Wahlen in Brasilien: von Lula da Silva zu Dilma Rousseff
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Nummer 11 2010 ISSN 1862-3573 Wahlen in Brasilien: von Lula da Silva zu Dilma Rousseff Daniel Flemes und Anne Marie Hoffmann Dilma Rousseff, die Präsidentschaftskandidatin der regierenden Arbeiterpartei PT, wurde am 31. Oktober 2010 mit 56 Prozent der Stimmen in einer Stichwahl gegen José Serra zur neuen Präsidentin Brasiliens gewählt. Anläßlich des ersten Wahlgangs am 3. Oktober hatten auch Gouverneurs- und Parlamentswahlen stattgefunden. Analyse Im ersten Wahlgang hatte Dilma Rousseff die absolute Mehrheit verfehlt. Hinter ihr landeten José Serra von der sozialdemokratischen PSDB sowie, überraschend stark, Marina Silva, die Kandidatin der Grünen Partei. Bei den Kongresswahlen errang die Re- gierungskoalition in beiden Kammern die absolute Mehrheit. In den 26 Bundesstaaten und dem Bundesdistrikt wird die Mehrzahl der Gouverneure hingegen weiterhin vom PSDB und den konservativen Demokraten (PMDB) gestellt. Entscheidend für den Wahlsieg Dilma Rousseffs war die vorbehaltlose Unterstützung ihres politischen Ziehvaters, Präsident Luiz Inácio „Lula“ da Silva. Als Ministerin im Präsidial- amt galt sie darüber hinaus als Architektin seiner erfolgreichen Politik. Ob Rousseff, die in große Fußstapfen tritt, nur eine Übergangslösung nach russischem Vor- bild ist, muss abgewartet werden. Ausschließen mochte da Silva, der weiterhin über eine im- mense Popularität verfügt, eine dritte Amtszeit jedenfalls nicht. Inhaltlich wurde vor allem auf dem Feld der Sozial- und Wirtschaftspolitik gestritten. Das klare Votum für Rousseff ist ein Mandat für die Fortsetzung der Umverteilungspolitik zur Eindämmung der sozioökonomischen Gerechtigkeitslücke. Erstmals wurden in Brasilien auch die Zukunftsthemen Umwelt- und Energiepolitik Gegen- stand des Wahlkampfs. Mit ihrem Zugpferd Marina Silva ist die Grüne Partei zu einer sub- stanziellen Größe in der politischen Landschaft gereift. Außenpolitisch ist unter Rousseff ein Höchstmaß an Kontinuität zu erwarten: Zentrales Ziel bleibt ein ständiger Sitz im UN-Sicherheitsrat. Die Spielfelder der Diplomatie, Unasur, IBSA, BRIC und G20, bleiben multilateral und unverbindlich. Schlagwörter: Brasilien, Präsidenschafts- und Kongresswahlen, Dilma Rousseff, Wahlkampf, politische Agenda. www.giga-hamburg.de/giga-focus
Wahlergebnisse Der 62-jährigen Dilma Rousseff gelang es, die Stammwähler der Arbeiterpartei zu mobilisieren, Die Präsidentschaftskandidatin der regierenden obwohl sie erst vor wenigen Jahren in die PT ein- Arbeiterpartei Partido dos Trabalhadores (PT), getreten war. Im armen und wenig entwickelten Dilma Rousseff, führte die Umfragen bereits seit Nordosten, der Heimat von Lula da Silva, lag sie Monaten an. Die studierte Wirtschaftswissen- mit 68 Prozent um 12 Prozentpunkte besser als schaftlerin profitierte einerseits von der Popula- im Bundesdurchschnitt. Im wohlhabenden Süden rität ihres Amtsvorgängers, punktete andererseits entschieden sich hingegen nur rund 48 Prozent mit der glaubwürdigen Ankündigung, dessen po- der Wahlberechtigten für Rousseff. Die Aussicht litisches Programm fortzusetzen. Der als nüch- auf die erste Frau im brasilianischen Präsidialamt terne Technokratin geltenden Ex-Guerillera war rief bei den Brasilianerinnen keine besondere Un- es außerdem gelungen, ein Wahlbündnis aus zehn terstützung für die Kandidatin hervor. Anders als Parteien mit dem Leitmotiv „Para o Brasil Seguir allgemein angenommen, erhielt Rousseff deutlich Mudando“ (Für die Fortsetzung des Wandels in weniger weibliche als männliche Stimmen. Dafür Brasilien) hinter sich zu vereinen. schnitt die Regierungskandidatin bei den Jung- Ihr aussichtsreichster Konkurrent, José Serra wählern (bis 24 Jahre) besser ab als José Serra. von der Partido da Social Democracia Brasileira Die Kandidatin der PV, Marina Silva, wurde vor- (PSDB), warb mit dem Wahlkampfslogan „O Bra- wiegend von Bürgern aus der städtischen Mittel- sil Pode Mais“ (Brasilien kann mehr). Damit ap- schicht mit hohem Bildungsniveau gewählt. Wäh- pellierte er stärker an die Leistungsbereitschaft der rend Rousseff bei Akademikern weniger punkte- Brasilianer, unterschied sich in seiner inhaltlichen te, konnte sie bei Geringverdienern und Transfer- Stoßrichtung aber wenig von der Regierungspar- leistungsempfängern erwartungsgemäß von den tei. Überraschend war der Erfolg Marina Silvas Sozialprogrammen der PT-Regierung profitieren. von der aufstrebenden Grünen Partei Partido Ver- Das Wählerprofil zeigt, dass ein Großteil der de (PV), die erstmals und ohne eigenes Wahlbünd- PT-Klientel auf die Fortsetzung der Umvertei- nis antrat. Die als unbestechlich anerkannte Rene- lungspolitik hofft. Das Wahlergebnis ist ein Vo- gatin der Arbeiterpartei war immerhin für knapp tum für das von der Arbeiterpartei propagierte, 20 Millionen der 136 Millionen wahlberechtigten nachfrageorientierte Entwicklungsmodell. Brasili- Brasilianer eine glaubwürdige Alternative zu den ens neue Präsidentin hat das demokratische Man- Kandidaten der etablierten Parteien. dat, die nach wie vor große Ungleichheit in der brasilianischen Gesellschaft weiter zu verringern. Um die wohlfahrtsstaatliche Politik ohne Ab- Tabelle 1: Ergebnis der Präsidentschaftswahlen striche fortzuführen, ist jedoch auch eine Mehr- heit im Parlament notwendig. Kandidaten Partei / Koalition 1. 2. Wahl- Wahl- In der letzten Legislaturperiode hatte Präsi- gang gang dent da Silva nur eine fragile Parlamentsmehrheit Dilma Rousseff Para o Brasil Seguir 46,91% 56,05% Mudando und damit häufig Schwierigkeiten, zustimmungs- (PT / PRB / PDT / pflichtige Gesetze durch Abgeordnetenkammer PMDB / PTN / PSC / PR / PTC / PSB / PC do B) und Senat zu bringen. Das von Rousseff gegrün- José Serra O Brasil Pode Mais 32,61% 43,95% dete Wahlbündnis zielte nicht zuletzt auf eine sta- (PSDB / PTB / PPS / DEM / PMN / PT do B) bile Mehrheit in der Legislative. Dieses Ziel wurde Marina Silva Partido Verde (PV) 19,33% - mit dem vorliegenden Wahlergebnis erreicht: Die Plínio de Arruda Partido Socialismo e 0,87% - PT ist mit 88 bzw. 14 Sitzen die stärkste Fraktion in Sampaio Liberdade (PSOL) 0,09% - der Abgeordnetenkammer und die zweitstärkste Rui Costa Partido da Causa Pimenta Operária (PCO) im Senat. Das Parteienbündnis „Para o Brasil Se- José Levy 0,08% - Partido Renovador guir Mudando“ verfügt mit insgesamt 311 Sitzen Fidelix Trabalhista Brasileiro (PRTB) im Unterhaus und 50 Sitzen im Senat über die ab- José Maria de Partido Socialista dos 0,06% - solute Mehrheit in beiden Parlamentskammern. Almeida Trabalhadores Unificado (PSTU) José Maria Partido Social Democrata 0,04% - Eymael Cristão (PSDC) Ivan Pinheiro Partido Comunista 0,01% - Martins Brasileiro (PCB) GIGA Focus Lateinamerika 11/2010 --
Tabelle 2: Sitzverteilung im Parlament Es ist jedoch davon auszugehen, dass sich die Zu- sammensetzung der Regierungskoalition bis zur Parteien Abgeordneten- Senat kammer Amtsübergabe Anfang 2011 noch verändern wird. Para o Brasil Seguir Mudando Sitze Sitze* Denn Parteidisziplin und Parteitreue sind in Bra- Partido dos Trabalhadores (PT) 88 14 (2+12) silien traditionell wenig ausgeprägt. Um die for- Partido do Movimento 79 21 (3+18) Democrático Brasileiro (PMDB) mal zum Wahlbündnis zählenden Abgeordneten Partido Republicano Brasileiro 8 1 auf Dauer einzubinden, wird Rousseff bei der Pos (PRB) tenvergabe so viele Parteien wie möglich berück- Partido Democrático 28 4 (2+2) Trabalhista (PDT) sichtigen müssen. Partido Trabalhista Nacional 0 Auch die personalisierte Verhältniswahl zur (PTN) brasilianischen Abgeordnetenkammer ist in der Partido Social Cristão (PSC) 17 1 Partido da República (PR) 41 4 (1+3) Praxis eine Abstimmung über individuelle Kandi- Partido Trabalhista Cristão 1 daten, deren Parteizugehörigkeit im Wahlkampf (PTC) regelmäßig in den Hintergrund tritt. Die Bildung Partido Socialista Brasileiro 34 3 (1+2) der Regierungskoalition im Kongress ist seit jeher (PSB) ein komplizierter Aushandlungsprozess. Die Man- Partido Comunista do Brasil 15 2 (1+1) (PCdoB) datsträger werden vor ihrer Einwilligung die Inte- Insgesamt 311 50 ressen ihrer Parteien inklusive der Verpflichtungen Prozent 60,63% 61,73% gegenüber den Finanziers ihrer Wahlkämpfe, der O Brasil Pode Mais Wahlversprechen an die Wähler und nicht selten Partido da Social Democracia 53 10 (6+4) Brasileira (PSDB) auch der persönlichen Vorteile abwägen. Democratas (DEM) 43 6 (5+1) Einen wichtigen Fortschritt bei der Herstellung Partido Trabalhista Brasileiro 21 6 (5+1) von mehr Stabilität und Fraktionstreue erwirkt ei- (PTB) 12 1 ne Entscheidung des Obersten Wahlgerichts (TSE) Partido Popular Socialista (PPS) von 2008. Erstmals müssen Abgeordnete, die nach Partido da Mobilização 4 1 der Wahl zu einer anderen Partei wechseln, ihren Nacional (PMN) Partido Trabalhista do Brasil 3 Sitz in der Kammer an die Partei zurückgeben, für (PTdoB) die sie gewählt wurden. Insgesamt 136 24 Eine besondere Rolle als Unterstützer der PT Prozent 26,52% 29,63% spielt die Partei Partido do Movimento Democrá- Ohne Wahlbündnis Partido Verde (PV) 15 tico Brasileiro (PMDB). Als größte Partei Brasiliens Partido Socialismo e 3 2 und traditioneller Mehrheitsbeschaffer für Präsi- Liberdade (PSOL) dentschaftskandidaten jedweder politischer Cou- Partido Renovador Trabalhista 2 Brasileiro (PRTB) leur stellt die Partei nicht nur den Vizepräsidenten, Partido Humanista da 2 Michel Temer, sondern beansprucht auch mehrere Solidariedade (PHS) Ministerposten. Auch der PMDB behält sich jedoch Partido Republicano 2 Progressista (PRP) grundsätzlich vor, unterschiedliche Parteien auf Partido Social Liberal (PSL) 1 Bundes- und Bundesstaatenebene zu unterstützen, Partido Progressista (PP) 41 5 (1+4) so dass der neu gewählten Präsidentin auch die 79 Insgesamt 66 7 Prozent 12,67% 8,64% PMDB-Mandate bisher keinesfalls sicher sind. Insgesamt 513 81(27+54) Entscheidend kann auch die Einbindung der Grünen Partei (PV) von Marina Silva sowie die der progressiven Partei PP sein, die mit 15 bzw. 41 * Im Senat wurden lediglich zwei Drittel (54) der Sitze Sitzen die stärksten unabhängigen Fraktionen in neu vergeben. der Abgeordnetenkammer sind. GIGA Focus Lateinamerika 11/2010 --
Wahlkampf: Der Faktor Lula u.a. mit dem Plano Real zur Herstellung von mehr Währungs- und Wirtschaftsstabilität. Die Oppositionskandidaten traten nicht allein ge- Marina Silva (PV) spielte zwar nur eine Außen- gen die Regierungskandidatin Dilma Rousseff an, seiterrolle, jedoch war es nicht zuletzt der Ach- sondern vor allem gegen das politische Denkmal tungserfolg der bekennenden Evangelikalen, der Lula da Silva. Die Zustimmungswerte für den in- einen zweiten Wahlgang erzwang. Die ehemalige zwischen von breiten Bevölkerungsschichten zum Umweltministerin war aus der Regierung Lula brasilianischen Übervater verklärten da Silva lie- da Silvas ausgeschieden, weil Umwelt- und Kli- gen am Ende seiner Amtszeit bei sagenhaften 80 mafragen in der Arbeiterpartei seinerzeit nicht Prozent. Die Financial Times verglich den ehema- ernst genug genommen wurden. Inzwischen hat ligen Gewerkschafter kürzlich bereits mit Nelson die PT jedoch dazu gelernt und ihr umwelt- und Mandela. Selbst konnte da Silva nicht mehr kan- klimapolitisches Profil geschärft. Während Dil- didieren, da ihm die Verfassung eine dritte konse- ma Rousseff vor der Stichwahl viele Künstler und kutive Amtszeit verwehrt. Intellektuelle als Unterstützer gewinnen konnte, Während die neu gewählte Präsidentin ledig- hatte José Serra die brasilianischen Evangelika- lich die Fortsetzung der erfolgreichen Sozial- und len umworben. Diese machen mittlerweile unge- Wirtschaftspolitik ankündigen musste, wäre sub- fähr ein Viertel der Wählerschaft aus und konnten stanzielle Kritik an der von da Silva verantwor- den Wahlsieg der PT-Kandidatin laut Meinungs- teten Regierungspolitik als Majestätsbeleidigung umfragen kurzzeitig ernsthaft gefährden. Rous- aufgefasst worden. Als Ministerin im Präsidial- seff änderte erst vor der Stichwahl und entgegen amt war Rousseff untrennbar mit der politischen ihrem Wahlprogramm als Zugeständnis an die- Agenda ihres politischen Ziehvaters verbunden. se Wählergruppe ihre Haltung zur Abtreibungs- Der im Wahlkampf allzeit präsente Lula da Sil- frage. Genau wie Serra sprach sie sich gegen die va versäumte es zudem nicht, die tragende Rolle Aufhebung des Abtreibungsverbots aus. Auch 63 Rousseffs innerhalb seiner Administration farben- der 513 Kongressabgeordneten werden von poli- reich auszumalen. Auch eine dritte Amtszeit nach tischen Beobachtern zu einem informellen Evan- einem Intermezzo seiner „Kronprinzessin“ nach gelikalennetzwerk gezählt. russischem Vorbild schloss da Silva nicht aus. Die Hauptrolle im Wahlkampf spielten aller Dem als politisch sehr erfahrenen, aber im Ver- dings weder religiös-moralische Fragen noch die gleich mit dem Tandem der Arbeiterpartei etwas politische Auseinandersetzung um die drängenden, spröde wirkenden José Serra (PSDB) blieben in der strukturellen Probleme des Landes. Während die so- stark personalisierten Auseinandersetzung kaum zioökonomischen Verwerfungen inklusive der Bil- strategische Optionen, um sich als klare Alternati- dungs- und Gesundheitsmisere noch öffentlich dis- ve zu profilieren. Unter Präsident Fernando Hen- kutiert wurden, kamen die überfälligen Strukturre- rique Cardoso (1995-2002) hatte er als Planungs- formen (Renten-, Steuer-, Verwaltungs-, Föderalis- und Gesundheitsminister fungiert. Im Wahlkampf mus-, Land-, Justiz- und Polizeireform) nur am Ran- kritisierte er zuvorderst die Versäumnisse der Re- de vor. gierung in den Bereichen Gesundheit und öffent- Stattdessen versuchte insbesondere Serras Op liche Sicherheit. positionsbündnis die Regierungskandidatin durch Serra war zuletzt Gouverneur des Bundes- Negativkampagnen zu diskreditieren. Ob Dilma staates São Paulo gewesen. Seine positive Bi- Rousseff tatsächlich staatliche Institutionen ge- lanz in der Finanz- und Industriemetropole hat- nutzt hat, um an Informationen über Angehöri- te sein Profil als Wirtschaftsfachmann geschärft. ge ihres Mitbewerbers Serra zu gelangen, konnte Dennoch kam er nicht umhin, der Wirtschafts- ebenso wenig geklärt werden wie die Frage nach und Sozialpolitik der Regierung da Silva und da- der Verwendung öffentlicher Gelder für Wahl- mit auch seiner Rivalin Anerkennung zu zollen. kampfzwecke. Zu den politisch motivierten An- Es blieb ihm einzig darauf zu verweisen, dass der schuldigungen seitens der Opposition gehörte da- Grundstein für diese Politik bereits von dem So- gegen die Behauptung, die PT unterhalte Verbin- zialdemokraten F.H. Cardoso gelegt worden war, dungen zu der tief in den illegalen internationa- GIGA Focus Lateinamerika 11/2010 --
len Drogenhandel verstrickten kolumbianischen bindung von wirtschaftlichem Wachstum und so- FARC-Guerilla. zialer Gerechtigkeit stilisiert. Die brasilianischen Wähler sind von ihrer po- Das auf den Prinzipien der sozialen Marktwirt- litischen Elite jedoch einiges gewohnt und ließen schaft basierende Entwicklungsmodell war die sich durch derlei Kleinigkeiten offenbar nicht be- entscheidende konzeptionelle Grundlage für den eindrucken. Schließlich wurde Präsident da Silva erneuten Wahlerfolg der PT-Regierung. Mit den 2006 trotz eines politischen Korruptionsskandals Umverteilungsprogrammen Fome Zero und Bolsa größten Ausmaßes wiedergewählt. Zwar wer- Família konnte das Hungerleiden in Brasilien na- den Veruntreuung öffentlicher Mittel, Amtsmiss- hezu vollständig eingedämmt werden; 24 Millio brauch, Vetternwirtschaft und Korruption in wei- nen Menschen entkamen der absoluten Armut, ten Teilen der brasilianischen Öffentlichkeit ob ih- womit ein Millenniumsentwicklungsziel vorzeitig rer Häufigkeit als Teil der politischen Normalität erreicht wurde. des Landes wahrgenommen, doch war es die kri- Die auch aufgrund des kontinuierlich erhöhten tische Zivilgesellschaft, die mittels einer Bürgeri- Mindestlohns gestiegene Binnennachfrage führte nitiative das Gesetz Ficha Limpa (Weiße Weste) auf schließlich nicht nur zu einem Wachstumsschub, den Weg brachte. Damit wurde bei dieser Wahl sondern zusammen mit den hohen Rohstoffprei- erstmals verhindert, dass eine Reihe vorbestraf- sen auf dem Weltmarkt auch zu relativer Immuni- ter Politiker zur Wahl antrat. Weil das Gesetz auch tät der brasilianischen Volkswirtschaft gegen die rückwirkend gilt und bis Januar 2011 noch eine Folgen der internationalen Finanzkrise. Allein im Reihe „Westen“ auf ihre Sauberkeit hin überprüft Krisenjahr 2009 wurden 1,7 Mio. (während beider werden müssen, sind die Ergebnisse der Kon- Amtszeiten 14 Mio.) neue Arbeitsplätze geschaf- gresswahlen als vorläufig zu betrachten. fen. Heute gehört die Hälfte der Brasilianer zur unteren Mittelschicht, vor der ersten PT-Regie- rung war es nur ein gutes Drittel. Wahlentscheidend: Sozial- und Wirtschaftspolitik Dem Sozialdemokraten José Serra fiel es sicht- lich schwer, einen Gegenentwurf zum sozialde- Soweit im Wahlkampf inhaltlich diskutiert wur- mokratischen Programm der Arbeiterpartei vor- de, etwa während der Fernsehdebatten zwischen zulegen. Dem ausgewiesenen Ökonomen, der sich den Kandidaten, standen vor allem die sozio im Wahlkampf als „Präsident der Produktion“ in- ökonomisch en Politikfelder im Zentrum der Aus- szenieren ließ, gelang es nicht, eine klare wirt- einandersetzungen: Soziales, Bildung, Gesund- schaftspolitische Linie zu kommunizieren. Einer- heit, Infrastruktur, Wirtschaft und Finanzen. Die seits wollte er am Wirtschaftskurs der Regierung neue Präsidentin war während der letzten Legis- festhalten und nur kleinere Missstände beheben. laturperiode für die Umsetzung des 2007 auf den Andererseits versprach er gleichzeitig Steuersen- Weg gebrachten Wachstumsbeschleunigungspro- kungen, eine Rückführung der Staatsverschuldung gramms (Programa de Aceleração do Crescimento und eine Fortsetzung der öffentlichen Investitions- (PAC) verantwortlich gewesen. programme. Damit nicht genug kündigte er für PAC ist ein auf Wachstum zielendes, umfas- den Fall seiner Wahl auch noch die Anhebung des sendes Infrastrukturprogramm, das den Energie- Mindestlohns von 510 auf 600 Reais (von 220 auf sektor, den sozialen Wohnungsbau, Wasser- und 260 Euro) an. Wie all dies finanziert werden sollte? Abwasserversorgung sowie umfangreiche Stra- Selbstverständlich mit Steuereinnahmen aus dem ßenbauprojekte miteinschließt. Als Ziel des vor- zu erwartenden Wirtschaftswachstum. Diese Rech- wiegend aus öffentlicher Hand finanzierten Pro- nung trug Serra bei einer Fernsehdebatte den iro- gramms wurde ein jährliches Wachstum des Brut- nischen Beinamen „der Magier“ ein. toinlandsprodukts (BIP) von 5 Prozent ab 2008 Auch im Bildungsbereich hatte Serra der po- ausgegeben. Das diesjährige Wirtschaftswachs- sitiven Regierungsbilanz keine echte Alternative tum von 7 Prozent wurde von den Wahlkampf- entgegenzusetzen. Durch das staatliche Bildungs- strategen der PT folglich direkt mit dem PAC in entwicklungsprogramm Plano de Desenvolvi- Verbindung gebracht und zum Sinnbild der Ver- mento da Educação (PDE) gehen inzwischen 97 GIGA Focus Lateinamerika 11/2010 --
Prozent der schulpflichtigen Kinder zur Schule – Indigenen den Widerstand Marina Silvas auf den Transferzahlungen im Rahmen von Bolsa Família Plan gerufen. Für den Bau eines der mit elf Gi- haben u.a. den Schulbesuch der Kinder zur Bedin- gawatt weltweit leistungsstärksten Wasserkraft- gung. Etwa 750.000 Studenten erhielten Univer- werke muss der Xingu, ein Seitenfluss des Ama- sitätsstipendien (ProUni); es wurden während da zonas, gestaut werden. Silvas Präsidentschaft 16 neue Universitäten ge- Die brasilianische Elektrizitätswirtschaft ist zu gründet und die Anzahl der technischen Schulen 90 Prozent von Wasserkraftwerken abhängig. Da- konnte verdoppelt werden. Rousseff kündigte an, rüber hinaus sieht ein bereits 2006 aufgelegter En- den Kurs in der Bildungspolitik fortzusetzen und ergieplan die stärkere Nutzung fossiler Brenn- die starke Rolle des Staates auch auf andere ge- stoffe sowie den Ausbau von Sonnen-, Wind- und sellschaftliche Problemfelder wie Wohnungsbau insbesondere der Atomenergie vor. Dilma Rous- und Gesundheit zu übertragen. Sie versprach den seff, die im Kabinett da Silvas von 2003 bis 2005 Bau von zwei Mio. Sozialwohnungen. Die chro- auch als Energie- und Bergbauministerin fungier- nisch unterfinanzierte öffentliche Gesundheitsfür- te, warb im Wahlkampf für den Plan, Brasilien sorge Sistema Único de Saúde (SUS) soll durch ei- mittelfristig zum Energieexporteur zu machen. ne gesetzliche Investitionsverpflichtung der Kom- Die Notwendigkeit auf erneuerbare Energie- munen verbessert werden. träger zu setzen, deren Anteil in Brasilien bereits knapp 50 Prozent ausmacht, war zwischen den Präsidentschaftskandidaten unstrittig. Gleiches Zukunftsthemen: Energie- und Umweltpolitik gilt für die Ausbeutung der Erdölreserven vor der brasilianischen Küste, dank derer Brasilien die Die Kandidatin der Grünen Marina Silva setzte Aufnahme in die OPEC winkt. Umwelt- und Klimapolitik erstmals auf die Wahl- Kritisch gegenüber stand Marina Silva der kampfagenda. Schon als Umweltministerin der weitgehenden Umstellung der nationalen Indus- Regierung Lula da Silvas war sie sehr populär. Ihr trie auf Ethanol und Biotreibstoffe, weil damit Hauptanliegen ist es, den oftmals nur scheinbaren Umweltschäden einhergehen (etwa die Rodung Gegensatz zwischen Umweltschutz und Wirt- des Regenwaldes zur Gewinnung von Agrarland schaftswachstum zu überwinden. Bereits nach der für den Zuckerrohranbau). Zudem sprach sie sich Wiederwahl da Silvas 2006 gab es Überlegungen, gegen die Ausweitung der Atomenergie aus, aller- Marina Silva als Umweltministerin abzulösen, dings ohne damit beim Großteil der Bevölkerung weil sie sich immer wieder gegen Infrastruktur- auf besonderes Interesse zu stoßen. projekte (im Amazonasgebiet) stemmte. Im Ergebnis steht unter Dilma Rousseff der ex- Ihrer Popularität tat es keinen Abbruch, dass tensive Ausbau der brasilianischen Atomindus sie ihr Amt 2008 wegen der Inkompatibilität ih- trie zu erwarten. Nach den Atommeilern Angra I rer Vorstellungen mit dem Regierungsprogramm und II ist derzeit mit Angra III das dritte AKW im niederlegte. Im Gegenteil, schon kurze Zeit später Bundesstaat Rio de Janeiro im Bau. Bis 2030 sol- folgte ihr Wechsel in die Grüne Partei (PV) und die len vier weitere Reaktoren gebaut werden, je zwei Ankündigung ihrer Präsidentschaftskandidatur. im Nordosten und Südosten Brasiliens. Konkrete Obwohl die PV mittlerweile 30 Jahre alt ist, steht Pläne für die Lagerung des Atommülls gibt es bis- sie politisch, ebenso wie die sozialen Bewegungen her nicht. im Bereich des Umwelt- und Klimaschutzes, noch In der Klimapolitik gelang es der PT-Regierung ganz am Anfang ihrer Entwicklung. der grünen Opposition durch eine Kehrtwende Gerade das Spannungsfeld zwischen Ener- das Wasser abzugraben. Peu à peu verabschie- gie- und Umweltpolitik spielte im Wahlkampf ei- dete sich die Administration Lula da Silvas vom ne wichtige Rolle. Die Opposition kritisierte u.a. Prinzip der „gemeinsamen aber differenzierten einige Großprojekte, die im Rahmen des energie- Verantwortung“ in den globalen Klimaverhand- politischen Infrastrukturprogramms geplant sind. lungen (gemeint ist damit eine historische Verant- So hat etwa das geplante Wasserkraftwerk Belo wortung der Industrieländer für den Klimawan- Monte aufgrund seiner ökologischen Folgen und del). Als weltweit viertgrößter Emittent verpflich- der bevorstehenden Umsiedlung von etwa 20.000 tete sich Brasilien bei der Klimakonferenz in Ko- GIGA Focus Lateinamerika 11/2010 --
penhagen freiwillig, seine Emissionen bis 2020 um Partnern der brasilianischen Außenpolitik in Nord- mindestens 36 Prozent zu verringern. Gleichzei- amerika und Europa angedeutet hatte. tig forderte Präsident da Silva medienwirksam, Zweitens wurde Rousseff nicht müde, die zen- dass nun die Industrieländer am Zuge seien, ih- trale Bedeutung der Regionalbündnisse Mercosur ren Beitrag zu leisten. Mit diesem Vorstoß war der und Unasur zu betonen, die in alle (Freihandels-) erste Schritt zur Profilierung Brasiliens als Vorrei- Verhandlungen mit extra-regionalen Akteuren, ter beim globalen Klimaschutz getan. etwa der EU, mit eingebunden werden müssten. Ein von Dilma Rousseff 2008 vorgelegter Klima- Serra konnte sich dagegen auch stärker bilateral plan sieht u.a. vor, die zur Hälfte für die brasiliani- geprägte Beziehungen zu den globalen Machtzen- schen Emissionen verantwortlichen Entwaldungs- tren vorstellen, freilich ohne die kooperativen Re- raten bis 2017 um 70 Prozent zu reduzieren. Der gionalbeziehungen aufs Spiel setzen zu wollen. Klimaplan, dessen Umsetzung schneller begonnen Und drittens zeichneten sich beim künftigen hat als erwartet, ist die Grundlage für die Positio- Verhältnis Brasiliens zu populistisch und autori- nierung des Amazonasstaates als Klimamacht in tär regierten Staaten gegensätzliche Positionen ab. der internationalen Politik. José Serras Kritik zielte auch auf die guten Bezie- hungen da Silvas zu seinen Amtskollegen in Vene- zuela, Hugo Chávez, und Bolivien, Evo Morales. Außenpolitische Perspektiven Einig waren sich die Oppositionskandidaten in ih- rer Kritik an den „freundschaftlichen Beziehungen“ Neben der Umwelt- und Klimapolitik war auch (Serra) zwischen Lula da Silva und dem iranischen die Außenpolitik erstmals ein prominentes Thema Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad. Sowohl im brasilianischen Präsidentschaftswahlkampf. José Serra als auch Marina Silva betonten im TV- Das hängt einerseits mit dem rasanten wirtschaft- Duell zwischen den Präsidentschaftskandidaten, lichen und politischen Aufstieg des Landes zu- dass sie einen Diktator, der die Menschenrechte sammen. Andererseits haben sich Präsident da Sil- missachte, nicht empfangen hätten. Dilma Rousseff va und sein Außenminister Celso Amorim (PT) als entgegnete staatsmännisch, dass es in der Weltpo- begnadete Kommunikatoren erwiesen, die inter- litik nicht um persönliche Beziehungen zwischen nationale Fragen immer wieder in die öffentliche Staatsoberhäuptern ginge, sondern um eine Au- Debatte einzuspeisen verstanden. So lobte selbst ßenpolitik des Dialoges und der guten Zusam- die als konservativ geltende Tageszeitung O Esta- menarbeit. Exklusion sei dagegen kontraproduk- do de São Paulo, die auf der Zielgeraden des Wahl- tiv in der Diplomatie. kampfes klar auf der Seite José Serras Stellung be- Brasiliens Verhandlungspartner im Kreis der zog: Außenpolitik werde seit Lula nicht mehr aus- G20 und anderswo werden sich auch in Zukunft schließlich von elitären Zirkeln hinter den ver- auf eine professionell aufgestellte und selbstbe- schlossenen Türen des Außenministeriums Ita- wusst vorgetragene Außenpolitik einzustellen ha- maraty gemacht, sondern im Kongress und in den ben. Die aufstrebende Wirtschafts- und Klima- Medien demokratisch diskutiert. macht wird weiterhin in flexiblen und unverbind- Wie in der Klimapolitik ist von der künftigen lichen Koalitionen (IBSA, G4, BASIC) danach stre- Präsidentin Dilma Rousseff auch auf anderen ben, ihre nationalen Interessen soweit wie mög- Feldern der Außenpolitik ein hohes Maß an Kon- lich durchzusetzen. Das übergeordnete Ziel bleibt tinuität zu erwarten. Drei Kontroversen zwischen der Aufstieg zur Großmacht; dessen institutio- Rousseff und den Oppositionskandidaten ver- nelle Ausprägung bis auf Weiteres ein ständiger deutlichen die Fortführung der außenpolitischen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ist. Agenda von da Silva und Amorim: Erstens verweist Rousseff in ihrem Wahlpro- gramm explizit auf die Intensivierung der Süd-Süd- Beziehungen (IBSA, BRIC, Afrikapolitik), während Serra eine Rückorientierung zu den traditionellen GIGA Focus Lateinamerika 11/2010 --
Die Autoren Dr. Daniel Flemes ist Schumpeter-Fellow der Volkswagen Stiftung am GIGA und koordiniert die Brasilien- forschung am GIGA Institut für Lateinamerika-Studien. E-Mail: , Website: Anne Marie Hoffmann war Praktikantin am GIGA Institut für Lateinamerika-Studien. Sie studiert im Master- studiengang Transition Studies an der Justus-Liebig Universität in Giessen. E-Mail: GIGA- Forschung zum Thema Unter bietet das GIGA schnellen Zugriff auf seine Forschungsthemen und Expertise zu Brasilien. Zahlreiche Publikationen des Instituts können im Volltext kostenlos herun- tergeladen werden. GIGA-Publikationen zum Thema Flemes, Daniel (2009), Brazilian Foreign Policy in the Changing World Order, in: South African Journal of International Affairs, 16, 2, 161-182. Flemes, Daniel (2008), Brasiliens neue Verteidigungspolitik: Vormachtsicherung durch Aufrüstung, GIGA Focus Lateinamerika, 12, online: . Flemes, Daniel (2007), Brasilien – Regionalmacht mit globalen Ambitionen, GIGA Focus Lateinamerika, 6, online: . Llanos, Mariana und Francisco Sánchez (2006), Councils of Elders? The Senates and Its Members in the Southern Cone, in: Latin American Research Review, 41, 1, 133-52. Montero, Alfred P. (2010), No Country for Leftists? Clientelist Continuity and the 2006 Vote in the Brazi- lian Northeast, in: Journal of Politics in Latin America, 2, 2, 113-153, online: . Nolte, Detlef und Christina Stolte (2007), Machtressource Bioenergie: Eine neue strategische Partnerschaft zwi- schen Brasilien und den USA, GIGA Focus Lateinamerika, 3, online: . Stadler, Julia (2008), Informelle Institutionen jenseits normativer Forschung: Rückschlüsse aus dem institu- tionellen Design des brasilianischen Wahlprozesses, in: Lateinamerika Analysen, 20, 2, 3-22. Der GIGA Focus ist eine Open-Access-Publikation. Sie kann kostenfrei im Netz gelesen und heruntergeladen werden unter und darf gemäß den Be dingungen der Creative-Commons-Lizenz Attribution-No Derivative Works 3.0 frei vervielfältigt, verbreitet und öffentlich zu gänglich gemacht werden. Dies umfasst insbesondere: korrekte Angabe der Erstveröffentli chung als GIGA Focus, keine Bearbeitung oder Kürzung. Das GIGA German Institute of Global and Area Studies – Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien in Hamburg gibt Focus-Reihen zu Afrika, Asien, Lateinamerika, Nahost und zu globalen Fragen heraus, die jeweils monatlich erscheinen. Ausgewählte Texte werden in der GIGA Focus International Edition auf Englisch veröffentlicht. Der GIGA Focus Lateinamerika wird vom GIGA Institut für Lateinamerika-Studien redaktionell gestaltet. Die vertre tenen Auffassungen stellen die der Autoren und nicht unbedingt die des Instituts dar. Die Autoren sind für den Inhalt ihrer Beiträge verantwortlich. Irrtümer und Auslassungen bleiben vorbehalten. Das GIGA und die Autoren haften nicht für Richtigkeit und Vollständigkeit oder für Konsequenzen, die sich aus der Nutzung der bereitgestellten In formationen ergeben. Auf die Nennung der weiblichen Form von Personen und Funktionen wird ausschließlich aus Gründen der Lesefreundlichkeit verzichtet. Redaktion: Michael Radseck; Gesamtverantwortliche der Reihe: André Bank und Hanspeter Mattes Lektorat: Julia Kramer; Kontakt: ; GIGA, Neuer Jungfernstieg 21, 20354 Hamburg www.giga-hamburg.de/giga-focus
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