QUO VADIS, TU FELIX AUSTRIA? - Hanns-Seidel-Stiftung
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ANALYSEN /// Wahlanalyse der Nationalratswahlen QUO VADIS, TU FELIX AUSTRIA? THOMAS M. KLOTZ /// Sebastian Kurz gilt als der Hoffnungsträger der Konservativen in Österreich und weit darüber hinaus. Vor den Nationalratswahlen schaffte es der 31-Jährige, die Österreichische Volkspartei (ÖVP) zu modernisieren und auf sich zu personalisieren. Als Wahlsieger und neuer Bundeskanzler wird er sich nun daran messen lassen müssen, wie er mit der rechtspopulistischen Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) zusammenarbeitet und geplante Reformen umsetzt. Die Ausgangssituation: Und täglich ÖVP und SPÖ konnten in den ver- grüßt die GroKo gangenen Jahrzehnten auf eine große Mit der Nationalratswahl 2017 geht ein Organisationsdichte und großen Ein- lange gehegter Wunsch vieler Österrei- fluss auf die Besetzung von Leitungs- cher in Erfüllung: Die „Große Koaliti- funktionen in Ämtern blicken. Dies on“ (GroKo) zwischen ÖVP und SPÖ alles geschah mit großem Zuspruch der (Sozialdemokratische Partei Österreichs) Bevölkerung, lag aber auch an der für ist zu Ende. Seit Gründung der Zweiten lange Zeit in der Öffentlichkeit als rechts- Republik hatten vor allem diese beiden extrem wahrgenommenen FPÖ, die für Parteien einen großen Einfluss auf Poli- viele Wähler keine Alternative darstell- tik und Gesellschaft. Insgesamt über 40 te. Dennoch koalierten sowohl die SPÖ Jahre lang regierte seit 1949 ein Bünd- (von 1983 bis 1987) als auch die ÖVP nis aus Christ- und Sozialdemokraten, (von 2000 bis 2007, ab 2005 mit Jörg zuletzt unter Bundeskanzler Christian Haiders BZÖ) mit der FPÖ. Die Öster- Kern (SPÖ). reicher ordnen diese, aus heutiger Sicht der Politikwissenschaft gemeinhin als rechtspopulistisch einzuordnende Par- tei, dem deutschnationalen Dritten Lager zu.1 Andere Parteien wie beispielsweise Über 40 JAHRE lag die Regierungs die Grünen und die liberalen NEOS er- verantwortung gemeinsam bei den reichten nie genügend Stimmen, um in Christ- und Sozialdemokraten. Regierungsverantwortung zu kommen. Die schwarz-blaue bzw. schwarz- orange Koalition unter Wolfgang Schüs- sel von 2000 bis 2007 hatte beide Lager 56 POLITISCHE STUDIEN // 477/2018
Quelle: HELMUT FOHRINGER/AFP/Getty Images Geht’s sich aus für Österreich? Kann der „Wunderwuzzi“ Kurz (l.) auf Dauer mit dem R echtspopulisten Strache? Wählerstimmen gekostet. 1999 fuhr die maligen Grünen-Parteichef Alexander FPÖ unter Haider mit 26,9 % ebenso Van der Bellen. Dieses Wahlergebnis viele Stimmen ein wie die ÖVP. 2002 machte deutlich: Die Österreicher wa- wählten schließlich 42,3 % der Öster- ren sowohl der konservativen als auch reicher „schwarz“ und nur mehr 10 % der sozialdemokratischen politischen „blau“. Daraufhin verloren die Konserva- Elite überdrüssig. Der SPÖ-Kandidat tiven zunehmend an Zuspruch, die FPÖ Rudolf Hundstorfer und der ÖVP-Kan- hingegen konnte, nachdem Heinz-Chris- didat Andreas Khol erhielten im ersten tian „HC“ Strache 2005 Bundespartei- Wahlgang jeweils nur etwa 11 %. Damit obmann wurde, wieder Wähler für sich erreichten sie gerade einmal die Plätze gewinnen. So sind es nun nicht mehr nur vier und fünf. Lediglich der schillern- zwei Parteien, die den Nationalrat domi- de 84-jährige Bauunternehmer Richard nieren, sondern neben SPÖ und ÖVP „Mörtel“ Lugner schnitt noch schlech- auch die FPÖ. ter ab. Ein weiteres Beispiel für die Etablie- Die Zeichen für die Nationalratswahl rung der „Freiheitlichen“ konnte man standen also nicht gerade günstig für die 2016 bei den Wahlen zum Bundesprä- beiden „großen“ Parteien. SPÖ-Kanzler sidenten mitverfolgen. Hier unterlag Christian Kern, der ohne Nationalrats- schließlich der FPÖ-Kandidat Norbert mandat auf Werner Faymann folgte, Hofer nur um wenige Prozentpunkte vermochte trotz seines medial gewand- dem als unabhängig angetretenen ehe- ten Auftretens die Österreicher nicht so POLITISCHE STUDIEN // 477/2018 57
ANALYSEN zu überzeugen, wie man es sich in der Befugnisse des Bundesparteiobmanns. SPÖ-Zentrale wünschte. Schließlich Dieser entscheidet nun alleine über die war auch er ein „Kind des Systems“. Er Zusammenstellung der Wahllisten, hat war Vorstandsmitglied der Verbund AG, freie Hand bei Koalitionsverhandlungen einem staatlichen Elektrizitätsversor und gibt die inhaltliche Ausrichtung der gungsunternehmen, und Chef der Öster Partei vor.2 Genau diese Ausrichtung der reichischen Bundesbahn (ÖBB). ÖVP auf den 31 Jahre alten Hoffnungs- träger war immer wieder Angriffspunkt der anderen Parteien. Dabei fiel auf, dass die FPÖ in diesem Wahlkampf für eine rechtspopulistische Partei relativ zurück- Die Bundespräsidentenwahl 2016 haltend agierte. Sie musste auch gar kei- machte schon eine WÄHLERABKEHR nen schmutzigen Wahlkampf machen – von den beiden „großen“ Parteien das übernahm nämlich die SPÖ. deutlich. Der israelische Wahlkampfberater der Sozialdemokraten, Tal Silberstein, hat eine Dirty-Campaining-Affäre zu verantworten, die dem Ansehen der Partei geschadet hat. Silbersteins Initia- tive zielte darauf ab, mit Hilfe von zwei Personalisierte Schlamm Facebookseiten potenzielle ÖVP-Wäh- schlachten – der Wahlkampf ler abzuschrecken. Auf der Seite „Die In der ÖVP kam es einige Monate vor Wahrheit über Sebastian Kurz“ wurde den Nationalratswahlen zu einem auf- dem ÖVP-Mann vorgeworfen, zu wenig sehenerregenden Führungswechsel. Der für die Sicherheit und gegen unkontrol- ehemalige ÖVP-Bundesparteiobmann lierte Zuwanderung zu unternehmen; und Vizekanzler Reinhold „Django“ auf der Seite „Wir für Sebastian Kurz“ Mitterlehner legte Mitte Mai sämtliche hingegen offenbarten sich vermeintliche Ämter nieder. Sebastian Kurz wurde Unterstützer mit teils rechtsextremen Pa- designierter Nachfolger als Parteichef, rolen. Somit sollten sowohl gemäßigtere lehnte aber die Vizekanzlerschaft ab. Im als auch rechtskonservative Wähler von Juli wurde schließlich der Außen- und einer Stimmabgabe für die ÖVP abgehal- Integrationsminister, der wegen seines ten werden. Nach wachsender öffentli- jungen Alters und seines politischen Ta- cher Kritik bezeichnete Bundeskanzler lents als „Wunderwuzzi“ betitelt wurde, Kern, Spitzenkandidat der SPÖ, das En- mit knapp 99 % der ÖVP-Delegierten gagement Silbersteins als „Fehler“ und zum Bundesparteiobmann gewählt. Zu- versprach „volle Aufklärung“.3 Unterdes- vor hatte er allerdings einige Bedingun- sen wird vermutet, dass das Wahlkampf- gen an seine Partei gestellt. team von Kurz einen „Maulwurf“ in das So wurde Kurz fortan selbst zum Dirty-Campaining-Team von Silberstein Programm. Es folgten eine Namensän- eingeschleust hatte.4 Eine umfassende derung („Liste Sebastian Kurz – die Aufklärung der Affäre steht aus. neue Volkspartei“), eine Farbverände- Ausgelöst durch die starken Persona- rung vom gewohnten Schwarz zu einem lisierungen der Parteien auf Kern, Kurz hellen Türkis und eine Erweiterung der und Strache, kombiniert mit den von ih- 58 POLITISCHE STUDIEN // 477/2018
SPÖ: „Plan a für Austria“ Das gesamte Programm der Sozialdemo- Der Wahlkampf zur Nationalrats- kraten umfasste 213 Seiten, die Kurz- wahl 2017 verlief personalisiert version 26. Darin werden klassische so- und SCHMUTZIG. zialdemokratische Themen wie Arbeit, Soziales und Steuergerechtigkeit in den Vordergrund gerückt. In den sieben Koalitionsbedingungen hieß es unter anderem, dass es einen steuerbefreiten Mindestlohn von monatlich 1.500 Euro nen inszenierten Schlammschlachten in geben solle. Erst jede weitere Einnahme den sozialen Medien, traten die jeweiligen solle versteuert werden müssen. Gleich- Wahlprogramme währenddessen in den zeitig wollte die SPÖ 200.000 neue Ar- Hintergrund, wenn auch in den TV-Duel- beitsplätze bis 2020 durch verschiedene len mehr über Inhalte gesprochen wurde Maßnahmen, etwa durch Förderungen als erwartet. Ein Blick in die teils sehr um- von Forschung und Mobilisierung von fangreichen Programme lohnte allemal. Investitionen, schaffen. Auch in die Bil- dung sollte mehr investiert werden, hieß Die Wahlprogramme es. So sollten 5.000 zusätzliche Lehrer an Allen Wahlprogrammen gemein war, „Schulen mit besonders großen Heraus- dass die Parteien eine Veränderung in forderungen“ angestellt werden. Ebenso Österreich herbeiführen wollten. Dabei wollte die SPÖ mittels mehr finanzieller liegt die Alpenrepublik im internationa- Ausstattung mindestens drei österreichi- len Vergleich der lebenswertesten Länder sche Universitäten unter die TOP 100 der auf Platz 10 – drei Plätze vor Deutsch- besten Hochschulen weltweit bringen. land.5 Wien wurde zum achten Mal zur Das zweite große Thema, Immigra lebenswertesten Stadt der Welt gekürt.6 tion, spielte im „Plan a“8 eine geringe Rol- Allerdings gilt es auch zu erwähnen, dass le. Knapp beschrieb die SPÖ „7 Schritte, die wirtschaftliche Performance im inter- um die Migration in den Griff zu bekom- nationalen Vergleich rückläufig ist. Das men“. Dabei sahen die Sozialdemokraten Institute for Management Development unter anderem eine EU-weite, einheit- der Wirtschaftshochschule Lausanne in liche Neuregelung des Asylsystems als der Schweiz sieht Österreich in vielen notwendig an. Daneben sollte es einen Bereichen wie etwa Steuereinnahmen, Marshall-Plan für Afrika, aber auch ver- Organisation der Verwaltung, Sozialbei- stärkte Rückführungen geben. träge und Investitionen in die Telekom- munikation auf den letzten Plätzen der 63 verglichenen Länder.7 Somit spielte also nicht nur das Thema Immigrati- on, das ÖVP und FPÖ präsent anspra- Im Wahlprogramm der SPÖ spielte chen, sondern auch die wirtschaftliche das Thema IMMIGRATION nur eine Entwicklung eine gewichtige Rolle im geringe Rolle. Wahlkampf. Das konnte man auch in den Wahlprogrammen der Parteien nach- vollziehen. POLITISCHE STUDIEN // 477/2018 59
ANALYSEN FPÖ: „Österreicher verdienen obmanns eine mit 281 Seiten äußerst Fairness“ umfangreiche Agenda entworfen, die Letzterem würden wohl auch die „Frei- sich in drei Teile gliedert: Neue Ge- heitlichen“ nicht widersprechen. Aller- rechtigkeit und Verantwortung, Auf- dings sahen sie in ihrem Wahlprogramm bruch und Wohlstand, Ordnung und „Österreicher verdienen Fairness“ drasti- Sicherheit. schere Maßnahmen angeraten. Unter der In „Der neue Weg“11 wurde gefor- Überschrift „Unsere Grenzen sichern – dert, Österreich solle wieder zurück an Österreich ist kein Einwanderungsland“ die Spitze gelangen. Hierfür wurden vie- hieß es: „Einer ungehinderten und maß- le Themen aufgegriffen, die sich auch im losen Zuwanderung, wie sie in den letz- FPÖ-Programm fanden, sprich: Stopp ten Jahren geschehen ist, muss ein Riegel der illegalen Zuwanderung, Integra vorgeschoben werden. Wenn die Euro- tion, ein Kurswechsel der EU, aber auch päische Union ihre Außengrenzen nicht die Kompetenzverteilung in der über schützen kann oder will, hat Österreich besetzten österreichischen Staatsbüro- mit unbefristeten Grenzkontrollen selbst kratie und mehr direkte Demokratie. für seine Sicherheit zu sorgen.“9 Außerdem wollte die Volkspartei die Mit insgesamt 100 Forderungen war- Lohnnebenkosten senken und sprach tete die FPÖ in ihrem Wahlprogramm sich gegen eine Erbschafts- und Vermö- auf. Dabei drehten sich viele um die genssteuer aus. Fragen nach Einwanderung, Integrati- on und Islam. Aber, wie es für rechts- populistische Parteien üblich ist, boten die „Blauen“ einen „Gemischtwaren laden“10 an verschiedenen Themen an. Das Wahlprogramm der ÖVP So sprachen sie darüber hinaus Themen wurde als „Der neue Weg“ wie Pensionen, bezahlbaren Wohnraum Österreichs zurück an die SPITZE und Umweltschutz an. Immerwährender gestaltet. Angriffspunkt war die Große Koalition. So plakatierte die FPÖ ein Tandemfahr- rad, auf dem vorne ein drahtiger, energie- geladener Radfahrer sitzt und von einem schwarz und rot gekleideten, dicklichen Mann gebremst wird. Darüber heißt es: In seiner Schlussbemerkung schrieb „Der rot-schwarze Speck muss weg“. Kurz: „Wir müssen Österreich in vielen Dingen neu ordnen. Das betrifft Zuwan- ÖVP: „Der neue Weg. Für Öster- derungspolitik genauso wie längst fälli- reich.“ ge Reformen im österreichischen Staats Aufsehen erregte das Wahlprogramm wesen. Wir müssen den Bürgerinnen und der ÖVP nicht zuletzt deswegen, weil es Bürgern mehr Selbstbestimmung und erst wenige Wochen vor der National- Mitbestimmung ermöglichen. Und wir ratswahl ausformuliert wurde. Mehr in brauchen klare Regeln, an die sich alle Gestalt einer Bewegung denn einer Par- halten. Nur so kann es zu neuer Gerech- tei wurde aus zahlreichen „Österreich tigkeit, Wohlstand und Sicherheit für uns Gesprächen“ des neuen Bundespartei- alle kommen.“12 60 POLITISCHE STUDIEN // 477/2018
NEOS: „Mutig. Innovativ. Freiheits- Kampf gegen den politischen Islam ein. liebend.“ Die Spitzenkandidatin für Wien, Stepha- Als radikal liberal könnte man das Wahl- nie Cox, ist hingegen seit langem in der programm der NEOS13 beschreiben. Sie Start-Up-Szene bekannt und setzte sich wollten die bisherige Parteiendemokratie für die Themen Bildung und Förderung umkrempeln und plädierten für mehr von Unternehmensgründungen ein. direkte, digitale und offene Demokratie. Selbstverständlich wurde auch das The- Freiheit wollen die NEOS dabei nicht nur ma Umwelt besetzt. Martha Bißmann den Österreichern, sondern auch Flücht- etwa forderte einen Totalausstieg aus der lingen zugestehen. Sie forderten bessere Nutzung fossiler und atomarer Energie- Unterbringungsbedingungen, leichteren träger bis 2030. Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Bil- dungsangeboten und eine freiere Wahl Die Wahl: Konservative und des Aufenthaltsortes. Damit schlugen Populisten jubeln die NEOS eine ganz andere Richtung Die Nationalratswahl 2017 brachte mehr als SPÖ, ÖVP und FPÖ ein. Österreicher an die Wahlurnen als die Gleiches gilt für die Bereiche Gesund- drei vorherigen.14 Die Wahlbeteiligung heit und Bildung. So sollte zum einen lag bei 80 % und damit 5,1 % höher als jedes Kind die Schullaufbahn mit Mittle- 2013. Am 9.11.2017 fand die konstituie- rer Reife abschließen; Kindergärten und rende Nationalratssitzung statt. In dieser Volksschulen sollen sowohl Deutsch als Legislaturperiode sind fünf Parteien im auch diejenige Fremdsprache des Kindes österreichischen Parlament vertreten. fördern, die es aufgrund seines Migra- Mit 31,5 % der Stimmen gilt die „Lis- tionshintergrundes spricht. Zum ande- te Sebastian Kurz – Die neue Volkspar- ren sollte der „gesundheitsförderliche tei“ als Wahlsieger. Platz Zwei ging mit Lebensstil“, wie es in dem Wahlpro- 26,9 % an die SPÖ, dicht gefolgt von der gramm heißt, eigenverantwortlich ge- FPÖ mit 26,0 %. Die Grünen erhielten staltet werden. Ausdrücklich wurden lediglich 3,8 % der Wählerstimmen hier auch Suchtmittel genannt. Es bliebe und sind somit aufgrund der Vier-Pro- damit jedem selbst überlassen, welche zent-Hürde im Nationalrat nicht mehr Drogen er konsumieren möchte. vertreten. Stattdessen schaffte die Liste PILZ mit 4,4 % den Einzug. Die NEOS Liste PILZ: Kandidaten sind kamen auf 5,3 % der Stimmen. Programm Aus diesen Ergebnissen resultierte Die Liste von Peter Pilz trat ohne Wahl- folgende Mandatsverteilung: ÖVP 62, programm zur Nationalratswahl an. Nach der Abspaltung von den Grünen setzte der Frontmann Pilz auf die Per- sonen, die seine politische Bewegung unterstützen. Schließlich wollten die Die KONSERVATIVEN gewannen mit Politiker der Liste PILZ keine Partei im Sebastian Kurz die Nationalratswahl klassischen Sinne bilden. So ergab sich am 15.10.2017. ein breites Sammelsurium an Themen. Pilz selbst setzte sich für mehr parlamen- tarische Kontrolle, aber auch für den POLITISCHE STUDIEN // 477/2018 61
ANALYSEN Diagramm: Wahlergebnisse der im Nationalrat vertretenen Parteien (in %, Anzahl der Mandate) Quelle: eigene Darstellung15 SPÖ 52, FPÖ 51, NEOS 10 und Liste Außerdem kommt in Koalitionsver- PILZ 8 Sitze. Die türkis-blaue Koalition, handlungen in Österreich, besonders die wenige Tage vor Weihnachten ihren auf Länderebene, kaum „Ausschließe gemeinsamen Koalitionsvertrag verab- ritis“ vor. Im Burgenland koalieren schiedet hat, hat damit 113 Mandate, die SPÖ, FPÖ, in Oberösterreich ÖVP und Oppositionsparteien haben 70. FPÖ. Darüber hinaus gab es bereits Re- Einige Medien, insbesondere in gierungsbeteiligungen der „Blauen“ in Deutschland, sahen in diesem Wahler- Kärnten und Vorarlberg. Dies mag auch gebnis einen Rechtsruck der österreichi- dem Umstand geschuldet sein, dass das schen Politik. Doch diese Pauschalisie- gute Abschneiden der FPÖ bei Wahlen rung greift aus verschiedenen Gründen keine Besonderheit mehr ist. Seit 1990 zu kurz. Zunächst gilt es festzuhalten, erzielt die Partei durchweg zweistellige dass die politische Mitte Österreichs Ergebnisse bei Nationalratswahlen (zwi- weiter „rechts“ anzusiedeln ist als in schen 10,01 % 2002 und 26,91 % 1999). Deutschland. Patriotismus, Grenzschutz Ähnlich sieht es auf Landes- und kom- usw. sind in Österreich weitaus weni- munaler Ebene aus. ger umstrittene Begriffe als in Deutsch- Überdies fanden sich viele traditio- land. So warb beispielsweise auch der nell konservative Themen bei der FPÖ ehemalige Grünen-Chef Van der Bellen wieder. Dazu zählten unter anderem im Wahlkampf um das Bundespräsi- der Grenzschutz, die innere Sicherheit dentenamt 2016 offen mit dem Begriff und die Landwirtschaft. Zupass kam „Heimat“. den Freiheitlichen außerdem der Um- 62 POLITISCHE STUDIEN // 477/2018
stand, dass es sich bereits im Wahlkampf ten 2017 gaben die Koalitionäre bekannt, abzeichnete, dass ÖVP und SPÖ keine dass künftig Heinz-Christian Strache Koalition anstrebten. So betonte bei- (FPÖ) Vizekanzler und Minister für Be- spielsweise Kurz immer wieder, er wolle amte und Sport wird. Außerdem wird der einen neuen Stil in die Politik bringen und umstrittene Herbert Kickl (FPÖ), ehema- griff damit auch die Zusammenarbeit in liger Redenschreiber Jörg Haiders, In- der vorherigen Großen Koalition an. Im- nenminister. Der FPÖ-Generalsekretär mer wieder schossen die Koalitionspart- sorgte für Aufsehen mit Wahlslogans wie ner verbal aufeinander, was zwar in der „Mehr MUT für unser ‚Wiener Blut‘. Zu österreichischen Bevölkerung nicht gut viel Fremdes tut niemandem gut“. Der ankam, aber offensichtlich keinen Ein- ehemalige FPÖ-Kandidat für das Amt fluss auf die Wahlentscheidung hatte. des Bundespräsidenten, Norbert Hofer, Nicht zuletzt wegen der Verbalatta- wird Infrastrukturminister. Bemerkens- cken zwischen SPÖ und ÖVP rechnete wert ist außerdem, dass kein bisheriger sich der FPÖ-Obmann Strache vorab ÖVP-Minister in der neuen Regierung große Chancen aus: „Man kann uns viel- vertreten sein wird – außer Sebastian leicht noch ein bisschen verzögern, aber Kurz als Bundeskanzler. nicht auf Dauer aufhalten.“16 Den „Frei- Dass die Volkspartei nicht alle pres- heitlichen“ spielte ihr Wahlergebnis als tigeträchtigen Ministerien bekommen drittstärkste Kraft in die Hände. Damit würde, schien ihr von Anfang an klar. boten sich zwei mögliche Koalitionskon- Deswegen plante man eine Aufwertung stellationen, mit der SPÖ oder der ÖVP. des Bundeskanzleramtes. In Österreich Denn keine der beiden Parteien – das hat- ist der Regierungschef, anders als in ten sie vorab bekräftigt – wollte sich als Deutschland, ein „primus inter pares“, Juniorpartner der FPÖ anbieten. Zudem hat also offiziell keine Richtlinienkom- hatte Bundespräsident Van der Bellen vor petenz. Deswegen werden künftig Euro- seiner Wahl ins Bundespräsidentenamt paangelegenheiten nicht wie bisher beim betont, er würde eine FPÖ-geführte Re- Außenministerium, sondern beim Kanz- gierung nicht vereidigen. leramtsminister angesiedelt sein. Somit Durch die inhaltlichen Überschnei- wird kein euroskeptischer FPÖ-Politiker dungen und der Beauftragung des Wahl- für die Beziehungen zur EU zuständig, siegers Kurz mit einer Regierungsbildung sondern der ÖVP-Mann Gernot Blümel. zeigte sich allerdings recht schnell, dass Dies mag auch der Tatsache geschuldet es fortan eine türkis-blaue Regierung sein, dass Österreich ab Juli 2018 die EU- gibt. Am Wochenende vor Weihnach- Ratspräsidentschaft übernimmt. Die Wahlergebnisse hingegen zeigen deutlich, dass die Mehrheit der Öster- reicher überzeugt ist von der europä- ischen Idee. Die allermeisten Wähler Die FPÖ wurde als drittstärkste Kraft stimmten für europafreundliche Par- KOALITIONSPARTNER der ÖVP-geführ- teien. Bemerkenswert ist überdies die ten Regierung. Wählerstromanalyse 2013/2017.17 So konnte die ÖVP mit Kurz als Zugpferd viele Wähler anderer Parteien für sich gewinnen. 26 % derjenigen Wähler, die POLITISCHE STUDIEN // 477/2018 63
ANALYSEN Tabelle: Wählerstromanalyse Nationalratswahl 2017 (in %) SPÖ ÖVP FPÖ Grüne NEOS PILZ Sonst. Nichtw. 2017 2017 2017 2017 2017 2017 2017 2017 SPÖ 76 3 12 0 0 3 1 4 2013 ÖVP 1 84 9 0 3 1 1 2 2013 FPÖ 1 17 73 0 2 1 1 4 2013 Grüne 28 14 4 25 10 11 2 5 2013 NEOS 6 26 5 1 43 13 1 5 2013 T. Stronach 9 42 36 0 3 3 5 2 2013 BZÖ 3 26 57 0 5 3 1 4 2013 Sonst. 16 6 7 6 6 21 30 8 2013 Nichtw. 9 7 7 2 1 2 2 70 2013 Quelle: eigene Darstellung18 2013 die NEOS wählten, wechselten Ausblick 2017 zur ÖVP. Gleiches gilt für 17 % „Die österreichische Mentalität ist: der FPÖ-Wähler, 43 % der Wähler des Wir brauchen Reformen, aber nix darf „Team Stronach“ und 57 % der ehema- sich ändern.“ Dieses Zitat des ehema- ligen BZÖ-Wähler. Die beiden letzteren ligen österreichischen Bundeskanzlers Parteien waren ohnehin nicht mehr zur Viktor Klima mag auf die vergangenen Wahl angetreten. Jahre zugetroffen haben. Doch nun Die SPÖ konnte nur 76 % ihrer zeichnet sich infolge der Bundespräsi- Wähler 2013 zur Wiederwahl bewe- denten- und Nationalratswahlen eine gen. Dafür gab es mit 28 % ehemaliger Veränderung ab. Die ewige GroKo ist Grünen-Wähler von dieser Seite großen abgewählt. Nach dem Einzug des ehe- Zuwachs – zu Lasten der Grünen. Sie maligen Grünen-Chefs Van der Bellen konnten lediglich 25 % ihrer Wähler in die Hofburg konnten nun ÖVP und 2013 wieder für sich gewinnen. Dies FPÖ mit ihren Reformbestrebungen bei hängt allerdings auch mit der Abspal- den Wählern punkten. Das zeigt: Die Ös- tung der Liste PILZ zusammen. Nach terreicher wollen tatsächlich Reformen. parteiinternen Querelen um Listenplätze Fortan wird sich Sebastian Kurz daran verabschiedeten sich Pilz und einige Ge- messen lassen müssen, wie er die FPÖ folgsleute von den Grünen. Pilz konnte im Regierungsalltag zähmen und gleich- 11 % der Grünen-Wähler von 2013 für zeitig einen neuen Stil, wie er im Wahl- sich gewinnen. Außerdem wählten 2017 kampf forderte, etablieren kann. Dabei besonders viele frühere Nichtwähler die wird er darauf achten müssen, dass das Liste PILZ. Vertrauensverhältnis der Koalitionspar- 64 POLITISCHE STUDIEN // 477/2018
teien nicht so zerrüttet wird, wie es in National und Geert Wilders von der nie- der ersten schwarz-blauen Koalition in derländischen Partij voor de Vrijheid. den 2000er-Jahren geschehen ist. Die Und während so viel Lob „von rechts“ „Freiheitlichen“ werden sich hingegen kommt, äußerten das Rote Kreuz, der hüten, die Bühne allein dem eloquenten Jüdische Weltkongress und italienische Bundeskanzler zu überlassen. Auch sie Spitzenpolitiker Bedenken. Wird Bun- haben aus den Erfahrungen unter Wolf- deskanzler Kurz die FPÖ einbremsen gang Schüssel gelernt und werden wohl können? Wird es zu einem tatsächlichen versuchen, Regier ungserfolge für sich Rechtsruck in der Alpenrepublik kom- zu reklamieren, ohne dabei als politisch men? Wird die Regierung die Reformen „kleiner“ Juniorpartner dazustehen. Die umsetzen, die sie in ihrem Programm ersten Veränderungen zeichnen sich be- „Gemeinsam. Für unser Österreich“19 reits ab. So wurde eine Diätenerhöhung ankündigt? der Nationalratsmitglieder abgelehnt. Angesichts der vielen Unwägbarkei- Außerdem wird es kein striktes Rauch- ten ist man geneigt zu fragen: Tu felix verbot geben, wie es in der Vorgänger- Austria, quo vadis? /// regierung beschlossen wurde. Eine erste große Herausforderung dürfte die EU-Ratspräsidentschaft sein. Während Kurz sich am Vorbild des französischen Präsidenten Emmanuel Macron orientiert und einen politischen Neustart der Europäischen Union vor antreiben will, liebäugeln die FPÖ- Politiker eher mit einem Erstarken der Nationalstaaten und einem Anschluss an die Visegrád-Gruppe, die vor allem /// THOMAS M. KLOTZ, wegen ihrer restriktiven Flüchtlingspoli DIPL. SC. POL. UNIV., tik von sich reden macht. Die ersten Re- ist Doktorand an der TUM School of aktionen auf die Regierungsbildung in Governance München und Promotions- Österreich ließen schließlich nicht lange stipendiat der Hanns-Seidel-Stiftung. Er auf sich warten. Die rechtspopulistische war 2016 Praktikant im Bundeskanzler- Partei „Wahre Finnen“ jubelte, ebenso amt Wien und verfasste seine Diplom Marine Le Pen vom französischen Front arbeit über rechtspopulistische Parteien in Europa, u. a. über die FPÖ. Die EU-Ratspräsidentschaft Öster Anmerkungen reichs 2018 könnte zur e rsten 1 Pelinka, Anton: Das politische System Österreichs, EWÄHRUNGSPROBE einer schwarz- B in: Die politischen Systeme Westeuropas, hrsg. von Wolfgang Ismayr, Wiesbaden 2009, S. 622-625. blauen Regierung werden. 2 http://www.tt.com/politik/innenpolitik/12975837-91/ die-sieben-bedingungen-des-sebastian-kurz.csp, Stand: 6.11.2017. 3 L öwenstein, Stephan: SPÖ-Wahlkampfleiter tritt zurück, in: FAZ, 2.10.2017, S. 4. POLITISCHE STUDIEN // 477/2018 65
ANALYSEN 4 h ttps://kurier.at/politik/inland/wahl/dirty- campaigning-auf-facebook-was-wir-ueber-die- causa-silberstein-wissen/289.605.048 und https:// www.profil.at/oesterreich/affaere-silberstein-sms- nachricht-kurz-sprecher-8353797, Stand: 6.11.2017. 5 http://reports.weforum.org/inclusive-growth-and- development-report-2017/tables-1-to-16/, Stand: 6.11.2017. 6 https://diepresse.com/home/panorama/wien/ 5183298/Wien-wird-erneut-zur-lebenswertesten- Stadt-der-Welt-gekuert, Stand: 6.11.2017. 7 https://www.trend.at/wirtschaft/wettbewerbs- ranking-oesterreich-8171968, Stand: 6.11.2017. 8 https://christian-kern.at/wp-content/uploads/2017/09/ Plan-A_SPOe-Wahlprogramm-2017.pdf, Stand: 6.11.2017. 9 F PÖ: Österreicher verdienen Fairness. Freiheitliches Wahlprogramm zur Nationalratswahl 2017, S. 4., https://www.fpoe.at/fileadmin/user_upload/www. fpoe.at/images/Themen/wahlprogramm_2017/ Wahlprogramm_8_9_low.pdf, Stand: 6.11.2017. 10 Bauer, Werner T.: Rechtsextreme und rechtspopu- listische Parteien in Europa, Wien 2015, S. 20. 11 https://secure.sebastian-kurz.at/der-neue-weg/ 12 https://sebastiankurz.at/cache/images/assets. contentful.com/i520qwheh9j7/2xLFiGx0vOkSk oSU4uQq8y/17d2ac866958896a8ee2e38ed1c7dc ca/72_SK_Programm_Teil3_Einzelseiten_WEB. pdf, Stand: 6.11.2017. 13 https://partei.neos.eu/wp-content/uploads/2016/07/ NEOS-PLAENE-OESTERREICH-2016-Online- Einzel.pdf, Stand: 6.11.2017. 14 Daten und Ergebnisse von: SORA und Institut für Strategieanalysen im Auftrag des ORF, http:// strategieanalysen.at/wp-content/uploads/2017/10/ ISA-SORA-Wahlanalyse-NRW2017-2.pdf, Stand: 6.11.2017. 15 https://wahl17.bmi.gv.at/, Stand: 9.11.2017. 16 h ttp://diepre sse.com /home/innenpolit i k / nationalratswahl/5291003/Strache_Man-kann-die- FPOe-verzoegern-aber-nicht-auf-Dauer-aufhalten, Stand: 12.11.2017. 17 SORA und Institut für Strategieanalysen im Auf- trag des ORF, http://strategieanalysen.at/wp- content/uploads/2017/10/ISA-SORA-Wahlanalyse- NRW2017-2.pdf, Stand: 15.11.2017. 18 Daten vgl. ebd., Stand: 9.11.2017. 19 http://www.tt.com/politik/innenpolitik/13796470-91/ soziales-bildung-sicherheit-das-regierungsprogramm- im-detail.csp, Stand: 18.12.2017. 66 POLITISCHE STUDIEN // 477/2018
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