Protest statt Begeisterung - Brasilien vor der Weltmeisterschaft

 
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Nummer 4

                                                                                           2014

                                                                                           ISSN 1862-3573

Protest statt Begeisterung –
Brasilien vor der Weltmeisterschaft
Christina Stolte

Die ganze Welt wird zwischen dem 12. Juni und 13. Juli 2014 mit Spannung die Fußball-
weltmeisterschaft in Brasilien verfolgen. Als das Land im Jahr 2007 den Zuschlag für die
Austragung erhielt, war die Freude groß. Mittlerweile hat sich die Stimmung gewan-
delt: Heute stehen sehr viele Brasilianer der Austragung der Fußballweltmeisterschaft
im eigenen Land kritisch gegenüber.
„„ Die Fußball-WM wird – wie die Austragung des Confederations Cup 2013 – wahr-
    scheinlich von sozialen Protesten begleitet sein.
„„ Die hohen Ausgaben für die WM sind aber nur ein Anlass für die Demonstrationen.
    Die eigentliche Triebfeder der Proteste, die von Studierenden aus der traditionellen
    Mittelklasse getragen werden, liegt im rapiden sozialen Wandel der letzten Dekade
    und im Aufstieg einer neuen Mittelschicht.
„„ Seit den Massendemonstrationen vom Sommer 2013 haben sich die Proteste radika-
    lisiert. Gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der brasi-
    lianischen Polizei häufen sich.
„„ Gleichzeitig wurden die Erwartungen an die wirtschaftliche Entwicklung des Lan-
    des gedämpft: Die Wachstumsraten sind deutlich gesunken, ein Großteil der Bevöl-
    kerung leidet unter der steigenden Inflation.
„„ Trotzdem stehen die Chancen der amtierenden Präsidentin Dilma Rousseff auf Wie-
    derwahl im kommenden Herbst gut, denn die Protestbewegung ist nicht parteipoli-
    tisch organisiert und die Regierung verfügt in den ärmeren Bevölkerungsschichten
    nach wie vor über breite Zustimmung.

Schlagwörter: Brasilien, Fußballweltmeisterschaft, politischer Protest, wirtschaftliche
              Entwicklung, sozialer Wandel

www.giga-hamburg.de/giga-focus
Spannung vor dem Großereignis                          auf die Straßen strömten, war die Überraschung
                                                       groß. Meinungsumfragen von Anfang Juni 2013
Wenn Brasilien in wenigen Wochen die Fußball-          hatten noch die Zustimmung von 65 Prozent der
weltmeisterschaft austrägt, werden sich die Augen      Bevölkerung zur Austragung des internationalen
der Welt auf das südamerikanische Land richten.        Fußballereignisses ermittelt; die Zustimmung zur
Was jedoch als Bühne für eine aufstrebende Wirt-       brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff lag
schaftsmacht gedacht war, wird möglicherweise          sogar bei über 70 Prozent. Niemand hatte erwartet,
Schauplatz und Podium für ein ganz anderes Spek-       dass die Präsidentin bei der Eröffnungsrede unter
takel: Öffentlichkeit und Regierung rechnen mit        Buhrufen das Stadium verlassen würde, dass Bra-
sozialen Protesten, die das Sportereignis begleiten    silien die größten Demonstrationen seit zwanzig
und vielleicht sogar in den Schatten stellen werden.   Jahren erleben und öffentliches Aufbegehren statt
    In der Fußballnation wird derzeit wenig über       Feierlaune den Confed-Cup prägen würden.
Spielstärke und Erfolgschancen der brasiliani­             Den Hintergrund für die Massenproteste im
schen Seleção diskutiert und ob die Mannschaft         Juni 2013 bildet die sozioökonomische Entwick-
den 6. Weltmeistertitel für ihr Land erobern und       lung des Landes: Brasiliens Wirtschaft erzielte
die Schmach des verlorenen Endspiels im eige-          im letzten Jahrzehnt nicht nur Wachstumsraten
nen Land von 1950 wiedergutmachen kann. Statt-         von durchschnittlich 4,8 Prozent und erholte sich
dessen wird erörtert, ob und wie sich der weitver-     schnell von den Folgen der globalen Weltwirt-
breitete Unmut in der Bevölkerung während der          schaftskrise, sondern konnte auch einen signifi-
WM abermals Bahn brechen und wie die Regie-            kanten Rückgang der sozialen Ungleichheit ver-
rung unter den Augen der Weltöffentlichkeit auf        zeichnen. Erstmals in der brasilianischen Geschich-
erneute Großdemonstrationen reagieren wird.            te kam das Wirtschaftswachstum zu Beginn des 21.
Eine interne Risikoanalyse des brasilianischen In-     Jahrhunderts stärker den unteren als den oberen
landsgeheimdienstes vom März 2014 nennt eska-          Einkommensschichten zugute (Neri 2010).
lierende Proteste noch vor Attacken von Drogen-            Eine wesentliche Folge dieser Entwicklung war
banden oder Terroranschlägen als größte Gefahr         der Aufstieg einer neuen Mittelschicht (Lay und
für den friedlichen und reibungslosen Verlauf der      Schotte 2013). Millionen Brasilianer konnten ihre
WM (Veja 2014). Aber auch Brasiliens Gewaltpro-        Lebensbedingungen deutlich verbessern und for-
blem rückt wieder stärker in den Fokus, nachdem        men nun eine Art „untere Mittelschicht“, die sich in
Ausschreitungen bei einer Demonstration von Fa-        Bezug auf Einkommen, Bildungsstand und Selbst-
vela-Bewohnern in Rios Touristenstadtteil Copa-        verständnis deutlich von der traditionellen Mittel-
cabana den Erfolg der Befriedungsstrategie in den      klasse unterscheidet. Zwar wohnen viele Angehö-
Armutsvierteln und die Sicherheit der WM in-           rige dieser neuen Mittelschicht – Brasiliens soge-
frage gestellt haben. Streikende Gewerkschaften        nannte „Klasse C“1 – noch immer in Armutsvier-
(zum Beispiel der Lehrer und Polizisten) komplet-      teln und haben einen relativ niedrigen Bildungs-
tieren das Bild eines Landes, in dem der soziale       stand. Doch steigende Einkommen und staatliche
Friede brüchig und die Feierlaune bereits verflo-      Transferzahlungen erhöhten ihren Lebensstandard
gen ist, noch bevor das Fußballereignis begonnen       und ermöglichten ihnen erstmals die Teilnahme
hat. Nach einer Dekade des wirtschaftlichen Auf-       am Konsum, der traditionell den wohlhabende-
schwungs und der gesellschaftlichen Aufbruch-          ren Schichten der brasilianischen Gesellschaft, den
stimmung, die mit der Austragung der Fußball-          Einkommensklassen A und B, vorbehalten war.
weltmeisterschaft ihre mediale Krönung erfahren            Der Anteil dieser neuen Mittelschicht stieg in-
sollte, präsentiert sich das Land der Welt in einem    nerhalb weniger Jahre enorm, während sich der
Zustand wachsender Unzufriedenheit und wirt-           der ärmeren und ärmsten Bevölkerungsschichten
schaftlicher Ungewissheit.                             (D und E) signifikant verringerte. Heute stellt die
                                                       neue Mittelschicht mit 108 Millionen Menschen
                                                       und einem Bevölkerungsanteil von 54 Prozent die
Der Aufstieg der neuen Mittelschicht:
Triebfeder der Proteste
                                                       1 Regierung und Medien in Brasilien ordnen die unterschied-
                                                         lichen Einkommensgruppen auf einer Skala von A (Ober-
Als Ende Juni 2013 während des Confederations            schicht) bis E (Unterschicht) ein. Die „neue“ aus den ärmeren
                                                         Schichten D und E aufgestiegene Mittelschicht gilt als Klasse C,
Cup rund zwei Millionen Brasilianer zu Protesten
                                                         die etablierte Mittelschicht als Klasse B.

GIGA Focus Lateinamerika 4/2014                                                                                    -2-
Mehrheit der brasilianischen Bevölkerung und ver-        aus, während 29 Prozent der Oberschicht und nur
körpert damit mehr Kaufkraft als die beiden obe-         16 Prozent der neuen „unteren“ Mittelschicht so-
ren Einkommensschichten zusammen. Ihre neue              wie der Unterschicht angehörten (Inteligência e
Kaufkraft – die allerdings nicht selten durch Kon-       Pesquisa de Mercado Abril 2013). Auch der ermit-
sumkredite gestützt wird – wurde von den Mitglie-        telte Bildungshintergrund der Demonstranten spie-
dern der „Klasse C“ in den letzten Jahren tatkräf-       gelt diese Sozialstruktur wider: Während nur eine
tig eingesetzt: Seit 2003 verdoppelte sich die An-       Minderheit der brasilianischen Bevölkerung Zu-
zahl der Autos auf brasilianischen Straßen und die       gang zu Universitäten hat und ein großer Teil nicht
Zahl der Flugpassagiere stieg zwischen 2010 und          einmal über eine abgeschlossene Sekundarbildung
2011 um fast ein Viertel.                                verfügt, wies die überwiegende Mehrheit der Pro-
    Der Kollaps des brasilianischen Verkehrssys­         testierenden (61%) einen Universitätsabschluss auf
tems, überfüllte Flughäfen und Megastaus in den          (ibid.). Die Proteste waren somit weniger Ausdruck
Großstädten sind daher nicht zuletzt auch Symp­          zunehmender Forderungen der neuen, aus der Ar-
tome des Aufstiegs der neuen Mittelschicht. Die          mut aufgestiegenen Mittelschicht, vielmehr offen-
staatliche Infrastruktur – ob im Verkehrssystem,         barte sich hier die wachsende Unzufriedenheit der
Gesundheits- oder Bildungsbereich – konnte mit           bislang privilegierten Teile der Gesellschaft. Viele
dem rasanten Wachstum der neuen Mittelschicht            junge Angehörige der traditionellen Mittelklasse,
nicht mithalten und zeigt sich zunehmend überfor-        die nicht in gleichem Maß vom Wirtschaftswachs-
dert. Was ehemals wenigen vorbehalten war, muss          tum des letzten Jahrzehnts profitiert hat wie die
nun einer wachsenden Zahl von Menschen dienen            neue Mittelschicht, fragen sich, wie sie den hohen
und stößt dabei zunehmend an Grenzen.                    Lebensstandard ihrer Eltern künftig halten können.

Aufbegehren der ehemals Privilegierten?                  Negativer Wirtschaftstrend und
                                                         soziale Unzufriedenheit
Protest gegen die mangelhaften staatlichen Dienst-
leistungen regt sich jedoch weniger aufseiten            Der negative Wirtschaftstrend der letzten Jahre ver-
derer, die erstmals überhaupt solche Leistungen in       schärft die Lage. Zwar ist die brasilianische Wirt-
Anspruch nehmen, sondern vielmehr bei Angehö-            schaft nicht „abgestürzt“, wie es das Titelbild des
rigen der traditionellen Mittelschicht, die eine rela-   Economist vom 28. September 2013 mit der brasilia­
tive Verschlechterung ihrer Lage wahrnehmen. Wer         nischen Christus-Statue im Sinkflug suggerierte.
früher durch private Krankenversicherungen dem           Doch Fakt ist, dass sich die Erwartungen einer
öffentlichen Gesundheitssystem den Rücken keh-           anhaltend positiven Wirtschaftsentwicklung nicht
ren und durch ein Privatauto den unzumutbaren            erfüllt haben. Alle Indikatoren sprechen dafür, dass
öffentlichen Nahverkehr umgehen konnte, findet           es in den kommenden Jahren deutlich weniger zu
sich heute in der Warteschlange der Privatambu-          verteilen geben wird als in der letzten Dekade.
lanz und im Stau auf überfüllten Straßen wieder.             Zwar waren die auf dem Höchstwachstum von
Vor diesem Hintergrund wird die Unzulänglich-            2010 (7,5 %) basierenden Wachstumserwartungen
keit der staatlichen Leistungen für viele gerade jetzt   von Beginn an überzogen und die Dynamik der
besonders spürbar.                                       interventionistischen und überregulierten brasili-
    Die anfängliche und in den internationalen Me-       anischen Volkswirtschaft wurde weit überschätzt.
dien verbreitete Interpretation, bei den Protesten       Dennoch sind die Wirtschaftsdaten der Regierung
von Juni 2013 habe es sich um ein Aufbegehren            Rousseff enttäuschend. Während ihrer Regierungs-
der neuen brasilianischen Mittelschicht gehandelt,       zeit halbierte sich das Durchschnittswachstum von
die nach Jahren des sozialen Aufstiegs nun besse-        zuvor über 4 Prozent auf 2 Prozent (siehe Abbil-
re staatliche Dienstleistungen einfordere, war nicht     dung 1). Und insbesondere das WM-Jahr 2014, von
zutreffend. Die Mehrheit der Demonstrationsteil-         dem sich die brasilianische Wirtschaft aufgrund
nehmer stammte vielmehr aus der traditionellen           der heimischen Austragung des Großereignisses
Mittel- und Oberschicht (Klassen A und B). An-           einen besonderen Wachstumsschub erhofft hatte,
gehörige der sogenannten „oberen“ Mittelschicht          wird mit einem prognostizierten Wachstum von
(Klasse B) machten mit einem Anteil von 55 Pro-          1,8 Prozent wohl noch hinter der schwachen Bi-
zent den überwiegenden Teil der Demonstranten            lanz der Vorjahre zurückbleiben.

GIGA Focus Lateinamerika 4/2014                                                                         -3-
Abbildung 1: Jährliches Wirtschaftswachstum in Brasilien                     Strukturprobleme der
             (in Prozent)                                                    brasilianischen Wirtschaft
8
                                                                              Mit dieser Konsumzurückhaltung
7
                                                                              droht aber die Binnennachfrage
 6                                                                            und damit eine zentrale Stütze der
 5                                                                            brasilianischen Wirtschaft einzu-
                                                                              brechen. Der häufig auf teure Kre-
 4
                                                                              dite gestützte Konsum der auf-
 3                                                                            strebenden neuen Mittelschicht
 2                                                                            war eine treibende Kraft des Wirt-
                                                                              schaftswachstums und sorgte nicht
 1
                                                                              zuletzt dafür, dass sich Brasilien
 0                                                                            von den Folgen der globalen Wirt-
     2004  2005  2006  2007   2008  2009   2010  2011   2012    2013  2014
                                                                              schafts- und Finanzkrise so schnell
‐1
                                                                              erholte. Doch inzwischen sind viele
Quellen: World Bank 2014; Economist Intelligence Unit 2014.
                                                                              Familien der neuen Mittelschicht
                                                                              mit Kühlschränken, Waschmaschi-
    Während die sinkenden Wachstumsraten für                 nen und anderen elektronischen Geräten ausge-
die brasilianischen Arbeitnehmer noch recht ab-              stattet und haben sich im Glauben an weiter stei-
strakt und wenig spürbar sind – Brasilien ver-               gende Löhne und Gehälter zum Teil hoch verschul-
zeichnet nach wie vor Vollbeschäftigung – zeigt              det. Angesichts der Inflation und der wachsenden
sich die Folge des Negativtrends in einem ande-              Verschuldung ist die Shoppinglaune der fragilen,
ren Bereich bereits deutlich: Die Geldentwertung             gerade erst aus der Armut aufgestiegenen neuen
macht der Bevölkerung immer mehr zu schaf-                   Mittelschicht getrübt und lässt das konsumbasierte
fen und kann nicht mehr durch steigende Löhne                Wachstumsmodell der Regierung zunehmend an
ausgeglichen werden. Zwar wird die Inflation im              seine Grenzen stoßen.
Wahljahr 2014 von der Regierung durch hohe Sub-                  Der abgeschwächte Konsum rückt zudem Bra-
ventionen für Energie und Benzin in Schach gehal-            siliens Abhängigkeit von Rohstoffexporten wie-
ten, für viele Brasilianer ist sie gefühlt aber deut-        der stärker in den Vordergrund. Neben dem stark
lich höher als die offizielle Rate von 6 Prozent. So         wachsenden Binnenmarkt aufgrund der Nachfra-
beträgt die Teue­rungsrate bei den Lebensmitteln             ge der neuen Mittelschicht stellte der Export unver-
schon jetzt über 10 Prozent. Nach den Wahlen im              arbeiteter Produkte wie Eisenerz, Soja und Rohöl
Oktober 2014 werden die Subventionen für Strom               nach China den Hauptwachstumsmotor der bra-
und Benzin sehr wahrscheinlich gesenkt, sodass               silianischen Volkswirtschaft dar. Die Nachfrage
die Bevölkerung künftig stärker belastet sein wird.          dieses wichtigsten Handelspartners ist jedoch in
Zwar ist die derzeitige Inflationsrate weit entfernt         den letzten Jahren gesunken und die Preise auf den
von den bedrohlichen Raten der 1990er Jahre, die             stark schwankenden Rohstoffmärkten sind nicht
damalige Hyperinflation wirkt aber bis heute psy-            mehr so hoch wie noch vor ein paar Jahren. Gleich-
chologisch nach. Damals betrugen die monatlichen             zeitig sind in Brasilien industriell hergestellte Wa-
Teuerungsraten bis zu 80 Prozent und das Land                ren auf dem Weltmarkt wenig konkurrenzfähig.
wechselte innerhalb weniger Jahre fünfmal seine              Allenfalls auf dem durch hohe Zölle geschützten
Währung. Vor diesem Hintergrund blicken viele                heimischen Markt können brasilianische Fertig-
Brasilianer mit Sorge in die Zukunft und schrän-             produkte wie Maschinen und Elektrogeräte beste-
ken angesichts der stark gestiegenen Preise ihren            hen. In den letzten Jahren importierte Brasilien al-
Konsum ein.                                                  lerdings verstärkt Produkte oder Vorprodukte aus-
                                                             ländischer Konkurrenten, mit der Folge, dass die
                                                             Bedeutung des industriellen Sektors zurückging
                                                             und der Handelsbilanzüberschuss auf ein Zehn-
                                                             jahrestief sank.

GIGA Focus Lateinamerika 4/2014                                                                              -4-
Radikalisierung der Proteste                           weisen darauf, dass entsprechende Verhaltensmus­
                                                       ter nun auch bei Einsätzen gegen Demonstranten
Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der schwieriger      der Mittelklasse zu beobachten sind (Human Rights
werdenden wirtschaftlichen Situation hat sich der      Brief 2014).
Unmut in der Bevölkerung, der in den Massenpro-
testen vom Sommer 2013 zum Ausdruck kam, noch
verstärkt.                                             Aufruhr in den Armutsvierteln von Rio
    Den Glauben an die Veränderbarkeit des politi-
schen Systems und die Bereitschaft der politischen     Abseits der großen Straßenproteste gab es in den
Klasse, zumindest langfristig Transparenz und Re-      letzten Monaten weitere Schauplätze von Unruhen
chenschaftspflicht durchzusetzen und die verbrei-      und sozialem Protest. Im Zentrum der Berichter-
tete Vetternwirtschaft zu beenden, haben viele Bra-    stattung internationaler Medien standen vor allem
silianer inzwischen verloren. Die erste Euphorie       die Armutsviertel Rio de Janeiros, das als bekann-
über die erfolgreichen Massenproteste ist mittler-     teste brasilianische Stadt und Austragungsort des
weile Ernüchterung und Resignation gewichen.           WM-Finales unter besonderer Beobachtung steht.
Zwar sind die landesweiten Großdemonstrationen             In den bereits befriedet geglaubten Favelas,
inzwischen abgeflaut, doch haben sich die Proteste     die mit Blick auf die Austragung der WM und
über das Jahr hinweg radikalisiert und führen nun      der Olympischen Spiele 2016 in den letzten Jah-
regelmäßig zu Zusammenstößen mit der Polizei.          ren durch spezielle Friedenseinheiten (Unidades
Die breiten und friedlichen Massenproteste der         de Polícia Pacificadores, UPPs) besetzt worden wa-
Studierenden werden inzwischen von gewaltbe-           ren, gab es seit Beginn dieses Jahres wieder ver-
reiten Splittergruppen wie den neu entstandenen        mehrt gewaltsame Auseinandersetzungen. Das Be-
Black Blocks (Schwarzen Blöcken) ver­ein­nahmt und     friedungsprogramm für die Favelas, das auf die so-
zeichnen sich nun häufig durch Gewaltausbrü-           ziale Eingliederung der Bewohner und staatliche
che und Vandalismus aus. Der Tod eines Kamera-         Präsenz setzt, galt lange als großer Erfolg. Doch in
manns, der bei der Berichterstattung über Straßen-     den letzten Monaten häuften sich sowohl Angriffe
proteste in Rio de Janeiro Anfang Februar 2014 von     von Drogenbanden auf die dort stationierten Frie-
einer Rakete aus dem Black Block am Kopf getrof-       denseinheiten als auch Klagen der Bewohner über
fen wurde und später seinen Verletzungen erlag,        Menschenrechtsverletzungen durch Polizisten der
heizte die Debatte um die zunehmende Gewaltbe-         UPPs. Die Eskalation von Protesten in einer Fave-
reitschaft und den Willen zur Eskalation aufseiten     la in Copacabana Ende April 2014, bei der bren-
der Demonstranten weiter an. Umgekehrt bekla-          nende Barrikaden errichtet wurden und ein Mann
gen Demonstranten und Sympathisanten der Pro-          ums Leben kam, führte vielen vor Augen, wie fra-
teste eine zunehmende Kriminalisierung der Bewe-       gil der soziale Frieden Brasiliens auch jenseits der
gung durch Polizei, Medien, Länderregierungen          großen Straßenproteste nach wie vor ist.
und die nationale Regierung.                               In der Folge erlitt das Programm einen emp-
    Auch die brasilianische Polizei hat aufgerüs­      findlichen Rückschlag. Die zunächst sehr posi-
tet. Kleineren Anti-WM-Protesten in São Paulo          tive Berichterstattung über die schnelle und er-
zu Beginn des Jahres 2014 mit etwa 1500 Teilneh-       folgreiche Befriedung der über Jahrzehnte außer-
mern begegnete die lokale Polizei mit einem Auf-       halb staatlicher Kontrolle liegenden Armutsvier-
gebot von 2.300 Polizisten und der Verhaftung von      tel ist nun einer kritischeren Wahrnehmung gewi-
260 Teilnehmern. Die brasilianische Vereinigung        chen. Dies ist allerdings zumindest teilweise auf
für investigativen Journalismus ABRAJI beklagte        den Wahlkampf im Bundesstaat Rio de Janeiro zu-
jüngst, dass bei der Berichterstattung über die Pro-   rückzuführen, in dem die Opposition die Erfolge
teste 2013/14 Polizeikräfte an rund 80 Prozent der     des Befriedungsprogramms aus politischen Grün-
Aggressionen gegen Journalisten beteiligt gewe-        den grundsätzlich in Frage stellt. Dennoch sind die
sen seien (ABRAJI 2014). Menschenrechtsorgani-         positiven Wirkungen des Ende 2008 eingeführten
sationen kritisieren seit Langem den brutalen Ein-     Programms für viele Favela-Bewohner beachtlich.
satz von Gewalt durch die brasilianische Militär-      In den fünf Jahren seit Beginn des Programms wur-
polizei und die Spezialkräfte, wie beispielsweise      den 40 UPPs installiert, die 256 Favelas mit einer
durch BOPE (Batalhão de Operações Policiais Es-        geschätzten Bevölkerung von 1,5 Millionen um-
peciais) in den Armutsvierteln von Rio. Sie ver-       fassen. Insgesamt hat sich die Sicherheitslage in

GIGA Focus Lateinamerika 4/2014                                                                       -5-
den Favelas der Stadt in den letzten Jahren fühlbar   den letzten Jahren zum Teil dramatisch gestiegenen
verbessert. Hotels und Bars öffneten ihre Pforten,    Gewalt- und Mordraten in vielen anderen brasilia-
Grundstückspreise stiegen und Bewohner der tra-       nischen Städten, in denen keine langfristigen Pro-
ditionellen Wohngebiete der Mittelklasse wagten       gramme gegen Drogenbanden eingeführt wurden.
sich zum ersten Mal in die an den Berghängen ge-
legenen Armutssiedlungen. Erstmals seit Bestehen
der unkontrolliert entstandenen Favelas wurden        Keine politische Kanalisierung der Proteste
diese als Teil der Stadt wahrgenommen und damit
nicht nur physisch – über infrastrukturelle Anbin-    Während die Problematik der Favelas vor allem
dung durch Aufzüge und Seilbahnen –, sondern          die lokal- und bundestaatliche Wahlkampfagenda
auch mental integriert, indem die „unbekannten“       prägt, haben die landesweiten Massenproteste der
Stadtviertel in Stadtmagazinen vorgestellt und bei-   traditionellen Mittelschicht im Juni 2013 auch die
spielsweise Restaurant- und Veranstaltungstipps       Bundesebene erreicht. Mit Blick auf die Präsident-
für Favelas veröffentlicht wurden. Auch eine Tele-    schaftswahlen im Oktober 2014 war Präsidentin
novela des privaten Fernsehsenders Globo, dessen      Dilma Rousseff nach den unerwarteten Protesten
Seifenopern traditionell nur das Leben der reichen    im vergangenen Sommer und dem Einbruch ihrer
Oberschicht darstellten, thematisierte im Jahr 2013   Zustimmungsraten deutlich bemüht, die Preis-
erstmals das Leben in den Favelas und schrieb da-     steigerung durch Subventionen in Schach zu hal-
mit brasilianische Fernsehgeschichte. Neben den       ten, wichtige Infrastrukturprojekte voranzutrei-
konkreten Leistungen des Programms in Form von        ben und den Forderungen der Bürger nach Inves­
staatlichen Dienstleistungen für die zuvor ausge-     titionen in das Bildungs- und Gesundheitssystem
grenzten und von staatlicher Seite über Jahrzehnte    nachzukommen.
ignorierten Millionensiedlungen ist somit auch            Allerdings scheiterte sie mit ihrem Vorschlag
die psychologische Wirkung des Befriedungspro-        eines Pakts zur Erneuerung des politischen Sys-
gramms nicht zu unterschätzen. Daran ändern           tems durch eine „verfassunggebende Versamm-
auch die jüngst wieder angestiegenen Gewalt- und      lung“. Der Kongress blockierte dieses Vorhaben,
Mordraten wenig.                                      obwohl die Regierungskoalition über eine breite
    Schließlich sind die Herausforderungen eines      Mehrheit verfügt. Zudem kommen die beschlos-
solchen Programms enorm, der Befriedungspro-          senen Infrastrukturmaßnahmen nur schleppend
zess verläuft nicht linear und Rückschläge sind       voran. Die erwarteten Erdöleinnahmen aus den
unvermeidlich. Strukturelle Entwicklungen und         sogenannten Pré-Sal-Funden, die zu 100 Prozent
Mentalitäten, die sich über Jahrzehnte herausgebil-   ins Bildungssystem fließen sollen, sprudeln bis-
det haben, können nicht über Nacht grundlegend        lang noch nicht.2 Und die Verstärkung des staat-
verändert werden. Die Militärpolizei, die traditio-   lichen Gesundheitssystems durch rund 3.500 an-
nell als korrupte und brutale Eingreiftruppe in den   geworbene kubanische Ärzte geriet zum Skandal:
Favelas agierte, verwandelt sich nicht im Schnell-    Die brasilianische Ärztekammer und die politische
kurs in einen Garanten der öffentlichen Sicher-       Opposition beschuldigten die Regierung, moder-
heit in ebenjenen Siedlungen. Und die seit Lan-       ner Sklaverei Vorschub zu leisten. Viele der ein-
gem agierenden Drogenbanden können nicht im           geleiteten Maßnahmen benötigen außerdem Zeit
Handstreich beseitigt werden. Vor diesem Hinter-      zur Umsetzung und Wirkung. Fundamentale Ver-
grund ist auch das Bekanntwerden von Menschen-        änderungen, wie sie von den Demonstranten er-
rechtsverletzungen der stationierten Friedenspoli-    hofft und eingefordert wurden, lassen sich nicht
zisten als Fortschritt zu sehen: In der Vergangen-    innerhalb eines Jahres herbeiführen.
heit waren solche Taten an der Tagesordnung, ohne         Der steigende Unmut in der Bevölkerung wur-
dass dies zu medialer Aufmerksamkeit oder gar         de allerdings bislang nicht politisch kanalisiert.
zur Strafverfolgung geführt hätte.                    Weder haben die Oppositionsparteien von der
    Zweifelsohne muss das Befriedungsprogramm         Stimmung profitiert, noch haben sich in Folge der
weiterentwickelt und muss dessen soziale Kompo-
nente (Bereitstellung staatlicher Dienstleistungen)
                                                      2 Die ab 2007/2008 vor der brasilianischen Küste entdeckten rie-
gegenüber der militärischen gestärkt werden. Eine       sigen Erdölvorkommen befinden sich in bis zu 6.000 Metern
Alternative zu diesem Programm gibt es jedoch           Tiefe unter einer dicken Salz- und Gesteinsschicht. Von der
                                                        technisch sehr aufwendigen und teuren Förderung verspricht
nicht. Dies zeigen auch die deutlich höheren und in
                                                        sich Brasilien zukünftig hohe Erdöleinnahmen.

GIGA Focus Lateinamerika 4/2014                                                                                 -6-
Proteste neue politische Parteien oder Bewegungen     Literatur
gebildet, die die Forderungen der Demonstranten
aufgreifen und in den formalen politischen Pro-       Abraji (2014), Abraji registra 119 violações contra jor-
zess einbringen. Die Protestbewegung wird weiter-       nalistas durante protestos, 17. Februar 2014, online:
hin dezentral organisiert und bleibt führungslos.        (25.
Zudem lehnen viele Teilnehmer der Juni-Proteste         April 2014).
politische Parteien und die gegenwärtige Form         Economist Intelligence Unit (2014), Country Report
der politischen Repräsentation in Brasilien grund-      Brazil, April 2014, EIU.
sätzlich ab. Damit bleibt letztlich nur die Straße,   Human Rights Brief (2014), Situation of Human
um Unmut zu artikulieren und politische Forde-          Rights and Social Protests in Brazil, März 2014,
rungen zu stellen. Dies macht erneute Massenpro-        online:  (25.
Oktober anstehenden Präsidentschaftswahlen un-          April 2014).
berechenbar.                                          Inteligência e Pesquisa de Mercado Abril (2013),
   Angesichts der Führungslosigkeit und man-            O que pensam as ruas, in: Veja, Os sete dias que
gelnden Kanalisierung der Proteste und den nach         mudaram o Brasil, 2327, 26. Juni 2013.
wie vor hohen Zustimmungsraten für die Präsi-         Lay, Jann, und Simone Schotte (2013), Lateinameri-
dentin in der ärmeren Bevölkerung und der neu-          kas neue Mittelschicht: nachhaltiger Aufstieg?, GIGA
en Mittelschicht, gehen die Wahlprognosen jedoch        Focus Lateinamerika, 8, online:  (25. April 2014).
                                                      Neri, Marcelo (2010), The Decade of Falling Income
Ungewisses „Endspiel“                                   Inequality and Formal Employment Generation in
                                                        Brazil, Paris: OECD, online:  (25. April 2014).
erwarteten Proteste den größtenteils friedlichen      The Economist (2013), Has Brazil Blown It?, 28. Sep-
Massendemonstrationen während des Confed-               tember 2013, online:  (4. Mai 2014).
tierenden keineswegs erfüllt und weite Teile der      Veja (2014), As ameaças à Copa, 2364, 12. März 2014.
Bevölkerung stärker politisiert als vor dem Aus-      World Bank (2014), World Development Indicators:
bruch der Protestwelle im Sommer 2013 – doch            Economic Growth: Brazil, online:  (4.
Monate könnte auch dazu führen, dass die breite         Mai 2014).
Masse den angekündigten Demonstrationen aus
Angst vor Gewalt fernbleibt und das Feld den radi-
kalen Kräften überlässt.
    Bilder von Demonstrationen werden wohl in
jedem Fall die Weltmeisterschaft in Brasilien be-
gleiten. Ob diese Bilder breite Massenproteste oder
vermummte Radikale in gewalttätigen Auseinan-
dersetzungen mit der brasilianischen Polizei zei-
gen werden, bleibt zum gegenwärtigen Zeitpunkt
jedoch unvorhersehbar.

GIGA Focus Lateinamerika 4/2014                                                                          -7-
„„ Die Autorin
Dipl.-Pol. Christina Stolte ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am GIGA Institut für Lateinamerika-Studien.
Sie hat ihre Dissertation über Brasiliens Afrikastrategie und den Export der brasilianischen Sozialprogramme
nach Afrika verfasst. Seit Januar 2013 forscht sie am Centro Brasileiro de Relações Internacionais (CEBRI),
einem brasilianischen Partnerinstitut des GIGA.
E-Mail: christina.stolte@giga-hamburg.de, Webseite: 

„„ GIGA-Forschung zum Thema
Fragen des sozialen Wandels und der sozialen Nachhaltigkeit von Wirtschaftswachstum werden im Rah-
men des GIGA Forschungsschwerpunkts 3 „Sozioökonomische Entwicklung in der Globalisierung“ bear-
beitet. Fragen der Gewaltenteilung und institutioneller Arrangements widmet sich der GIGA Forschungs-
schwerpunkt 1 „Legitimität und Effizienz politischer Systeme“; hier beschäftigt sich das Forschungsteam 3
insbesondere mit dem Zusammenhang von Recht und Politik.

„„ GIGA-Publikationen zum Thema
Fraundorfer, Markus (2013), Protestbewegungen als Motor für Brasiliens Demokratie, GIGA Focus Lateiname-
  rika, 4, online: .
Fraundorfer, Markus, und Mariana Llanos (2012), Der Mensalão-Korruptionsskandal mit weitreichenden Fol-
  gen für Brasiliens Demokratie, GIGA Focus Lateinamerika, 12, online .
Lay, Jann (2012), MDG Achievements and Policies in Education and Health: What Has Been Learnt?, in:
  Development Policy Review, 30, 1, 67-85.
Lay, Jann, und Simone Schotte (2013), Lateinamerikas neue Mittelschicht: nachhaltiger Aufstieg?, GIGA Focus
  Lateinamerika, 8, online: .
Nolte, Detlef, und Christina Stolte (2012), Brasilien: Aufstieg vom Schuldenstaat zur Wirtschaftsmacht, in:
  Josef Braml, Stefan Mair und Eberhard Sandschneider (Hrsg.), Außenpolitik in der Wirtschafts- und Finanz-
  krise, Jahrbuch Internationale Politik, 29, München: Oldenbourg, 104-113.
Nolte, Detlef, und Christina Stolte (mit Renato Flores und Lucio Renno) (2012), Country Report Brazil,
  in: Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Governance Capacities in the BRICS: Sustainable Governance Indicators,
  Gütersloh: Bertelsmann Stiftung.
Winters, Matthew S., and Rebecca Weitz-Shapiro (2014), Partisan Protesters and Nonpartisan Protests in
  Brazil, in: Journal of Politics in Latin America, 6, 1, 137-150, online: .

                     Der GIGA Focus ist eine Open-Access-Publikation. Sie kann kostenfrei im Netz gelesen und
                     heruntergeladen werden unter  und darf gemäß den
                     Be­dingungen der Creative-Commons-Lizenz Attribution-No Derivative Works 3.0  frei vervielfältigt, verbreitet und öffentlich
                     zu­gänglich gemacht werden. Dies umfasst insbesondere die korrekte Angabe der Erstveröffentli­
                     chung als GIGA Focus, keine Bearbeitung oder Kürzung.

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Texte werden in der GIGA Focus International Edition auf Englisch und Chinesisch veröffentlicht. Der GIGA Focus
Lateinamerika wird vom GIGA Institut für Lateinamerika-Studien redaktionell gestaltet. Die vertre­tenen Auffassungen
stellen die der Autoren und nicht unbedingt die des Instituts dar. Die Autoren sind für den Inhalt ihrer Beiträge ver-
antwortlich. Irrtümer und Auslassungen bleiben vorbehalten. Das GIGA und die Autoren haften nicht für Richtigkeit
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Redaktion: Sabine Kurtenbach; Gesamtverantwortliche der Reihe: Hanspeter Mattes und Stephan Rosiny; Lektorat:
Ellen Baumann; Kontakt: ; GIGA, Neuer Jungfernstieg 21, 20354 Hamburg

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