Von Kirchner zu Kirchner: Argentinien nach den Wahlen
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Nummer 11 2007 4,- Euro ISSN 1862-3573 Von Kirchner zu Kirchner: Argentinien nach den Wahlen Klaus Bodemer Am 28. Oktober entschied eine klare Mehrheit der Argentinier, die Geschicke des Landes für die kommenden vier Jahre der bisherigen First Lady, Cristina Fernández de Kirchner, anzuvertrauen. Ihr eindeutiger Sieg im ersten Wahlgang war neben dem persönlichen Erfolg als Politikerin mit Profil auch eine Prämie für die insgesamt erfolgreiche Politik ihres Gatten Ernesto Kirchner. Dieser hat es während seiner Präsidentschaft geschafft, die argentinische Wirtschaft wieder auf Wachstumskurs zu bringen und durch einige mutige Entscheidungen, insbesondere in der Menschenrechts- und Verschuldungsfrage, der seit der schweren Systemkrise 2001/02 zutiefst verstörten und der Politik entfremdeten argen- tinische Gesellschaft wieder Vertrauen zu geben. Analyse Der erneute Wahlsieg der Peronisten ist zugleich eine herbe Quittung für das Versagen der nach wie vor fragmentierten Opposition. Sie hat es weder programmatisch noch per- sonell geschafft, eine überzeugende Alternative zu bieten. Die strukturellen Herausforde- rungen, mit denen sich die neue Regierung in der Innen- und Außenpolitik konfrontiert sieht, sind erheblich, die Versuchung groß, konstruktive Lösungen einmal mehr zu ver- tagen und statt dessen gemäß dem sogenannten K-System (K=Kirchner) konjunkturellen Entscheidungen den Vorzug zu geben, getroffen am Kabinett vorbei im Rahmen kleiner Machtzirkel und Ad-hoc-Allianzen. Die Vergangenheit – charakterisiert durch eine chronische Instabilität – lastet schwer im kollektiven Gedächtnis der Argentinier. Sie wird von vielen Beobachtern als die einzige Konstante der argentinischen Geschichte des 20. Jahrhunderts angesehen. Nach den traumatischen Ereignissen der Jahreswende 2001/02, war es den Präsi- denten Duhalde und Kirchner gelungen, den von vielen prognostizierten totalen Sys temkollaps zu vermeiden – was an ein Wunder grenzt – und die Wirtschaft wieder auf Wachstumskurs zu bringen. Mit der klaren Wahlentscheidung am 28. Oktober für Cristina Fernández de Kirchner setzten die Wähler in erster Linie auf Kontinuität – und ein neues Gesicht. Abzuwar- ten bleibt, ob die Präsidentin, gestützt auf eine Mehrheit in beiden Kammern, den Mut aufbringt, sich von dem autoritären und populistischen Politikstil ihres Vorgän- gers und Ehemanns zu verabschieden, neue inhaltliche Akzente in der Innen- und Außenpolitik zu setzen und insbesondere die immer wieder vertagten strukturellen Reformen der zweiten Generation in Angriff zu nehmen. Key Words: Argentinien, Systemkrise, Wahlen, Parteien, Präsidentialismus. www.giga-hamburg.de/giga-focus
1. Einleitung: Die einzige Konstante in der ar- zend Toten zur Folge hatte, musste de la Rúa gentinischen Geschichte ist die Instabilität schließlich am 20. Dezember per Hubschrau- ber aus dem Regierungssitz, der Casa Rosada, Chronische Instabilität ist das herausragende fliehen. Sein schmählicher Abgang war nur Merkmal der argentinischen Geschichte des 20. der letzte symbolträchtige Beweis dafür, dass Jahrhunderts. Häufige Änderungen der Regie- die Alianza-Regierung an der politischen und rungsformen, unregelmäßige Regierungswech- wirtschaftlichen Front gescheitert war. sel und Krisen innerhalb des jeweils dominie- • Eduardo Duhalde, vom argentinischen Kon- renden Machtkartells erschwerten trotz der gress am 1. Januar 2002 zum dritten Präsi- starken Machtkonzentration in der Exekutive denten in weniger als zwei Wochen gewählt, – Ausdruck eines Hyperpräsidentialismus – die gelang es nach den ersten sechs chaotischen Entwicklung und Umsetzung kohärenter Po- Monaten die Wirtschaft wieder auf Wachs- litiken. Diese Systemschwäche war auch nach tumskurs zu bringen und in vorgezogenen dem Rückzug der Militärs in die Kasernen (1983) Wahlen im April 2003 seinem Nachfolger und dem seitherigen turnusgemäßen Wechsel Nestór Kirchner, Ex-Gouverneur der Erdöl- demokratisch gewählter Zivilregierungen noch provinz Santa Cruz, ein Land zu hinterlassen, keineswegs überwunden: das wieder begann, Mut zu fassen. • Der erste aus freien Wahlen hervorgegangene Präsident, der Radikale Raúl Alfonsín, sah sich im Gefolge der eskalierenden politischen 2. Die Präsidentschaft des „Pinguin“ – schwache und wirtschaftlichen Krise gezwungen, sechs Legitimität, aber hohe Popularitätsrate Monate vor dem Ende seiner regulären Amts- zeit (Ende 1989), die Regierungsgeschäfte an Mit 22% der Stimmen verfügte der neue Präsi- seinen Nachfolger, den Rechts-Peronisten dent, wegen seiner Herkunft aus der südargen- Carlos Menem, zu übergeben. tinischen Provinz Santa Cruz el pinguino, der • Menem gelang es, durch die im Konvertibili- Pinguin, genannt, nur über eine schwache Le- tätsgesetz (1991) verfügte Dollar-Peso-Parität, gitimität. Ungeachtet dessen erreichte er aber eine konsequent verfolgte neoliberale Anpas- schon in kurzer Zeit eine hohe Popularität. Dies sungspolitik und die Unterstützung durch den hat vor allem mit einem ausgesprochen proak- Kongress die argentinische Wirtschaft wieder tiven Umgang mit einigen von Duhaldes Hin- auf Wachstumskurs zu bringen, was ihm eine terlassenschaften zu tun. Er packte entschlossen zweite Amtszeit einbrachte. Die negativen so- einige grundlegende Reformen an, um damit ei- zialen Folgen der rigiden Anpassungspolitik, nen klaren Bruch mit der Vergangenheit sichtbar die in seiner zweiten Amtszeit vollständig zu machen. So führte er eine grundlegende Mi- durchschlugen, und eine Serie chronischer litär- und Polizeireform durch, begann die Re- Korruptionsskandale führten jedoch 1999 gierungsagenturen von Korruption zu säubern, dazu, dass die Peronisten bei den Präsident- distanzierte sich selbst von den neoliberalen Po- schafts-, Gouverneurs- und Kongresswahlen litiken der 1990er Jahre, strapazierte jeden Nerv erstmals in der argentinischen Geschichte von und mobilisierte erhebliche Ressourcen, um einem Mitte-Links-Bündnis (Alianza) unter gegen Menschenrechtsverletzungen vorzuge- dem Radikalen Fernando de la Rúa geschla- hen. Außerdem versorgte er eine neue Genera- gen wurden. Unter seiner Regierung konnte tion von Peronisten mit Regierungsposten. Sei- die drohende Repräsentationskrise zwar zu- ne international umstrittenste Maßnahme und nächst abgewandt werden. Ende November zugleich der „größte Forderungsverzicht aller 2001 verweigerte der Internationale Wäh- Zeiten“ (Die Zeit, 18.1.2007) war im März 2005 rungsfonds (IWF) jedoch die Auszahlung einer die Umstrukturierung eines Großteils der pri- Kredittranche, worauf die Krise eskalierte. Die vaten Schulden, die auf eine Annullierung von zäh verteidigte Dollar-Peso-Parität entsprach 75% der Verpflichtungen hinauslief. schon längst nicht mehr den realen wirtschaft- Erstaunlicherweise bekam die argentinische lichen Gegebenheiten. Nach einer Welle von Wirtschaft keine negativen Folgen der Umschul- Plünderungen und Straßenprotesten, die eine dung zu spüren. Stattdessen reduzierte das brutale Polizeiaktion mit mehr als einem Dut- Land seinen Schuldendienst deutlich. Dank des GIGA Focus Lateinamerika 11/2007 --
internationalen Rohstoffbooms kam es zu hohen antreten zu können. Sollte dieser Fall eintreten, Exporteinnahmen und über hohe Exportsteu- hätten die Kirchners eine quasi dynastische Erb- ern zu erheblichen Zuflüssen in die Staatskasse. folge installiert – eine neue Pointe in der an Poin- Damit konnte sich die argentinische Regierung ten nicht armen argentinischen Geschichte. den „Luxus“ erlauben, die Gesamtschulden des Mit ihrem Wahlslogan „Der Wandel hat erst Landes an den IWF in Höhe von US$ 10 Mrd. auf begonnen“ stand Cristina ����������������������������� Kirchner������������ gleicherma- einen Schlag zurückzuzahlen und sich damit von ßen für Kontinuität wie neue Akzentsetzungen. dessen wirtschaftspolitischen Einmischungen zu Als langjährige Abgeordnete im Parlament der befreien. Erdölprovinz Santa Cruz, danach als Abgeord- In der Innenpolitik ist bis zum heutigen nete und Senatorin auf nationaler Ebene, konn- Zeitpunkt neben der Arbeitslosigkeit die rapide te die Kandidatin eine beachtliche politische verschlechterte öffentliche Sicherheit die größ- Karriere vorweisen, in deren Verlauf sie mehr te politische Herausforderung. Die politische und mehr ein eigenständiges politisches Profil Partizipation an der Basis, die in den ersten erwarb. Sie ist rhetorisch begabt, erwies sich in Monaten nach Ausbruch der Krise erheblich ihren Angriffen auf politische Gegner, zum Bei- angestiegen war, ging in der Folgezeit mit der spiel den Ex-Präsidenten Menem, als alles ande- wirtschaftlichen Erholung Schritt für Schritt zu- re als zimperlich und gilt als ehrgeizig. In ihrem rück. Die neuen Formen politischer Partizipati- Umgangsstil ist sie weniger erratisch als ihr zu on konnten bislang noch nicht durch etablierte Alleingängen und unkontrollierten Attacken Mechanismen der repräsentativen Demokratie neigender Ehemann. Um ihre auf der „Front transformiert und kanalisiert werden. Das Miss- für den Sieg“ (Frente por la Victoria, FPV) – dem trauen gegen das politische Establishment hält Kirchner-Flügel der Peronisten – gegründete bis heute an, wenngleich die Grundstimmung Wahlbasis zu verbreitern, strebt sie eine Vertie- in der Bevölkerung sich im Zuge der wirtschaft- fung der bereits von ihrem Gatten mit beacht- lichen Erholung erheblich verbessert hat. Die lichem Erfolg betriebenen Einbindung weiterer Wahlbeteiligung, die im Oktober 2001 ihren progressiver Kräfte (concertación plural) aus den Tiefpunkt hatte, erreichte beim Wahlmarathon Reihen der Radikalen Bürger-Union (UCR) und 2003 wiederum normale Werte. Im Jahr 2006 be- der Sozialistischen Partei (Partido Socialista) an. stimmten jedoch – einmal mehr – eine Reihe von Ihr Handicap ist, dass diese geschickt eingefä- Korruptionsskandalen in den Regierungsreihen delte Kooptationsstrategie im peronistischen die politische Debatte und kratzten am positiven Lager höchst umstritten und keineswegs mehr- Image der Regierung. heitsfähig ist. 3. Cristina Fernández de Kirchner – kein unbe- 4. Ein Wahlkampf ohne Höhepunkte schriebenes Blatt Nach allen Umfragewerten lag ��������������� Cristina Kirch- Nach Monaten der Unsicherheit über eine erneu- ner����������������������������������������� während der Wahlkampagne weit vor ihren te Kandidatur des bisherigen Präsidenten wurde Konkurrenten, Elisa Carrió von der „Bürger- schließlich im Juli 2007 seine Ehefrau, Cristina Koalition“ (Coalición Cívica) und dem Ex-Wirt- Fernández de Kirchner (im Volkmund Cristi- schaftsminister der Duhalde-Regierung, Roberto na genannt, im folgenden als Cristina Kirchner Lavagna, Kandidat der Wahlallianz Concertación zitiert), als Kandidatin der Regierungspartei para una Nación Avanzada (UNA). Der eindeu- lanciert. Mit ausschlaggebend für den Verzicht tige Vorsprung ������������������������������ Cristina Kirchners������������ brachte es ihres Ehegatten auf eine erneute Kandidatur – mit sich, dass der Wahlkampf ohne Höhepunkte trotz nach wie vor hohen Zustimmungsraten in verlief und in der Wählerschaft auf ein nur ge- der Bevölkerung – dürfte der Umstand gewesen ringes Interesse traf. Einem Fernsehduell mit sein, dass seine Regierung in den letzten Mona- ihren Konkurrenten hatte sich Cristina ������������������ Kirchner� ten durch eine Reihe von Korruptionsskandalen von Anfang an verweigert. Die Zeitung Página und drei verlorene Gouverneurswahlen ange- 12 charakterisierte so auch den Wahlkampf als schlagen war. Ergänzend kam das verfassungs- von “geringer politischer Stromstärke”. Auch konforme Kalkül hinzu, nach vier Jahren erneut die in früheren Wahlkampagnen üblichen Mas- GIGA Focus Lateinamerika 11/2007 --
senveranstaltungen blieben diesmal aus. Über- ernden Fragmentierungs- und Zerfallsprozess zeugende Antworten auf die nach einer Umfra- im anti-peronistischen Lager zu stoppen, ihre ge der Tageszeitung La Nación die Bürger am Politikangebote in eine gemeinsame Plattform meisten beschäftigenden Probleme – die schlei- zu kanalisieren und in der Person ihrer Präsi- chende Inflation (80%), die öffentliche Unsicher- dentschaftskandidaten glaubhaft zu verkörpern. heit (76,4%) und die nach wie vor endemische Die perfekt inszenierten und stets geschickt an Korruption (62%) – hatte keiner der Präsident- das jeweilige Auditorium angepassten Wahl- schaftsbewerber anzubieten. kampfauftritte der Präsidentengattin, die von Cristina Kirchner��������������������������� stellte ihre Wahlkampfauf- der Times als Latino-Hillary apostrophiert wurde, tritte unter das Motto „Ich möchte den Triumph sorgten dafür, dass die oppositionellen Kandi- aller Argentinier“. Emphatisch sprach sie sich in daten in den wenigen Wochen bis zur Wahlent- ihren zumeist improvisierten Reden immer wie- scheidung am 28. Oktober keinen Geländege- der für „ein politisches Projekt (aus), in dem sich winn verbuchen konnten. wieder jeder argentinische Bürger repräsentiert fühlt“. Inhaltlich setzte sie auf die Institutiona- lisierung des von ihrem Ehemann inaugurierten 5. Die Wahlresultate vom 28. Oktober – Entwicklungsmodells, das sich durch die Ver- Konsolidierung des kirchnerismo bindung von Wirtschaftswachstum und sozialer Entwicklung mittels eines Sozialpakts zwischen Die Wahlergebnisse des 28. Oktober brachten Unternehmern, Gewerkschaften und der Regie- erwartungsgemäß keine Überraschungen: In rung mit einer starken staatlichen Komponente den Präsidentschaftswahlen konnte sich Cristi- auszeichnete. Außerdem versprach sie einen das na Fernández de Kirchner mit 44,92% klar vor ganze Land erfassenden Infrastruktur-Plan, Maß- Elisa Carrió mit 22,95% und dem Drittplazierten, nahmen zur Stärkung des industriellen Sektors Ex-Wirtschaftminister Roberto Lavagna (16,88%) und umfassende Investitionen in den Bildungs- behaupten, der die Mehrheit der opponierenden und Gesundheitssektor. In einem rechtzeitig zur Radikalen Partei (UCR) hinter sich hatte. Mit Eröffnung ihrer Kandidatur erschienenen und nahezu fünf Prozentpunkten über der erforder- vom chilenischen Ex-Präsidenten Ricardo Lagos lichen Marge von 40% und einem Abstand zu mit einem engagierten Vorwort versehenen Sam- der Zweitplazierten von über 20% (erforderlich melband ihrer Reden unter dem Titel „Cristina, für einen Wahlsieg in der ersten Runde sind min- an Argentinien denkend“ (Cristina. Pensando en destens 10%) erübrigte sich nach den Vorgaben la Argentina) vermittelte sie das Bild einer volks- der Verfassung eine Stichwahl. ������������������ Cristina Kirchner� nahen, um das Wohl aller Argentinier besorgten hatte überzeugend und als erste Frau in der ar- Politikerin – ein scharfer Kontrast zu ihrem an die gentinischen Geschichte durch freie Wahlen die Schickeria des argentinischen Jetset erinnernden Präsidentschaft gewonnen. modischen Outfit. Mit ihrem Wahlslogan, ihren Auch in den parallel zu den Präsidentschafts- telegenen Auftritten und ihrem Versprechen von wahlen angesetzten Parlamentswahlen, in de- Kontinuität traf sie offensichtlich den Nerv der nen die Hälfte der Abgeordnetenkammer und Mehrheit der Argentinier. ein Drittel des Senats gewählt wurde, konnte Bei den Wahlkampfauftritten der Opposition der kirchneristische Parteiflügel der Peronisten, dominierten die Themen der zunehmend pre- die FPV, seine Mehrheit konsolidieren. Mit 140 kären öffentlichen Sicherheit, der Anstieg der In- Abgeordneten (bislang 111) übertraf er die für flation, die nach wie vor eklatante Einkommens- eine eigene Fraktion erforderliche Quote von diskrepanz, Korruption und Missmanagement 129 Sitzen um elf Sitze. Im Senat, in dem 24 von der öffentlichen Finanzen, die Aushebelung der insgesamt 72 Sitzen zur Wahl standen, erreichte Gewaltenteilung durch einen Hyperpräsidentia- die FPV nunmehr insgesamt 45 Sitze. Die UCR lismus sowie die unzureichende Respektierung gewann zwei, die Wahlallianz von Elisa Carrió der demokratischen Institutionen und Spielre- vier von den acht im Senat zur Wahl anstehen- geln. Damit besetzten die Oppositionskandi- den Sitzen. daten durchaus neuralgische Felder der argen- tinischen Innenpolitik. Dennoch gelang es ihnen nicht, den seit der Systemkrise 2001/02 andau- GIGA Focus Lateinamerika 11/2007 --
6. Neue (und alte) Herausforderungen 2. Zur Sicherung einer weiterhin positiven Wirtschaftsentwicklung – die Wachstumsrate In der Innen- wie der Außenpolitik steht die am bewegt sich seit der Trendwende 2003 zwischen 10. Dezember ihr Amt antretende neue Regie- 7 und 10% – sind die Eindämmung der Inflation rung vor erheblichen Herausforderungen. In- und die Ausweitung der Investitionstätigkeit nenpolitisch warten insbesondere sechs struk- wichtige Voraussetzungen. Erstere bewegt sich turelle Probleme auf konstruktive Lösungen: nach offiziellen Angaben um die 9%; unabhän- 1. Die seit Jahren ungelösten strukturellen gige Experten warfen der Regierung Kirchner Probleme bei der Energieversorgung, für die jedoch in der Vergangenheit wiederholt Mani- wirtschaftliche Konsolidierung des Landes (und pulationen der offiziellen Statistik vor und bezif- das Alltagsleben der Argentinier) von eminenter fern die reale Inflationsrate auf 16-20%. Eine ak- Bedeutung, harren nach wie vor einer über tive Anti-Inflationspolitik bedeutet jedoch, sollte konjunkturelles Krisenmanagement hinausge- die neue Präsidentin dazu den Mut aufbringen, henden Lösung. Im Öl- wie dem Gassektor be- Zurückhaltung bei Lohnerhöhungen und Re- steht, trotz theoretisch genügend vorhandener duzierung der öffentlichen Ausgaben – beides Ressourcen, eine wachsende Diskrepanz zwi- liefe grundlegenden Wahlversprechen entgegen schen Angebot und Nachfrage. Seit der Abwer- und dürfte auf den erbitterten Widerstand eines tung des Peso Anfang 2002 und der staatlichen Großteils der peronistischen Wählerbasis (und Deckelung der Abgabepreise bestand für die nicht nur dieser) stoßen. privaten Energieunternehmen kein Anreiz für 3. Anhängig ist auch ein überzeugendes, über Investitionen in die Ausweitung der Förder- konjunkturelle Palliativmaßnahmen hinausge- kapazität oder den Ausbau der Verteilernetze. hendes Konzept zur Bekämpfung der Armut Improvisierte, von der Regierung Kirchner ver- und der sich immer weiter öffnenden Einkom- schiedentlich verfügte Ad-hoc-Sanktionen gegen mensschere. Zwar konnte seit den Krisenjahren widerborstige Energieunternehmen trugen zum 1999-2002 die Zahl der unter der Armutsgrenze Verdruss bei den einschlägigen Konzernen viel, lebenden Menschen halbiert werden, was ein zur Lösung der Problematik jedoch nichts bei. beachtlicher Erfolg ist, noch immer sind jedoch Die nationalen Energiepreise liegen weit unter über ein Viertel der Bevölkerung von Armut dem Weltmarktpreis. Zur Deckung seines Be- betroffen. Diese dauerhaft zu lindern bedarf es darfs ist das Land in wachsendem Maße auf Öl-, über kurative Hilfsprogramme hinaus struktu- Gas- und Stromkäufe in Venezuela, Bolivien und reller Antworten, insbesondere in den Bereichen Brasilien angewiesen, was insbesondere im Fal- Arbeitsmarkt, Bildung und Gesundheit. Diese le der venezolanischen Lieferungen und Investi stehen nach wie vor aus. tionen im Energiesektor zu einer innen- und au- 4. Für die Konsolidierung der Demokratie ßenpolitisch höchst umstrittenen Abhängigkeit auf mittlere Sicht abträglich sind das spätestens von diesem unberechenbaren neuen Mercosur- seit dem Desaster der Alianza-Regierung hoch- Mitglied geführt hat. Um die nationalen Betrei- gradig fragmentierte Parteiensystem und die ber zu Neuinvestitionen zu animieren, wird die Machkonzentration in der Exekutive. Die sich Regierung mittelfristig nicht umhin kommen, in personalistischen Grabenkämpfen verschlei- eine Anpassung der Energiepreise nach oben zu ßenden nicht-peronistischen Parteien sind ohne gestatten und dies einer zunehmend verärgerten substantielles politisches Gewicht, klare Alter- Wählerschaft als wirtschaftspolitische Notwen- nativprogramme und überzeugende Führungs- digkeit zu verkaufen. figuren. De facto besteht seit der vernichtenden In ihren ersten, sehr moderat gehaltenen, öf- Niederlage des Radikalismus (d.h. der UCR) in fentlichen Erklärungen nach dem Wahlsieg be- den April-Wahlen 2003 in Argentinien eine Ein- zeichnete die gekürte Präsidentin die Vertiefung parteien-Regierung der Peronisten, korrekter: der Industrialisierung sowie die Beibehaltung eines Flügels der Peronisten, der FPV unter des Doppelüberschusses in den Bereichen Au- Kirchner, ergänzt um einige kooptierte Kräf- ßenhandel und öffentlicher Haushalt als vorran- te aus dem Mitte-Links-Lager. Die Autonomie gige Aufgaben. Bleibt abzuwarten, ob darüber des Obersten Gerichtshofs wurde zwar gestärkt, hinaus die genannten strukturellen Herausfor- aber das Machtungleichgewicht zwischen den derungen angegangen werden. drei Gewalten blieb erhalten – zugunsten der GIGA Focus Lateinamerika 11/2007 --
Exekutive. Die bereits unter der Präsidentschaft men abstellenden Verhaltens zwischen Gewerk- Menems praktizierte Regierung per Dekret wur- schaften, Unternehmerverbänden und Staat an- de auch unter Kirchner zur üblichen Praxis. Of- hält und ob sich die Forderungen der wirtschaft- fen ist, ob ������������������������������������ Cristina Kirchner������������������� dieser Versuchung lich und sozial Ausgeschlossenen radikalisieren widersteht. Angesichts der klaren Mehrheiten oder durch die Parteien in konkrete Politikop in beiden Kammern, dürfte ihr dieser Verzicht tionen kanalisiert werden können. Angesprochen eigentlich leicht fallen. Autoritäre Tendenzen sind hier insbesondere die Peronisten. Sicher ist, wurden unter der Präsidentschaft ihres Ehe- dass die Verarmung großer Teile der Mittelklas- manns weiter gestärkt durch den sogenannten se und der massive brain drain der letzten Jahre K-Effekt, den autokratischen Führungsstil des das Potenzial des Landes an Reformenergie und Präsidenten und seine Strategie, sich bei seinen möglichen change agents erheblich hat schrump- politischen Entscheidungen am Kabinett vorbei fen lassen. Nur 36% der Argentinier waren 2006 auf bilaterale Ad-hoc-Allianzen und einen klei- überzeugt, dass ihr Land in die richtige Richtung nen Zirkel von Vertrauten zu stützen. Ungelöst geht. Mit diesem Prozentsatz liegt das Land am ist Ende der lateinamerikanischen Skala. 5. auch das Problem der wachsenden orga- Außenpolitisch drängen sich zwei Problem- nisierten und nicht-organisierten Kriminalität felder in den Vordergrund: Zum einen geht es und der öffentlichen Unsicherheit, insbesonde- darum, einen Ausgleich zu finden zwischen re im Großraum Buenos Aires, wo an die 40% den Beziehungen zu den USA, die seit dem Kol- der Bevölkerung wohnt. Die Privatisierung der laps 2001/02 durch Distanz gekennzeichnet wa- Sicherheit in Gestalt inflationär anwachsen- ren und zu Venezuela, dessen Präsident Húgo der und praktisch unkontrollierter Sicherheits- Chávez der Kirchner-Regierung, dem engsten dienste hat einen der genuinen staatlichen Auf- Verbündeten im Cono Sur, in den letzten Jah- gabenbereiche – die Herstellung von Sicherheit ren Milliarden-Beträge in Form von Krediten, für seine Bürger – in den letzten Jahren in unver- Schenkungen, Streichung von Schulden, Kauf tretbarer Weise ausgehöhlt. Zudem bereitet die von Staats-Papieren und Investitionen im Roh- wachsende Verbindung der organisierten Krimi- stoffsektor zur Verfügung gestellt und damit Ar- nalität mit dem Drogengeschäft den lokalen und gentinien in eine prekäre Abhängigkeit gebracht nationalen Regierungsinstitutionen zunehmend hat. Zweite Priorität kommt der Regulierung der Kopfzerbrechen. Kontinuität ist zu erwarten in noch immer im Ausland befindlichen Schulden den Bereichen Menschenrechtspolitik, der Be- gegenüber dem Pariser Club in Höhe von rund vorzugung des internen Konsums, dem Niedrig- US$ 6 Mrd. zu. Eine konstruktive Lösung in die- halten des Wechselkurses zur Ankurbelung der ser Frage ist eine Voraussetzung für den Zugang Exporte und Reduzierung der Importe. Proble- zu den internationalen Kreditmärkten. matisch ist schließlich 6. das nahezu ausschließlich ressourcenba- sierte Wachstumsmodell. Keineswegs ausge- 7. Ausblick: Auf dem Weg zu einer dynastischen macht ist, ob die durch günstige Weltmarktbe- Erbfolge? dingungen, einen schwachen US-Dollar, den Rohstoffhunger Chinas und Indiens sowie eine Durch den Wahlentscheid vom 28. Oktober er- massive Subventionspolitik und Exportförde- fährt der Kirchnerismus zunächst einmal eine rung alimentierte wirtschaftliche Erholung der Fortsetzung. Für einen erheblichen Grad an letzten Jahre nicht lediglich eine Scheinblüte ist. Kontinuität spricht auch der Umstand, dass Kritische Stimmen weisen in diesem Zusammen- Cristina Kirchner����������������������������� inzwischen angekündigt hat, hang mit guten Argumenten darauf hin, dass das acht der 13 Minister aus dem Kabinett ihres durch den globalen Nachfrageboom ausgelöste Vorgängers zu übernehmen. Ob ergänzend zur rohstoffbasierte Wachstum der argentinischen weiteren wirtschaftlichen und politischen Kon- Wirtschaft über kurz oder lang im Kontext ei- solidierung des bereits unter Präsident Duhalde ner primär wissensbasierten Weltwirtschaft in eingeleiteten und von Ernesto Kirchner vertief- eine Sackgasse führen muss. Offen ist auch, ob ten Kurses neue innen- und außenpolitische Ak- die Tendenz in Richtung eines pragmatischen, zente gesetzt werden, bleibt abzuwarten. Einige auf neo-korporatistische Vermittlungsmechanis- GIGA Focus Lateinamerika 11/2007 --
vorsichtige Vermutungen sind diesbezüglich je- dem Ehepaar Kirchner in den folgenden Jahren doch schon jetzt erlaubt: gelingen wird, den Boden für eine erneute Kan- Schon bald nach dem 10. Dezember, dem Tag didatur Ernesto Kirchners bei den nächsten Prä- des Regierungsantritts, spätestens jedoch nach sidentschaftswahlen (2011) zu bereiten, sodass der Sommerpause und dem Zusammentritt des auf die „Königin“ (la reina) – so der Titel einer teilerneuerten Parlaments im kommenden März von ������������������������������������������� Cristina Kirchner�������������������������� abgesegneten Biographie, dürfte die Präsidentin an ihre Wahlversprechen – wieder der „König“ (el rey) folgt. erinnert werden. Dazu gehört zum einen, auf Die argentinische Hochglanz-Presse wird die nach wie vor virulente „soziale Frage“ kon- uns rechtzeitig darüber informieren, ob die „fast struktive Antworten zu finden. Dazu gehört zum monarchische Erbregelung aus dem Schlafzim- anderen, die politischen Institutionen zu stär- mer“ (so Peter Burghardt in der Süddeutschen ken, die Gewaltenteilung zu respektieren, den Zeitung, 22.10.2007) eine Fortsetzung erfahren Rechtsstaat und die politischen Parteien zu stär- wird. ken, kurz: all jenen demokratischen Instanzen ihre verstärkte Aufmerksamkeit zu schenken, die unter den Vorgänger-Regierungen einen dra- Literatur: matischen Verfall erlebt haben. Angesichts der Bodemer, Klaus �������������������������������������������� (2003, 2005, 2007): Länderartikel „Ar- Erfahrungen vergangener Jahrzehnte, der popu- gentinien“, in: Bertelsmann Transformation Index: listischen Auftritte ����������������������������� Cristina Kirchners����������� und ihres . mitunter autoritären Umgangsstils ist jedoch Bodemer, �������������������������������������� Klaus (2006): �������������������������������� Vom Kollaps zur Konsoli- Skepsis angebracht, dass sich an dem argenti- dierung? – Eine Zwischenbilanz der Regierung nischen Hyperpräsidentialismus und der Nei- Kirchner, in: Argentinien in der Krise. Veröffent- gung der Amtsinhaber, vorrangig über Dekrete lichung des Interdisziplinären Arbeitskreises La- zu regieren, substantiell etwas ändern wird. teinamerika, Mainz, S. 34-58. Was sich noch am wahrscheinlichsten ändern Stoll, Alfred ������������������������������������������� (2007): Argentinien vor den Wahlen: dürfte, ist der politische Stil in der Innen- und „Der Wandel hat erst begonnen“, Kurzberichte Außenpolitik. Zu erwarten ist ein weniger „au- aus der internationalen Entwicklungszusammen- tistischer“ Regierungsstil, mehr Kollegialre- arbeit, Oktober. Bonn: Friedrich Ebert-Stiftung. gierung und ein moderaterer Umgang mit den Diverse deutsche und internationale Pressearti- verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren. Ob kel (GIGA Institut für Lateinamerika-Studien, damit jedoch dem sogenannten K-Stil, d.h. dem IberoDigital: ). gischer Allianzen und winziger Zirkel, eine Ab- sage erteilt wird, ist durchaus offen. Kritiker, die das Ehepaar Kirchner kennen, bezweifeln dies. In der Außenpolitik – einem Interessen- schwerpunkt der First Lady – ist ein neuer Ak- tivismus und ein insgesamt konzilianterer Um- gang mit den Partnern zu erwarten. Auch die bereits unter Ernesto Kirchner privilegierten Beziehungen zu den Partnern des Mercosur und hier insbesondere Brasilien dürften beibehal- ten werden. Interessant wird sein, ob der durch den Bau einer Papierfabrik am Oberlauf des Río Uruguay ausgelöste und seit Jahren schwelende Konflikt mit dem Nachbarn Uruguay – er trägt inzwischen Züge einer Kabarettnummer und eskalierte auf dem Iberoamerikanischen Gip- fel in Santiago de Chile erneut – endlich einer vertraglichen Lösung zugeführt wird. Politisch noch spannender und darüber hinaus demokra- tietheoretisch von Bedeutung wird sein, ob es GIGA Focus Lateinamerika 11/2007 --
Der Autor Prof. Dr. Klaus Bodemer, Politikwissenschaftler, war von 1996-2006 Direktor des Instituts für Ibero amerika-Kunde, seitdem Senior Fellow am GIGA Institut für Lateinamerika-Studien. E-mail: bodemer@giga-hamburg.de Gegenwärtige Forschung im GIGA zum Thema Im Forschungsschwerpunkt 1, Analysefeld 1: „Institutionalisierung und Leistungen politischer Ak- teure“ erforscht Dr. Mariana Llanos im Projekt „The President, the Senate and Judicial Nominations in Democratic Argentina (1983-2007)“ Richterernennungen im demokratischen Argentinien. Konkret wird hier die Rolle der Wahlinstitutionen – Präsident und Senat – und des Beirats der Richterschaft (Consejo de la Magistratura) bei diesen Ernennungen untersucht. Auch wie der Beirat seine Aufgabe wahrnimmt sowie die Veränderungen seit seiner Schaffung im Jahr 2000 werden beleuchtet. GIGA-Publikationen zum Thema Bodemer, Klaus (2006): Argentinien: Vom Kollaps zur Konsolidierung? – Eine Zwischenbilanz der Re- gierung Kirchner, in: Argentinien in der Krise. Veröffentlichung des Interdisziplinären Arbeitskreises Lateinamerika. Mainz, S. 34-58. Llanos, Mariana/ Figueroa Schibber, Constanza (2007): Prestando acuerdo: El Senado frente a los nom- bramientos del Poder Judicial en la Argentina democrática (1983-2006), GIGA Working Paper Nr. 54. Hamburg. Llanos, Mariana/ Lemos, Leany (2007): ������������������������������������������������������������ „����������������������������������������������������������� O Senado e as aprovações de autoridades: um estudo compara- tivo entre Argentina e Brasil����������������������������������������������������������������������������� “���������������������������������������������������������������������������� , in: Revista Brasileira de Ciências Sociais (RBCS), Nr. 64, 22. Jg., Juni, S. 115-138. Llanos, Mariana (2007): „������������������������������������������������������������������������������ ������������������������������������������������������������������������������� Reforma parlamentaria en América Latina. Un comentario sobre el control parla- mentario del poder ejecutivo�������������������������������������������������������������������������� “������������������������������������������������������������������������� , in: Bodemer, Klaus/ Carillo, Fernando (eds.): Gobernabilidad y Reforma Política en América Latina. La Paz: Edición Plural. Llanos, Mariana/ Margheritis, Ana (2006): ������������������������������������������������������������ „����������������������������������������������������������� Why Do Presidents Fail? Political Leadership and the Argen- tine Crisis (1999-2001)������������������������������������������������������������������� “������������������������������������������������������������������ , in: Studies in Comparative International Development, 40 (März). Wolff, Jonas (2007): „Argentinien – mit links aus der Krise? Zur Verortung der Regierung Kirchner im lateinamerikanischen ‚Linksruck‘“, in: Lateinamerika Analysen 17, S. 101-117. Das GIGA German Institute of Global and Area Studies – Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien in Hamburg gibt Focus-Reihen zu Afrika, Asien, Lateinamerika, Nahost sowie zu Globalen Fragen heraus, die jeweils monatlich erscheinen. Der GIGA Focus Lateinamerika wird vom Institut für Lateinamerika- Studien redaktionell gestaltet. Die vertretene Auffassung stellt die des/der jeweiligen Autors/Autorin und nicht unbedingt die des Instituts dar. Download unter www.giga-hamburg.de/giga-focus. Redaktion: Sebastian Huhn; Gesamtverantwortlicher der Reihe: Andreas Mehler Lektorat: Julia Kramer; Kontakt: giga-focus@giga-hamburg.de; GIGA, Neuer Jungfernstieg 21, 20354 Hamburg www.giga-hamburg.de/giga-focus
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