Propensity und Serendipity - zwei Leitideen steuern den
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Dr. Hans-Joachim Niemann (Poxdorf) Propensity und Serendipity – zwei Leitideen steuern den glücklichen Zufall 1. Das Glück, das aus dem Zufall und über haben die Physiker seit nunmehr acht aus der Zukunft kommt Jahrzehnten Erkenntnisse gewonnen, die Man kann glücklich sein bei dem, was man revolutionär sind und die unser gesamtes gerade tut, oder glücklich sein, weil man Weltbild verändern könnten und auch ver- etwas getan oder erreicht hat. Auf dem ändern würden, wenn die Ergebnisse der Weg zum Glück, etwas getan oder erreicht Naturwissenschaften bei Intellektuellen zu haben, sind zwei Hindernisse zu über- noch die Aufmerksamkeit fänden wie zur winden, über die die Physik, bei der wir Zeit des Kopernikus. Bei unserem Stre- hier Anleihen machen wollen, eine Menge ben nach Glück und Selbstverwirklichung weiß: die Zukunft und der Zufall. Die Zu- werden sie jedenfalls sehr hilfreich sein. kunft, weil das Streben nach Glück wie das nach Selbstverwirklichung sich auf 2. Glück, Zufall, Zukunft und Physik Dinge bezieht, die in der Zukunft liegen. Für Physiker sind Zufall und Zukunft fest Der Zufall, weil fast jedes Glück mit Zu- miteinander verbunden: Alles, was über- fällen verbunden ist, ob man der glückli- haupt geschehen kann, kann nur mit einer che Sieger eines Tennisturniers geworden bestimmten Wahrscheinlichkeit geschehen. ist oder durch ›reinen Zufall‹ einem Un- »Die wahre Logik dieser Welt liegt in der fall entkommen ist und in diesem Sinne Wahrscheinlichkeitsrechnung« schrieb ›Glück gehabt‹ hat. bereits James Clerk Maxwell1 , der große Um Glück und Zufall geht es hier, aber Physiker des 19. Jahrhunderts. Aber erst nicht um das Glück im Lotto oder bei ähn- im 20. Jahrhundert wurde diese Weltdeu- lichen Zufallsspielen, bei denen man am tung um eine neue Interpretation der Wahr- Eintritt des Zufalls nichts ändern kann. scheinlichkeit und um neue Berechnungs- Vielmehr geht es um zwei Arten eines be- methoden bereichert: durch Werner Heisen- einflussbaren Zufallsgeschehens, bei de- bergs Quantenmechanik2 , Erwin Schrödin- nen sich Glück in seinen beiden Bedeu- gers Wellenmechanik3 und Richard Feyn- tungen, im Sinne von Zufall und im Sinne mans ›Quantenelektrodynamik‹4. Letzte- von Freude, mehr oder minder herbeifüh- re beschreibt nicht weniger als »alle Phä- ren lässt. Herbeigeführt werden soll die- nomene der physikalischen Welt mit Aus- ses Glück mit Hilfe steuerbarer Wahr- nahme der Wirkung der Gravitation... so- scheinlichkeiten, die so wichtig sind, dass wie der radioaktiven Erscheinungen...«5. sie einen eigenen Namen verdienen: Pro- Eine Welt voller Wahrscheinlichkeiten? pensities und Serendipities. (Ich gebe den Das war nicht immer so. Jahrtausende lang englische Ausdrücken den Vorzug vor den hatte man geglaubt, alles Geschehen sei deutschen ›Propensitäten‹ und ›Serendi- vorbestimmt oder ›determiniert‹. Und im pitäten‹.) Alltagsdenken haben wir uns noch nicht Darüber später mehr. Zunächst etwas ganz von diesen Vorstellungen befreit. Die Wichtiges über Zukunft und Zufälle. Dar- Mikrowelt der Elementarteilchen, deren 48 Aufklärung und Kritik 1/2008
ganz indeterministisches Verhalten von 1927 der Satz: Alles, was überhaupt ge- Wissenschaftlern der ›Quantenmechanik‹ schehen kann, kann nur mit Wahrschein- und ›Quantenelektrodynamik‹ aufgeklärt lichkeit geschehen. Wir kommen auf das worden ist, scheint uns wenig anzugehen. Datum 1927 noch zu sprechen. In unserer größer dimensionierten Welt Was wir von der Quantenphysik lernen scheinen Wahrscheinlichkeiten eine Ne- können, ist: Die Vergangenheit von Ele- benrolle zu spielen; und die Hauptrolle mentarteilchen mag noch so exakt er- scheint der strengen Kausalität zuzufallen: forscht sein, aus ihr folgt keine exakte Zu- Ursachen haben voraussagbare Wirkun- kunft, sondern nur eine große Anzahl von gen und für jede Wirkung lassen sich nach- Möglichkeiten, die jeweils unterschiedli- träglich die Ursachen finden, wenigstens che Wahrscheinlichkeit haben, realisiert zu prinzipiell. Denken Sie an Uhren, Autos werden7 . Eine einzige wird tatsächlich rea- und Computer, aber auch an Unfälle, lisiert, die rückwärts gesehen dann die Krankheiten und Kriminalfälle. Wahrscheinlichkeit Eins gehabt zu haben Uhren zum Beispiel sind sehr genau vor- scheint und damit rein kausales Gesche- hersagbar, und ihr Räderwerk oder ihr hen vortäuscht.8 elektronisches Schaltwerk läuft in der Zu- Dieses Rückwärtsblicken ist der Grund kunft ganz so wie es in der Vergangenheit für den Eindruck, die existierende Welt sei gelaufen ist. Ihre Zukunft ist fast gänzlich völlig kausal. Wenn wir die Geschichte durch ihre Vergangenheit festgelegt, ›de- physikalischer Dinge betrachten, ist alles terminiert‹. Rückwärts gesehen scheint wohlgeordnet, eines folgt kausal aus dem alles nach Art der Uhren abgelaufen zu anderen. Wahrscheinlichkeiten kommen sein. Jeder noch so unwahrscheinliche nicht vor beziehungsweise scheint alles, Prozess wie der des herabfallenden Blu- was geschehen ist, die Wahrscheinlichkeit mentopfes, der den Vorübereilenden zu- Eins gehabt zu haben. Wenn die Vergan- fällig am Kopf trifft, scheint streng kausal genheit so wohlgeordnet kausal ist, war- erklärbar zu sein, wenn es meist auch sehr um sollte der Übergang in die Gegenwart schwierig sein mag, die einzelnen Kausal- es nicht sein, wo er doch nichts weiter ist fäden, die sich da überkreuzt haben, zu als das letzte Glied vieler ineinander ver- entwirren. wundener kausaler Ketten, die aus der Ver- Die revolutionären Wahrscheinlichkeits- gangenheit in die Gegenwart führen? physiker des letzten Jahrhunderts versi- Nein, vorwärts blickend, sagt die Physik, chern uns aber, dass, genau besehen, Pro- sieht die Welt ganz anders aus. Von der zesse mit hundert Prozent Wahrscheinlich- Gegenwart in die Zukunft geschaut ist die keit oder fast hundert Prozent immer nur Welt voller Wahrscheinlichkeiten zwischen dann zu beobachten sind, wenn bei dem Null und Eins. Und wenn wir fragen ›Was Geschehen unvorstellbar große Mengen wird geschehen?‹, dann ist es nicht nur von Atomen oder Molekülen beteiligt sind, die Vergangenheit, die zur Gegenwart der die ein statistisch stabiles Verhalten be- Elementarteilchen wird, sondern dann sind wirken, für das sich exakte Gesetze for- es auch deren zukünftige Möglichkeiten, mulieren lassen6 . Für die Bausteine un- die in die Gegenwart hineinwirken. Denn serer Welt, die Atome, Moleküle und üb- alle diese Möglichkeiten haben eine be- rigen Elementarteilchen, gilt jedoch seit stimmte, real vorhandene Wahrscheinlich- Aufklärung und Kritik 1/2008 49
keit, und diese sind der Grund dafür, dass wahrscheinlichkeiten, da wo wir es wün- eine von ihnen realisiert wird. Meistens schen, vergrößert werden, gilt für uns Men- wird die Möglichkeit mit der größten schen noch stärker als für Elementarteil- Wahrscheinlichkeit realisiert. Nicht selten chen, dass die Zukunft auf die Gegenwart wird aber auch die mit einer kleineren wirkt. Wahrscheinlichkeit verwirklicht. Die Zu- Im Widerspruch zu diesem physikalisch kunft wirkt auf die Gegenwart: Das ist neu geprägten Weltbild glauben viele Men- und nicht ganz selbstverständlich.9 schen, dass die Kausalketten der Vergan- Das für uns Interessante daran ist: Das genheit sich in die Zukunft fortsetzen. Zu- gilt auch in einigen menschengemachten mindest glauben sie, dass die Gegenwart Welten. Die Zukunft wirkt auf die Gegen- so etwas wie das Endprodukt der bishe- wart. Es gibt eine weitgehende Struktur- rigen Vergangenheit ist, sozusagen das gleichheit der Wahrscheinlichkeitsver- letzte Glied einer Kausalkette oder mehre- hältnisse bei Elementarteilchen und bei rer verschlungener Kausalketten. Sie denken, Menschen. Auch in der Geschichte der dass allein die Vergangenheit die Zukunft Menschen, in ihren sozialen Beziehungen hervorbringe. Sie fühlen sich selbst gewis- und in ihrem individuellen Leben, auch in sermaßen aus der Vergangenheit in die Zu- solchen Systemen, in denen Lebenspläne, kunft geschoben. Sie sehen nicht, dass ›Glück‹ und ›Selbstverwirklichung‹ reali- es zugleich auch die Zukunft ist, die sie in siert werden sollen, ist die Zukunft ande- die Gegenwart hineinzieht. Sie sehen nicht, rer Natur als die Vergangenheit. Sie ist dass die Wahrscheinlichkeiten der ver- voller Wahrscheinlichkeiten, die, wie wir schiedenen Zukunftsmöglichkeiten eine sehen werden, genauso real sind wie die ebenso objektive Realität haben, wie das physikalischen Wahrscheinlichkeiten, die bei Elementarteilchen der Fall ist11 . das Verhalten der Elementarteilchen steu- Folglich sehen sie auch nicht, dass es ih- ern. Dass sie ganz anders berechnet wer- nen freisteht, unter den vielen Möglich- den, ändert an dieser Tatsache nichts. Für keiten diejenige mit der größten geistigen alle vergangenen Ereignisse sind die Ein- Anziehungskraft zu wählen und ihr die trittswahrscheinlichkeiten stets Eins, denn größte physikalische ›Anziehungskraft‹ zu sie sind ja bereits eingetreten. Dagegen verleihen. Diese Anziehungskraft ist mehr hatte nicht jedes Glied in der Kette schon als eine Metapher. Sie entspricht, wie wir im Voraus die Wahrscheinlichkeit Eins. sehen werden, etwas real Vorhandenem. Denken Sie wieder an Unfälle, Krankhei- Real vorhandene Wahrscheinlichkeiten ten oder Kriminalfälle. kann man im physikalischen Sinne vergrö- Die Zukunft ist ›offen‹, das heißt, sie ist ßern, wenn man ihre physikalischen Ein- nur teilweise durch die Vergangenheit fest- trittsbedingungen entsprechend verändert. gelegt, ›determiniert‹ und sie ist voller Mög- Wir können sozusagen, wo wir wollen, die lichkeiten, deren Realisierung von Wahr- ›Würfel‹ präparieren, damit die für uns scheinlichkeiten mit Werten zwischen Null günstige Augenzahl eine größere Realisie- und Eins abhängt, die wir vergrößern oder rungswahrscheinlichkeit bekommt. So verkleinern können10 . Da wir einen Teil können wir die von uns bevorzugten Zu- dieser Möglichkeiten voraussehen und da- kunftsmöglichkeiten mit größerer Wahr- für sorgen können, dass deren Eintritts- scheinlichkeit Gegenwart werden lassen. 50 Aufklärung und Kritik 1/2008
Für unsere Lebensweise, unser Glück, Betätigung verkleinern und durch Bewe- unsere Selbstverwirklichung ist es wich- gungsfaulheit vergrößern. Ich kann sie tig, dass wir aufhören zu glauben, eine be- physisch beeinflussen, und umgekehrt stimmte, im Geiste vorgestellte Zukunft kann die verkleinerte Wahrscheinlichkeit werde ›vielleicht‹ eintreten und sei nur des- mein Leben beeinflussen, weil ich etwas halb ›wahrscheinlich‹ zu nennen, weil wir mehr vor Diabetes geschützt bin. Dass die nicht wissen, wie sie sein wird. An die Wahrscheinlichkeit, Diabetes zu bekom- freiwerdende Stelle könnte als Leitidee tre- men, durch Bewegungsarmut vergrößert ten, dass unsere Zukunftsmöglichkeiten wird, ist eine objektive Tatsache, nämlich von real vorhandenen Wahrscheinlichkei- das Ergebnis wissenschaftlicher For- ten abhängen, die wir beeinflussen kön- schung. Will ich diese Wahrscheinlichkeit nen. Darum geht es hier. bei mir verkleinern, sagen wir auf 5%, hat das, anders als im vorigen Fall, nichts mit 3. Propensities und Serendipities meinem Wissen zu tun, sondern mit mei- Zunächst sind zwei fundamental verschie- ner Lebensweise, also mit Sport und Er- dene Wahrscheinlichkeiten zu unterschei- nährung. den: zum einen die subjektiven Wahr- Im Folgenden interessieren uns die ob- scheinlichkeiten in unserem Kopf, zum jektiven, beeinflussbaren Wahrscheinlich- andern die objektiven Wahrscheinlichkeiten keiten. in der physischen Welt.12 Sie sind leicht Auch sie zerfallen in zwei Gruppen. Zum erklärt. einen gibt es die von Karl Popper ›Pro- Die Wahrscheinlichkeit, auf dem Mars pensity‹ genannte Realisierungswahr- Spuren von Leben zu finden, ist weder scheinlichkeit für bestimmte Ziele, die wir Null noch Eins. Sie liegt irgendwo dazwi- klar vor Augen haben13 . Zum anderen um schen. Je mehr wir über den Mars wis- die in Anlehnung an Robert Merton ›Se- sen, desto wahrscheinlicher oder unwahr- rendipity‹ genannte Realisierungswahr- scheinlicher wird dieser Wert, je nach dem, scheinlichkeit für Dinge, von denen wir wie die Ergebnisse entsprechender For- nichts wissen, außer, dass sie unserem schungsmissionen ausfallen. Weil sie sich Leben eine neue fruchtbare Wendung ge- auf unser Wissen bezieht, wird diese Wahr- ben können14 . scheinlichkeit subjektiv genannt. Der Wert Im Hinblick auf menschliches Glück sor- dieser Wahrscheinlichkeit hängt nicht von gen beeinflussbare Propensities dafür, den physischen Umständen auf dem Mars konkrete Ziele zu erreichen, die uns, wie ab. Sie kann nicht durch Manipulationen wir hoffen, glücklich machen werden15. auf dem Mars, sagen wir, auf 5% gebracht Beeinflussbare Serendipities sorgen dafür, werden; denn Spuren von Leben sind ent- dass wir Glück dort finden werden, wo weder da oder nicht da. wir uns auf etwas völlig Neues, Unbekann- Die Wahrscheinlichkeit, dass ich einmal tes eingelassen haben. Diabetes bekomme, hat ebenfalls einen Allerdings gibt es einige Hindernisse zu Wert zwischen Null und Eins. Doch sie überwinden. Noch wird unser Denken all- hat einen ganz anderen Charakter als die zu sehr von der Vorstellung beherrscht, Wahrscheinlichkeit für Lebensspuren auf dass alle Wahrscheinlichkeiten subjekti- dem Mars. Ich kann sie durch sportliche ver Natur seien. Bis in die zwanziger Jah- Aufklärung und Kritik 1/2008 51
re des 20. Jahrhunderts glaubten selbst die des Wissenschaftlers seit undenklichen besten Naturwissenschaftler, dass hinter Zeiten. Der Glaube an ein ›Schicksal‹, an allen zufälligen Erscheinungen determinier- Schicksalsmächte, an Götter, die das Ge- te Vorgänge steckten.16 schehen auf Erden lenken, ist determinis- Wären Wahrscheinlichkeitsaussagen über tischer Natur. Und auch jeder Glaube, dass die Zukunft tatsächlich nur eine Folge un- die Zukunft bereits im Ganzen oder teil- seres begrenzten Wissens, also subjekti- weise feststünde, dass sie nur für uns Men- ver Natur, und nur Vermutungen über das, schen unerkennbar sei, ist deterministi- was mit oder ohne unser Zutun in jedem scher Natur17. Auch der von einigen Milli- Fall geschehen muss, so könnten wir sie arden Menschen geteilte Glaube an einen nicht beeinflussen. Es gäbe gar keine ob- allwissenden Gott, der alles Kommende jektiven Wahrscheinlichkeiten, sondern nur im Voraus kennt, für den die Zukunft also Vermutungen, die mit mehr oder weniger schon entschieden ist, bedeutet die Ver- Wahrscheinlichkeit richtig oder falsch innerlichung des deterministischen Weltbil- wären. Die Propensities und Serendipities des. Kein Wunder, dass selbst die Physi- genannten Realisierungswahrscheinlichkei- ker der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts ten für bestimmte in der Zukunft liegende Schwierigkeiten hatten, ihre eigene Idee Ziele und Entdeckungen könnten nicht ver- des Indeterminismus zu verstehen. größert werden, sie wären Phantome. Un- Hinzu kommt, dass echter Zufall per se sere Suche nach Glück und Selbstverwirk- schwer vorstellbar ist18. Ein Uranatom lichung wäre in einer im Voraus festgeleg- kann in der nächsten Sekunde zerfallen ten Welt eine Illusion. Niemand wäre ›sei- oder erst nach Milliarden von Jahren. Da nes Glückes Schmied‹. läuft kein Prozess ab, der zum Zerfall führt. Für den genauen Zeitpunkt des Zerfalls 4. Die falsche Leitidee ›Determinismus‹ gibt es einfach keine Ursache. Infolge un- In unserer heute oft etwas chaotischen Welt serer angeborenen Ursache-Wirkung-Ka- glaubt kaum jemand noch, dass alle Din- tegorien19 fällt es uns schwer aufzuhören, ge vorbestimmt seien. Dennoch ist der De- nach versteckten Mechanismen zu suchen. terminismus nicht überwunden, solange Bis in die 50er Jahre des 20. Jh. fiel das die neue Leitidee einer ›Welt voller beein- sogar Einstein noch schwer20 . flussbarer Wahrscheinlichkeiten‹ noch Warum können wir uns echten Zufall so nicht genügend fest verankert ist. Es gibt schwer vorstellen, fragt Erwin Schrödinger eine Reihe von Gründen, warum das nicht 1922: »Woher stammt nun der allgemein der Fall ist, Gründe, die uns hindern, uns verbreitete Glaube an die absolute, kau- in einer nicht-determinierten Welt einzu- sale Determiniertheit des molekularen Ge- richten. schehens und die Überzeugung von der Der Hauptgrund ist wohl, dass die Idee Undenkbarkeit des Gegenteils? ...die uns des Indeterminismus noch keine hundert ein undeterminiertes Geschehen, einen Jahre alt ist, während der Determinismus absoluten, primären Zufall als einen voll- seit Jahrtausenden tief in unserem Den- kommenen Nonsens, als logisch unsinnig ken, in unserer Sprache und unserer Kul- erscheinen lässt.« Schrödingers Vermu- tur verwurzelt ist. Determinismus bestimm- tung ist: »Aus der Jahrhunderte, Jahrtau- te das Weltbild des Alltagsmenschen und sende langen Beobachtung gerade derje- 52 Aufklärung und Kritik 1/2008
nigen natürlichen Gesetzmäßigkeiten, von schen diesen beiden fundamental ver- denen wir heute mit Sicherheit wissen, schiedenen Arten von Zukunft. Trotz die- dass sie nicht – jedenfalls nicht unmittel- ser Denkgewohnheiten ist die Beweislage bar – kausale, sondern unmittelbar sta- gegen den Determinismus erdrückend. tistische Gesetzmäßigkeiten sind.«21 Schrödinger denkt vor allem an die Wär- 5. 1927 Ende und Wende melehre, die Ausdehnung von Gasen, Abgesehen von einigen wenigen Vorden- wenn sie erhitzt werden, die Erhöhung des kern22 erkannte man den durchgängigen Drucks, wenn man die Ausdehnung ver- Zufallscharakter der Welt erst 1927. Das hindert und viele andere äußerst exakte ist das Jahr, in dem Werner Heisenberg Gesetze. Diese Gesetze beruhen auf dem seine Unbestimmtheitsrelation veröffent- statistischen Verhalten einer unvorstellbar lichte23. Sie besagt, dass der Bewegungs- großen Anzahl von Molekülen. Die An- zustand (Impuls) und Aufenthaltsort eines zahl liegt im Bereich von 1023. beliebigen physikalischen Körpers, etwa Es gibt noch einen zweiten wichtigen eines Elementarteilchens, nur in unserer Grund, warum wir das deterministische Vorstellung exakte Werte haben kann, aber Weltbild nur halb aufgeben und die Idee niemals in der Wirklichkeit. einer ›Welt voller beeinflussbarer Wahr- Der Determinismus hingegen hatte behaup- scheinlichkeiten‹ nicht verinnerlichen. Der tet, dass diese Werte beliebig exakt seien, liegt darin, dass es bei Vermutungen über ob man sie messen könne oder nicht. Nur die Zukunft auf den ersten Blick hin ei- wenn sie beliebig exakt messbar wären, nerlei zu sein scheint, ob wir nicht wis- hätte Pierre-Simon Laplace, der bedeutend- sen, wie die Zukunft aussieht, oder ob sie ste Vertreter des Determinismus, Recht ha- zur Zeit noch nicht feststeht. ben können: Wer die genauen Anfangsbe- Ein dritter Grund dafür, dass echter Zu- dingungen der Welt kennt, kann jeden zu- fall so schwer vorstellbar ist, hängt damit künftigen Weltzustand berechnen24. Das zusammen, dass viele Zukunftsdinge ja tat- ist, wie wir seit 1927 wissen, nicht der Fall. sächlich schon feststehen. Unsere Vermu- Der Determinismus war mit Heisenbergs tungen sind nur deshalb unsicher und wir Unbestimmtheitsrelation schlagartig wider- greifen nur deshalb zu Wahrscheinlich- legt. keitsaussagen, weil wir nicht wissen, was Unabhängig davon zeigte seit 1929 die bereits feststeht. Ob wir auf dem Mars ›Quantenelektrodynamik‹, dass das Ver- einmal Fossilien von Lebewesen finden halten der Elementarteilchen, aus denen werden, ist für uns eine Möglichkeit, die unsere Welt besteht, von den zukünftigen in Wirklichkeit bereits feststeht und die Möglichkeiten abhängt, die ihnen offen ste- nur für uns eine gewisse Wahrscheinlich- hen, also z.B. von den vielen möglichen We- keit hat, die sich vergrößert, je mehr Indi- gen, den das Licht nehmen könnte. Diesen zien wir finden. Aber wir wissen das Er- Möglichkeiten sind Wahrscheinlichkeiten gebnis noch nicht. Das sind Möglichkei- zugeordnet, aus denen sich Wahrscheinlich- ten, die wir nicht beeinflussen können. In keitsaussagen über das tatsächliche Verhalten dieser Weise enthält die Zukunft viele Din- der Teilchen berechnen lassen.25 ge, die bereits heute feststehen. Wir un- Im Resultat kann das Verhalten der Teil- terscheiden offenbar nicht genügend zwi- chen sehr determiniert aussehen. Zum Bei- Aufklärung und Kritik 1/2008 53
spiel überlagern sich beim Licht, das auf quants, den es z.B. in einer bestimmten einen Spiegel fällt, so viele Möglichkei- Spiegelanordnung 27 gehen wird (Zu- ten, dass im Resultat ein Lichtstrahl sehr kunft!), hängt von den verschieden wahr- exakt auf eine bestimmte Stelle des Spie- scheinlichen Möglichkeiten ab, die hinter gels zu fallen scheint, um an dieser Stelle den Spiegeln bestehen, bevor es ›losläuft‹. sehr exakt reflektiert zu werden. Man kann In unserer Welt: Die Zukunft eines Künst- aber leicht zeigen, dass an dem Reflexions- lers hängt von den verschiedenen mögli- vorgang alle möglichen Wege zum und chen Produkten ab, die er herstellen wird, vom Spiegel beteiligt sind und dass kei- und die eine verschieden starke faszinie- neswegs nur die Stelle beteiligt ist, von rende Wirkung auf sein Publikum haben der wir glauben, dass der Lichtstrahl an werden. Die Realisierungswahrscheinlich- ihr reflektiert worden sei.26 keiten zukünftiger Möglichkeiten des Es gibt leicht nachvollziehbare empirische Lichtquantums kann man verkleinern oder Beweise dafür, dass jedes einzelne Licht- Null werden lassen; die des Künstlers quant tatsächlich alle seine verschieden auch. Das bedeutet, dass die Wahrschein- wahrscheinlichen Möglichkeiten ›auslotet‹ lichkeiten, die den verschiedenen Möglich- und den Weg nimmt, den wir als den der keiten zugeordnet sind, sich verändern las- größten Wahrscheinlichkeit berechnen sen, bevor noch eine dieser Möglichkei- können. Dieses ›Ausloten‹ ist natürlich ten realisiert worden ist. Die veränderten kein physikalischer Vorgang: Sobald eine Zukunftsmöglichkeiten wirken auf die bestimmte räumliche Anordnung vorliegt, Gegenwart ein und verändern sie. liegen ohne Zeitverzögerung die Wahr- Die Quantenphysik liefert damit eine neue scheinlichkeiten aller möglichen Wege fest. Weltdeutung: Die Vergangenheit kann man Das ist die Grundstruktur der Teilchen- genau rekonstruieren, die Zukunft nicht, Welt. Aber gilt sie auch für unsere Welt? sondern nur mit Wahrscheinlichkeit vor- Davon darf man ausgehen, selbst wenn hersagen. Die Zukunft ist indeterminis- die quantenmechanischen Berechnungs- tisch. Was überhaupt geschieht, geschieht methoden versagen, sobald es sich um wahrscheinlich. Die Zukunft wirkt auf die größere Objekte handelt. Die Berechnungs- Gegenwart28 . methoden sind dort vollkommen anders, Sehr wichtig ist: Die genannten Wahr- und im sozialen Bereich gibt es fast kei- scheinlichkeiten beziehen sich nicht nur auf ne. Das ändert aber nichts daran, dass es Mengen von Teilchen, sondern auch auf eine weitgehende Strukturgleichheit der einzelne Teilchen. Deren Zukunftsmög- Teilchenwelt und der sozialen Welt des lichkeiten sind es, die mit realen Wahr- Menschen gibt: die resultierenden Wahr- scheinlichkeiten verknüpft sind. Letztere scheinlichkeiten, die das wirkliche Verhal- sind real, weil sie nachprüfbar auf die ten steuern, hängen von verschieden wahr- Wirklichkeit wirken und weil wir auf sie scheinlichen Möglichkeiten ab. Sie sind wirken können Das ist das Kriterium für reale Größen. ›real sein‹ oder ›wirklich vorhanden Zu dieser Strukturgleichheit gehört auch, sein‹29 , von dem wir noch öfter Gebrauch dass die Wahrscheinlichkeiten zukünftiger machen werden. Möglichkeiten auf die Gegenwart wirken. Realisierungswahrscheinlichkeiten oder In der Mikrowelt: Der Weg eines Licht- ›Propensities‹ können vergrößert oder 54 Aufklärung und Kritik 1/2008
verkleinert werden. Die Gegenwart ist nur deshalb sagen ›das und das wird wahr- zum Teil das Produkt der Vergangenheit. scheinlich geschehen‹, weil wir nicht wis- Sie ist also nicht völlig in der Vergangen- sen, was geschehen wird. Wie selbstver- heit enthalten und folglich ist die Welt dank ständlich gehen wir davon aus, dass, wie vieler noch nicht realisierter Möglichkei- bei der Frage früheren Lebens auf dem ten mit realen Wahrscheinlichkeiten eine Mars, schon feststeht, was der Fall ist. neue und kreative Welt30 . Die Zukunft Wenn der Würfel einmal rollt, denken wir, wirkt auf die Gegenwart durch ›Anzie- werden ihn die Gesetze der Physik be- hung‹, wenn wir damit die Wahrschein- herrschen und er muss am Ende eine be- lichkeit der Möglichkeiten meinen, die wir stimmte Zahl zeigen. Hätten wir genügend vergrößern wollen und vergrößern können. Kenntnisse, denken wir, könnten wir den ganzen Prozess lückenlos beschreiben. Da 6. Die Erblast des Determinismus wir sie nicht haben, bleibt uns nur, stati- Trotz des großen Erfolges dieser Theori- stische Aussagen zu machen. en innerhalb der Physik und ihrer Anwen- Aus dieser Sicht konnte wahrscheinliches dungstechnik konnte sich die Weltauf- Wissen nur bedeuteten, dass wir subjek- fassung des Indeterminismus bisher nur tiv nicht genau sagen können, wie die Zu- wenig durchsetzen und hatte deshalb kunft aussehen wird. Sogar etliche große kaum Konsequenzen für das Alltagsleben. Physiker haben noch viele Jahrzehnte nach Dafür gibt es, wie oben gesagt, mehrere dem Auftauchen des neuen Weltbildes in Gründe. Einer war, dass echter Zufall den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts an schwer zu verstehen ist. Darum ist das dieser ›subjektiven Wahrscheinlichkeits- Jahrtausende alte, ganz und gar falsche auffassung‹ festgehalten31 . Weltbild noch nicht restlos verschwunden. Warum ist der Unterschied so wichtig? Es lebt weiter als eine schwere Erblast, Warum ist eine objektive Wahrscheinlich- die unser Denken und Handeln im tägli- keitsauffassung etwas völlig anderes als chen Leben einschränkt, wo es frei und eine subjektive?32 Weil eine Welt voller kreativ sein könnte. Zwar ist der reine objektiver Wahrscheinlichkeiten nichts mit Determinismus weitgehend verschwun- unserem Wissen oder Nichtwissen zu tun den; zwar glaubt kaum jemand noch, dass hat. Objektive Wahrscheinlichkeiten kann die gesamte Zukunft vorherbestimmt sei man willkürlich vergrößern oder verklei- und das eigene ›Schicksal‹ im Voraus ex- nern; subjektive ändern nichts in der Welt, akt feststünde; doch sind einige Restüber- sondern nur etwas in unserem Kopf. zeugungen aus dem früheren Determinis- Dieser Unterschied ist hier sehr wichtig, mus bis heute wirksam geblieben. Erst und er ist auch sehr wichtig für unser Le- wenn auch sie noch überwunden werden ben. Denn erst dann ist unser Denken und können, tun sich neue Wege auf, die un- Handeln wirklich frei und kreativ, wenn sere Freiheit im Sinne von mehr Hand- es von diesem Erbe des Determinismus lungsmöglichkeiten vergrößern und die un- befreit ist. Frei und kreativ ist es, wenn an sere Suche nach Glück und Selbstverwirk- die Stelle einer Zukunft, die ebenso unab- lichung erfolgreicher machen werden. änderlich gesehen wurde wie die Vergan- Bei dieser Erblast handelt es sich um den genheit, eine andere Zukunft tritt: eine Zu- weitverbreiteten Glauben, dass wir nur kunft voller Möglichkeiten, unter denen Aufklärung und Kritik 1/2008 55
wir auswählen können und denen wir hel- Bevor ich zu Argumenten aus unserer All- fen können, Realität zu werden. tagswelt übergehe, möchte ich meinen Ge- Die neue Leitidee, die den Determinismus danken fortsetzen und auf den Zusam- ablöst, ist: Wir werden nicht nur von der menhang des neuen, indeterministischen Vergangenheit in die Gegenwart gescho- Weltbildes mit Glück und Selbstverwirk- ben; wir werden auch von der Zukunft ge- lichung aufmerksam machen. Dadurch zogen. Und deren ›Anziehungskraft‹ kön- hoffe ich, die mehr an lebensnahen Din- nen wir vergrößern. gen interessierten Leser dafür zu gewin- Doch der Rest des deterministischen Den- nen, sich auch auf die lebensfern schei- kens in uns protestiert. Noch ist der Glau- nenden Ergebnisse von Quantenmechani- ben allzu fest verankert, dass, so wie die kern einzulassen. Gegenwart aus der Vergangenheit hervor- Der Zusammenhang ist unübersehbar, so- gegangen ist, auch die Zukunft aus der bald man das neue Weltbild probehalber Gegenwart hervorgehen müsse und nie- als gültig akzeptiert: Dann sind wir als In- mals das Umgekehrte der Fall sein kön- dividuen zwar immer noch das Produkt ne, dass die Gegenwart aus der Zukunft unserer Vergangenheit, dann können z.B. hervorginge. Psychologen und Psychiater noch weiter- Hier scheiden sich die Geister. Viele, auch hin Dinge aus unserer Kindheit zutage för- die, die glauben, keine Deterministen zu dern, die schiefgelaufenen sind und unse- sein, werden an dieser Stelle die Gefolg- rem ganzen Leben den falschen Dreh gege- schaft verweigern und bestreiten, dass die ben haben, aber die Vergangenheit und die Zukunft Einfluss auf die Gegenwart hat. Gegenwart sind nun nicht mehr alles, was Die alte Denkgewohnheit ist tief eingegra- gestaltend auf unsere Persönlichkeit wirkt. ben, und nichts könnte deutlicher zeigen, Wenn es stimmt, dass die Zukunft auf die wie wenig sich das ›neue‹ Weltbild – neu Gegenwart wirken kann, wenn wir ihre seit achtzig Jahren! – bisher durchsetzen offenen Möglichkeiten erkennen und da- konnte. für sorgen können, dass eine gewünschte Dennoch ist es so: Die Elementarteilchen dieser Möglichkeiten eine erhöhte Verwirk- ›wissen‹ im Voraus, ob wir ihnen eine Mög- lichungswahrscheinlichkeit bekommt, lichkeit genommen oder neu eröffnet ha- dann bedeutet Selbstverwirklichung nicht ben, und reagieren darauf. Dasselbe tun mehr nur, das freizusetzen, was in uns viele Menschen faktisch, wenn sie ihren steckt, sondern auch das, was nicht in bevorzugten Zukunftsmöglichkeiten mehr uns steckt, was noch als Möglichkeit in Realisierungschancen geben. Nur der kos- der Zukunft liegt, aber schon als Wahr- mologische Zusammenhang, die univer- scheinlichkeit Realität besitzt, Wirklichkeit selle Strukturgleichheit, hat sich als neue werden zu lassen. Die unveränderliche Ver- Leitidee noch nicht durchgesetzt: die Ver- gangenheit schiebt uns in die Gegenwart; innerlichung der Idee, dass die Zukunft die kreative Zukunft zieht uns hinein. auf die Gegenwart wirkt und dass sie krea- tiv ist, weil völlig Neues, in der Vergan- 7. Das Grundproblem der Zufallstheorie genheit noch nicht Enthaltenes, Wirklich- und seine Lösung keit werden kann. Die Erblast des Determinismus hindert uns, den Indeterminismus zu verinnerli- 56 Aufklärung und Kritik 1/2008
chen. Ein weiter Grund mag auch darin rund 216 Würfen dreimal die Eins hinter- liegen, dass die Quantenmechanik allzu einander. Nach im Durchschnitt ungefähr weit von unserem Alltagsdenken entfernt 1300 Würfen sollte immer die Sechs vier ist. Daher folgt jetzt eine auf unsere ge- Mal hintereinander auftauchen. Und in die- wöhnliche Lebenswelt zurückgreifende Er- ser Weise müsste dafür gesorgt werden, dass klärung dafür, warum der Determinismus Millionen und Abermillionen Gesetzmäßig- unhaltbar ist und die Zukunft in realen keiten auftreten, die beliebig exakt sind, wenn ›Propensities‹ auf uns zu kommt. wir sehr viele Würfe untersuchen. Wohin die Roulettekugel rollt, wie der Wür- Ist eine solche geheime Rechenmaschine fel beim Würfelspiel fällt, wissen wir nicht. im Würfel eingebaut, die die Würfe mit- Das einzelne Ergebnis des Zufallsprozes- zählt und ›weiß‹, dass sie nicht beliebige ses lässt sich nicht berechnen, sonst wäre Zahlenreihen produzieren darf, sondern Zufall nicht das, was wir Zufall nennen. nur solche, die die exakten Gesetzmäßig- Zufall wird oft als Gegensatz zum Gesetz- keiten erfüllen? – Keineswegs. Der Wür- mäßigen gesehen. fel enthält nichts dergleichen. Einem De- Und doch folgt zufälliges Geschehen ex- terministen bliebe zur Erklärung nichts an- akten Gesetzen. Dass das so ist, zeigt sich, deres übrig, als eine zufällige Anfangsver- wenn wir die Vorhersagen statistisch nach- teilung zu behaupten, um die zufällige End- prüfen. Bei einem sehr regelmäßigen Spiel- verteilung erklären zu können. Das darf er würfel wird die Sechs stets mit einer Wahr- natürlich nicht, denn dann ist sie keine scheinlichkeit von ziemlich genau 1/6 auf- deterministische Erklärung mehr. Der De- treten, wenn wir genügend viele Würfe terminist kann das Verhalten des Würfels machen. Nach 25 Würfen ist mit einer nicht erklären. Wahrscheinlichkeit von 99% die Sechs Wie lassen sich die vielen Regelmäßigkei- erschienen. Zwei Sechsen hintereinander ten nun aber erklären? Und zwar so, dass beobachten wir in 2.78% der Fälle. Für es sich um eine echte Erklärung handelt, drei Sechsen ist die Wahrscheinlichkeit also eine Ableitung aus einem höheren Ge- 0.463%, für vier Sechsen 0.0772%. Der setz? Das wird seit fast achtzig Jahren das Reihe nach die Eins, Zwei, Drei, Vier, Fünf, Grundproblem der Zufallstheorie33 ge- Sechs tritt in 0.0021434% der Fälle auf. nannt, und es tritt natürlich nicht nur beim Bei zwei Würfeln ist die Wahrscheinlich- Würfeln auf. keit einer Sieben 1/6. Es gibt unzählige Die Lösung des Grundproblems der Zu- solcher Gesetzmäßigkeiten. Sie werden alle fallstheorie stammt von Karl Popper: Die experimentell bestätigt, wenn die Ver- Ursache des ziemlich exakten gesetzmä- suchsreihen genügend lang sind. ßigen Verhaltens des Würfels liegt in der Wie erklärt der Determinist diese Gesetz- Neigung oder ›Propensity‹ des Würfels, mäßigkeiten des Würfels? Er muss dazu beim nächsten Wurf z.B. eine Sechs zu annehmen, dass in jedem Würfel ein Me- werfen (wenn dieser Fall erklärt werden chanismus eingebaut ist, der die Würfe soll).34 Und diese Propensity kann man mitzählt und nach jeweils ungefähr sechs aus der Symmetrie des Würfels berech- Würfen immer mal wieder die Sechs kom- nen: Jede der sechs Seiten des Würfels men lässt, nach rund 36 Würfen zweimal hat eine gleichwahrscheinliche Möglich- die Sechs hintereinander und nach jeweils keit, nach dem Wurf nach oben zu zei- Aufklärung und Kritik 1/2008 57
gen. Zusammen müssen die sechs Wahr- Propensities sind so real vorhanden wie scheinlichkeiten Eins ergeben; denn eine physikalische Kräfte. Auch Kräfte kann der sechs Zahlen wird oben liegen. Damit man nicht direkt sehen oder direkt mes- erhält man für jede Seite des Würfels die sen. Man erkennt ihr reales Vorhanden- Wahrscheinlichkeit 1/6. sein nur, weil sie die Ursache für beschleu- Der Wert dieser Wahrscheinlichkeit ist kein nigte Bewegungen sind oder, besser ge- überraschendes Ergebnis. Das Überra- sagt, weil sie die Erklärung für beschleu- schende und Revolutionäre ist die neue nigte Bewegungen liefern. In der gleichen Interpretation dieser Wahrscheinlichkeiten Weise sind Propensities wirklich vorhan- als Erklärung des physikalischen Verhal- den, weil sie die Ursache des statistischen tens. Sie ist zwar einfach, aber alles ande- Verhaltens sind und die Erklärung des sta- re als trivial: Die Wahrscheinlichkeit, beim tistischen Verhaltens liefern.35 Würfeln eine Sechs zu zeigen, ist eine phy- Propensities sind auch deshalb wirklich sikalische Realität, etwas, was wirklich vorhanden, weil sie das Kriterium für wirk- in der Welt vorhanden ist. Sie ist nicht etwa lich Vorhandenes erfüllen: Man kann auf nur eine Rechenvorschrift. sie einwirken und sie können auf die Wirk- Um diese realen physikalischen Wahr- lichkeit einwirken.36 Vergrößert man bei- scheinlichkeiten von solchen Wahrschein- spielsweise beim Spielwürfel die Seite mit lichkeiten zu unterscheiden, die nur in un- der Eins, dann vergrößert man die Propen- serem Kopf existieren und unser unzurei- sity für die Sechs. Die vergrößerte Pro- chendes Wissen ausdrücken, heißen sie pensity verändert also Dinge, die wir be- ›Propensities‹. obachten können; sie wirkt auf die Wirk- Eine Wahrscheinlichkeit, die sich nur auf lichkeit. unser unzureichendes Wissen bezieht, ist die Wahrscheinlichkeit, links oben auf der 8. Propensities als die Wahrscheinlich- zehnten Seite des Buches, das in meiner keit von Einzelereignissen Bibliothek der Tür am nächsten steht, ein Die in der neueren Physik und im Alltags- Wort mit genau sechs Buchstaben zu fin- leben interessanten Wahrscheinlichkeiten den. Die ist nicht Null und nicht Eins. Aber sind die von Einzelereignissen, von Din- sie ist keine Propensity, keine Neigung, gen, Vorgängen und Ereignissen, die sich die das Wort hat, sechs Buchstaben zu nicht wiederholen. haben. Denn es steht schon fest, wie viele Auch diese Einzelwahrscheinlichkeiten, Buchstaben es hat. Wir können hier nur wie etwa die Propensity, beim Apfelpflü- von einer Wahrscheinlichkeit sprechen, rich- cken von einer Leiter zu fallen, sind etwas tig zu raten, und diese vielleicht einer Wahr- Reales in unserer Welt und nicht einfach scheinlichkeitstabelle der durchschnittlichen nur der Ausdruck unseres Unwissens. Um Wortlängen entnehmen. Wahrscheinlichkei- zu verstehen, dass Propensities tatsäch- ten und Propensities sind etwas ganz Ver- lich eine nachprüfbare Wirkung auf die schiedenes. Sie sind physikalisch ver- Wirklichkeit haben, sollten wir noch ein- schiedene Dinge, auch wenn wir öfter das mal einen Ausflug in die Welt der Elemen- gebräuchlichere Wort ›Wahrscheinlichkeit‹ tarteilchen unternehmen. Denn bei Elemen- anstelle des korrekten ›Propensity‹ ver- tarteilchen kann man die Realität der wenden. Propensities leicht nachweisen, während 58 Aufklärung und Kritik 1/2008
die Propensity, von einer Leiter zu fallen, Dasselbe Verhalten beobachten wir auch, nicht so leicht zu erkennen ist. Das liegt wenn die Teilchen immer nur einzeln daran, dass sie nicht so einfach zu be- durch Loch A (im ersten Versuch) oder A rechnen ist. und B (im zweiten Versuch) auf die Ziel- Die Propensities der Elementarteilchen scheibe zufliegen. Sie können also nicht werden anders berechnet als beim Würfel irgendwie mit sich selber interferieren (wie oder beim Roulette. Die Formeln, die man Wellen es täten). dazu verwenden muss, sehen jenen ganz Dieses Verhalten ist nur so erklärbar, dass ähnlich, mit denen man das Verhalten von die Propensities der Elementarteilchen Wellen beschreibt. Daher kommt es, dass nicht einfach die Eigenschaft eines Teil- ihre Wahrscheinlichkeitsverteilungen sich chens sind, sondern offenbar sehr stark ähnlich verhalten, wie wir es von Wellen durch die Struktur des Raumes bestimmt kennen: Es gibt zum Beispiel Verstärkun- werden, in dem sie sich bewegen. Öffnet gen und Auslöschungen, also Gebiete, wo oder versperrt man einen zuvor möglichen viele Teilchen zu erwarten sind und wel- Weg, dann verändert man sofort die Pro- che, wo wenig oder gar keine zu erwarten pensities, ein festgelegtes Ziel zu erreichen. sind. Und diese Verstärkungen und Aus- Solche Wahrscheinlichkeiten oder Propen- löschungen können zu ›Interferenzmus- sities von Einzelereignissen, von Dingen, tern‹ führen, ähnlich denen auf der Ober- Vorgängen, Ereignissen, die sich nicht wie- fläche eines Teiches, in den wir zwei Stei- derholen, sind nicht nur in der neueren ne werfen, worauf die sich ringförmig aus- Physik interessant, sondern auch im All- breitenden Wellen sich überschneiden, tagsleben. wodurch sie sich zum Teil verstärken, zum Von großer Tragweite ist: Propensities für Teil auslöschen. unwiederholbare Einzelereignisse sind rea- Bemerkenswert und weiterführend ist fol- le Größen. Zwar kann man beim Spiel- gendes Experiment37. Viele Teilchen flie- würfel die aus der Symmetrie geschätzte gen durch ein kleines Loch A auf eine ent- Propensity der Sechs von 1/6 nur mes- fernte Wand. Sie streuen etwas in alle sen und nachprüfen, wenn man die Häu- möglichen Richtungen, treffen meist in der figkeit der Sechs misst, aber die Wirklich- Mitte auf, teils auch auf neben der Mitte keit hängt nicht davon ab, ob wir sie mes- angebrachte Streifen 1, 2, 3 usw. Merk- sen oder nicht messen. Propensities sind würdig ist: Wenn man mit einem zweiten auch ungemessen eine physikalische Rea- Loch B sehr dicht neben A einen zusätzli- lität, also Teil unserer Wirklichkeit, weil chen Weg öffnet, dann gibt es kaum noch sie die Welt in irgendeinem Detail verän- Treffer im Streifen 1, wohl aber in der Mitte dern können, und weil wir willkürlich die und im zweiten Streifen. Die Teilchen kom- Werte der Propensities verändern können. men dort nicht an, obgleich wir ihnen ei- nen zusätzlichen Weg freigegeben haben. 9. Propensities in der Alltagswelt Das lässt sich leicht damit erklären, dass Propensities von Einzelereignissen spie- die Zahl der Treffer auf dem Streifen Eins len in unserer Lebenswelt eine große Rol- durch Interferenz der beteiligten Propen- le. So wie wir die reale Propensity der sities Null wird. Sechs beim Spielwürfel vergrößern kön- nen, wenn wir ein Stück Blei nahe der Eins Aufklärung und Kritik 1/2008 59
einbauen, so können wir die Propensity sere Propensity, den Tag zu überleben, verändern, ein Examen zu bestehen, oder um einen winzigen Strich nach unten. die Propensity, einer bestimmten Partei bei Möglicherweise fällt sie weniger, als wenn den Wahlen zur Mehrheit zu verhelfen usw. wir stattdessen das Auto wählten. Mit dem Wir können auch in der sozialen Welt ›die Anlegen des Sicherheitsgurtes steigt sie, Würfel präparieren‹. mit jeder Geschwindigkeitssteigerung des Im System ›Philosoph beim Äpfelpflü- Autos fällt sie. cken‹ gibt es eine gewisse Propensity, von Reisen im Flugzeug und im Auto machen der Leiter zu fallen. Sie ist nicht berechen- viele Menschen. Daher gibt es statistisches bar. Aber sie ist weder Null noch Eins. Material, so dass man in diesen Fällen die Sie hängt von konkreten Dingen ab, die vermuteten Propensities für das sichere wir beeinflussen können: von den Spros- Erreichen des Ziels nachprüfen kann. sen, deren eine vielleicht locker ist; vom Wichtiger als deren Werte ist hier die neue Untergrund, auf dem die Leiter steht; von Leitidee. Wir sagen nicht mehr: ›Das ist der Umsicht des Apfelpflückers; davon, nur Statistik, und wir wissen nicht, ob sie ob und wie er eine Hand zum Festhalten auf uns zutreffen wird oder nicht‹, son- benutzt usw. dern richtiger: ›Das sind Propensities, die Auch wenn wir die Propensities in unse- so wirklich sind, wie die Beschleunigung rer individuellen oder sozialen Welt nicht des Autos wirklich ist. Sie sind Realität. quantitativ berechnen können, sind sie Sie lassen sich beeinflussen‹. doch in bestimmten Werten vorhanden. Statistiken werden gewonnen, indem man Die Wirklichkeit hängt nicht davon ab, ob die Häufigkeit eines Merkmals feststellt, wir sie messen oder nicht. In jedem Au- z.B. die Zahl der Flugzeugabstürze relativ genblick haben diese Propensities einen zur Gesamtzahl aller Flüge. Häufigkeiten bestimmten Wert, den wir nicht immer, sind etwas Objektives, aber sie sind nie- aber doch oft genug willkürlich verändern mals die Ursache des Einzelfalls. Die Ur- können. In dem Augenblick, in dem wir sache und die Erklärung des Einzelfalls unser Wahlkreuz machen, haben wir die sind die Propensities; in diesem Fall die Propensity einer Partei, zur Macht zu kom- von vielen Faktoren abhängige Neigung men, erhöht. In dem Augenblick, in dem eines Flugzeuges abzustürzen. irgendwo in der Welt ein Medikament ge- Bei einmaligen historischen, gesellschaft- gen Vogelgrippe gefunden wird, sinkt so- lichen Ereignissen kann man mit Häufig- fort, sozusagen mit Überlichtgeschwindig- keiten nicht arbeiten. Außer wenn es um keit38 , überall in unserer Welt die Propen- Dinge geht wie Bevölkerungsstatistik, wo sity, an dieser Krankheit zu sterben. Aller- Merkmale wiederholt auftreten. Diabetes dings ist diese Propensity nicht überall in tritt in Deutschland bei sechzigjährigen der Welt gleich groß; in den westlichen Männern mit einer weitgehend konstanten Ländern ist sie vermutlich größer als in Häufigkeit auf. Aber wie groß ist die Pro- Afrika. pensity für Diabeteserkrankung innerhalb Es ist nützlich, sich Propensities immer der nächsten zehn Jahre bei einem be- auf einer Skala von Null bis Hundert Pro- stimmten sechzigjährigen Mann? Diese zent vorzustellen. In dem Augenblick, in Propensity hängt von vielen individuellen dem wir ein Flugzeug besteigen, fällt un- Faktoren ab, von seinen Genen, von sei- 60 Aufklärung und Kritik 1/2008
ner bisherigen Lebensweise, von seiner das zu den sich entwickelnden Fähigkei- zukünftigen Lebensweise und von vielem ten am besten passt und das genügend anderen. Das meiste bestimmt hier die Ver- viele Habilitationsplätze bietet. gangenheit. Für uns alle ziemlich wichtig sind die ›Zukunftsvisionen‹, die Künstler und Po- 10. Die Zukunft wirkt auf die Gegenwart litiker haben. Für den deutschen Bundes- Selbst dort, wo sich zwei ganz unabhän- kanzler Helmut Kohl wurde nach 1989 gige Kausalketten kreuzen, wie die eines Deutschlands Wiedervereinigung eine rea- vom Fensterbrett der fünften Etage fal- lisierbare Vision, nachdem sie Jahrzehnte lenden Blumentopfes und die eines zum lang eine unrealisierbare Utopie war. Auf Bahnhof eilenden Mannes, kann man den einmal gab es mehrere Möglichkeiten, de- Zufall prinzipiell mit rekonstruierbaren ren Realisierungspropensities manipulier- Kausalketten erklären. bar wurden. Man konnte sie erhöhen. In Aber nur rückwärts gesehen ist das kau- einem großen Sprung war nichts zu errei- sale Geschehen völlig festgelegt; nicht je- chen. Auf welche der möglichen Schritte doch, wenn wir in die Zukunft schauen. sollte man setzen? Kohl verstärkte offen- Wenn wir in die Zukunft schauen, hat der bar die passenden Propensities. Sein Zu- Blumentopf eine gewisse Propensity, ei- kunftsbild wurde ›wahr‹ oder, besser ge- nen bestimmten Punkt zu erreichen, und sagt, Wirklichkeit. Zurückblickend werden der Kopf des zum Bahnhof eilenden Man- die Historiker versuchen, auf eine folge- nes hat eine gewisse Propensity, sich zum richtige Kausalkette hinzuweisen, die die gleichen Zeitpunkt an der gleichen Stelle Wirklichkeit eines wiedervereinigten Deutsch- zu befinden. lands hervorbrachte. Tatsächlich aber hat Das gilt natürlich auch für ›Kausalketten‹, hier weniger die Vergangenheit die Gegen- die zu glücklichen Ereignissen führen: auch wart hervorgebracht als in viel größerem sie haben nur eine gewisse Wahrschein- Maße die Zukunft die Gegenwart beein- lichkeit, dorthin zu führen; eine Wahr- flusst. Und das nur deshalb, weil jemand scheinlichkeit, die wir vergrößern können, die mit realen Propensities ausgestatteten wenn wir wollen. Das können wir aber nur Möglichkeiten dieser Zukunft ›sehen‹ wollen, wenn wir diese Wahrscheinlich- konnte und systematisch die Propensities keiten nicht länger als Folge unseres unsi- der gewünschten Möglichkeiten vergrö- cheren Wissens über die Zukunft interpre- ßerte. tieren, sondern als Propensities. Die Zukunft bringt die Gegenwart hervor, Auch bei der Propensity für einen Zehn- und wir können dabei mitwirken. jährigen, später das Abitur und noch spä- Man sieht also: Auch dieses neue, für un- ter die Habilitation zu schaffen, hängt vie- ser Alltagsleben so wichtige Weltbild les von der Vergangenheit ab. Noch mehr kommt aus der Quantenphysik: Ob Pho- aber hängt von der Zukunft ab, von sei- tonen oder größere Moleküle39 : sie schei- nem zukünftigen Lernverhalten und vielen nen im Voraus zu ›wissen‹, ob die räum- anderen Zukunftsmöglichkeiten, die er lich und daher auch zeitlich vor ihnen lie- noch wählen muss, deren Propensity er gende Apparatur durch Interferenz be- noch erhöhen kann. Beispielsweise muss stimmte Wege zulässt oder unmöglich das ›richtige‹ Studienfach gewählt werden, macht40 . Ich hatte oben, sehr knapp, denn Aufklärung und Kritik 1/2008 61
man kann das besser anderswo nachle- ten zu Gegenwart werden lassen, mithin sen, einen Versuch beschrieben, der zeigt: auf die Gegenwart wirken, diese Tatsa- Das Einzelteilchen ›weiß‹ im Voraus et- che ist Teil der objektiven, von Menschen was. Es ›weiß‹ bei gegebener Anordnung unabhängigen Welt. im Voraus den wahrscheinlichsten und den Auch im menschlichen Alltagsleben schiebt unwahrscheinlichsten Weg. Es gibt über- uns die Vergangenheit kausal in die Ge- zeugende Nachweise dafür, dass es schon genwart; zugleich wirkt aber auch die Zu- vor dem Losfliegen auch Wege berück- kunft auf die Gegenwart. Die Propensities sichtigt, die nur als Möglichkeit vor ihm ziehen uns gewissermaßen in die Gegen- liegen; denn es kann unmöglich alle Wege wart.42 sozusagen in ›Aufklärungsflügen‹ im Vor- Jeder bereits eingetretene Verkehrsunfall aus gemacht haben.41 ist lückenlos durch eine Kette von Ursa- Wie das Beispiel ›Wiedervereinigung‹ zeigt, chen und Wirkungen kausal determiniert. gilt dieses neue Weltbild auch für unsere Ob wir ihn in dieser Weise erklären kön- normale Lebenswelt: Was wirklich gesche- nen, hängt von unserem Wissen ab. Aber hen ist, die ›Vergangenheit‹, lässt sich prin- objektiv ist er determiniert. Für den noch zipiell in Form von Kausalketten rekon- nicht eingetretenen Verkehrsunfall gilt das struieren, die Zukunft nicht. Die Zukunft nicht! Hier sind immer Tausende von Mög- besteht aus Möglichkeiten, von denen ei- lichkeiten offen; und nicht alle sind gleich nige mit mehr oder minder großer Wahr- wahrscheinlich. Die gewünschte ›Zukunfts- scheinlichkeit eintreffen. Diese Wahr- vision‹ einer weniger unfallträchtigen Welt scheinlichkeiten sind bereits heute Reali- kann dadurch auf die Wirklichkeit wirken, tät, sie sind Propensities. Sie bewirken, dass wir die entsprechenden Propensities dass die vorhandenen Möglichkeiten sich erhöhen, die mehr Sicherheit schaffen entsprechend dem zwischen Null und Eins können, etwa durch Sicherheitsgurte, neue liegenden Wert der Propensity verwirklichen. Reifen, übersichtliche Verkehrswege, pas- Sie sind Realität, weil sie, unabhängig von sende Verkehrsschilder, Kreisel statt Am- uns, auf die Gegenwart wirken und weil peln usw. wir auf diese Wahrscheinlichkeiten einwir- Fast alle historischen Ereignisse sind prin- ken können. Das war unser Kriterium für zipiell kausal erklärbar. Aber fast keines ›real sein‹ oder ›wirklich vorhanden sein‹. ist mit Sicherheit vorhersagbar, auch wenn Verwirklichungspropensities sind in phy- wir alles mögliche Wissen hätten. Denn sikalischen Systemen, insbesondere in der möglich ist oft nur die Kenntnis realer Teilchenwelt, berechenbar. Wir können sie Wahrscheinlichkeiten. durch physische Maßnahmen vergrößern Selbst das, was wir heute Abend um acht oder verkleinern, und zwar sowohl in der tun, sehen und erleben werden, steht mor- Welt der Elementarteilchen als auch in der gens um acht noch nicht genau fest, dar- Makrowelt und in der sozialen Welt. Um an ändern auch genaue Pläne nichts. Das sie willkürlich zu beeinflussen, ist ein kann man leicht prüfen, wenn man die ge- menschliches Wesen notwendig. Der naue Situation im Voraus aufschreibt und Mensch kann die Propensities verändern, dann feststellen wird, dass die wirkliche aber die Tatsache, dass es sie gegenwär- Situation in vielen Punkten anders einge- tig gibt und dass sie Zukunftsmöglichkei- treten ist. 62 Aufklärung und Kritik 1/2008
Dessen ungeachtet haben wir großen Ein- verstärkt den Antrieb: die kompetente po- fluss darauf, wie die wirkliche Situation litische Vision, deren Propensities als reale sein wird, weil wir für die gewünschten mehr oder minder starke, beeinflussbare Möglichkeiten die real vorhanden Propen- ›Anziehungskräfte‹ wirken. sities erhöhen können, so dass sie größe- Wir sind zum Teil schon unsere Zukunft. re Verwirklichungschancen bekommen. Sie ist noch in der Schwebe, aber als Mög- Die Vergangenheit schiebt, die Zukunft lichkeit schon physisch vorhanden; denn zieht uns in die Gegenwart. unsere Welt ist, wie Popper schrieb, »Eine Wenn Polen auf der Konferenz der Euro- Welt der Propensitäten«43 . Sicherheit und päischen Union 2007 die Kriegsschuld der Exaktheit gibt es nur dort, wo sich die Deutschen als Grund dafür nennt, den Wahrscheinlichkeiten zu fast Eins aufsum- großen Staaten in Europa weniger Stimm- mieren. Das ist im sozialen Bereich selten gewicht zu geben und den kleinen mehr, der Fall. dann wirkt die Vergangenheit auf die Ge- Die Vergangenheit führt uns an Kausalket- genwart. Der politische Visionär, wenn er ten in die Gegenwart; gleichzeitig zieht uns Zukunftsrealist ist, kann sich hingegen die Zukunft mit ihren Propensities in die auch eine völlig neue europäische Wirk- Gegenwart. lichkeit vorstellen, die unabhängig von ih- rer Geschichte bereits heute eine reale Pro- 11. Neue Leitideen und ein neues Welt- pensity hat, die man erhöhen kann. bild Schauen wir zurück auf die ersten euro- Fassen wir unsere bisherigen Ergebnisse päischen ›Amerikaner‹, die von ihrer er- zusammen: ›Propensities‹ nannten wir die- lebten Geschichte getrieben – oft von ei- jenigen Wahrscheinlichkeiten, auf denen ner bösen Geschichte! – in der ›neuen alle Veränderungen in der Welt beruhen. Welt‹ Zuflucht suchten. Nie wieder politi- Sie sind objektiv vorhanden und prinzipi- sche und soziale Ungerechtigkeiten zu er- ell beeinflussbar. Wenn Zukünftiges Ge- leiden, das war der Grund dafür, eine neue genwart wird, sieht es so aus, als hätten Lebensweise und eine neue Verfassung zu Propensities spontan den Wert Eins be- schaffen. Die Vergangenheit schob die Ein- kommen. Tatsächlich können wir in man- wanderer in die neue Richtung. Aber es war chen Fällen dafür sorgen, dass eine Pro- auch die Zukunft, die einen Sog ausübte. pensity den Wert Eins bekommt. Dann Es war auch das ›Land der unbegrenzten wird dieser Teil der Zukunft mit Sicher- Möglichkeiten‹, das man mehr erahnte als heit zur Gegenwart. Meist ist es aber so, erkannte, aber richtig erahnte. Die Vergan- dass ein Teil der Zukunft ›teilweise exi- genheit stößt; die Zukunft zieht. Und das stent; teilweise nicht existent‹ ist. Das hat ist, wie gesagt, nicht nur metaphorisch nichts zu tun mit unserem unzulänglichen gemeint, sondern auch physikalisch. Wissen über die Zukunft. Diese Teile der Diese Unsymmetrie zwischen Zukunft und Zukunft existieren bereits in der Gegen- Vergangenheit sollten wir im Auge behal- wart, aber nur als beeinflussbare Propen- ten. Geschichte, Traditionen und Institu- sity. Verkehrsunfälle, Krankheiten, bestan- tionen: mit ihnen stößt die Vergangenheit dene Prüfungen, Siege im Tennisturnier, uns in die Gegenwart. Der Sog oder die die Frage, ob ich heute Abend ein Glas Wein Anziehungskraft aus der anderen Richtung trinken werde: Das alles existiert zunächst Aufklärung und Kritik 1/2008 63
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