Propensity und Serendipity - zwei Leitideen steuern den

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Dr. Hans-Joachim Niemann (Poxdorf)
     Propensity und Serendipity – zwei Leitideen steuern den
                       glücklichen Zufall

1. Das Glück, das aus dem Zufall und          über haben die Physiker seit nunmehr acht
aus der Zukunft kommt                         Jahrzehnten Erkenntnisse gewonnen, die
Man kann glücklich sein bei dem, was man      revolutionär sind und die unser gesamtes
gerade tut, oder glücklich sein, weil man     Weltbild verändern könnten und auch ver-
etwas getan oder erreicht hat. Auf dem        ändern würden, wenn die Ergebnisse der
Weg zum Glück, etwas getan oder erreicht      Naturwissenschaften bei Intellektuellen
zu haben, sind zwei Hindernisse zu über-      noch die Aufmerksamkeit fänden wie zur
winden, über die die Physik, bei der wir      Zeit des Kopernikus. Bei unserem Stre-
hier Anleihen machen wollen, eine Menge       ben nach Glück und Selbstverwirklichung
weiß: die Zukunft und der Zufall. Die Zu-     werden sie jedenfalls sehr hilfreich sein.
kunft, weil das Streben nach Glück wie
das nach Selbstverwirklichung sich auf        2. Glück, Zufall, Zukunft und Physik
Dinge bezieht, die in der Zukunft liegen.     Für Physiker sind Zufall und Zukunft fest
Der Zufall, weil fast jedes Glück mit Zu-     miteinander verbunden: Alles, was über-
fällen verbunden ist, ob man der glückli-     haupt geschehen kann, kann nur mit einer
che Sieger eines Tennisturniers geworden      bestimmten Wahrscheinlichkeit geschehen.
ist oder durch ›reinen Zufall‹ einem Un-      »Die wahre Logik dieser Welt liegt in der
fall entkommen ist und in diesem Sinne        Wahrscheinlichkeitsrechnung« schrieb
›Glück gehabt‹ hat.                           bereits James Clerk Maxwell1 , der große
Um Glück und Zufall geht es hier, aber        Physiker des 19. Jahrhunderts. Aber erst
nicht um das Glück im Lotto oder bei ähn-     im 20. Jahrhundert wurde diese Weltdeu-
lichen Zufallsspielen, bei denen man am       tung um eine neue Interpretation der Wahr-
Eintritt des Zufalls nichts ändern kann.      scheinlichkeit und um neue Berechnungs-
Vielmehr geht es um zwei Arten eines be-      methoden bereichert: durch Werner Heisen-
einflussbaren Zufallsgeschehens, bei de-      bergs Quantenmechanik2 , Erwin Schrödin-
nen sich Glück in seinen beiden Bedeu-        gers Wellenmechanik3 und Richard Feyn-
tungen, im Sinne von Zufall und im Sinne      mans ›Quantenelektrodynamik‹4. Letzte-
von Freude, mehr oder minder herbeifüh-       re beschreibt nicht weniger als »alle Phä-
ren lässt. Herbeigeführt werden soll die-     nomene der physikalischen Welt mit Aus-
ses Glück mit Hilfe steuerbarer Wahr-         nahme der Wirkung der Gravitation... so-
scheinlichkeiten, die so wichtig sind, dass   wie der radioaktiven Erscheinungen...«5.
sie einen eigenen Namen verdienen: Pro-       Eine Welt voller Wahrscheinlichkeiten?
pensities und Serendipities. (Ich gebe den    Das war nicht immer so. Jahrtausende lang
englische Ausdrücken den Vorzug vor den       hatte man geglaubt, alles Geschehen sei
deutschen ›Propensitäten‹ und ›Serendi-       vorbestimmt oder ›determiniert‹. Und im
pitäten‹.)                                    Alltagsdenken haben wir uns noch nicht
Darüber später mehr. Zunächst etwas           ganz von diesen Vorstellungen befreit. Die
Wichtiges über Zukunft und Zufälle. Dar-      Mikrowelt der Elementarteilchen, deren

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ganz indeterministisches Verhalten von         1927 der Satz: Alles, was überhaupt ge-
Wissenschaftlern der ›Quantenmechanik‹         schehen kann, kann nur mit Wahrschein-
und ›Quantenelektrodynamik‹ aufgeklärt         lichkeit geschehen. Wir kommen auf das
worden ist, scheint uns wenig anzugehen.       Datum 1927 noch zu sprechen.
In unserer größer dimensionierten Welt         Was wir von der Quantenphysik lernen
scheinen Wahrscheinlichkeiten eine Ne-         können, ist: Die Vergangenheit von Ele-
benrolle zu spielen; und die Hauptrolle        mentarteilchen mag noch so exakt er-
scheint der strengen Kausalität zuzufallen:    forscht sein, aus ihr folgt keine exakte Zu-
Ursachen haben voraussagbare Wirkun-           kunft, sondern nur eine große Anzahl von
gen und für jede Wirkung lassen sich nach-     Möglichkeiten, die jeweils unterschiedli-
träglich die Ursachen finden, wenigstens       che Wahrscheinlichkeit haben, realisiert zu
prinzipiell. Denken Sie an Uhren, Autos        werden7 . Eine einzige wird tatsächlich rea-
und Computer, aber auch an Unfälle,            lisiert, die rückwärts gesehen dann die
Krankheiten und Kriminalfälle.                 Wahrscheinlichkeit Eins gehabt zu haben
Uhren zum Beispiel sind sehr genau vor-        scheint und damit rein kausales Gesche-
hersagbar, und ihr Räderwerk oder ihr          hen vortäuscht.8
elektronisches Schaltwerk läuft in der Zu-     Dieses Rückwärtsblicken ist der Grund
kunft ganz so wie es in der Vergangenheit      für den Eindruck, die existierende Welt sei
gelaufen ist. Ihre Zukunft ist fast gänzlich   völlig kausal. Wenn wir die Geschichte
durch ihre Vergangenheit festgelegt, ›de-      physikalischer Dinge betrachten, ist alles
terminiert‹. Rückwärts gesehen scheint         wohlgeordnet, eines folgt kausal aus dem
alles nach Art der Uhren abgelaufen zu         anderen. Wahrscheinlichkeiten kommen
sein. Jeder noch so unwahrscheinliche          nicht vor beziehungsweise scheint alles,
Prozess wie der des herabfallenden Blu-        was geschehen ist, die Wahrscheinlichkeit
mentopfes, der den Vorübereilenden zu-         Eins gehabt zu haben. Wenn die Vergan-
fällig am Kopf trifft, scheint streng kausal   genheit so wohlgeordnet kausal ist, war-
erklärbar zu sein, wenn es meist auch sehr     um sollte der Übergang in die Gegenwart
schwierig sein mag, die einzelnen Kausal-      es nicht sein, wo er doch nichts weiter ist
fäden, die sich da überkreuzt haben, zu        als das letzte Glied vieler ineinander ver-
entwirren.                                     wundener kausaler Ketten, die aus der Ver-
Die revolutionären Wahrscheinlichkeits-        gangenheit in die Gegenwart führen?
physiker des letzten Jahrhunderts versi-       Nein, vorwärts blickend, sagt die Physik,
chern uns aber, dass, genau besehen, Pro-      sieht die Welt ganz anders aus. Von der
zesse mit hundert Prozent Wahrscheinlich-      Gegenwart in die Zukunft geschaut ist die
keit oder fast hundert Prozent immer nur       Welt voller Wahrscheinlichkeiten zwischen
dann zu beobachten sind, wenn bei dem          Null und Eins. Und wenn wir fragen ›Was
Geschehen unvorstellbar große Mengen           wird geschehen?‹, dann ist es nicht nur
von Atomen oder Molekülen beteiligt sind,      die Vergangenheit, die zur Gegenwart der
die ein statistisch stabiles Verhalten be-     Elementarteilchen wird, sondern dann sind
wirken, für das sich exakte Gesetze for-       es auch deren zukünftige Möglichkeiten,
mulieren lassen6 . Für die Bausteine un-       die in die Gegenwart hineinwirken. Denn
serer Welt, die Atome, Moleküle und üb-        alle diese Möglichkeiten haben eine be-
rigen Elementarteilchen, gilt jedoch seit      stimmte, real vorhandene Wahrscheinlich-

Aufklärung und Kritik 1/2008                                                            49
keit, und diese sind der Grund dafür, dass       wahrscheinlichkeiten, da wo wir es wün-
eine von ihnen realisiert wird. Meistens         schen, vergrößert werden, gilt für uns Men-
wird die Möglichkeit mit der größten             schen noch stärker als für Elementarteil-
Wahrscheinlichkeit realisiert. Nicht selten      chen, dass die Zukunft auf die Gegenwart
wird aber auch die mit einer kleineren           wirkt.
Wahrscheinlichkeit verwirklicht. Die Zu-         Im Widerspruch zu diesem physikalisch
kunft wirkt auf die Gegenwart: Das ist neu       geprägten Weltbild glauben viele Men-
und nicht ganz selbstverständlich.9              schen, dass die Kausalketten der Vergan-
Das für uns Interessante daran ist: Das          genheit sich in die Zukunft fortsetzen. Zu-
gilt auch in einigen menschengemachten           mindest glauben sie, dass die Gegenwart
Welten. Die Zukunft wirkt auf die Gegen-         so etwas wie das Endprodukt der bishe-
wart. Es gibt eine weitgehende Struktur-         rigen Vergangenheit ist, sozusagen das
gleichheit der Wahrscheinlichkeitsver-           letzte Glied einer Kausalkette oder mehre-
hältnisse bei Elementarteilchen und bei          rer verschlungener Kausalketten. Sie denken,
Menschen. Auch in der Geschichte der             dass allein die Vergangenheit die Zukunft
Menschen, in ihren sozialen Beziehungen          hervorbringe. Sie fühlen sich selbst gewis-
und in ihrem individuellen Leben, auch in        sermaßen aus der Vergangenheit in die Zu-
solchen Systemen, in denen Lebenspläne,          kunft geschoben. Sie sehen nicht, dass
›Glück‹ und ›Selbstverwirklichung‹ reali-        es zugleich auch die Zukunft ist, die sie in
siert werden sollen, ist die Zukunft ande-       die Gegenwart hineinzieht. Sie sehen nicht,
rer Natur als die Vergangenheit. Sie ist         dass die Wahrscheinlichkeiten der ver-
voller Wahrscheinlichkeiten, die, wie wir        schiedenen Zukunftsmöglichkeiten eine
sehen werden, genauso real sind wie die          ebenso objektive Realität haben, wie das
physikalischen Wahrscheinlichkeiten, die         bei Elementarteilchen der Fall ist11 .
das Verhalten der Elementarteilchen steu-        Folglich sehen sie auch nicht, dass es ih-
ern. Dass sie ganz anders berechnet wer-         nen freisteht, unter den vielen Möglich-
den, ändert an dieser Tatsache nichts. Für       keiten diejenige mit der größten geistigen
alle vergangenen Ereignisse sind die Ein-        Anziehungskraft zu wählen und ihr die
trittswahrscheinlichkeiten stets Eins, denn      größte physikalische ›Anziehungskraft‹ zu
sie sind ja bereits eingetreten. Dagegen         verleihen. Diese Anziehungskraft ist mehr
hatte nicht jedes Glied in der Kette schon       als eine Metapher. Sie entspricht, wie wir
im Voraus die Wahrscheinlichkeit Eins.           sehen werden, etwas real Vorhandenem.
Denken Sie wieder an Unfälle, Krankhei-          Real vorhandene Wahrscheinlichkeiten
ten oder Kriminalfälle.                          kann man im physikalischen Sinne vergrö-
Die Zukunft ist ›offen‹, das heißt, sie ist      ßern, wenn man ihre physikalischen Ein-
nur teilweise durch die Vergangenheit fest-      trittsbedingungen entsprechend verändert.
gelegt, ›determiniert‹ und sie ist voller Mög-   Wir können sozusagen, wo wir wollen, die
lichkeiten, deren Realisierung von Wahr-         ›Würfel‹ präparieren, damit die für uns
scheinlichkeiten mit Werten zwischen Null        günstige Augenzahl eine größere Realisie-
und Eins abhängt, die wir vergrößern oder        rungswahrscheinlichkeit bekommt. So
verkleinern können10 . Da wir einen Teil         können wir die von uns bevorzugten Zu-
dieser Möglichkeiten voraussehen und da-         kunftsmöglichkeiten mit größerer Wahr-
für sorgen können, dass deren Eintritts-         scheinlichkeit Gegenwart werden lassen.

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Für unsere Lebensweise, unser Glück,            Betätigung verkleinern und durch Bewe-
unsere Selbstverwirklichung ist es wich-        gungsfaulheit vergrößern. Ich kann sie
tig, dass wir aufhören zu glauben, eine be-     physisch beeinflussen, und umgekehrt
stimmte, im Geiste vorgestellte Zukunft         kann die verkleinerte Wahrscheinlichkeit
werde ›vielleicht‹ eintreten und sei nur des-   mein Leben beeinflussen, weil ich etwas
halb ›wahrscheinlich‹ zu nennen, weil wir       mehr vor Diabetes geschützt bin. Dass die
nicht wissen, wie sie sein wird. An die         Wahrscheinlichkeit, Diabetes zu bekom-
freiwerdende Stelle könnte als Leitidee tre-    men, durch Bewegungsarmut vergrößert
ten, dass unsere Zukunftsmöglichkeiten          wird, ist eine objektive Tatsache, nämlich
von real vorhandenen Wahrscheinlichkei-         das Ergebnis wissenschaftlicher For-
ten abhängen, die wir beeinflussen kön-         schung. Will ich diese Wahrscheinlichkeit
nen. Darum geht es hier.                        bei mir verkleinern, sagen wir auf 5%, hat
                                                das, anders als im vorigen Fall, nichts mit
3. Propensities und Serendipities               meinem Wissen zu tun, sondern mit mei-
Zunächst sind zwei fundamental verschie-        ner Lebensweise, also mit Sport und Er-
dene Wahrscheinlichkeiten zu unterschei-        nährung.
den: zum einen die subjektiven Wahr-            Im Folgenden interessieren uns die ob-
scheinlichkeiten in unserem Kopf, zum           jektiven, beeinflussbaren Wahrscheinlich-
andern die objektiven Wahrscheinlichkeiten      keiten.
in der physischen Welt.12 Sie sind leicht       Auch sie zerfallen in zwei Gruppen. Zum
erklärt.                                        einen gibt es die von Karl Popper ›Pro-
Die Wahrscheinlichkeit, auf dem Mars            pensity‹ genannte Realisierungswahr-
Spuren von Leben zu finden, ist weder           scheinlichkeit für bestimmte Ziele, die wir
Null noch Eins. Sie liegt irgendwo dazwi-       klar vor Augen haben13 . Zum anderen um
schen. Je mehr wir über den Mars wis-           die in Anlehnung an Robert Merton ›Se-
sen, desto wahrscheinlicher oder unwahr-        rendipity‹ genannte Realisierungswahr-
scheinlicher wird dieser Wert, je nach dem,     scheinlichkeit für Dinge, von denen wir
wie die Ergebnisse entsprechender For-          nichts wissen, außer, dass sie unserem
schungsmissionen ausfallen. Weil sie sich       Leben eine neue fruchtbare Wendung ge-
auf unser Wissen bezieht, wird diese Wahr-      ben können14 .
scheinlichkeit subjektiv genannt. Der Wert      Im Hinblick auf menschliches Glück sor-
dieser Wahrscheinlichkeit hängt nicht von       gen beeinflussbare Propensities dafür,
den physischen Umständen auf dem Mars           konkrete Ziele zu erreichen, die uns, wie
ab. Sie kann nicht durch Manipulationen         wir hoffen, glücklich machen werden15.
auf dem Mars, sagen wir, auf 5% gebracht        Beeinflussbare Serendipities sorgen dafür,
werden; denn Spuren von Leben sind ent-         dass wir Glück dort finden werden, wo
weder da oder nicht da.                         wir uns auf etwas völlig Neues, Unbekann-
Die Wahrscheinlichkeit, dass ich einmal         tes eingelassen haben.
Diabetes bekomme, hat ebenfalls einen           Allerdings gibt es einige Hindernisse zu
Wert zwischen Null und Eins. Doch sie           überwinden. Noch wird unser Denken all-
hat einen ganz anderen Charakter als die        zu sehr von der Vorstellung beherrscht,
Wahrscheinlichkeit für Lebensspuren auf         dass alle Wahrscheinlichkeiten subjekti-
dem Mars. Ich kann sie durch sportliche         ver Natur seien. Bis in die zwanziger Jah-

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re des 20. Jahrhunderts glaubten selbst die   des Wissenschaftlers seit undenklichen
besten Naturwissenschaftler, dass hinter      Zeiten. Der Glaube an ein ›Schicksal‹, an
allen zufälligen Erscheinungen determinier-   Schicksalsmächte, an Götter, die das Ge-
te Vorgänge steckten.16                       schehen auf Erden lenken, ist determinis-
Wären Wahrscheinlichkeitsaussagen über        tischer Natur. Und auch jeder Glaube, dass
die Zukunft tatsächlich nur eine Folge un-    die Zukunft bereits im Ganzen oder teil-
seres begrenzten Wissens, also subjekti-      weise feststünde, dass sie nur für uns Men-
ver Natur, und nur Vermutungen über das,      schen unerkennbar sei, ist deterministi-
was mit oder ohne unser Zutun in jedem        scher Natur17. Auch der von einigen Milli-
Fall geschehen muss, so könnten wir sie       arden Menschen geteilte Glaube an einen
nicht beeinflussen. Es gäbe gar keine ob-     allwissenden Gott, der alles Kommende
jektiven Wahrscheinlichkeiten, sondern nur    im Voraus kennt, für den die Zukunft also
Vermutungen, die mit mehr oder weniger        schon entschieden ist, bedeutet die Ver-
Wahrscheinlichkeit richtig oder falsch        innerlichung des deterministischen Weltbil-
wären. Die Propensities und Serendipities     des. Kein Wunder, dass selbst die Physi-
genannten Realisierungswahrscheinlichkei-     ker der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts
ten für bestimmte in der Zukunft liegende     Schwierigkeiten hatten, ihre eigene Idee
Ziele und Entdeckungen könnten nicht ver-     des Indeterminismus zu verstehen.
größert werden, sie wären Phantome. Un-       Hinzu kommt, dass echter Zufall per se
sere Suche nach Glück und Selbstverwirk-      schwer vorstellbar ist18. Ein Uranatom
lichung wäre in einer im Voraus festgeleg-    kann in der nächsten Sekunde zerfallen
ten Welt eine Illusion. Niemand wäre ›sei-    oder erst nach Milliarden von Jahren. Da
nes Glückes Schmied‹.                         läuft kein Prozess ab, der zum Zerfall führt.
                                              Für den genauen Zeitpunkt des Zerfalls
4. Die falsche Leitidee ›Determinismus‹       gibt es einfach keine Ursache. Infolge un-
In unserer heute oft etwas chaotischen Welt   serer angeborenen Ursache-Wirkung-Ka-
glaubt kaum jemand noch, dass alle Din-       tegorien19 fällt es uns schwer aufzuhören,
ge vorbestimmt seien. Dennoch ist der De-     nach versteckten Mechanismen zu suchen.
terminismus nicht überwunden, solange         Bis in die 50er Jahre des 20. Jh. fiel das
die neue Leitidee einer ›Welt voller beein-   sogar Einstein noch schwer20 .
flussbarer Wahrscheinlichkeiten‹ noch         Warum können wir uns echten Zufall so
nicht genügend fest verankert ist. Es gibt    schwer vorstellen, fragt Erwin Schrödinger
eine Reihe von Gründen, warum das nicht       1922: »Woher stammt nun der allgemein
der Fall ist, Gründe, die uns hindern, uns    verbreitete Glaube an die absolute, kau-
in einer nicht-determinierten Welt einzu-     sale Determiniertheit des molekularen Ge-
richten.                                      schehens und die Überzeugung von der
Der Hauptgrund ist wohl, dass die Idee        Undenkbarkeit des Gegenteils? ...die uns
des Indeterminismus noch keine hundert        ein undeterminiertes Geschehen, einen
Jahre alt ist, während der Determinismus      absoluten, primären Zufall als einen voll-
seit Jahrtausenden tief in unserem Den-       kommenen Nonsens, als logisch unsinnig
ken, in unserer Sprache und unserer Kul-      erscheinen lässt.« Schrödingers Vermu-
tur verwurzelt ist. Determinismus bestimm-    tung ist: »Aus der Jahrhunderte, Jahrtau-
te das Weltbild des Alltagsmenschen und       sende langen Beobachtung gerade derje-

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nigen natürlichen Gesetzmäßigkeiten, von       schen diesen beiden fundamental ver-
denen wir heute mit Sicherheit wissen,         schiedenen Arten von Zukunft. Trotz die-
dass sie nicht – jedenfalls nicht unmittel-    ser Denkgewohnheiten ist die Beweislage
bar – kausale, sondern unmittelbar sta-        gegen den Determinismus erdrückend.
tistische Gesetzmäßigkeiten sind.«21
Schrödinger denkt vor allem an die Wär-        5. 1927 Ende und Wende
melehre, die Ausdehnung von Gasen,             Abgesehen von einigen wenigen Vorden-
wenn sie erhitzt werden, die Erhöhung des      kern22 erkannte man den durchgängigen
Drucks, wenn man die Ausdehnung ver-           Zufallscharakter der Welt erst 1927. Das
hindert und viele andere äußerst exakte        ist das Jahr, in dem Werner Heisenberg
Gesetze. Diese Gesetze beruhen auf dem         seine Unbestimmtheitsrelation veröffent-
statistischen Verhalten einer unvorstellbar    lichte23. Sie besagt, dass der Bewegungs-
großen Anzahl von Molekülen. Die An-           zustand (Impuls) und Aufenthaltsort eines
zahl liegt im Bereich von 1023.                beliebigen physikalischen Körpers, etwa
Es gibt noch einen zweiten wichtigen           eines Elementarteilchens, nur in unserer
Grund, warum wir das deterministische          Vorstellung exakte Werte haben kann, aber
Weltbild nur halb aufgeben und die Idee        niemals in der Wirklichkeit.
einer ›Welt voller beeinflussbarer Wahr-       Der Determinismus hingegen hatte behaup-
scheinlichkeiten‹ nicht verinnerlichen. Der    tet, dass diese Werte beliebig exakt seien,
liegt darin, dass es bei Vermutungen über      ob man sie messen könne oder nicht. Nur
die Zukunft auf den ersten Blick hin ei-       wenn sie beliebig exakt messbar wären,
nerlei zu sein scheint, ob wir nicht wis-      hätte Pierre-Simon Laplace, der bedeutend-
sen, wie die Zukunft aussieht, oder ob sie     ste Vertreter des Determinismus, Recht ha-
zur Zeit noch nicht feststeht.                 ben können: Wer die genauen Anfangsbe-
Ein dritter Grund dafür, dass echter Zu-       dingungen der Welt kennt, kann jeden zu-
fall so schwer vorstellbar ist, hängt damit    künftigen Weltzustand berechnen24. Das
zusammen, dass viele Zukunftsdinge ja tat-     ist, wie wir seit 1927 wissen, nicht der Fall.
sächlich schon feststehen. Unsere Vermu-       Der Determinismus war mit Heisenbergs
tungen sind nur deshalb unsicher und wir       Unbestimmtheitsrelation schlagartig wider-
greifen nur deshalb zu Wahrscheinlich-         legt.
keitsaussagen, weil wir nicht wissen, was      Unabhängig davon zeigte seit 1929 die
bereits feststeht. Ob wir auf dem Mars         ›Quantenelektrodynamik‹, dass das Ver-
einmal Fossilien von Lebewesen finden          halten der Elementarteilchen, aus denen
werden, ist für uns eine Möglichkeit, die      unsere Welt besteht, von den zukünftigen
in Wirklichkeit bereits feststeht und die      Möglichkeiten abhängt, die ihnen offen ste-
nur für uns eine gewisse Wahrscheinlich-       hen, also z.B. von den vielen möglichen We-
keit hat, die sich vergrößert, je mehr Indi-   gen, den das Licht nehmen könnte. Diesen
zien wir finden. Aber wir wissen das Er-       Möglichkeiten sind Wahrscheinlichkeiten
gebnis noch nicht. Das sind Möglichkei-        zugeordnet, aus denen sich Wahrscheinlich-
ten, die wir nicht beeinflussen können. In     keitsaussagen über das tatsächliche Verhalten
dieser Weise enthält die Zukunft viele Din-    der Teilchen berechnen lassen.25
ge, die bereits heute feststehen. Wir un-      Im Resultat kann das Verhalten der Teil-
terscheiden offenbar nicht genügend zwi-       chen sehr determiniert aussehen. Zum Bei-

Aufklärung und Kritik 1/2008                                                              53
spiel überlagern sich beim Licht, das auf     quants, den es z.B. in einer bestimmten
einen Spiegel fällt, so viele Möglichkei-     Spiegelanordnung 27 gehen wird (Zu-
ten, dass im Resultat ein Lichtstrahl sehr    kunft!), hängt von den verschieden wahr-
exakt auf eine bestimmte Stelle des Spie-     scheinlichen Möglichkeiten ab, die hinter
gels zu fallen scheint, um an dieser Stelle   den Spiegeln bestehen, bevor es ›losläuft‹.
sehr exakt reflektiert zu werden. Man kann    In unserer Welt: Die Zukunft eines Künst-
aber leicht zeigen, dass an dem Reflexions-   lers hängt von den verschiedenen mögli-
vorgang alle möglichen Wege zum und           chen Produkten ab, die er herstellen wird,
vom Spiegel beteiligt sind und dass kei-      und die eine verschieden starke faszinie-
neswegs nur die Stelle beteiligt ist, von     rende Wirkung auf sein Publikum haben
der wir glauben, dass der Lichtstrahl an      werden. Die Realisierungswahrscheinlich-
ihr reflektiert worden sei.26                 keiten zukünftiger Möglichkeiten des
Es gibt leicht nachvollziehbare empirische    Lichtquantums kann man verkleinern oder
Beweise dafür, dass jedes einzelne Licht-     Null werden lassen; die des Künstlers
quant tatsächlich alle seine verschieden      auch. Das bedeutet, dass die Wahrschein-
wahrscheinlichen Möglichkeiten ›auslotet‹     lichkeiten, die den verschiedenen Möglich-
und den Weg nimmt, den wir als den der        keiten zugeordnet sind, sich verändern las-
größten Wahrscheinlichkeit berechnen          sen, bevor noch eine dieser Möglichkei-
können. Dieses ›Ausloten‹ ist natürlich       ten realisiert worden ist. Die veränderten
kein physikalischer Vorgang: Sobald eine      Zukunftsmöglichkeiten wirken auf die
bestimmte räumliche Anordnung vorliegt,       Gegenwart ein und verändern sie.
liegen ohne Zeitverzögerung die Wahr-         Die Quantenphysik liefert damit eine neue
scheinlichkeiten aller möglichen Wege fest.   Weltdeutung: Die Vergangenheit kann man
Das ist die Grundstruktur der Teilchen-       genau rekonstruieren, die Zukunft nicht,
Welt. Aber gilt sie auch für unsere Welt?     sondern nur mit Wahrscheinlichkeit vor-
Davon darf man ausgehen, selbst wenn          hersagen. Die Zukunft ist indeterminis-
die quantenmechanischen Berechnungs-          tisch. Was überhaupt geschieht, geschieht
methoden versagen, sobald es sich um          wahrscheinlich. Die Zukunft wirkt auf die
größere Objekte handelt. Die Berechnungs-     Gegenwart28 .
methoden sind dort vollkommen anders,         Sehr wichtig ist: Die genannten Wahr-
und im sozialen Bereich gibt es fast kei-     scheinlichkeiten beziehen sich nicht nur auf
ne. Das ändert aber nichts daran, dass es     Mengen von Teilchen, sondern auch auf
eine weitgehende Strukturgleichheit der       einzelne Teilchen. Deren Zukunftsmög-
Teilchenwelt und der sozialen Welt des        lichkeiten sind es, die mit realen Wahr-
Menschen gibt: die resultierenden Wahr-       scheinlichkeiten verknüpft sind. Letztere
scheinlichkeiten, die das wirkliche Verhal-   sind real, weil sie nachprüfbar auf die
ten steuern, hängen von verschieden wahr-     Wirklichkeit wirken und weil wir auf sie
scheinlichen Möglichkeiten ab. Sie sind       wirken können Das ist das Kriterium für
reale Größen.                                 ›real sein‹ oder ›wirklich vorhanden
Zu dieser Strukturgleichheit gehört auch,     sein‹29 , von dem wir noch öfter Gebrauch
dass die Wahrscheinlichkeiten zukünftiger     machen werden.
Möglichkeiten auf die Gegenwart wirken.       Realisierungswahrscheinlichkeiten oder
In der Mikrowelt: Der Weg eines Licht-        ›Propensities‹ können vergrößert oder

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verkleinert werden. Die Gegenwart ist nur       deshalb sagen ›das und das wird wahr-
zum Teil das Produkt der Vergangenheit.         scheinlich geschehen‹, weil wir nicht wis-
Sie ist also nicht völlig in der Vergangen-     sen, was geschehen wird. Wie selbstver-
heit enthalten und folglich ist die Welt dank   ständlich gehen wir davon aus, dass, wie
vieler noch nicht realisierter Möglichkei-      bei der Frage früheren Lebens auf dem
ten mit realen Wahrscheinlichkeiten eine        Mars, schon feststeht, was der Fall ist.
neue und kreative Welt30 . Die Zukunft          Wenn der Würfel einmal rollt, denken wir,
wirkt auf die Gegenwart durch ›Anzie-           werden ihn die Gesetze der Physik be-
hung‹, wenn wir damit die Wahrschein-           herrschen und er muss am Ende eine be-
lichkeit der Möglichkeiten meinen, die wir      stimmte Zahl zeigen. Hätten wir genügend
vergrößern wollen und vergrößern können.        Kenntnisse, denken wir, könnten wir den
                                                ganzen Prozess lückenlos beschreiben. Da
6. Die Erblast des Determinismus                wir sie nicht haben, bleibt uns nur, stati-
Trotz des großen Erfolges dieser Theori-        stische Aussagen zu machen.
en innerhalb der Physik und ihrer Anwen-        Aus dieser Sicht konnte wahrscheinliches
dungstechnik konnte sich die Weltauf-           Wissen nur bedeuteten, dass wir subjek-
fassung des Indeterminismus bisher nur          tiv nicht genau sagen können, wie die Zu-
wenig durchsetzen und hatte deshalb             kunft aussehen wird. Sogar etliche große
kaum Konsequenzen für das Alltagsleben.         Physiker haben noch viele Jahrzehnte nach
Dafür gibt es, wie oben gesagt, mehrere         dem Auftauchen des neuen Weltbildes in
Gründe. Einer war, dass echter Zufall           den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts an
schwer zu verstehen ist. Darum ist das          dieser ›subjektiven Wahrscheinlichkeits-
Jahrtausende alte, ganz und gar falsche         auffassung‹ festgehalten31 .
Weltbild noch nicht restlos verschwunden.       Warum ist der Unterschied so wichtig?
Es lebt weiter als eine schwere Erblast,        Warum ist eine objektive Wahrscheinlich-
die unser Denken und Handeln im tägli-          keitsauffassung etwas völlig anderes als
chen Leben einschränkt, wo es frei und          eine subjektive?32 Weil eine Welt voller
kreativ sein könnte. Zwar ist der reine         objektiver Wahrscheinlichkeiten nichts mit
Determinismus weitgehend verschwun-             unserem Wissen oder Nichtwissen zu tun
den; zwar glaubt kaum jemand noch, dass         hat. Objektive Wahrscheinlichkeiten kann
die gesamte Zukunft vorherbestimmt sei          man willkürlich vergrößern oder verklei-
und das eigene ›Schicksal‹ im Voraus ex-        nern; subjektive ändern nichts in der Welt,
akt feststünde; doch sind einige Restüber-      sondern nur etwas in unserem Kopf.
zeugungen aus dem früheren Determinis-          Dieser Unterschied ist hier sehr wichtig,
mus bis heute wirksam geblieben. Erst           und er ist auch sehr wichtig für unser Le-
wenn auch sie noch überwunden werden            ben. Denn erst dann ist unser Denken und
können, tun sich neue Wege auf, die un-         Handeln wirklich frei und kreativ, wenn
sere Freiheit im Sinne von mehr Hand-           es von diesem Erbe des Determinismus
lungsmöglichkeiten vergrößern und die un-       befreit ist. Frei und kreativ ist es, wenn an
sere Suche nach Glück und Selbstverwirk-        die Stelle einer Zukunft, die ebenso unab-
lichung erfolgreicher machen werden.            änderlich gesehen wurde wie die Vergan-
Bei dieser Erblast handelt es sich um den       genheit, eine andere Zukunft tritt: eine Zu-
weitverbreiteten Glauben, dass wir nur          kunft voller Möglichkeiten, unter denen

Aufklärung und Kritik 1/2008                                                              55
wir auswählen können und denen wir hel-       Bevor ich zu Argumenten aus unserer All-
fen können, Realität zu werden.               tagswelt übergehe, möchte ich meinen Ge-
Die neue Leitidee, die den Determinismus      danken fortsetzen und auf den Zusam-
ablöst, ist: Wir werden nicht nur von der     menhang des neuen, indeterministischen
Vergangenheit in die Gegenwart gescho-        Weltbildes mit Glück und Selbstverwirk-
ben; wir werden auch von der Zukunft ge-      lichung aufmerksam machen. Dadurch
zogen. Und deren ›Anziehungskraft‹ kön-       hoffe ich, die mehr an lebensnahen Din-
nen wir vergrößern.                           gen interessierten Leser dafür zu gewin-
Doch der Rest des deterministischen Den-      nen, sich auch auf die lebensfern schei-
kens in uns protestiert. Noch ist der Glau-   nenden Ergebnisse von Quantenmechani-
ben allzu fest verankert, dass, so wie die    kern einzulassen.
Gegenwart aus der Vergangenheit hervor-       Der Zusammenhang ist unübersehbar, so-
gegangen ist, auch die Zukunft aus der        bald man das neue Weltbild probehalber
Gegenwart hervorgehen müsse und nie-          als gültig akzeptiert: Dann sind wir als In-
mals das Umgekehrte der Fall sein kön-        dividuen zwar immer noch das Produkt
ne, dass die Gegenwart aus der Zukunft        unserer Vergangenheit, dann können z.B.
hervorginge.                                  Psychologen und Psychiater noch weiter-
Hier scheiden sich die Geister. Viele, auch   hin Dinge aus unserer Kindheit zutage för-
die, die glauben, keine Deterministen zu      dern, die schiefgelaufenen sind und unse-
sein, werden an dieser Stelle die Gefolg-     rem ganzen Leben den falschen Dreh gege-
schaft verweigern und bestreiten, dass die    ben haben, aber die Vergangenheit und die
Zukunft Einfluss auf die Gegenwart hat.       Gegenwart sind nun nicht mehr alles, was
Die alte Denkgewohnheit ist tief eingegra-    gestaltend auf unsere Persönlichkeit wirkt.
ben, und nichts könnte deutlicher zeigen,     Wenn es stimmt, dass die Zukunft auf die
wie wenig sich das ›neue‹ Weltbild – neu      Gegenwart wirken kann, wenn wir ihre
seit achtzig Jahren! – bisher durchsetzen     offenen Möglichkeiten erkennen und da-
konnte.                                       für sorgen können, dass eine gewünschte
Dennoch ist es so: Die Elementarteilchen      dieser Möglichkeiten eine erhöhte Verwirk-
›wissen‹ im Voraus, ob wir ihnen eine Mög-    lichungswahrscheinlichkeit bekommt,
lichkeit genommen oder neu eröffnet ha-       dann bedeutet Selbstverwirklichung nicht
ben, und reagieren darauf. Dasselbe tun       mehr nur, das freizusetzen, was in uns
viele Menschen faktisch, wenn sie ihren       steckt, sondern auch das, was nicht in
bevorzugten Zukunftsmöglichkeiten mehr        uns steckt, was noch als Möglichkeit in
Realisierungschancen geben. Nur der kos-      der Zukunft liegt, aber schon als Wahr-
mologische Zusammenhang, die univer-          scheinlichkeit Realität besitzt, Wirklichkeit
selle Strukturgleichheit, hat sich als neue   werden zu lassen. Die unveränderliche Ver-
Leitidee noch nicht durchgesetzt: die Ver-    gangenheit schiebt uns in die Gegenwart;
innerlichung der Idee, dass die Zukunft       die kreative Zukunft zieht uns hinein.
auf die Gegenwart wirkt und dass sie krea-
tiv ist, weil völlig Neues, in der Vergan-    7. Das Grundproblem der Zufallstheorie
genheit noch nicht Enthaltenes, Wirklich-     und seine Lösung
keit werden kann.                             Die Erblast des Determinismus hindert
                                              uns, den Indeterminismus zu verinnerli-

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chen. Ein weiter Grund mag auch darin           rund 216 Würfen dreimal die Eins hinter-
liegen, dass die Quantenmechanik allzu          einander. Nach im Durchschnitt ungefähr
weit von unserem Alltagsdenken entfernt         1300 Würfen sollte immer die Sechs vier
ist. Daher folgt jetzt eine auf unsere ge-      Mal hintereinander auftauchen. Und in die-
wöhnliche Lebenswelt zurückgreifende Er-        ser Weise müsste dafür gesorgt werden, dass
klärung dafür, warum der Determinismus          Millionen und Abermillionen Gesetzmäßig-
unhaltbar ist und die Zukunft in realen         keiten auftreten, die beliebig exakt sind, wenn
›Propensities‹ auf uns zu kommt.                wir sehr viele Würfe untersuchen.
Wohin die Roulettekugel rollt, wie der Wür-     Ist eine solche geheime Rechenmaschine
fel beim Würfelspiel fällt, wissen wir nicht.   im Würfel eingebaut, die die Würfe mit-
Das einzelne Ergebnis des Zufallsprozes-        zählt und ›weiß‹, dass sie nicht beliebige
ses lässt sich nicht berechnen, sonst wäre      Zahlenreihen produzieren darf, sondern
Zufall nicht das, was wir Zufall nennen.        nur solche, die die exakten Gesetzmäßig-
Zufall wird oft als Gegensatz zum Gesetz-       keiten erfüllen? – Keineswegs. Der Wür-
mäßigen gesehen.                                fel enthält nichts dergleichen. Einem De-
Und doch folgt zufälliges Geschehen ex-         terministen bliebe zur Erklärung nichts an-
akten Gesetzen. Dass das so ist, zeigt sich,    deres übrig, als eine zufällige Anfangsver-
wenn wir die Vorhersagen statistisch nach-      teilung zu behaupten, um die zufällige End-
prüfen. Bei einem sehr regelmäßigen Spiel-      verteilung erklären zu können. Das darf er
würfel wird die Sechs stets mit einer Wahr-     natürlich nicht, denn dann ist sie keine
scheinlichkeit von ziemlich genau 1/6 auf-      deterministische Erklärung mehr. Der De-
treten, wenn wir genügend viele Würfe           terminist kann das Verhalten des Würfels
machen. Nach 25 Würfen ist mit einer            nicht erklären.
Wahrscheinlichkeit von 99% die Sechs            Wie lassen sich die vielen Regelmäßigkei-
erschienen. Zwei Sechsen hintereinander         ten nun aber erklären? Und zwar so, dass
beobachten wir in 2.78% der Fälle. Für          es sich um eine echte Erklärung handelt,
drei Sechsen ist die Wahrscheinlichkeit         also eine Ableitung aus einem höheren Ge-
0.463%, für vier Sechsen 0.0772%. Der           setz? Das wird seit fast achtzig Jahren das
Reihe nach die Eins, Zwei, Drei, Vier, Fünf,    Grundproblem der Zufallstheorie33 ge-
Sechs tritt in 0.0021434% der Fälle auf.        nannt, und es tritt natürlich nicht nur beim
Bei zwei Würfeln ist die Wahrscheinlich-        Würfeln auf.
keit einer Sieben 1/6. Es gibt unzählige        Die Lösung des Grundproblems der Zu-
solcher Gesetzmäßigkeiten. Sie werden alle      fallstheorie stammt von Karl Popper: Die
experimentell bestätigt, wenn die Ver-          Ursache des ziemlich exakten gesetzmä-
suchsreihen genügend lang sind.                 ßigen Verhaltens des Würfels liegt in der
Wie erklärt der Determinist diese Gesetz-       Neigung oder ›Propensity‹ des Würfels,
mäßigkeiten des Würfels? Er muss dazu           beim nächsten Wurf z.B. eine Sechs zu
annehmen, dass in jedem Würfel ein Me-          werfen (wenn dieser Fall erklärt werden
chanismus eingebaut ist, der die Würfe          soll).34 Und diese Propensity kann man
mitzählt und nach jeweils ungefähr sechs        aus der Symmetrie des Würfels berech-
Würfen immer mal wieder die Sechs kom-          nen: Jede der sechs Seiten des Würfels
men lässt, nach rund 36 Würfen zweimal          hat eine gleichwahrscheinliche Möglich-
die Sechs hintereinander und nach jeweils       keit, nach dem Wurf nach oben zu zei-

Aufklärung und Kritik 1/2008                                                                57
gen. Zusammen müssen die sechs Wahr-             Propensities sind so real vorhanden wie
scheinlichkeiten Eins ergeben; denn eine         physikalische Kräfte. Auch Kräfte kann
der sechs Zahlen wird oben liegen. Damit         man nicht direkt sehen oder direkt mes-
erhält man für jede Seite des Würfels die        sen. Man erkennt ihr reales Vorhanden-
Wahrscheinlichkeit 1/6.                          sein nur, weil sie die Ursache für beschleu-
Der Wert dieser Wahrscheinlichkeit ist kein      nigte Bewegungen sind oder, besser ge-
überraschendes Ergebnis. Das Überra-             sagt, weil sie die Erklärung für beschleu-
schende und Revolutionäre ist die neue           nigte Bewegungen liefern. In der gleichen
Interpretation dieser Wahrscheinlichkeiten       Weise sind Propensities wirklich vorhan-
als Erklärung des physikalischen Verhal-         den, weil sie die Ursache des statistischen
tens. Sie ist zwar einfach, aber alles ande-     Verhaltens sind und die Erklärung des sta-
re als trivial: Die Wahrscheinlichkeit, beim     tistischen Verhaltens liefern.35
Würfeln eine Sechs zu zeigen, ist eine phy-      Propensities sind auch deshalb wirklich
sikalische Realität, etwas, was wirklich         vorhanden, weil sie das Kriterium für wirk-
in der Welt vorhanden ist. Sie ist nicht etwa    lich Vorhandenes erfüllen: Man kann auf
nur eine Rechenvorschrift.                       sie einwirken und sie können auf die Wirk-
Um diese realen physikalischen Wahr-             lichkeit einwirken.36 Vergrößert man bei-
scheinlichkeiten von solchen Wahrschein-         spielsweise beim Spielwürfel die Seite mit
lichkeiten zu unterscheiden, die nur in un-      der Eins, dann vergrößert man die Propen-
serem Kopf existieren und unser unzurei-         sity für die Sechs. Die vergrößerte Pro-
chendes Wissen ausdrücken, heißen sie            pensity verändert also Dinge, die wir be-
›Propensities‹.                                  obachten können; sie wirkt auf die Wirk-
Eine Wahrscheinlichkeit, die sich nur auf        lichkeit.
unser unzureichendes Wissen bezieht, ist
die Wahrscheinlichkeit, links oben auf der       8. Propensities als die Wahrscheinlich-
zehnten Seite des Buches, das in meiner          keit von Einzelereignissen
Bibliothek der Tür am nächsten steht, ein        Die in der neueren Physik und im Alltags-
Wort mit genau sechs Buchstaben zu fin-          leben interessanten Wahrscheinlichkeiten
den. Die ist nicht Null und nicht Eins. Aber     sind die von Einzelereignissen, von Din-
sie ist keine Propensity, keine Neigung,         gen, Vorgängen und Ereignissen, die sich
die das Wort hat, sechs Buchstaben zu            nicht wiederholen.
haben. Denn es steht schon fest, wie viele       Auch diese Einzelwahrscheinlichkeiten,
Buchstaben es hat. Wir können hier nur           wie etwa die Propensity, beim Apfelpflü-
von einer Wahrscheinlichkeit sprechen, rich-     cken von einer Leiter zu fallen, sind etwas
tig zu raten, und diese vielleicht einer Wahr-   Reales in unserer Welt und nicht einfach
scheinlichkeitstabelle der durchschnittlichen    nur der Ausdruck unseres Unwissens. Um
Wortlängen entnehmen. Wahrscheinlichkei-         zu verstehen, dass Propensities tatsäch-
ten und Propensities sind etwas ganz Ver-        lich eine nachprüfbare Wirkung auf die
schiedenes. Sie sind physikalisch ver-           Wirklichkeit haben, sollten wir noch ein-
schiedene Dinge, auch wenn wir öfter das         mal einen Ausflug in die Welt der Elemen-
gebräuchlichere Wort ›Wahrscheinlichkeit‹        tarteilchen unternehmen. Denn bei Elemen-
anstelle des korrekten ›Propensity‹ ver-         tarteilchen kann man die Realität der
wenden.                                          Propensities leicht nachweisen, während

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die Propensity, von einer Leiter zu fallen,     Dasselbe Verhalten beobachten wir auch,
nicht so leicht zu erkennen ist. Das liegt      wenn die Teilchen immer nur einzeln
daran, dass sie nicht so einfach zu be-         durch Loch A (im ersten Versuch) oder A
rechnen ist.                                    und B (im zweiten Versuch) auf die Ziel-
Die Propensities der Elementarteilchen          scheibe zufliegen. Sie können also nicht
werden anders berechnet als beim Würfel         irgendwie mit sich selber interferieren (wie
oder beim Roulette. Die Formeln, die man        Wellen es täten).
dazu verwenden muss, sehen jenen ganz           Dieses Verhalten ist nur so erklärbar, dass
ähnlich, mit denen man das Verhalten von        die Propensities der Elementarteilchen
Wellen beschreibt. Daher kommt es, dass         nicht einfach die Eigenschaft eines Teil-
ihre Wahrscheinlichkeitsverteilungen sich       chens sind, sondern offenbar sehr stark
ähnlich verhalten, wie wir es von Wellen        durch die Struktur des Raumes bestimmt
kennen: Es gibt zum Beispiel Verstärkun-        werden, in dem sie sich bewegen. Öffnet
gen und Auslöschungen, also Gebiete, wo         oder versperrt man einen zuvor möglichen
viele Teilchen zu erwarten sind und wel-        Weg, dann verändert man sofort die Pro-
che, wo wenig oder gar keine zu erwarten        pensities, ein festgelegtes Ziel zu erreichen.
sind. Und diese Verstärkungen und Aus-          Solche Wahrscheinlichkeiten oder Propen-
löschungen können zu ›Interferenzmus-           sities von Einzelereignissen, von Dingen,
tern‹ führen, ähnlich denen auf der Ober-       Vorgängen, Ereignissen, die sich nicht wie-
fläche eines Teiches, in den wir zwei Stei-     derholen, sind nicht nur in der neueren
ne werfen, worauf die sich ringförmig aus-      Physik interessant, sondern auch im All-
breitenden Wellen sich überschneiden,           tagsleben.
wodurch sie sich zum Teil verstärken, zum       Von großer Tragweite ist: Propensities für
Teil auslöschen.                                unwiederholbare Einzelereignisse sind rea-
Bemerkenswert und weiterführend ist fol-        le Größen. Zwar kann man beim Spiel-
gendes Experiment37. Viele Teilchen flie-       würfel die aus der Symmetrie geschätzte
gen durch ein kleines Loch A auf eine ent-      Propensity der Sechs von 1/6 nur mes-
fernte Wand. Sie streuen etwas in alle          sen und nachprüfen, wenn man die Häu-
möglichen Richtungen, treffen meist in der      figkeit der Sechs misst, aber die Wirklich-
Mitte auf, teils auch auf neben der Mitte       keit hängt nicht davon ab, ob wir sie mes-
angebrachte Streifen 1, 2, 3 usw. Merk-         sen oder nicht messen. Propensities sind
würdig ist: Wenn man mit einem zweiten          auch ungemessen eine physikalische Rea-
Loch B sehr dicht neben A einen zusätzli-       lität, also Teil unserer Wirklichkeit, weil
chen Weg öffnet, dann gibt es kaum noch         sie die Welt in irgendeinem Detail verän-
Treffer im Streifen 1, wohl aber in der Mitte   dern können, und weil wir willkürlich die
und im zweiten Streifen. Die Teilchen kom-      Werte der Propensities verändern können.
men dort nicht an, obgleich wir ihnen ei-
nen zusätzlichen Weg freigegeben haben.         9. Propensities in der Alltagswelt
Das lässt sich leicht damit erklären, dass      Propensities von Einzelereignissen spie-
die Zahl der Treffer auf dem Streifen Eins      len in unserer Lebenswelt eine große Rol-
durch Interferenz der beteiligten Propen-       le. So wie wir die reale Propensity der
sities Null wird.                               Sechs beim Spielwürfel vergrößern kön-
                                                nen, wenn wir ein Stück Blei nahe der Eins

Aufklärung und Kritik 1/2008                                                               59
einbauen, so können wir die Propensity          sere Propensity, den Tag zu überleben,
verändern, ein Examen zu bestehen, oder         um einen winzigen Strich nach unten.
die Propensity, einer bestimmten Partei bei     Möglicherweise fällt sie weniger, als wenn
den Wahlen zur Mehrheit zu verhelfen usw.       wir stattdessen das Auto wählten. Mit dem
Wir können auch in der sozialen Welt ›die       Anlegen des Sicherheitsgurtes steigt sie,
Würfel präparieren‹.                            mit jeder Geschwindigkeitssteigerung des
Im System ›Philosoph beim Äpfelpflü-            Autos fällt sie.
cken‹ gibt es eine gewisse Propensity, von      Reisen im Flugzeug und im Auto machen
der Leiter zu fallen. Sie ist nicht berechen-   viele Menschen. Daher gibt es statistisches
bar. Aber sie ist weder Null noch Eins.         Material, so dass man in diesen Fällen die
Sie hängt von konkreten Dingen ab, die          vermuteten Propensities für das sichere
wir beeinflussen können: von den Spros-         Erreichen des Ziels nachprüfen kann.
sen, deren eine vielleicht locker ist; vom      Wichtiger als deren Werte ist hier die neue
Untergrund, auf dem die Leiter steht; von       Leitidee. Wir sagen nicht mehr: ›Das ist
der Umsicht des Apfelpflückers; davon,          nur Statistik, und wir wissen nicht, ob sie
ob und wie er eine Hand zum Festhalten          auf uns zutreffen wird oder nicht‹, son-
benutzt usw.                                    dern richtiger: ›Das sind Propensities, die
Auch wenn wir die Propensities in unse-         so wirklich sind, wie die Beschleunigung
rer individuellen oder sozialen Welt nicht      des Autos wirklich ist. Sie sind Realität.
quantitativ berechnen können, sind sie          Sie lassen sich beeinflussen‹.
doch in bestimmten Werten vorhanden.            Statistiken werden gewonnen, indem man
Die Wirklichkeit hängt nicht davon ab, ob       die Häufigkeit eines Merkmals feststellt,
wir sie messen oder nicht. In jedem Au-         z.B. die Zahl der Flugzeugabstürze relativ
genblick haben diese Propensities einen         zur Gesamtzahl aller Flüge. Häufigkeiten
bestimmten Wert, den wir nicht immer,           sind etwas Objektives, aber sie sind nie-
aber doch oft genug willkürlich verändern       mals die Ursache des Einzelfalls. Die Ur-
können. In dem Augenblick, in dem wir           sache und die Erklärung des Einzelfalls
unser Wahlkreuz machen, haben wir die           sind die Propensities; in diesem Fall die
Propensity einer Partei, zur Macht zu kom-      von vielen Faktoren abhängige Neigung
men, erhöht. In dem Augenblick, in dem          eines Flugzeuges abzustürzen.
irgendwo in der Welt ein Medikament ge-         Bei einmaligen historischen, gesellschaft-
gen Vogelgrippe gefunden wird, sinkt so-        lichen Ereignissen kann man mit Häufig-
fort, sozusagen mit Überlichtgeschwindig-       keiten nicht arbeiten. Außer wenn es um
keit38 , überall in unserer Welt die Propen-    Dinge geht wie Bevölkerungsstatistik, wo
sity, an dieser Krankheit zu sterben. Aller-    Merkmale wiederholt auftreten. Diabetes
dings ist diese Propensity nicht überall in     tritt in Deutschland bei sechzigjährigen
der Welt gleich groß; in den westlichen         Männern mit einer weitgehend konstanten
Ländern ist sie vermutlich größer als in        Häufigkeit auf. Aber wie groß ist die Pro-
Afrika.                                         pensity für Diabeteserkrankung innerhalb
Es ist nützlich, sich Propensities immer        der nächsten zehn Jahre bei einem be-
auf einer Skala von Null bis Hundert Pro-       stimmten sechzigjährigen Mann? Diese
zent vorzustellen. In dem Augenblick, in        Propensity hängt von vielen individuellen
dem wir ein Flugzeug besteigen, fällt un-       Faktoren ab, von seinen Genen, von sei-

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ner bisherigen Lebensweise, von seiner         das zu den sich entwickelnden Fähigkei-
zukünftigen Lebensweise und von vielem         ten am besten passt und das genügend
anderen. Das meiste bestimmt hier die Ver-     viele Habilitationsplätze bietet.
gangenheit.                                    Für uns alle ziemlich wichtig sind die
                                               ›Zukunftsvisionen‹, die Künstler und Po-
10. Die Zukunft wirkt auf die Gegenwart        litiker haben. Für den deutschen Bundes-
Selbst dort, wo sich zwei ganz unabhän-        kanzler Helmut Kohl wurde nach 1989
gige Kausalketten kreuzen, wie die eines       Deutschlands Wiedervereinigung eine rea-
vom Fensterbrett der fünften Etage fal-        lisierbare Vision, nachdem sie Jahrzehnte
lenden Blumentopfes und die eines zum          lang eine unrealisierbare Utopie war. Auf
Bahnhof eilenden Mannes, kann man den          einmal gab es mehrere Möglichkeiten, de-
Zufall prinzipiell mit rekonstruierbaren       ren Realisierungspropensities manipulier-
Kausalketten erklären.                         bar wurden. Man konnte sie erhöhen. In
Aber nur rückwärts gesehen ist das kau-        einem großen Sprung war nichts zu errei-
sale Geschehen völlig festgelegt; nicht je-    chen. Auf welche der möglichen Schritte
doch, wenn wir in die Zukunft schauen.         sollte man setzen? Kohl verstärkte offen-
Wenn wir in die Zukunft schauen, hat der       bar die passenden Propensities. Sein Zu-
Blumentopf eine gewisse Propensity, ei-        kunftsbild wurde ›wahr‹ oder, besser ge-
nen bestimmten Punkt zu erreichen, und         sagt, Wirklichkeit. Zurückblickend werden
der Kopf des zum Bahnhof eilenden Man-         die Historiker versuchen, auf eine folge-
nes hat eine gewisse Propensity, sich zum      richtige Kausalkette hinzuweisen, die die
gleichen Zeitpunkt an der gleichen Stelle      Wirklichkeit eines wiedervereinigten Deutsch-
zu befinden.                                   lands hervorbrachte. Tatsächlich aber hat
Das gilt natürlich auch für ›Kausalketten‹,    hier weniger die Vergangenheit die Gegen-
die zu glücklichen Ereignissen führen: auch    wart hervorgebracht als in viel größerem
sie haben nur eine gewisse Wahrschein-         Maße die Zukunft die Gegenwart beein-
lichkeit, dorthin zu führen; eine Wahr-        flusst. Und das nur deshalb, weil jemand
scheinlichkeit, die wir vergrößern können,     die mit realen Propensities ausgestatteten
wenn wir wollen. Das können wir aber nur       Möglichkeiten dieser Zukunft ›sehen‹
wollen, wenn wir diese Wahrscheinlich-         konnte und systematisch die Propensities
keiten nicht länger als Folge unseres unsi-    der gewünschten Möglichkeiten vergrö-
cheren Wissens über die Zukunft interpre-      ßerte.
tieren, sondern als Propensities.              Die Zukunft bringt die Gegenwart hervor,
Auch bei der Propensity für einen Zehn-        und wir können dabei mitwirken.
jährigen, später das Abitur und noch spä-      Man sieht also: Auch dieses neue, für un-
ter die Habilitation zu schaffen, hängt vie-   ser Alltagsleben so wichtige Weltbild
les von der Vergangenheit ab. Noch mehr        kommt aus der Quantenphysik: Ob Pho-
aber hängt von der Zukunft ab, von sei-        tonen oder größere Moleküle39 : sie schei-
nem zukünftigen Lernverhalten und vielen       nen im Voraus zu ›wissen‹, ob die räum-
anderen Zukunftsmöglichkeiten, die er          lich und daher auch zeitlich vor ihnen lie-
noch wählen muss, deren Propensity er          gende Apparatur durch Interferenz be-
noch erhöhen kann. Beispielsweise muss         stimmte Wege zulässt oder unmöglich
das ›richtige‹ Studienfach gewählt werden,     macht40 . Ich hatte oben, sehr knapp, denn

Aufklärung und Kritik 1/2008                                                             61
man kann das besser anderswo nachle-             ten zu Gegenwart werden lassen, mithin
sen, einen Versuch beschrieben, der zeigt:       auf die Gegenwart wirken, diese Tatsa-
Das Einzelteilchen ›weiß‹ im Voraus et-          che ist Teil der objektiven, von Menschen
was. Es ›weiß‹ bei gegebener Anordnung           unabhängigen Welt.
im Voraus den wahrscheinlichsten und den         Auch im menschlichen Alltagsleben schiebt
unwahrscheinlichsten Weg. Es gibt über-          uns die Vergangenheit kausal in die Ge-
zeugende Nachweise dafür, dass es schon          genwart; zugleich wirkt aber auch die Zu-
vor dem Losfliegen auch Wege berück-             kunft auf die Gegenwart. Die Propensities
sichtigt, die nur als Möglichkeit vor ihm        ziehen uns gewissermaßen in die Gegen-
liegen; denn es kann unmöglich alle Wege         wart.42
sozusagen in ›Aufklärungsflügen‹ im Vor-         Jeder bereits eingetretene Verkehrsunfall
aus gemacht haben.41                             ist lückenlos durch eine Kette von Ursa-
Wie das Beispiel ›Wiedervereinigung‹ zeigt,      chen und Wirkungen kausal determiniert.
gilt dieses neue Weltbild auch für unsere        Ob wir ihn in dieser Weise erklären kön-
normale Lebenswelt: Was wirklich gesche-         nen, hängt von unserem Wissen ab. Aber
hen ist, die ›Vergangenheit‹, lässt sich prin-   objektiv ist er determiniert. Für den noch
zipiell in Form von Kausalketten rekon-          nicht eingetretenen Verkehrsunfall gilt das
struieren, die Zukunft nicht. Die Zukunft        nicht! Hier sind immer Tausende von Mög-
besteht aus Möglichkeiten, von denen ei-         lichkeiten offen; und nicht alle sind gleich
nige mit mehr oder minder großer Wahr-           wahrscheinlich. Die gewünschte ›Zukunfts-
scheinlichkeit eintreffen. Diese Wahr-           vision‹ einer weniger unfallträchtigen Welt
scheinlichkeiten sind bereits heute Reali-       kann dadurch auf die Wirklichkeit wirken,
tät, sie sind Propensities. Sie bewirken,        dass wir die entsprechenden Propensities
dass die vorhandenen Möglichkeiten sich          erhöhen, die mehr Sicherheit schaffen
entsprechend dem zwischen Null und Eins          können, etwa durch Sicherheitsgurte, neue
liegenden Wert der Propensity verwirklichen.     Reifen, übersichtliche Verkehrswege, pas-
Sie sind Realität, weil sie, unabhängig von      sende Verkehrsschilder, Kreisel statt Am-
uns, auf die Gegenwart wirken und weil           peln usw.
wir auf diese Wahrscheinlichkeiten einwir-       Fast alle historischen Ereignisse sind prin-
ken können. Das war unser Kriterium für          zipiell kausal erklärbar. Aber fast keines
›real sein‹ oder ›wirklich vorhanden sein‹.      ist mit Sicherheit vorhersagbar, auch wenn
Verwirklichungspropensities sind in phy-         wir alles mögliche Wissen hätten. Denn
sikalischen Systemen, insbesondere in der        möglich ist oft nur die Kenntnis realer
Teilchenwelt, berechenbar. Wir können sie        Wahrscheinlichkeiten.
durch physische Maßnahmen vergrößern             Selbst das, was wir heute Abend um acht
oder verkleinern, und zwar sowohl in der         tun, sehen und erleben werden, steht mor-
Welt der Elementarteilchen als auch in der       gens um acht noch nicht genau fest, dar-
Makrowelt und in der sozialen Welt. Um           an ändern auch genaue Pläne nichts. Das
sie willkürlich zu beeinflussen, ist ein         kann man leicht prüfen, wenn man die ge-
menschliches Wesen notwendig. Der                naue Situation im Voraus aufschreibt und
Mensch kann die Propensities verändern,          dann feststellen wird, dass die wirkliche
aber die Tatsache, dass es sie gegenwär-         Situation in vielen Punkten anders einge-
tig gibt und dass sie Zukunftsmöglichkei-        treten ist.

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Dessen ungeachtet haben wir großen Ein-        verstärkt den Antrieb: die kompetente po-
fluss darauf, wie die wirkliche Situation      litische Vision, deren Propensities als reale
sein wird, weil wir für die gewünschten        mehr oder minder starke, beeinflussbare
Möglichkeiten die real vorhanden Propen-       ›Anziehungskräfte‹ wirken.
sities erhöhen können, so dass sie größe-      Wir sind zum Teil schon unsere Zukunft.
re Verwirklichungschancen bekommen.            Sie ist noch in der Schwebe, aber als Mög-
Die Vergangenheit schiebt, die Zukunft         lichkeit schon physisch vorhanden; denn
zieht uns in die Gegenwart.                    unsere Welt ist, wie Popper schrieb, »Eine
Wenn Polen auf der Konferenz der Euro-         Welt der Propensitäten«43 . Sicherheit und
päischen Union 2007 die Kriegsschuld der       Exaktheit gibt es nur dort, wo sich die
Deutschen als Grund dafür nennt, den           Wahrscheinlichkeiten zu fast Eins aufsum-
großen Staaten in Europa weniger Stimm-        mieren. Das ist im sozialen Bereich selten
gewicht zu geben und den kleinen mehr,         der Fall.
dann wirkt die Vergangenheit auf die Ge-       Die Vergangenheit führt uns an Kausalket-
genwart. Der politische Visionär, wenn er      ten in die Gegenwart; gleichzeitig zieht uns
Zukunftsrealist ist, kann sich hingegen        die Zukunft mit ihren Propensities in die
auch eine völlig neue europäische Wirk-        Gegenwart.
lichkeit vorstellen, die unabhängig von ih-
rer Geschichte bereits heute eine reale Pro-   11. Neue Leitideen und ein neues Welt-
pensity hat, die man erhöhen kann.             bild
Schauen wir zurück auf die ersten euro-        Fassen wir unsere bisherigen Ergebnisse
päischen ›Amerikaner‹, die von ihrer er-       zusammen: ›Propensities‹ nannten wir die-
lebten Geschichte getrieben – oft von ei-      jenigen Wahrscheinlichkeiten, auf denen
ner bösen Geschichte! – in der ›neuen          alle Veränderungen in der Welt beruhen.
Welt‹ Zuflucht suchten. Nie wieder politi-     Sie sind objektiv vorhanden und prinzipi-
sche und soziale Ungerechtigkeiten zu er-      ell beeinflussbar. Wenn Zukünftiges Ge-
leiden, das war der Grund dafür, eine neue     genwart wird, sieht es so aus, als hätten
Lebensweise und eine neue Verfassung zu        Propensities spontan den Wert Eins be-
schaffen. Die Vergangenheit schob die Ein-     kommen. Tatsächlich können wir in man-
wanderer in die neue Richtung. Aber es war     chen Fällen dafür sorgen, dass eine Pro-
auch die Zukunft, die einen Sog ausübte.       pensity den Wert Eins bekommt. Dann
Es war auch das ›Land der unbegrenzten         wird dieser Teil der Zukunft mit Sicher-
Möglichkeiten‹, das man mehr erahnte als       heit zur Gegenwart. Meist ist es aber so,
erkannte, aber richtig erahnte. Die Vergan-    dass ein Teil der Zukunft ›teilweise exi-
genheit stößt; die Zukunft zieht. Und das      stent; teilweise nicht existent‹ ist. Das hat
ist, wie gesagt, nicht nur metaphorisch        nichts zu tun mit unserem unzulänglichen
gemeint, sondern auch physikalisch.            Wissen über die Zukunft. Diese Teile der
Diese Unsymmetrie zwischen Zukunft und         Zukunft existieren bereits in der Gegen-
Vergangenheit sollten wir im Auge behal-       wart, aber nur als beeinflussbare Propen-
ten. Geschichte, Traditionen und Institu-      sity. Verkehrsunfälle, Krankheiten, bestan-
tionen: mit ihnen stößt die Vergangenheit      dene Prüfungen, Siege im Tennisturnier,
uns in die Gegenwart. Der Sog oder die         die Frage, ob ich heute Abend ein Glas Wein
Anziehungskraft aus der anderen Richtung       trinken werde: Das alles existiert zunächst

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