zeitgemäßes Wohnen in den Wohnungsgrund-
     gen auch in Weltausstellungen zu präsentieren.                  rissen und der effizienten Nutzung der Wohnun-
     Die Tradition eigenständiger Bauausstellungen                   gen zu manifestieren und weiter zu entwickeln.
     wird 1901 mit der Darmstädter Mathildenhöhe                     100.000 Besucherinnen und Besucher besuch-
     als Dokument von Baukunst und Wohnkultur                        ten die Siedlung am Südwest-Rand von Wien
     begründet; die baulichen Ergebnisse gelten als                  während der Ausstellungszeit vom 4. Juni bis
     Meilenstein des deutschen Jugendstils. Wenn-                    zum 7. August 1932.
     gleich nicht im Format einer IBA, so war es in
     Wien 1932 mit der Internationalen Ausstellung                   In Deutschland hat indes eine Reihe internati-
     zur Werkbundsiedlung doch möglich, einen ver-                   onaler Bauausstellungen in unregelmäßigen
     gleichbaren Ansatz zur konsequenten Weiter-                     Abständen und mit sehr verschiedenen themati-
     entwicklung der Bau-, Wohn- und Lebensauffas-                   schen Ausrichtungen stattgefunden. Gemeinsam
     sung im Kontext mit der Freiheit des Individuums                ist allen, dass sie immer Spiegel ihrer Zeit bezo-
     umzusetzen. Unter der künstlerischen Leitung                    gen auf gesellschaftliche, technische und kultu-
     des Architekten Josef Frank vereinte die Wiener                 relle Strömungen und Entwicklungen gewesen
     Werkbundsiedlung in den Jahren 1930 bis 1932                    sind. Vor dem Hintergrund der Wiener IBA „Neu-
     insgesamt 30 in- und ausländische Architektin-                  es soziales Wohnen“ lohnt es sich daher, einen
14
     nen und Architekten um ein Entwicklungsgebiet                   schlaglichtartigen Blick zurück in die Geschichte
     von 70 Häusern im 13. Wiener Gemeindebezirk.                    vor allem jener Bauausstellungen zu werfen, die
     Der Beitrag von Margarete Schütte-Lihotzky, der                 sich im engeren wie im weiteren Sinne mit der
     ersten Frau, die in Österreich ein Architekturstu-              Wohnungsfrage auseinandergesetzt haben.

                                                                                                 Werkbundsiedlung Wien, 1932

     2
         Die nachfolgenden Ausführungen zur Geschichte der Internationalen Bauausstellungen basieren auf der Publikation:
         M:AI Museum für Architektur und Ingenieurkunst NRW in Kooperation mit der IBA Hamburg (Hg): IBA meets IBA, Booklet zur
         Ausstellung zur 100jährigen Geschichte der Internationalen Bauausstellungen; Hamburg/Gelsenkirchen 2011.
Mathildenhöhe Darmstadt 1901 –                      In gemeinsamer Arbeit gaben Architektinnen
Dokument von Baukunst und Wohnkultur                und Architekten, Maler und Bildhauerinnen der
                                                    Umwelt Gestalt – mit dem Anspruch einer Ver-
Zunächst ein Rückblick in die zweite Hälfte des     söhnung von Kunst und Alltag, Stadt und Natur.
19. Jahrhunderts. Ein rapides Wachstum von In-      Die Künstlerkolonie strebte damit ein Gestal-
dustrie, Handel und Verkehr und eine bis dahin      tungskonzept an, welches alle Lebensbereiche
noch nie da gewesene Konzentration von Men-         berühren sollte. Als „Markstein auf dem Wege
schen, Produktionsstätten und Kapital führten       der Lebenserneuerung“ suchten die Mitwirken-
zu einer „Explosion“ der Städte, für deren plan-    den nach einer neuen Form, „welche nicht der
volle Entwicklung kaum Vorbilder und Orien-         heutigen gewohnten Art entspricht, sondern
tierungen vorlagen. Mit der raschen Industriali-    weit vorauseilt und Zukünftiges miteinschließt“
sierung einhergehend veränderte sich auch die       (Joseph Maria Olbrich).
gesellschaftliche Situation: Gegenstände des
alltäglichen Gebrauchs wurden nunmehr fast          Weißenhofsiedlung in Stuttgart 1927 –
ausschließlich in industrieller Massenfertigung     gebautes Manifest der Moderne
hergestellt, die Kunst entzog sich zunehmend
dem gesellschaftlichen Alltag.                      Mit ihren 21 Musterhäusern gilt die Weißenhof-
                                                    siedlung als „gebautes Manifest“ für ein moder-
                                                    nes, offenes Lebensgefühl. Reduziert auf das We-
                                                                                                             15
                                                    sentliche, repräsentiert die Weißenhofsiedlung
                                                    die damals aktuelle Entwicklung der Architektur
                                                    und des Wohnungsbaus. Unter der künstlerischen
                                                    Leitung von Ludwig Mies van der Rohe schufen
                                                    die 17 beteiligten Architekten (u. a. Le Corbusier,
                                                    Gropius, Oud und Scharoun) ein „mustergültiges
                                                    Wohnprogramm für den modernen Großstadt-
                                                    menschen“. Die Arbeiten der Architekten aus fünf
                                                    europäischen Ländern in einer Siedlung sollten
                          Mathildenhöhe Darmstadt
                                                    demonstrieren, dass das Neue Bauen eine „in-
                                                    ternationale Architektur“ sei. Ihre Befürworter
Vor diesem Hintergrund und gleichermaßen            feierten die Siedlung als Blick in die Zukunft, Kri-
auch als symbolischer Auftakt der Moderne fand      tiker hingegen diffamierten sie als „Araberdorf“.
im Jahr 1901 auf der Darmstädter Mathildenhö-       Die Siedlung polarisierte – Flachdach gegen Sat-
he erstmals eine Bauausstellung statt, bei der      teldach, aufgeschlossene gegen konservative
die Trennung zwischen Gebautem und Ausge-           Kräfte, Moderne gegen Heimatverbundenheit.
stelltem, zwischen Bauwerk und Umgebung
aufgehoben wurde. Im Zuge der Lebensreform-
bewegung erhielt diese erste Bauausstellung
große internationale Anerkennung.

                                                                               Weißenhofsiedlung Stuttgart

                                 PROGRAMMATIK ZUR INTERNATIONALEN BAUAUSSTELLUNG WIEN 2022
Interbau in West-Berlin 1957 –                         IBA Berlin 1987 –
     die Stadt von Morgen                                   die kritische Konstruktion der Stadt

     Berlin, 50 Jahre später. Nach der Teilung der          Von der Interbau 1957 zur Internationalen Bau-
     Stadt begann die Stadtentwicklung in Ost und           ausstellung Berlin 1987. Die gängige Strategie
     West unterschiedliche Wege zu gehen. Während           der Flächensanierung und des Abrisses ganzer
     Ost-Berlin zur Hauptstadt der DDR wurde, for-          Stadtquartiere stieß zunehmend auf Kritik und
     mierte sich das isolierte West-Berlin zum „pro-        Widerstand. Im bewussten Kontrast zur Inter-
     pagandistischen“ Demonstrationsprojekt des             bau von 1957 war das zentrale Thema der IBA
     Westens. Mit Unterstützung aus Mitteln des Mar-        1987 die Wiederentdeckung der durch Krieg und
     shall-Plans vollzog sich in den 1950er Jahren ein      Mauerbau weitgehend zerstörten historischen
     Wandel von der Reparatur zum Wiederaufbau              Innenstadt in Berlin. Erstmals in der Geschichte
     der Stadt. Geträumt wurde von einer geglieder-         der Bauausstellung machte die IBA Berlin die Er-
     ten und aufgelockerten Stadt. Unter die Traditi-       neuerung der Altbaubestände und das Einfügen
     on der Mietskasernenstadt des 19. Jahrhunderts         von Neubauten in den Bestand – also die Repara-
     sollte ein klarer Schlussstrich gezogen werden.        tur der Stadt – zum zentralen Anliegen. 30 Jahre
                                                            nach der Interbau stellte sich die IBA Berlin 1987
                                                            gegen den Nachkriegsstädtebau. Die IBA Berlin
                                                            1987 lebte von zwei Ansätzen zur Stadtentwick-
16
                                                            lung: der IBA-Neubau und der IBA-Altbau.

                                                            Unter dem Leitbild der „kritischen Rekonstrukti-
                                                            on“ der Stadt, fokussierte die IBA-Neubau unter
                                                            der Leitung von Josef Paul Kleihues auf die südli-
                                                            che Friedrichstadt, das südliche Tiergartenviertel
                                                            und den Tegeler Hafen. Die Verknüpfung von Ar-
                                     Interbau Berlin 1957   chitektur und Baukunst wurde zum programma-
                                                            tischen Anliegen der Neubau-IBA. Dem gegen-
     Ihren sichtbaren Ausdruck fand dieses neue Leit-       über stand die IBA-Altbau unter der Leitung von
     bild in der ersten Internationalen Bauausstellung      Hardt-Waltherr Hämer. Zu ihren wesentlichen
     der Nachkriegszeit, der Interbau Berlin von 1957.      Anliegen zählten die Erhaltung, Stabilisierung
     Als Demonstrationsvorhaben mit Modellcharak-           und Weiterentwicklung der vorhandenen sozi-
     ter angelegt, sollte – nach Abriss und Neubau des      alen und funktionalen Strukturen der Stadt und
     stark kriegszerstörten großbürgerlichen Hansa-
     viertels – ein Exempel für „die Stadt von Morgen“
     präsentiert werden. Unter der Schirmherrschaft
     des Berliner Senats wurden 53 international be-
     kannte Architektinnen und Architekten ausge-
     wählt, einzelne Objekte in einer parkähnlichen
     Landschaft zu realisieren. Das neue Hansaviertel
     wollte die Erinnerung an das alte Hansavier-
     tel völlig vergessen machen. Anstelle der alten
     Blockbebauung trat ein Mix aus Hoch- und Flach-
     bauten – inmitten einer Parklandschaft.
                                                                                                 IBA Berlin 1987
die Durchsetzung von Prozessen wie Selbsthil-               de Stadtgesellschaft ihre Kraft entfalten kann
fe- und Mietermodernisierung. Insgesamt führ-               und wie soziale und kulturelle Barrieren in ei-
te vor allem die IBA-Altbau die Planung in eine             nem ganzheitlichen Planungsansatz mit den
neue Epoche: Der Neubau trat zurück hinter die              Mitteln des Städtebaus und der Architektur, aber
Sicherung und Modernisierung der Bestände. Mit              auch der Bildung, Kultur und Förderung lokaler
ihren Pilotprojekten war sie Auslöser von Förder-           Ökonomien überwunden werden können. Mit
programmen zur Stadterneuerung und auch von                 konkreten Bauprojekten sowie mit sozialen und
Änderungen in der Gesetzespraxis in den Berei-              kulturellen Programmen entstanden neue Stadt-
chen Sanierung und Milieuschutz.                            räume für die internationale Stadtgesellschaft
                                                            des 21. Jahrhunderts, ohne den Zwang zur Mi-
IBA Hamburg 2013 –                                          schung, aber mit der Möglichkeit zum Brücken-
Räume für internationale                                    bauen.“3 Erstmals in der Geschichte rückte damit
Stadtgesellschaften                                         die Zukunft des Miteinanders in der Metropole in
                                                            den Fokus einer Internationalen Bauausstellung.
Die Internationale Bauausstellung Hamburg
2013 erweiterte den Fokus deutlich. Sie nahm
sich der Herausforderung an, die Fragen nach
dem Gewinn der internationalen Stadtgesell-
schaft für die Metropolenentwicklung, nach der
                                                                                                                17
Gestaltung der „inneren Stadtränder“ und letzt-
lich nach den Herausforderungen zur Bewälti-
gung und Gestaltung der Stadt im Klimawandel
beispielgebend zu beantworten. Der Blick rich-
tete sich dabei auf die Hamburger Elbinseln. Mit
ihren über 100 Nationen sind die Hamburger
Elbinseln Orte der Vielfalt und Internationalität.
Im Leitthema Kosmopolis wurde die Frage ge-
stellt, „wie eine immer internationaler werden-
                                                                                             IBA Hamburg 2013

3
    http://www.iba-hamburg.de/story/leitthemen-der-iba/kosmopolis.html

                                        PROGRAMMATIK ZUR INTERNATIONALEN BAUAUSSTELLUNG WIEN 2022
Der Wiener soziale Wohnbau
     auf internationaler Ebene

     Wien ist bereits seit vielen Jahren an vielfältigen          den Zugang zum geförderten Wohnbau also
     internationalen Aktionsprogrammen und Ini-                   nicht nur auf die Bedürftigsten zu beschränken.
     tiativen beteiligt, um einerseits die eigene Ex-
     pertise im Austausch mit internationalen Part-               2014 initiierte Wien eine weltweite „Charter
     nern einzubringen und das Thema des sozialen                 on Sustainable Housing“ im Rahmen der UN-
     Wohnens breiter zu verankern und andererseits                ECE (Committee for Housing and Land Manage-
     um innovative Lösungen und Maßnahmen ken-                    ment / Wohnbauausschuss der Europäischen
     nenzulernen und auf deren Übertragbarkeit                    Wirtschaftskommission der Vereinten Natio-
     auf Wien zu überprüfen. Wiederholt wurde die                 nen; s. Kasten).
     Stadt für Leistungen im sozial orientierten Woh-
     nungswesen mit Preisen – etwa von der UNO –                  Seit Ende 2015 hat Wien den Vorsitz in der
     ausgezeichnet und auch mehrfach zur Stadt mit                Arbeitsgruppe Housing im Rahmen des
     der weltweit höchsten Lebensqualität gekürt.                 EU-Städtenetzwerks Eurocities und ist Mit-
     Daraus ergibt sich nicht zuletzt eine Verpflich-             glied in der Partnership on Housing inner-
     tung, international für eine solidarische, sozial            halb der „Urban Agenda for the EU“.
     gerechte Wohnungspolitik einzutreten.
                                                                  Seit Jänner 2016 ist Wien in dem während der
     Unter dem Einfluss global erfolgter Deregulie-               IBA-Hamburg initiierten „IBA meets IBA“-Netz-
     rungen des Marktes und der daraus folgenden                  werk vertreten.
18
     Auswirkungen auf die Wohnungssituation neh-
     men Exkursionen und Austauschbesuche inter-                  Mit der Wanderausstellung „Das Wiener Mo-
     nationaler Vertretungen aus Politik, Verwaltung              dell/The Vienna Model“4 werden diese inter-
     und Bauwirtschaft nach Wien zu. Nicht wenige                 nationalen Aktivitäten seit 2013 unterstützt.
     Städte haben im Zuge dieser Entwicklungen                    U. a. war die 2016 aktualisierte Ausstellung
     ihre kommunale Wohnbautätigkeit so stark zu-                 bereits in New York, Baltimore, Washington,
     rückgefahren, dass teilweise sogar die Struktu-              Wien, Sofia, Riga, Istanbul, Hongkong, und zu-
     ren dafür nicht mehr vorhanden sind.                         letzt in Berlin zu sehen.

     Gleichzeitig gibt es nach wie vor große Wider-               Konsequenterweise unterstützt Wien auch
     stände, wenn es darum geht, die Instrumen-                   Maßnahmen, die den z.B. mit dem Investo-
     te für einen sozialen Wohnbau nicht nur als                  renschutz in Handelsabkommen verbundenen
     Versorgung der „Verletzlichsten“ zu verstehen                Gefahren für eine soziale Wohnungspolitik
     sondern als gesellschaftspolitisches Instrument              entgegenwirken. Die IBA_Wien sieht sich als
     für breitere Bevölkerungsschichten. Wien enga-               Teil der Bemühungen, weiterhin eine ökolo-
     giert sich daher seit mehreren Jahren verstärkt              gisch und sozial orientierte Wohnbau- und
     auf mehreren internationalen Aktionsebenen:                  Sanierungspraxis zu ermöglichen und deren
                                                                  Qualitäten laufend weiterzuentwickeln.
         2013 initiierte Wien auf EU-Ebene die Resolu-
         tion für „Erhalt und Ausbau des sozialen und
         nachhaltigen Wohnbaus in Europa“, die bislang
         von 30 europäischen Großstädten unterzeich-
         net wurde. Gefordert wird im Sinne der Subsi-
         diarität, die Definition von Zielgruppen des ge-
         förderten Wohnbaus den Mitgliedsstaaten bzw.
         den Regionen und Städten zu überlassen und

     4
         Wolfgang Förster, William Menking (Hg): Das Wiener Modell/The Vienna Model; Wohnbau für die Stadt des
         21. Jahrhunderts/Housing for the Twenty-First-Century City; Jovis Verlag GmbH, 2016.
UNECE Charter on Sustainable Housing

Das Committee on Housing and Land Management (CHLM) der UNECE (Wohnbauaus-
schuss der Europäischen Wirtschaftskommission der UNO), dem 56 Länder in Europa,
Zentralasien und Nordamerika sowie Israel und zahlreiche NGOs angehören, hat unter
Federführung des österreichischen Vorsitzes in den Jahren 2010-2013 den Text für
eine UNECE Charter on Sustainable Housing (Charta für nachhaltigen Wohnbau) erar-
beitet, die bei der Sitzung des CHML in Genf im Herbst 2015 einstimmig angenommen
wurde und nunmehr von den Mitgliedsstaaten unterzeichnet werden kann.

Die Charta definiert Nachhaltigkeit in einem ökologischen und sozialen Kontext:

   - Gefördert wird ein Wohnbau, der die soziale Inklusion und
     soziale Durchmischung fördert.

   - Wohnbau soll nicht ausschließlich dem Markt überlassen werden,
                                                                                      19
     sondern erfordert auch starke staatliche Interventionen und
     öffentliche Förderung.

   - Die Kooperation mit NGOs, dem privaten Sektor sowie mit
     Non-Profit-Developern (Gemeinnützigen) ist zu forcieren.

   - Zur Realisierung neuer Wohnbauten werden wettbewerbsähnliche
     Verfahren empfohlen.

   - Neue Wohnquartiere sollen unter öffentlicher Beteiligung und
     mit ausreichender städtischer Infrastruktur entwickelt werden.

   - Im Bereich der Ökologie sind energiesparende Bauten zu favorisieren.
     Die Nutzung erneuerbarer Energien soll gestärkt werden.

   - Die Beteiligung der Zivilgesellschaft muss gesichert werden.

   - Kooperation mit Universitäten und eigene Forschungsprogramme sind ein-
     zurichten. Der internationale Know-how-Transfer soll gestärkt werden.

Der UNECE-Kongress in Wien 2017 ist Teil der internationalen Strategie der IBA_Wien
„Neues soziales Wohnen“, um die soziale Dimension des Wohnens auf europäischer
Ebene stärker zu verankern.

                          PROGRAMMATIK ZUR INTERNATIONALEN BAUAUSSTELLUNG WIEN 2022
20
MEMORANDUM ZUR IBA_Wien 2022 –
                                              NEUES SOZIALES WOHNEN

Der kurze Rückblick auf die Tradition der Inter-                  insgesamt beeinflussenden Wirkungsfaktoren
nationalen Bauausstellungen (S. 14) macht                         gerichtet und damit umfassender betrachtet
deutlich, wie sehr sich die programmatischen                      werden? Welche neuen Partner, Träger-, Finan-
Ansätze der IBAs im Laufe der Zeit verändert ha-                  zierungs- und Grundstücksmodelle können die
ben. So durchzieht ein tiefgreifender Paradig-                    Herausforderung des sozialen Wohnens auch
menwechsel deren Geschichte: weg vom reinen                       in Zukunft bewältigen und gestalten? Müssen
Ausstellungskonzept mit den Musterhäusern                         dafür das wohn- und das bodenpolitische so-
hin zu komplexen Strategien, die in ihren An-                     wie das planerische Instrumentarium ange-
sätzen und Zielrichtungen zunehmend ökono-                        passt werden? Was bedeutet dies beispielswei-
mische und soziale Anliegen, die Verbreiterung                    se auch für die Weiterentwicklung des in Wien
der Akteursbasis sowie die Weiterentwicklung                      bewährten Instruments des Bauträgerwettbe-
dieses stadtentwicklungsrelevanten Instru-                        werbs ebenso wie für die Initiierung neuer Pro-
mentariums zum Gegenstand haben. Gemein-                          zesse zu einer „kollaborativen“ Quartiersent-
sam aber ist allen, dass sie stets den Diskurs zu                 wicklung? Oder anders formuliert: Wie lässt sich
Zukunftsfragen von Städtebau, Architektur und                     die „zivilgesellschaftliche Erfindungskraft stär-
Wohnbau geprägt haben und darüber in den                          ker in die Entwicklung der Stadt einbeziehen“?6
Fokus einer internationalen Aufmerksamkeit
gerückt sind.                                                     Über die Fragen nach der Bereitstellung von
                                                                  Wohnungen hinaus beziehen sich die Heraus-
                                                                                                                          21
Die IBA_Wien reiht sich nun einerseits ein in die                 forderungen auf den Aufbau neuer, vielfältiger
außergewöhnliche Tradition der Internationa-                      urbaner, sozialer und inklusiver Quartiere. Wie
len Bauausstellung als Innovationsinstrument,                     lassen sich Prozesse des „Werdens von Stadt“
versucht aber andererseits auch eigene Akzen-                     und des sozialen Miteinanders im Quartier in
te zu setzen: erstmals5 steht nicht die Reaktion                  ihrer Vielfalt stimulieren, befördern, beeinflus-
auf einen hohen Leidensdruck im Vordergrund                       sen? Was bedeutet dies für Architektur und Städ-
sondern der Versuch, genau diesen in der Zu-                      tebau und welche Beiträge kann der geförderte
kunft zu vermeiden und möglichst zeitgerecht                      Wohnbau zu sozialen und kulturellen Prozessen
Maßnahmen zu ergreifen, um auf aktuelle und                       leisten? Wo sind möglicherweise erweiterte Zu-
absehbare Entwicklungen reagieren zu können                       gänge, Partnerschaften und neue Instrumente
bzw. diese mit neuen, innovativen Methoden                        urbaner Raumproduktion erforderlich? Vor al-
und Instrumenten aktiv zu beeinflussen und                        lem aber: Wie lassen sich die Herausforderun-
umzulenken.                                                       gen einer kurzfristigen Bereitstellung leistba-
                                                                  rer, kostengünstiger Wohnungen mit den eher
Erstmals rückt auch die Sicherung der Leistbar-                   langfristig angelegten Herausforderungen viel-
keit in den stark wachsenden Städten Europas                      fältiger, urbaner und gemischter, neuer sozialer
in den Fokus einer Internationalen Bauausstel-                    Quartiere verknüpfen? Und was bedeutet dies
lung. Wie lassen sich die hohen Anforderun-                       für die Planung selbst, für die Programmierung
gen an die Leistbarkeit bei dem hohen Druck                       und Gestaltung ganzheitlicher Prozesse in der
auf die Wohn- und Immobilienmärkte sichern?                       Entwicklung neuer und – bezogen auf den Um-
Wie kann der Begriff der Leistbarkeit von der                     bau und die Weiterentwicklung – vorhandener
alleinigen Betrachtung „des Wohnens“ auf die                      Quartiere?

5
    Auch die IBA-Initiative der Region Stuttgart verfolgt einen pro-aktiven Ansatz und formuliert einen „präventiven
    Strukturwandel“ als Kern der IBA in der Region Stuttgart (s. Memorandum IBA 2027 StadtRegion Stuttgart, S. 5)
6
    Robert Korab; in: Werkstattbericht zur Stadtentwicklung, Heft 159, Wien 2016, S. 36.

                                            PROGRAMMATIK ZUR INTERNATIONALEN BAUAUSSTELLUNG WIEN 2022
Die IBA_Wien richtet den Fokus sowohl auf den      werbstätigkeit, der Bildung und der Kultur
     Neubau, wie auch auf die Weiterentwicklung         verbessern? Wie können die Bewohnerinnen
     des Wohnungsbestandes, insbesondere auf            und Bewohner in den Prozess der Weiterent-
     die Wohnhausanlagen der 1950er bis 1970er          wicklung einbezogen werden? Und erfordert
     Jahre. Einhergehend mit dem Generationen-          dies spezifische Modelle des Stadtteilmanage-
     wechsel, mit veränderten Lebensstilen und          ments und der Quartiersentwicklung? Wieviel
     vielfältigen Kulturen ist zu beobachten, wie       Selbstverwaltung und Partizipation ist dabei
     soziale Spannungen im Zusammenleben der            möglich?
     unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen zu-
     nehmen. Im Sinne des sozialen Miteinanders         Die IBA_Wien will sich diesen komplexen Her-
     gilt es hier zukunftsorientiert zu reagieren. Es   ausforderungen stellen. Dies erfordert eine be-
     stellen sich Fragen der Anpassung an zeitge-       sondere kreative Atmosphäre und den Mut und
     mäße baulich-technische Standards ebenso           die Bereitschaft der Verantwortlichen aus Politik
     wie Fragen an die Qualität des Quartiers selbst.   und Planung, aus Soziologie, (Wohnungs-)Wirt-
     Wie lassen sich diese Bestände weiterentwi-        schaft und Kultur, dabei auch neue Pfade zu su-
     ckeln, ohne steigende Mieten und Verdrän-          chen und Neuland betreten zu wollen, alltägli-
     gungs- und Segregationseffekte zu erzeugen?        che Handlungsmuster und Kräfteverhältnisse in
     Wie lassen sich die Voraussetzungen als auch       Frage zu stellen und neue Prozesse in Gang zu
     ein erweitertes Nutzungsspektrum für neue          setzen. Die IBA_Wien bedingt die Bereitschaft
22
     Formen und Angebote der Arbeit und der Er-         und den Mut zu offenen Prozessen.
Wirkungsebenen der IBA_Wien

Die IBA_Wien soll Innovationen in verschiede-
nen Bereichen fördern und breit und nachhaltig
wirken. Aus diesem Grund werden die Aktivitä-
ten der IBA_Wien auf drei Ebenen, die mitein-
ander verknüpft sind und sich so gegenseitig
unterstützen, wirken:

Politik: Die IBA_Wien als
wohnungspolitischer Think-Tank

Die IBA_Wien positioniert sich als Gegenstück
zu bestehenden Think-Tanks, die den geför-
derten Wohnbau als wettbewerbsverzerrend
sehen, und wird Grundlagen und Argumente
für einen breiten geförderten Wohnbau lie-
fern. Wien will damit den sozialen Wohnbau,                                                           Wirkungsebenen
das soziale Quartier als zukunftsfähiges und
nachhaltiges sozialpolitisches Instrument                          Projekte: Die IBA_Wien als Labor                    23
verankern und so auch seine internationa-
le Verantwortung wahrnehmen. Dieser An-                            Die IBA_Wien wird letztlich nur dann sichtbar
spruch wird durch eine vertiefte theoretische                      sein, wenn sie aufbauend auf ihren politischen,
Auseinandersetzung und darauf fußende Pu-                          wissenschaftlichen und kommunikativen Akti-
blikationen und Stellungnahmen in Koopera-                         vitäten konkrete Projekte umsetzt. Dies werden
tion mit der Wiener Wohnbauforschung und                           einerseits Neubau- oder Sanierungsprojekte
in Absprache mit den politisch Zuständigen zu                      sein; dazu ist es erforderlich, die Forderungen
erfüllen sein.                                                     der IBA_Wien in städtebauliche Verfahren, Bau-
                                                                   trägerwettbewerbe und andere IBA-Wettbewer-
                                                                   be bzw. in Sanierungsplanungen zu integrieren;
Wissen und Kommunikation:                                          andererseits wird es sich um Kooperations- und
Die IBA_Wien als                                                   Begleitprojekte auf verschiedenen Ebenen han-
konzeptioneller Diskursraum                                        deln, die in Formaten wie Forschungsaufträgen,
                                                                   Symposien, Diskussionsveranstaltungen, Publi-
Planungstheoretische Ansätze, die Innovationen                     kationen usw. eine breitere (Fach-)Öffentlichkeit
im sozialen Wohnbau und in der Quartiersent-                       erreichen.7
wicklung zum Ziel haben, werden gezielt und
unter Einbindung von lokalen und internationa-                     Die an der Planung und Umsetzung beteiligten
len Expertinnen und Experten weiterentwickelt                      Akteurinnen und Akteure, neben den Planen-
und als Forderung in die praktische Umsetzung                      den vor allem auch die Bauträger, sollen dabei
(s. Ebene 3) eingebracht. Dafür werden über die                    verstärkt eingebunden werden – sowohl in der
bereits eingeführten IBA-Talks hinaus noch wei-                    Ideenfindung als auch bei der Problemdefiniti-
tere geeignete Formate zur Diskussion und Vor-                     on und im Lösungsansatz. Analog gilt dies auch
bereitung von Projekten entwickelt.                                für die Bürgerinnen und Bürger.

7
    s. dazu den Abschnitt „Qualifizierungsprozess – Der Weg zum IBA-Projekt“, S. 34.

                                            PROGRAMMATIK ZUR INTERNATIONALEN BAUAUSSTELLUNG WIEN 2022
Leitthemen der IBA_Wien

     Es ist offensichtlich, dass angesichts der stark                 Im Fokus der Bearbeitung stehen mit Neubau,
     ansteigenden Bevölkerungszahlen vorder-                          Bestandsentwicklung und Zusammenleben in
     hand sehr rasch und effektiv zusätzlicher                        einer zunehmend vielfältigeren Gesellschaft
     Wohn- und Lebensraum angeboten werden                            drei große Handlungsfelder, die sich in verschie-
     muss. Gleichzeitig können die notwendigen                        denen Aspekten der Leitthemen wiederfinden.
     Sofortmaßnahmen nicht die Lösung für jene
     Herausforderungen sein, die aus den sich                         Fußend in dem Anspruch des „Laboratoriums auf
     wandelnden Rahmenbedingungen entste-                             Zeit“9 kann das Instrument der Internationalen
     hen. Es muss daher parallel dazu nach neuen                      Bauausstellung zur Hilfestellung und Verpflich-
     und langfristig tragfähigen Modellen gesucht                     tung für erforderliche Frei- und Experimentier-
     werden, die geeignet sind, Antworten auf ver-                    räume und für innovative Lösungen werden. Fest-
     änderte Rahmenbedingungen zu geben. Da-                          gemacht am konkreten Raum eines Standortes
     bei geht es ausdrücklich nicht darum, den be-                    oder eines Stadtteiles ist die IBA_Wien Chance und
     stehenden Standard an Verfahren, Modellen                        Verpflichtung zugleich, spezifische Verfahrens-
     und Steuerungsmechanismen zu zelebrieren                         formen und Konzepte zu ermöglichen und zu er-
     oder fertige Lösungen vorzugeben, sondern                        proben und das dabei gewonnene Wissen in den
     um die Analyse bestehender Vorgangsweisen,                       Planungsalltag und in den Wohnungsbau zurück-
     um das Einklinken in laufende Prozesse und                       zuspielen. Dies gilt gleichermaßen für Ansätze
     um die Erforschung, Ausarbeitung und Erpro-                      neuer Fördermodelle und rechtlicher Rahmenbe-
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     bung neuer, innovativer und auch experimen-                      dingungen wie für die Überprüfung qualitativer
     teller Wege.                                                     Standards und Normen oder für neue Modelle der
                                                                      Mitwirkung und Mitgestaltung beim Bauen und
     Das Format einer Internationalen Bauaus-                         in der Quartiersentwicklung. Im Sinne einer Leis-
     stellung wurde gewählt, weil es für die Akti-                    tungsschau, vor allem aber eines Innovationspro-
     vierung und Bündelung des innovativen und                        gramms kann die Auseinandersetzung mit einem
     konstruktiven Potenzials einer Stadt einer                       sozial nachhaltigen Wohnungsbau so zu einem
     besonderen Energie und Aufbruchsstimmung                         internationalen Labor der Quartiersentwicklung
     bedarf. Die IBA stellt dafür als „Ausnahmezu-                    und des Wohnungsbaus werden.
     stand auf Zeit“ ein mehrfach bewährtes Inst-
     rument dar. Die IBA_Wien soll diese Energie                      In Zusammenarbeit mit den zuständigen Stel-
     bündeln und die Akteurinnen und Akteure mo-                      len werden z.B. einige der im Rahmen der
     tivieren, neue Modelle zu erproben und bei                       „Wohnbauoffensive 2016-2018“ vorgesehenen
     Bedarf auch eingefahrene Wege zu verlassen,                      Bauträgerwettbewerbe auch unter dem Ge-
     um einen aktiven Beitrag zur Entwicklung der                     sichtspunkt der IBA_Wien entwickelt und ent-
     Stadt zu leisten. Voraussetzung dafür ist aber,                  sprechend ausgeschrieben werden (v.a. Berres-
     jene Hindernisse zu bearbeiten, an denen die                     gasse, Seestadt Aspern II, Donaufeld etc.).
     verschiedenen Akteurinnen und Akteure teil-
     weise seit Jahren immer wieder scheitern und                     Die Leitthemen für die IBA_Wien 2022 sol-
     für die es offensichtlich andere Betrachtungs-                   len den Rahmen bilden für die Aktivitäten der
     weisen und Lösungsansätze braucht, als es die                    nächsten Jahre und darüber hinaus wirksam
     vorhandenen Strukturen und Methoden erlau-                       sein. Auf den folgenden Seiten wird dieser the-
     ben.8                                                            matische Rahmen näher erläutert.

     8
         s. dazu den Abschnitt „Chancen einer IBA für Wien“, S. 12.
     9
         s. „Memorandum zur Zukunft der Internationalen Bauausstellungen“, 2009.
Neue soziale Quartiere

                                                                                                    25

Stadt ist nicht, sie wird. In diesem Verständnis   wie neuer Arbeitsformen und Erwerbsmöglich-
geht es um die Initiierung, Gestaltung und Be-     keiten sowie von Mobilitätsbedürfnissen ge-
gleitung urbaner Sukzessionsprozesse zu neu-       geben werden. Die Integration von Kultur- und
en sozial nachhaltigen, inklusiven Quartieren.     Bildungseinrichtungen wie auch das Angebot
Diese Ausrichtung beinhaltet die Integration       von bezahlbaren Flächen für gewerbliche Nut-
in Wohnbauprojekte unterschiedlicher Funk-         zungen nehmen dabei ebenso einen zentralen
tionen und innovativer (sozialer und gesund-       Stellenwert ein wie die Neudefinition der Auf-
heitlicher) Dienstleistungen. Über die Befrie-     gaben des öffentlichen Raums sowie des woh-
digung des quantitativen Wohnraumbedarfs           nungsnahen Freiraums. Damit einher geht auch
hinaus müssen damit auch Antworten auf die         die Überprüfung, Schärfung und Weiterent-
Herausforderung der Ausdifferenzierung von         wicklung des wohnungspolitischen, planungs-
Lebensstilen, technologischer Innovationen         und auch bodenrechtlichen Instrumentariums.

                                 PROGRAMMATIK ZUR INTERNATIONALEN BAUAUSSTELLUNG WIEN 2022
Voraussetzungen für eine erfolgreiche                 Nutzungsmischung
     Quartiersentwicklung                                  Angeregt durch verschiedene Erfahrungen
     Die Schaffung neuer sozialer Quartiere, der           im Zusammenhang mit einer Nutzungsmi-
     urbane Entwicklungsprozess und die Funk-              schung in Gebäuden und Quartieren will die
     tionalität und vielfältige Nutzbarkeit neuer          IBA_Wien z.B. Aktivitäten zu neuen Wegen im
     Stadtteile bilden den Rahmen für die Ausein-          Umgang mit temporären Möglichkeitsräu-
     andersetzung mit neuen Wohn- und (Zusam-              men und Mikroökonomien, neuen Geschäfts-
     men)Lebensformen, optimierten Bauweisen,              modellen und der verstärkten Einbindung
     neuen Finanzierungs- und Grundstücksmo-               privater Akteurinnen und Akteure bzw. ein
     dellen, Suche nach (geeigneten) Bauträgern            generell neues Verständnis von Nutzungsmi-
     und urbanen Nutzergruppen etc.                        schung in Quartieren und Gebäuden anregen.

     Z.B.: Welche räumlichen, infrastrukturellen und or-   Z.B.: Wie sehen Lösungen für Nutzungsmi-
     ganisatorischen Voraussetzungen und Bedingun-         schung oder auch für Gemeinschaftseinrich-
     gen sind dafür erforderlich? Wie sieht der „Humus“    tungen aus, wenn statt der Bauplatz- eine
     aus, auf dem sich soziale Quartiere entwickeln kön-   Quartiersbetrachtung erfolgt? Wie können
     nen? Wie können nachhaltig wirksame Formate der       neue Akteurinnen und Akteure in die beste-
     quartiersbezogenen Qualitätssicherung im Prozess      henden Systeme der Quartiersentwicklung
     von Auswahlverfahren implementiert werden?            eingebunden werden? Wo sind erweiterte Zu-
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                                                           gänge, Partnerschaften und Akteurskonstella-
     Urbane Sukzession                                     tionen erforderlich/möglich?
     Während das Verständnis neuer Stadtteile als
     Quartiere überwiegend durch die Auseinan-             Bestandsentwicklung in Quartieren
     dersetzung mit dem öffentlichen Raum er-              der Nachkriegszeit
     folgt, soll im Rahmen der IBA_Wien eine Ver-          Die Thematik neuer sozialer Quartiere
     tiefung dieser Betrachtungsweise erfolgen,            schließt natürlich die Befassung mit den
     die das gesamte Angebot an Infrastruktur              Rahmenbedingungen für die Sanierung im
     und Ausstattung einbezieht und die urbane             Bestand und für den Weiterbau der Stadt
     Sukzession neuer Quartiere bzw. die dafür             mit ein. Insbesondere der Baubestand der
     erforderlichen Prozesse und Verfahren the-            1950er- bis 1970-Jahre ist ein Thema, das
     matisiert. Das inkludiert z.B. auch den Um-           sehr viele Städte in Mitteleuropa gleicher-
     gang mit Gemeinschaftseinrichtungen und               maßen betrifft und daher auch zu einem
     infrastrukturellen Ausstattungen in neuen             regen internationalen Austausch über tech-
     Quartieren.                                           nische und soziale Ausstattung, über Moder-
                                                           nisierung und Verdrängung, über Ökologi-
     Z.B.: Wie können Lösungen aussehen, die in            sierung und Technologisierung, über neue
     einem weiter wachsenden Quartier Räume für            Modelle der Selbstverwaltung, des Stadt-
     zukünftige und noch nicht genau definierbare          teilmanagements, und der Quartiersent-
     Nachfragen im Bereich der Nicht-Wohnnutzun-           wicklung und viele andere Bereiche führen
     gen bereithalten ohne die Verwertungserfor-           soll. Neben der Begleitung des EU-Projekts
     dernisse von Bauträgern und Investoren im             „Smarter Together“ in Simmering soll u. a.
     geförderten Wohnbau zu beeinträchtigen (z.B.          die Per-Albin-Hansson-Siedlung im Rahmen
     „temporäre Nutzungen“)?                               der IBA_Wien bearbeitet werden.
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