Protest statt Begeisterung - Brasilien vor der Weltmeisterschaft
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Nummer 4 2014 ISSN 1862-3573 Protest statt Begeisterung – Brasilien vor der Weltmeisterschaft Christina Stolte Die ganze Welt wird zwischen dem 12. Juni und 13. Juli 2014 mit Spannung die Fußball- weltmeisterschaft in Brasilien verfolgen. Als das Land im Jahr 2007 den Zuschlag für die Austragung erhielt, war die Freude groß. Mittlerweile hat sich die Stimmung gewan- delt: Heute stehen sehr viele Brasilianer der Austragung der Fußballweltmeisterschaft im eigenen Land kritisch gegenüber. Die Fußball-WM wird – wie die Austragung des Confederations Cup 2013 – wahr- scheinlich von sozialen Protesten begleitet sein. Die hohen Ausgaben für die WM sind aber nur ein Anlass für die Demonstrationen. Die eigentliche Triebfeder der Proteste, die von Studierenden aus der traditionellen Mittelklasse getragen werden, liegt im rapiden sozialen Wandel der letzten Dekade und im Aufstieg einer neuen Mittelschicht. Seit den Massendemonstrationen vom Sommer 2013 haben sich die Proteste radika- lisiert. Gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der brasi- lianischen Polizei häufen sich. Gleichzeitig wurden die Erwartungen an die wirtschaftliche Entwicklung des Lan- des gedämpft: Die Wachstumsraten sind deutlich gesunken, ein Großteil der Bevöl- kerung leidet unter der steigenden Inflation. Trotzdem stehen die Chancen der amtierenden Präsidentin Dilma Rousseff auf Wie- derwahl im kommenden Herbst gut, denn die Protestbewegung ist nicht parteipoli- tisch organisiert und die Regierung verfügt in den ärmeren Bevölkerungsschichten nach wie vor über breite Zustimmung. Schlagwörter: Brasilien, Fußballweltmeisterschaft, politischer Protest, wirtschaftliche Entwicklung, sozialer Wandel www.giga-hamburg.de/giga-focus
Spannung vor dem Großereignis auf die Straßen strömten, war die Überraschung groß. Meinungsumfragen von Anfang Juni 2013 Wenn Brasilien in wenigen Wochen die Fußball- hatten noch die Zustimmung von 65 Prozent der weltmeisterschaft austrägt, werden sich die Augen Bevölkerung zur Austragung des internationalen der Welt auf das südamerikanische Land richten. Fußballereignisses ermittelt; die Zustimmung zur Was jedoch als Bühne für eine aufstrebende Wirt- brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff lag schaftsmacht gedacht war, wird möglicherweise sogar bei über 70 Prozent. Niemand hatte erwartet, Schauplatz und Podium für ein ganz anderes Spek- dass die Präsidentin bei der Eröffnungsrede unter takel: Öffentlichkeit und Regierung rechnen mit Buhrufen das Stadium verlassen würde, dass Bra- sozialen Protesten, die das Sportereignis begleiten silien die größten Demonstrationen seit zwanzig und vielleicht sogar in den Schatten stellen werden. Jahren erleben und öffentliches Aufbegehren statt In der Fußballnation wird derzeit wenig über Feierlaune den Confed-Cup prägen würden. Spielstärke und Erfolgschancen der brasiliani Den Hintergrund für die Massenproteste im schen Seleção diskutiert und ob die Mannschaft Juni 2013 bildet die sozioökonomische Entwick- den 6. Weltmeistertitel für ihr Land erobern und lung des Landes: Brasiliens Wirtschaft erzielte die Schmach des verlorenen Endspiels im eige- im letzten Jahrzehnt nicht nur Wachstumsraten nen Land von 1950 wiedergutmachen kann. Statt- von durchschnittlich 4,8 Prozent und erholte sich dessen wird erörtert, ob und wie sich der weitver- schnell von den Folgen der globalen Weltwirt- breitete Unmut in der Bevölkerung während der schaftskrise, sondern konnte auch einen signifi- WM abermals Bahn brechen und wie die Regie- kanten Rückgang der sozialen Ungleichheit ver- rung unter den Augen der Weltöffentlichkeit auf zeichnen. Erstmals in der brasilianischen Geschich- erneute Großdemonstrationen reagieren wird. te kam das Wirtschaftswachstum zu Beginn des 21. Eine interne Risikoanalyse des brasilianischen In- Jahrhunderts stärker den unteren als den oberen landsgeheimdienstes vom März 2014 nennt eska- Einkommensschichten zugute (Neri 2010). lierende Proteste noch vor Attacken von Drogen- Eine wesentliche Folge dieser Entwicklung war banden oder Terroranschlägen als größte Gefahr der Aufstieg einer neuen Mittelschicht (Lay und für den friedlichen und reibungslosen Verlauf der Schotte 2013). Millionen Brasilianer konnten ihre WM (Veja 2014). Aber auch Brasiliens Gewaltpro- Lebensbedingungen deutlich verbessern und for- blem rückt wieder stärker in den Fokus, nachdem men nun eine Art „untere Mittelschicht“, die sich in Ausschreitungen bei einer Demonstration von Fa- Bezug auf Einkommen, Bildungsstand und Selbst- vela-Bewohnern in Rios Touristenstadtteil Copa- verständnis deutlich von der traditionellen Mittel- cabana den Erfolg der Befriedungsstrategie in den klasse unterscheidet. Zwar wohnen viele Angehö- Armutsvierteln und die Sicherheit der WM in- rige dieser neuen Mittelschicht – Brasiliens soge- frage gestellt haben. Streikende Gewerkschaften nannte „Klasse C“1 – noch immer in Armutsvier- (zum Beispiel der Lehrer und Polizisten) komplet- teln und haben einen relativ niedrigen Bildungs- tieren das Bild eines Landes, in dem der soziale stand. Doch steigende Einkommen und staatliche Friede brüchig und die Feierlaune bereits verflo- Transferzahlungen erhöhten ihren Lebensstandard gen ist, noch bevor das Fußballereignis begonnen und ermöglichten ihnen erstmals die Teilnahme hat. Nach einer Dekade des wirtschaftlichen Auf- am Konsum, der traditionell den wohlhabende- schwungs und der gesellschaftlichen Aufbruch- ren Schichten der brasilianischen Gesellschaft, den stimmung, die mit der Austragung der Fußball- Einkommensklassen A und B, vorbehalten war. weltmeisterschaft ihre mediale Krönung erfahren Der Anteil dieser neuen Mittelschicht stieg in- sollte, präsentiert sich das Land der Welt in einem nerhalb weniger Jahre enorm, während sich der Zustand wachsender Unzufriedenheit und wirt- der ärmeren und ärmsten Bevölkerungsschichten schaftlicher Ungewissheit. (D und E) signifikant verringerte. Heute stellt die neue Mittelschicht mit 108 Millionen Menschen und einem Bevölkerungsanteil von 54 Prozent die Der Aufstieg der neuen Mittelschicht: Triebfeder der Proteste 1 Regierung und Medien in Brasilien ordnen die unterschied- lichen Einkommensgruppen auf einer Skala von A (Ober- Als Ende Juni 2013 während des Confederations schicht) bis E (Unterschicht) ein. Die „neue“ aus den ärmeren Schichten D und E aufgestiegene Mittelschicht gilt als Klasse C, Cup rund zwei Millionen Brasilianer zu Protesten die etablierte Mittelschicht als Klasse B. GIGA Focus Lateinamerika 4/2014 -2-
Mehrheit der brasilianischen Bevölkerung und ver- aus, während 29 Prozent der Oberschicht und nur körpert damit mehr Kaufkraft als die beiden obe- 16 Prozent der neuen „unteren“ Mittelschicht so- ren Einkommensschichten zusammen. Ihre neue wie der Unterschicht angehörten (Inteligência e Kaufkraft – die allerdings nicht selten durch Kon- Pesquisa de Mercado Abril 2013). Auch der ermit- sumkredite gestützt wird – wurde von den Mitglie- telte Bildungshintergrund der Demonstranten spie- dern der „Klasse C“ in den letzten Jahren tatkräf- gelt diese Sozialstruktur wider: Während nur eine tig eingesetzt: Seit 2003 verdoppelte sich die An- Minderheit der brasilianischen Bevölkerung Zu- zahl der Autos auf brasilianischen Straßen und die gang zu Universitäten hat und ein großer Teil nicht Zahl der Flugpassagiere stieg zwischen 2010 und einmal über eine abgeschlossene Sekundarbildung 2011 um fast ein Viertel. verfügt, wies die überwiegende Mehrheit der Pro- Der Kollaps des brasilianischen Verkehrssys testierenden (61%) einen Universitätsabschluss auf tems, überfüllte Flughäfen und Megastaus in den (ibid.). Die Proteste waren somit weniger Ausdruck Großstädten sind daher nicht zuletzt auch Symp zunehmender Forderungen der neuen, aus der Ar- tome des Aufstiegs der neuen Mittelschicht. Die mut aufgestiegenen Mittelschicht, vielmehr offen- staatliche Infrastruktur – ob im Verkehrssystem, barte sich hier die wachsende Unzufriedenheit der Gesundheits- oder Bildungsbereich – konnte mit bislang privilegierten Teile der Gesellschaft. Viele dem rasanten Wachstum der neuen Mittelschicht junge Angehörige der traditionellen Mittelklasse, nicht mithalten und zeigt sich zunehmend überfor- die nicht in gleichem Maß vom Wirtschaftswachs- dert. Was ehemals wenigen vorbehalten war, muss tum des letzten Jahrzehnts profitiert hat wie die nun einer wachsenden Zahl von Menschen dienen neue Mittelschicht, fragen sich, wie sie den hohen und stößt dabei zunehmend an Grenzen. Lebensstandard ihrer Eltern künftig halten können. Aufbegehren der ehemals Privilegierten? Negativer Wirtschaftstrend und soziale Unzufriedenheit Protest gegen die mangelhaften staatlichen Dienst- leistungen regt sich jedoch weniger aufseiten Der negative Wirtschaftstrend der letzten Jahre ver- derer, die erstmals überhaupt solche Leistungen in schärft die Lage. Zwar ist die brasilianische Wirt- Anspruch nehmen, sondern vielmehr bei Angehö- schaft nicht „abgestürzt“, wie es das Titelbild des rigen der traditionellen Mittelschicht, die eine rela- Economist vom 28. September 2013 mit der brasilia tive Verschlechterung ihrer Lage wahrnehmen. Wer nischen Christus-Statue im Sinkflug suggerierte. früher durch private Krankenversicherungen dem Doch Fakt ist, dass sich die Erwartungen einer öffentlichen Gesundheitssystem den Rücken keh- anhaltend positiven Wirtschaftsentwicklung nicht ren und durch ein Privatauto den unzumutbaren erfüllt haben. Alle Indikatoren sprechen dafür, dass öffentlichen Nahverkehr umgehen konnte, findet es in den kommenden Jahren deutlich weniger zu sich heute in der Warteschlange der Privatambu- verteilen geben wird als in der letzten Dekade. lanz und im Stau auf überfüllten Straßen wieder. Zwar waren die auf dem Höchstwachstum von Vor diesem Hintergrund wird die Unzulänglich- 2010 (7,5 %) basierenden Wachstumserwartungen keit der staatlichen Leistungen für viele gerade jetzt von Beginn an überzogen und die Dynamik der besonders spürbar. interventionistischen und überregulierten brasili- Die anfängliche und in den internationalen Me- anischen Volkswirtschaft wurde weit überschätzt. dien verbreitete Interpretation, bei den Protesten Dennoch sind die Wirtschaftsdaten der Regierung von Juni 2013 habe es sich um ein Aufbegehren Rousseff enttäuschend. Während ihrer Regierungs- der neuen brasilianischen Mittelschicht gehandelt, zeit halbierte sich das Durchschnittswachstum von die nach Jahren des sozialen Aufstiegs nun besse- zuvor über 4 Prozent auf 2 Prozent (siehe Abbil- re staatliche Dienstleistungen einfordere, war nicht dung 1). Und insbesondere das WM-Jahr 2014, von zutreffend. Die Mehrheit der Demonstrationsteil- dem sich die brasilianische Wirtschaft aufgrund nehmer stammte vielmehr aus der traditionellen der heimischen Austragung des Großereignisses Mittel- und Oberschicht (Klassen A und B). An- einen besonderen Wachstumsschub erhofft hatte, gehörige der sogenannten „oberen“ Mittelschicht wird mit einem prognostizierten Wachstum von (Klasse B) machten mit einem Anteil von 55 Pro- 1,8 Prozent wohl noch hinter der schwachen Bi- zent den überwiegenden Teil der Demonstranten lanz der Vorjahre zurückbleiben. GIGA Focus Lateinamerika 4/2014 -3-
Abbildung 1: Jährliches Wirtschaftswachstum in Brasilien Strukturprobleme der (in Prozent) brasilianischen Wirtschaft 8 Mit dieser Konsumzurückhaltung 7 droht aber die Binnennachfrage 6 und damit eine zentrale Stütze der 5 brasilianischen Wirtschaft einzu- brechen. Der häufig auf teure Kre- 4 dite gestützte Konsum der auf- 3 strebenden neuen Mittelschicht 2 war eine treibende Kraft des Wirt- schaftswachstums und sorgte nicht 1 zuletzt dafür, dass sich Brasilien 0 von den Folgen der globalen Wirt- 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 schafts- und Finanzkrise so schnell ‐1 erholte. Doch inzwischen sind viele Quellen: World Bank 2014; Economist Intelligence Unit 2014. Familien der neuen Mittelschicht mit Kühlschränken, Waschmaschi- Während die sinkenden Wachstumsraten für nen und anderen elektronischen Geräten ausge- die brasilianischen Arbeitnehmer noch recht ab- stattet und haben sich im Glauben an weiter stei- strakt und wenig spürbar sind – Brasilien ver- gende Löhne und Gehälter zum Teil hoch verschul- zeichnet nach wie vor Vollbeschäftigung – zeigt det. Angesichts der Inflation und der wachsenden sich die Folge des Negativtrends in einem ande- Verschuldung ist die Shoppinglaune der fragilen, ren Bereich bereits deutlich: Die Geldentwertung gerade erst aus der Armut aufgestiegenen neuen macht der Bevölkerung immer mehr zu schaf- Mittelschicht getrübt und lässt das konsumbasierte fen und kann nicht mehr durch steigende Löhne Wachstumsmodell der Regierung zunehmend an ausgeglichen werden. Zwar wird die Inflation im seine Grenzen stoßen. Wahljahr 2014 von der Regierung durch hohe Sub- Der abgeschwächte Konsum rückt zudem Bra- ventionen für Energie und Benzin in Schach gehal- siliens Abhängigkeit von Rohstoffexporten wie- ten, für viele Brasilianer ist sie gefühlt aber deut- der stärker in den Vordergrund. Neben dem stark lich höher als die offizielle Rate von 6 Prozent. So wachsenden Binnenmarkt aufgrund der Nachfra- beträgt die Teuerungsrate bei den Lebensmitteln ge der neuen Mittelschicht stellte der Export unver- schon jetzt über 10 Prozent. Nach den Wahlen im arbeiteter Produkte wie Eisenerz, Soja und Rohöl Oktober 2014 werden die Subventionen für Strom nach China den Hauptwachstumsmotor der bra- und Benzin sehr wahrscheinlich gesenkt, sodass silianischen Volkswirtschaft dar. Die Nachfrage die Bevölkerung künftig stärker belastet sein wird. dieses wichtigsten Handelspartners ist jedoch in Zwar ist die derzeitige Inflationsrate weit entfernt den letzten Jahren gesunken und die Preise auf den von den bedrohlichen Raten der 1990er Jahre, die stark schwankenden Rohstoffmärkten sind nicht damalige Hyperinflation wirkt aber bis heute psy- mehr so hoch wie noch vor ein paar Jahren. Gleich- chologisch nach. Damals betrugen die monatlichen zeitig sind in Brasilien industriell hergestellte Wa- Teuerungsraten bis zu 80 Prozent und das Land ren auf dem Weltmarkt wenig konkurrenzfähig. wechselte innerhalb weniger Jahre fünfmal seine Allenfalls auf dem durch hohe Zölle geschützten Währung. Vor diesem Hintergrund blicken viele heimischen Markt können brasilianische Fertig- Brasilianer mit Sorge in die Zukunft und schrän- produkte wie Maschinen und Elektrogeräte beste- ken angesichts der stark gestiegenen Preise ihren hen. In den letzten Jahren importierte Brasilien al- Konsum ein. lerdings verstärkt Produkte oder Vorprodukte aus- ländischer Konkurrenten, mit der Folge, dass die Bedeutung des industriellen Sektors zurückging und der Handelsbilanzüberschuss auf ein Zehn- jahrestief sank. GIGA Focus Lateinamerika 4/2014 -4-
Radikalisierung der Proteste weisen darauf, dass entsprechende Verhaltensmus ter nun auch bei Einsätzen gegen Demonstranten Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der schwieriger der Mittelklasse zu beobachten sind (Human Rights werdenden wirtschaftlichen Situation hat sich der Brief 2014). Unmut in der Bevölkerung, der in den Massenpro- testen vom Sommer 2013 zum Ausdruck kam, noch verstärkt. Aufruhr in den Armutsvierteln von Rio Den Glauben an die Veränderbarkeit des politi- schen Systems und die Bereitschaft der politischen Abseits der großen Straßenproteste gab es in den Klasse, zumindest langfristig Transparenz und Re- letzten Monaten weitere Schauplätze von Unruhen chenschaftspflicht durchzusetzen und die verbrei- und sozialem Protest. Im Zentrum der Berichter- tete Vetternwirtschaft zu beenden, haben viele Bra- stattung internationaler Medien standen vor allem silianer inzwischen verloren. Die erste Euphorie die Armutsviertel Rio de Janeiros, das als bekann- über die erfolgreichen Massenproteste ist mittler- teste brasilianische Stadt und Austragungsort des weile Ernüchterung und Resignation gewichen. WM-Finales unter besonderer Beobachtung steht. Zwar sind die landesweiten Großdemonstrationen In den bereits befriedet geglaubten Favelas, inzwischen abgeflaut, doch haben sich die Proteste die mit Blick auf die Austragung der WM und über das Jahr hinweg radikalisiert und führen nun der Olympischen Spiele 2016 in den letzten Jah- regelmäßig zu Zusammenstößen mit der Polizei. ren durch spezielle Friedenseinheiten (Unidades Die breiten und friedlichen Massenproteste der de Polícia Pacificadores, UPPs) besetzt worden wa- Studierenden werden inzwischen von gewaltbe- ren, gab es seit Beginn dieses Jahres wieder ver- reiten Splittergruppen wie den neu entstandenen mehrt gewaltsame Auseinandersetzungen. Das Be- Black Blocks (Schwarzen Blöcken) vereinnahmt und friedungsprogramm für die Favelas, das auf die so- zeichnen sich nun häufig durch Gewaltausbrü- ziale Eingliederung der Bewohner und staatliche che und Vandalismus aus. Der Tod eines Kamera- Präsenz setzt, galt lange als großer Erfolg. Doch in manns, der bei der Berichterstattung über Straßen- den letzten Monaten häuften sich sowohl Angriffe proteste in Rio de Janeiro Anfang Februar 2014 von von Drogenbanden auf die dort stationierten Frie- einer Rakete aus dem Black Block am Kopf getrof- denseinheiten als auch Klagen der Bewohner über fen wurde und später seinen Verletzungen erlag, Menschenrechtsverletzungen durch Polizisten der heizte die Debatte um die zunehmende Gewaltbe- UPPs. Die Eskalation von Protesten in einer Fave- reitschaft und den Willen zur Eskalation aufseiten la in Copacabana Ende April 2014, bei der bren- der Demonstranten weiter an. Umgekehrt bekla- nende Barrikaden errichtet wurden und ein Mann gen Demonstranten und Sympathisanten der Pro- ums Leben kam, führte vielen vor Augen, wie fra- teste eine zunehmende Kriminalisierung der Bewe- gil der soziale Frieden Brasiliens auch jenseits der gung durch Polizei, Medien, Länderregierungen großen Straßenproteste nach wie vor ist. und die nationale Regierung. In der Folge erlitt das Programm einen emp- Auch die brasilianische Polizei hat aufgerüs findlichen Rückschlag. Die zunächst sehr posi- tet. Kleineren Anti-WM-Protesten in São Paulo tive Berichterstattung über die schnelle und er- zu Beginn des Jahres 2014 mit etwa 1500 Teilneh- folgreiche Befriedung der über Jahrzehnte außer- mern begegnete die lokale Polizei mit einem Auf- halb staatlicher Kontrolle liegenden Armutsvier- gebot von 2.300 Polizisten und der Verhaftung von tel ist nun einer kritischeren Wahrnehmung gewi- 260 Teilnehmern. Die brasilianische Vereinigung chen. Dies ist allerdings zumindest teilweise auf für investigativen Journalismus ABRAJI beklagte den Wahlkampf im Bundesstaat Rio de Janeiro zu- jüngst, dass bei der Berichterstattung über die Pro- rückzuführen, in dem die Opposition die Erfolge teste 2013/14 Polizeikräfte an rund 80 Prozent der des Befriedungsprogramms aus politischen Grün- Aggressionen gegen Journalisten beteiligt gewe- den grundsätzlich in Frage stellt. Dennoch sind die sen seien (ABRAJI 2014). Menschenrechtsorgani- positiven Wirkungen des Ende 2008 eingeführten sationen kritisieren seit Langem den brutalen Ein- Programms für viele Favela-Bewohner beachtlich. satz von Gewalt durch die brasilianische Militär- In den fünf Jahren seit Beginn des Programms wur- polizei und die Spezialkräfte, wie beispielsweise den 40 UPPs installiert, die 256 Favelas mit einer durch BOPE (Batalhão de Operações Policiais Es- geschätzten Bevölkerung von 1,5 Millionen um- peciais) in den Armutsvierteln von Rio. Sie ver- fassen. Insgesamt hat sich die Sicherheitslage in GIGA Focus Lateinamerika 4/2014 -5-
den Favelas der Stadt in den letzten Jahren fühlbar den letzten Jahren zum Teil dramatisch gestiegenen verbessert. Hotels und Bars öffneten ihre Pforten, Gewalt- und Mordraten in vielen anderen brasilia- Grundstückspreise stiegen und Bewohner der tra- nischen Städten, in denen keine langfristigen Pro- ditionellen Wohngebiete der Mittelklasse wagten gramme gegen Drogenbanden eingeführt wurden. sich zum ersten Mal in die an den Berghängen ge- legenen Armutssiedlungen. Erstmals seit Bestehen der unkontrolliert entstandenen Favelas wurden Keine politische Kanalisierung der Proteste diese als Teil der Stadt wahrgenommen und damit nicht nur physisch – über infrastrukturelle Anbin- Während die Problematik der Favelas vor allem dung durch Aufzüge und Seilbahnen –, sondern die lokal- und bundestaatliche Wahlkampfagenda auch mental integriert, indem die „unbekannten“ prägt, haben die landesweiten Massenproteste der Stadtviertel in Stadtmagazinen vorgestellt und bei- traditionellen Mittelschicht im Juni 2013 auch die spielsweise Restaurant- und Veranstaltungstipps Bundesebene erreicht. Mit Blick auf die Präsident- für Favelas veröffentlicht wurden. Auch eine Tele- schaftswahlen im Oktober 2014 war Präsidentin novela des privaten Fernsehsenders Globo, dessen Dilma Rousseff nach den unerwarteten Protesten Seifenopern traditionell nur das Leben der reichen im vergangenen Sommer und dem Einbruch ihrer Oberschicht darstellten, thematisierte im Jahr 2013 Zustimmungsraten deutlich bemüht, die Preis- erstmals das Leben in den Favelas und schrieb da- steigerung durch Subventionen in Schach zu hal- mit brasilianische Fernsehgeschichte. Neben den ten, wichtige Infrastrukturprojekte voranzutrei- konkreten Leistungen des Programms in Form von ben und den Forderungen der Bürger nach Inves staatlichen Dienstleistungen für die zuvor ausge- titionen in das Bildungs- und Gesundheitssystem grenzten und von staatlicher Seite über Jahrzehnte nachzukommen. ignorierten Millionensiedlungen ist somit auch Allerdings scheiterte sie mit ihrem Vorschlag die psychologische Wirkung des Befriedungspro- eines Pakts zur Erneuerung des politischen Sys- gramms nicht zu unterschätzen. Daran ändern tems durch eine „verfassunggebende Versamm- auch die jüngst wieder angestiegenen Gewalt- und lung“. Der Kongress blockierte dieses Vorhaben, Mordraten wenig. obwohl die Regierungskoalition über eine breite Schließlich sind die Herausforderungen eines Mehrheit verfügt. Zudem kommen die beschlos- solchen Programms enorm, der Befriedungspro- senen Infrastrukturmaßnahmen nur schleppend zess verläuft nicht linear und Rückschläge sind voran. Die erwarteten Erdöleinnahmen aus den unvermeidlich. Strukturelle Entwicklungen und sogenannten Pré-Sal-Funden, die zu 100 Prozent Mentalitäten, die sich über Jahrzehnte herausgebil- ins Bildungssystem fließen sollen, sprudeln bis- det haben, können nicht über Nacht grundlegend lang noch nicht.2 Und die Verstärkung des staat- verändert werden. Die Militärpolizei, die traditio- lichen Gesundheitssystems durch rund 3.500 an- nell als korrupte und brutale Eingreiftruppe in den geworbene kubanische Ärzte geriet zum Skandal: Favelas agierte, verwandelt sich nicht im Schnell- Die brasilianische Ärztekammer und die politische kurs in einen Garanten der öffentlichen Sicher- Opposition beschuldigten die Regierung, moder- heit in ebenjenen Siedlungen. Und die seit Lan- ner Sklaverei Vorschub zu leisten. Viele der ein- gem agierenden Drogenbanden können nicht im geleiteten Maßnahmen benötigen außerdem Zeit Handstreich beseitigt werden. Vor diesem Hinter- zur Umsetzung und Wirkung. Fundamentale Ver- grund ist auch das Bekanntwerden von Menschen- änderungen, wie sie von den Demonstranten er- rechtsverletzungen der stationierten Friedenspoli- hofft und eingefordert wurden, lassen sich nicht zisten als Fortschritt zu sehen: In der Vergangen- innerhalb eines Jahres herbeiführen. heit waren solche Taten an der Tagesordnung, ohne Der steigende Unmut in der Bevölkerung wur- dass dies zu medialer Aufmerksamkeit oder gar de allerdings bislang nicht politisch kanalisiert. zur Strafverfolgung geführt hätte. Weder haben die Oppositionsparteien von der Zweifelsohne muss das Befriedungsprogramm Stimmung profitiert, noch haben sich in Folge der weiterentwickelt und muss dessen soziale Kompo- nente (Bereitstellung staatlicher Dienstleistungen) 2 Die ab 2007/2008 vor der brasilianischen Küste entdeckten rie- gegenüber der militärischen gestärkt werden. Eine sigen Erdölvorkommen befinden sich in bis zu 6.000 Metern Alternative zu diesem Programm gibt es jedoch Tiefe unter einer dicken Salz- und Gesteinsschicht. Von der technisch sehr aufwendigen und teuren Förderung verspricht nicht. Dies zeigen auch die deutlich höheren und in sich Brasilien zukünftig hohe Erdöleinnahmen. GIGA Focus Lateinamerika 4/2014 -6-
Proteste neue politische Parteien oder Bewegungen Literatur gebildet, die die Forderungen der Demonstranten aufgreifen und in den formalen politischen Pro- Abraji (2014), Abraji registra 119 violações contra jor- zess einbringen. Die Protestbewegung wird weiter- nalistas durante protestos, 17. Februar 2014, online: hin dezentral organisiert und bleibt führungslos. (25. Zudem lehnen viele Teilnehmer der Juni-Proteste April 2014). politische Parteien und die gegenwärtige Form Economist Intelligence Unit (2014), Country Report der politischen Repräsentation in Brasilien grund- Brazil, April 2014, EIU. sätzlich ab. Damit bleibt letztlich nur die Straße, Human Rights Brief (2014), Situation of Human um Unmut zu artikulieren und politische Forde- Rights and Social Protests in Brazil, März 2014, rungen zu stellen. Dies macht erneute Massenpro- online: (25. Oktober anstehenden Präsidentschaftswahlen un- April 2014). berechenbar. Inteligência e Pesquisa de Mercado Abril (2013), Angesichts der Führungslosigkeit und man- O que pensam as ruas, in: Veja, Os sete dias que gelnden Kanalisierung der Proteste und den nach mudaram o Brasil, 2327, 26. Juni 2013. wie vor hohen Zustimmungsraten für die Präsi- Lay, Jann, und Simone Schotte (2013), Lateinameri- dentin in der ärmeren Bevölkerung und der neu- kas neue Mittelschicht: nachhaltiger Aufstieg?, GIGA en Mittelschicht, gehen die Wahlprognosen jedoch Focus Lateinamerika, 8, online: (25. April 2014). Neri, Marcelo (2010), The Decade of Falling Income Ungewisses „Endspiel“ Inequality and Formal Employment Generation in Brazil, Paris: OECD, online: (25. April 2014). erwarteten Proteste den größtenteils friedlichen The Economist (2013), Has Brazil Blown It?, 28. Sep- Massendemonstrationen während des Confed- tember 2013, online: (4. Mai 2014). tierenden keineswegs erfüllt und weite Teile der Veja (2014), As ameaças à Copa, 2364, 12. März 2014. Bevölkerung stärker politisiert als vor dem Aus- World Bank (2014), World Development Indicators: bruch der Protestwelle im Sommer 2013 – doch Economic Growth: Brazil, online: (4. Monate könnte auch dazu führen, dass die breite Mai 2014). Masse den angekündigten Demonstrationen aus Angst vor Gewalt fernbleibt und das Feld den radi- kalen Kräften überlässt. Bilder von Demonstrationen werden wohl in jedem Fall die Weltmeisterschaft in Brasilien be- gleiten. Ob diese Bilder breite Massenproteste oder vermummte Radikale in gewalttätigen Auseinan- dersetzungen mit der brasilianischen Polizei zei- gen werden, bleibt zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedoch unvorhersehbar. GIGA Focus Lateinamerika 4/2014 -7-
Die Autorin Dipl.-Pol. Christina Stolte ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am GIGA Institut für Lateinamerika-Studien. Sie hat ihre Dissertation über Brasiliens Afrikastrategie und den Export der brasilianischen Sozialprogramme nach Afrika verfasst. Seit Januar 2013 forscht sie am Centro Brasileiro de Relações Internacionais (CEBRI), einem brasilianischen Partnerinstitut des GIGA. E-Mail: christina.stolte@giga-hamburg.de, Webseite: GIGA-Forschung zum Thema Fragen des sozialen Wandels und der sozialen Nachhaltigkeit von Wirtschaftswachstum werden im Rah- men des GIGA Forschungsschwerpunkts 3 „Sozioökonomische Entwicklung in der Globalisierung“ bear- beitet. Fragen der Gewaltenteilung und institutioneller Arrangements widmet sich der GIGA Forschungs- schwerpunkt 1 „Legitimität und Effizienz politischer Systeme“; hier beschäftigt sich das Forschungsteam 3 insbesondere mit dem Zusammenhang von Recht und Politik. GIGA-Publikationen zum Thema Fraundorfer, Markus (2013), Protestbewegungen als Motor für Brasiliens Demokratie, GIGA Focus Lateiname- rika, 4, online: . Fraundorfer, Markus, und Mariana Llanos (2012), Der Mensalão-Korruptionsskandal mit weitreichenden Fol- gen für Brasiliens Demokratie, GIGA Focus Lateinamerika, 12, online . Lay, Jann (2012), MDG Achievements and Policies in Education and Health: What Has Been Learnt?, in: Development Policy Review, 30, 1, 67-85. Lay, Jann, und Simone Schotte (2013), Lateinamerikas neue Mittelschicht: nachhaltiger Aufstieg?, GIGA Focus Lateinamerika, 8, online: . Nolte, Detlef, und Christina Stolte (2012), Brasilien: Aufstieg vom Schuldenstaat zur Wirtschaftsmacht, in: Josef Braml, Stefan Mair und Eberhard Sandschneider (Hrsg.), Außenpolitik in der Wirtschafts- und Finanz- krise, Jahrbuch Internationale Politik, 29, München: Oldenbourg, 104-113. Nolte, Detlef, und Christina Stolte (mit Renato Flores und Lucio Renno) (2012), Country Report Brazil, in: Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Governance Capacities in the BRICS: Sustainable Governance Indicators, Gütersloh: Bertelsmann Stiftung. Winters, Matthew S., and Rebecca Weitz-Shapiro (2014), Partisan Protesters and Nonpartisan Protests in Brazil, in: Journal of Politics in Latin America, 6, 1, 137-150, online: . Der GIGA Focus ist eine Open-Access-Publikation. Sie kann kostenfrei im Netz gelesen und heruntergeladen werden unter und darf gemäß den Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz Attribution-No Derivative Works 3.0 frei vervielfältigt, verbreitet und öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies umfasst insbesondere die korrekte Angabe der Erstveröffentli chung als GIGA Focus, keine Bearbeitung oder Kürzung. Das GIGA German Institute of Global and Area Studies – Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien in Hamburg gibt Focus-Reihen zu Afrika, Asien, Lateinamerika, Nahost und zu globalen Fragen heraus. Ausgewählte Texte werden in der GIGA Focus International Edition auf Englisch und Chinesisch veröffentlicht. Der GIGA Focus Lateinamerika wird vom GIGA Institut für Lateinamerika-Studien redaktionell gestaltet. Die vertretenen Auffassungen stellen die der Autoren und nicht unbedingt die des Instituts dar. Die Autoren sind für den Inhalt ihrer Beiträge ver- antwortlich. Irrtümer und Auslassungen bleiben vorbehalten. Das GIGA und die Autoren haften nicht für Richtigkeit und Vollständigkeit oder für Konsequenzen, die sich aus der Nutzung der bereitgestellten Informationen ergeben. Auf die Nennung der weiblichen Form von Personen und Funktionen wird ausschließlich aus Gründen der Lese- freundlichkeit verzichtet. Redaktion: Sabine Kurtenbach; Gesamtverantwortliche der Reihe: Hanspeter Mattes und Stephan Rosiny; Lektorat: Ellen Baumann; Kontakt: ; GIGA, Neuer Jungfernstieg 21, 20354 Hamburg www.giga-hamburg.de/giga-focus
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