Der belgische Föderalismus - ein Modell mit Zukunft? - Konrad-Adenauer-Stiftung

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LÄNDERBERICHT
Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.

EUROPABÜRO BRÜSSEL
                                Der belgische Föderalismus –
DR. HARDY OSTRY                 ein Modell mit Zukunft?
OLIVER MORWINSKY
LUCAS SCHRAMM

                                Belgien gilt allgemein als schwer regier-        die Schaffung einer eigenständigen flämischen
Juni 2017                       bar. Für viele Beobachter ist das König-         Justiz aus. Organisation und Abläufe der Jus-
                                reich de facto zweigeteilt in das Nieder-        tizsysteme Flanderns und der Wallonoie seien
www.kas.de/bruessel             ländisch sprechende, wirtschaftlich star-        mittlerweile zu heterogen und kaum mehr
                                ke Flandern im Norden und die Franzö-            miteinander vereinbar, so Bourgeois in einem
                                sisch sprechende, wirtschaftlich schwä-          Vortrag an der Universität Gent. Die Schaffung
www.kas.de/bruessel             chere Wallonie im Süden. Hinzu kommt             einer vollends eigenständigen flämischen Jus-
                                die kleine deutschsprachige Minderheit           tiz würde eine erneute, dann siebte Staatsre-
                                im Osten des Landes. Nach insgesamt              form notwendig machen. Insofern stehen die
                                sechs Staatsreformen seit dem Jahr 1970          Äußerungen De Wevers und Bourgeois‘ in ei-
                                ist aus dem ehemals zentralistischen             ner Reihe jüngerer Entwicklungen in Belgien,
                                Staat inzwischen eine föderale Ordnung           die die derzeitige politische Verfasstheit des
                                mit zum Teil weitreichenden Kompeten-            Landes (wieder einmal) als nicht zukunftsfest
                                zen für die subnationalen Ebenen gewor-          erscheinen lassen. Angesichts bevorstehender
                                den. Diese fortschreitende Dezentralisie-        Wahlen auf lokaler, regionaler und nationaler
                                rung galt lange Zeit als notwendig, um           Ebene in den Jahren 2018 und 2019 wird die-
                                die staatliche Einheit Belgiens angesichts       ser Diskurs in den kommenden Monaten ver-
                                wachsender separatistischer Bestrebun-           mutlich an weiterer Dynamik gewinnen.
                                gen – vor allem in Flandern – zu wahren.
                                Jüngste Entwicklungen in Belgien aber
                                drohen, eben diese staatliche Einheit zu-        Allgemeines zum Föderalismus
                                nehmend zu untergraben.
                                                                                 Aus wissenschaftlicher Perspektive kann der
                                „Ein neues Paradigma ist notwendig: der Kon-     Begriff Föderalismus in das breitere Konzept
                                föderalismus“. So äußerte sich Bart De Wever,    der Multi-Level-Governance eingeordnet wer-
                                Vorsitzender der Nieuw-Vlaamse Alliantie (N-     den. Dem Begriff Föderalismus verwandte Be-
                                VA), der national-konservativen Partei Flan-     griffe sind Regionalisierung, Devolution und –
                                derns, am 4. Mai 2017 anlässlich der Präsen-     wie von Bart De Wever gefordert – Konfödera-
                                tation eines neuen Buches, für das er selbst     tion. In Anlehnung an den Politologen Daniel
                                das Schlusskapitel verfasst hat. Die N-VA for-   J. Elazar kann ein föderales politisches System
                                dert in offiziellen Bekundungen die graduelle    als eine Art von Regierung verstanden wer-
                                Auflösung Belgiens und die Eingliederung         den, das „Elemente der gemeinsamen Macht-
                                Flanderns in ein Europa der Regionen. Das        ausübung und der regionalen Selbstbestim-
                                besagte Buch 'Onvoltooid Vlaanderen' (Das        mung“ kombiniert: Somit üben Regierungen
                                unvollständige Flandern) beschäftigt sich mit    auf zwei verschiedenen Ebenen direkten politi-
                                der allmählichen Herausbildung einer flämi-      schen Einfluss auf ihre Bürger aus, wobei die
                                schen Nation und trägt den Untertitel 'Van       Autonomie der beiden Ebenen und ihre Aus-
                                taalstrijd tot natievorming' (Vom Sprachen-      stattung mit bestimmten Ressourcen konstitu-
                                kampf zur Nationenbildung). In seinem Kapitel    tionell garantiert sind. Ebenfalls konstitutionell
                                beschreibt De Wever Flandern als eine Ge-        garantiert ist die Repräsentation regionaler
                                meinschaft, die sich zunehmend als eigen-        Interessen im föderalen politischen Entschei-
                                ständige politische Einheit sehe.                dungsprozess, etwa durch eine Zweite Parla-
                                                                                 mentskammer oder durch Mechanismen der
                                Wenige Tage später, am 13. Mai 2017, sprach
                                                                                 intergouvernementalen Zusammenarbeit.
                                sich der Premierminister der Region Flandern,
                                Geert Bourgeois (ebenfalls von der N-VA), für
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Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.   Föderalistische Elemente beziehungsweise Be-        sie ein höheres Maß an Bürgernähe und poli-
                                strebungen haben gerade in Westeuropa eine          tischer Partizipation ermöglicht.
                                lange Tradition. Dies liegt unter anderem da-
                                                                                    Gleichzeitig gibt es jedoch auch immer wieder
EUROPABÜRO BRÜSSEL              ran, dass die meisten heutigen Föderalstaaten
                                                                                    Forderungen, die Kompetenzen der subnatio-
DR. HARDY OSTRY                 aus kleineren staatlichen Einheiten hervorge-
                                                                                    nalen Ebenen einzuschränken und die der na-
OLIVER MORWINSKY                gangen sind. Dies ist etwa bei der Bundesre-
                                                                                    tionalen Ebene zu stärken. Damit sollen Dop-
LUCAS SCHRAMM                   publik Deutschland der Fall, die ihre histori-
                                                                                    pelstrukturen vermieden beziehungsweise ab-
                                schen Wurzeln in den zahlreichen Kleinstaaten
                                                                                    gebaut, Einsparungen und Effizienzgewinne
Juni 2017                       des Deutschen Bundes hat. Insofern stellt
                                                                                    ermöglicht sowie eine Vereinheitlichung (etwa
                                Belgien durchaus eine Ausnahme unter den
                                                                                    der Bildungsabschlüsse) angestrebt werden.
www.kas.de/bruessel             Föderalstaaten dar, da das heutige föderale
                                                                                    Angesichts einer im europäischen Integrati-
                                Belgien ursprünglich ein zentralisierter Staat
                                                                                    onsprozess zunehmenden Stärkung der sup-
                                war. Unter den (noch) 28 Mitgliedsstaaten der
                                                                                    ranationalen EU-Ebene (vor allem die ökono-
                                Europäischen Union (EU) gelten aktuell 10
                                                                                    mischen Kompetenzen betreffend) würde eine
                                Staaten entweder formell als föderal, oder sie
                                                                                    Dezentralisierung auf nationaler Ebene und
                                haben bestimmten Gebieten in Teilen Selbst-
                                                                                    eine damit verbundene Stärkung der subnati-
                                bestimmungsrechte übertragen. Aktuelle föde-
                                                                                    onalen Einheiten (etwa die kulturellen und so-
                                ralistische Tendenzen gehen weit über das
                                                                                    zialen Kompetenzen betreffend) – so das Ar-
                                Beispiel Belgien hinaus, wie die Situation in
                                                                                    gument der Föderalisierungsgegner – den Na-
                                Spanien (Katalonien, Baskenland), im Verei-
                                                                                    tionalstaat weiter schwächen und seinen Fort-
                                nigten Königreich (Schottland), in Frankreich
                                                                                    bestand sogar gefährden.
                                (Korsika) und in Italien (Veneto) zeigt.

                                Auch auf EU-Ebene spielen Fragen des Föde-
                                ralismus eine bedeutende Rolle. Durch die Ein-      Geschichte des belgischen Föderalismus
                                richtung des Ausschusses der Regionen mit
                                dem Vertrag von Maastricht 1992 haben die           Das Verständnis des heutigen föderalen Sys-
                                europäischen Regionen zumindest eine bera-          tems in Belgien bedarf des Blickes in die Ver-
                                tende Funktion im politischen Entscheidungs-        gangenheit. Wichtigste Grundlage ist der his-
                                prozess der EU erhalten. Die Fixierung des          torische Antagonismus zwischen den zwei
                                Subsidiaritätsprinzips   in   den   europäischen    Sprachgruppen der Wallonen im Süden und
                                Verträgen schreibt einen Regelungsvorbehalt         der Flamen im Norden. 1830 als Zentralstaat
                                zugunsten der jeweils unteren Ebene fest. Und       gegründet, bestand Belgien aus neun Provin-
                                mit der EU-Strukturförderung macht die Euro-        zen, die einsprachig-französisch in Verwal-
                                päische Kommission Regionen unmittelbar             tung, in Justiz und im höheren Unterrichtswe-
                                zum Adressaten ihrer Politik. Die Regionalpoli-     sen waren. Die dominante, französisch spre-
                                tik macht mittlerweile in etwa ein Drittel des      chende Bourgeoisie tat wenig, um die nieder-
                                EU-Haushalts aus.                                   ländisch sprechende, agrarisch geprägte Be-
                                                                                    völkerung – die immerhin etwa 60 Prozent der
                                Insgesamt wird mit der Föderalisierung eines        Gesamtbevölkerung darstellte – zu integrie-
                                Nationalstaates mindestens eines der folgen-        ren.   Darüber   hinaus   lag   der   industrielle
                                den vier Ziele angestrebt: Diese kann erstens       Schwerpunkt des jungen Belgien in der Wallo-
                                der Wahrung der Identität sowie dem Schutz          nie, weshalb das gesamte politische und öko-
                                und der Integration von Minderheiten dienen.        nomische System frankophon geprägt waren.
                                Eine Föderalisierung hilft – zweitens – die poli-   Bereits 1840 führten diese Umstände zur
                                tische Steuerungskompetenz, die politische          Gründung der so genannten 'Flämischen Be-
                                Kontrolle und die Entwicklungsförderung zu          wegung', deren Leitmotiv der Erhalt der flämi-
                                verbessern. Drittens stehen aus wirtschaftli-       schen Sprache und Kultur war und die eine
                                cher Perspektive in einem föderalen politi-         flämische Kulturautonomie einforderte.
                                schen System die subnationalen Einheiten in
                                einem Wettbewerb und bemühen sich um                Der Beginn des eigentlichen belgischen Föde-
                                best-practice-Lösungen. Und viertens schließ-       ralisierungsprozesses ist in den 1960er Jahren
                                lich kann eine Föderalisierung der Demokrati-       zu verordnen, als sich mit der Wirtschaftsau-
                                sierung des politischen Systems und der Si-         tonomie ein weiteres Leitmotiv der Flamen
                                cherung politischer Legitimität dienen, indem       herausbildete: Zu diesem Zeitpunkt hatte die
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Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.   Wallonie aufgrund der Krise der Kohle- und          mal- und Landschaftsschutz; 2000 kam die
                                Stahlindustrie mit massiven wirtschaftlichen        Beschäftigungspolitik, 2005 die Aufsicht und
                                und sozialen Problemen zu kämpfen. Flandern         Finanzierung der Gemeinden hinzu. Mit der
EUROPABÜRO BRÜSSEL              hingegen befand sich – vor allem dank seiner        Fünften Staatsreform (2001) wurde die Art
DR. HARDY OSTRY                 vielen kleinen und mittelständischen Unter-         der Finanzierung der Gemeinschaften überar-
OLIVER MORWINSKY                nehmen und seiner guten Anbindung an die            beitet, während die Kompetenzen der Regio-
LUCAS SCHRAMM                   internationalen Seehäfen – im wirtschaftlichen      nen auf die Bereiche Kontrolle der Lokalregie-
                                Aufschwung. Auf das allmählich stärker wer-         rungen, Organisation von Provinzen, Land-
Juni 2017                       dende Gefühl sowohl im Norden als auch (in          wirtschaft, Fischerei und Außenhandel ausge-
                                geringerem Maße) im Süden, dass sich das            weitet wurden. Zudem bekamen die Regionen
www.kas.de/bruessel             vereinte Belgien überlebt habe, reagierte die       eine größere Fiskalautonomie zugesprochen.
                                Politik mit einer zunehmenden Föderalisierung
                                                                                    Die bisher letzte, Sechste Staatsreform sah
                                des Landes:
                                                                                    umfassende Maßnahmen vor, fand daher in
                                Im Zuge der Ersten Staatsreform (1970) wur-         mehreren Etappen statt und vollzog sich wäh-
                                den eine niederländische, eine französische         rend der Jahre 2012 bis 2014. Zum einen än-
                                und eine deutsche 'Kulturgemeinschaft' ge-          derten sich die Zusammensetzung und die
                                gründet. Mit der Zweiten Staatsreform (1980)        Kompetenzen der Senatoren, die seitdem
                                wurden diese Kulturgemeinschaften in 'Ge-           nicht mehr direkt gewählt werden und ein
                                meinschaften' umbenannt und erhielten ihre          deutliches geringeres legislatives Mitsprache-
                                eigenen, direkt gewählten 'Kulturräte' (Parla-      recht besitzen als zuvor. Zweitens stieg die
                                mente), Regierungen und vereinzelte politi-         Fiskalautonomie der Regionen weiter an: Die-
                                sche Kompetenzen in den Bereichen Kultur,           se können fortan über die national festgelegte
                                Bildung,   Gesundheit    und    Sozialleistungen.   Standartrate hinaus eigene Einnahmen über
                                Ebenfalls auf die Zweite Staatsreform gehen         die Einkommenssteuer generieren und zudem
                                die Gründung der Flämischen und der Walloni-        in jenen Politikbereichen weitere Steuern sen-
                                schen Region mit ihren eigenen Räten (Parla-        ken beziehungsweise erhöhen, in denen sie
                                menten), Regierungen und ersten Kompeten-           laut Verfassung über Kompetenzen verfügen.
                                zen – vor allem in der Wirtschaftspolitik – zu-     Drittens wurden die Gemeinschaften mit um-
                                rück.   Im Zuge der Dritten Staatsreform            fangreicheren Finanzmitteln ausgestattet: Da-
                                (1988/89) wurde die Region Brüssel mit eige-        bei handelt es sich allerdings weiterhin um
                                nem Parlament und eigener Regierung ge-             Zuweisungen     durch   die    Föderalregierung,
                                gründet. Zudem erhielten die Gemeinschaften         weshalb die Gemeinschaften auch künftig über
                                fortan höhere Finanzzuweisungen durch die           keinerlei Fiskalautonomie verfügen. Neben
                                Föderalregierung und Kompetenzen in Bil-            zusätzlichen Geldern für die Region Brüssel
                                dungsfragen, während die Regionen Kompe-            durch die Föderalregierung wurden - viertens -
                                tenzen in den Bereichen Transport und öffent-       erstmals   so   genannte      'personenbezogene
                                liches Bauwesen zugesprochen bekamen.               Kompetenzen' an die Region Brüssel übertra-
                                                                                    gen. Personenbezogene Kompetenzen finden
                                Seit der Vierten Staatsreform (1993) bezeich-
                                                                                    sich normalerweise nur bei den Gemeinschaf-
                                net sich Belgien in seiner Verfassung als „ein
                                                                                    ten (s. unten). Schließlich wurden Kompeten-
                                aus den Gemeinschaften und den Regionen
                                                                                    zen in den Bereichen Gesundheitsvorsorge
                                bestehender    Föderalstaat“.    Die   bisherige
                                                                                    und Justiz auf die Gemeinschaften und Kom-
                                Gleichwertigkeit   von   Abgeordnetenkammer
                                                                                    petenzen im Bereich Arbeitsmarktpolitik auf
                                und Senat wurde zugunsten Ersterer verän-
                                                                                    die Regionen übertragen.
                                dert, während der Senat zum „Denkforum“
                                und zum „Begegnungsort der Gliedstaaten“            Charakteristisch für das heutige Belgien ist
                                gestaltet wurde. Zudem erhielten die Regio-         somit die Doppelstruktur von Gemeinschaften
                                nen und Gemeinschaften die Möglichkeit, im          und Regionen auf subnationaler Ebene, wes-
                                Rahmen ihrer Befugnisse eine eigene Außen-          halb Belgien in der Fachliteratur häufig als
                                politik (mit Vertragsrecht und Auslandsvertre-      Modell für einen 'doppelten Föderalismus' be-
                                tung) zu führen. Die kleine Deutschsprachige        zeichnet wird: Den Gemeinschaften der Fran-
                                Gemeinschaft im Osten des Landes (circa             zösisch Sprechenden, der Flamen (die einen
                                77.000 Einwohner) schließlich erhielt erstmals      niederländischen Dialekt sprechen) und der
                                Regionalbefugnisse: 1993 war dies der Denk-         Deutschen stehen die Regionen Wallonie,
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Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.   Flandern und Brüssel gegenüber. Der Grund          Die heutigen Kompetenzen der Gemeinschaf-
                                für diese Doppelstruktur liegt darin, dass die     ten umfassen 'personengebundene Aufgaben',
                                Herausbildung der Gemeinschaften sprachli-         worunter die Bereiche Kultur- und Sprachpoli-
EUROPABÜRO BRÜSSEL              chen, die Herausbildung der Regionen hinge-        tik, Medien, Bildung und Unterrichtswesen,
DR. HARDY OSTRY                 gen territorialen Kriterien gefolgt ist. Die Ge-   Gesundheitspolitik,   Sozialfürsorge,   Jugend-
OLIVER MORWINSKY                meinschaften und Regionen sind weder de-           schutz und wissenschaftliche Grundlagenfor-
LUCAS SCHRAMM                   ckungsgleich noch vollkommen verschieden:          schung fallen. Die Kompetenzen der Regionen
                                Die Französische ebenso wie die Deutschspra-       beschränken sich auf 'territoriale Aufgaben'
Juni 2017                       chige Gemeinschaft sind Teil der Region Wal-       und betreffen Raumordnung und Städtebau,
                                lonie. Die Region Brüssel ist belgische Haupt-     Umwelt- und Wasserpolitik, Abfallentsorgung,
www.kas.de/bruessel             stadt und die Hauptstadt Flanderns, sie wird       Flurbereinigung, Wohnungsbau, Wirtschafts-
                                sowohl von Flamen als auch von Französisch         und Energiepolitik, Beschäftigungspolitik, öf-
                                Sprechenden bewohnt; sie liegt auf flämi-          fentliche Arbeiten, Transport und Verkehr (mit
                                schem Gebiet, ist aber weit überwiegend fran-      Ausnahme der Bahn und des Flughafens Brüs-
                                zösischsprachig. Lediglich in Flandern stimmen     sel),   Landwirtschaft,   angewandte    wissen-
                                Gemeinschaft und Region überein, weshalb           schaftliche Forschung, Organisation der Ge-
                                dort die vormaligen Parlamente ('Räte') und        meinden und Provinzen sowie Außenhandel
                                Regierungen der Region und der Gemeinschaft        und Entwicklungspolitik. Unter 'geteilte Kom-
                                fusioniert werden konnten. Die nachfolgende        petenzen', die gemeinsam vom Föderalstaat
                                Grafik soll die besondere Situation in Belgien     und den subnationalen Ebenen ausgeübt wer-
                                nochmals verdeutlichen helfen.                     den, fallen die Bereiche internationale Bezie-
                                                                                   hungen und Außenpolitik sowie wissenschaftli-
                                                                                   che Forschung.

                                                                                   Im Längsschnittvergleich lassen sich folgende
                                                                                   Tendenzen im belgischen Föderalisierungspro-
                                                                                   zess feststellen: Erstens gingen die Kompe-
                                                                                   tenzgewinne der Regionen tendenziell zu Las-
                                                                                   ten der Gemeinschaften. Dies zeigt sich vor
                                                                                   allem daran, dass die Regionen eigenständig
                                                                                   Steuern erheben können, die Gemeinschaften
                                                                                   hingegen nicht. Auch verfügen die Regionen
                                                                                   bei der Verwendung ihrer Ressourcen mittler-
                                                                                   weile über eine beachtliche Autonomie. Zwei-
                                                                                   tens musste der Nationalstaat Kompetenzver-
                                Quelle: www.ostbelgien.be                          luste verzeichnen, wenngleich dieser mit der
                                                                                   gesamtstaatlichen Außenpolitik, der Verteidi-
                                                                                   gung, dem Justizwesen, der Inneren Sicher-
                                Der belgische Föderalismus heute
                                                                                   heit und der Ausgestaltung der Sozialsysteme
                                Jede Gemeinschaft und jede Region hat ihre         weiterhin über nationalstaatliche Kernkompe-
                                eigenen Parteien, ihr eigenes Parlament, ihre      tenzen verfügt. Auch fallen die wichtigsten
                                eigene Regierung und ihre eigenen Mitglieder       Steuern (Mehrwertsteuer, Einkommenssteu-
                                im Europäischen Parlament. Diese politische        er, Körperschaftssteuer) weiterhin in den
                                Heterogenität wird in kulturell-sozialer Hin-      Verantwortungsbereich      der   Föderalregie-
                                sicht dadurch verstärkt, dass Gemeinschaften       rung. Drittens zeigt sich der nach wie vor
                                und Regionen ihre eigene öffentlich-rechtliche     einheitsstaatliche Charakter des belgischen
                                Medienanstalt, ihre eigenen Zeitungen und          Föderalismus daran, dass die Gliedstaaten
                                ihren eigenen Schulabschluss haben. Ein ein-       keine eigene Verfassung haben und nicht über
                                heitlicher, national-politischer Diskurs findet    eine Änderung der sie betreffenden Basisge-
                                gerade angesichts fehlender nationaler Partei-     setze autonom entscheiden können. Bei der
                                en und Medien kaum statt. Hinzu kommt,             Änderung der institutionellen und rechtlichen
                                dass selbst den eigenen Bürgern das belgische      Grundlagen der Gemeinschaften und Regionen
                                politische System häufig als unübersichtlich       hat der Föderalstaat weiterhin das letzte Wort.
                                und intransparent erscheint.
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Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.   Die politische Situation in Belgien                   zufriedenheit vieler Flamen, die Wallonie indi-
                                                                                      rekt durch föderale Finanztransfers über einen
                                Das belgische Parteiensystem weist eine star-
                                                                                      nun immer länger werdenden Zeitraum und in
                                ke Fragmentierung auf, welche durch das gel-
EUROPABÜRO BRÜSSEL                                                                    wachsendem Umfang unterstützen zu müs-
                                tende Verhältniswahlrecht zusätzlich verstärkt
DR. HARDY OSTRY                                                                       sen. Für viele Flamen hat dieser Finanztrans-
                                wird. Seit der Aufteilung der drei 'traditionel-
OLIVER MORWINSKY                                                                      fer bisher wenig sichtbare positive Ergebnisse
                                len' Parteien (Christdemokraten, Liberale, So-
LUCAS SCHRAMM                                                                         hervorgebracht.
                                zialisten) in jeweilige subnationale Parteien
                                zwischen den Jahren 1968 und 1978 fehlt es
Juni 2017
                                an föderalen Parteien: Seit dem Jahr 1978 ist
                                                                                      Bewertung und Ausblick
                                es keiner Partei mit föderalem Anspruch und
www.kas.de/bruessel
                                mit Verankerung in beiden großen Sprachge-            Der belgische Föderalismus hat in den ver-
                                meinschaften gelungen, sich dauerhaft im Par-         gangenen Jahrzehnten eine Reihe pragmati-
                                teiensystem zu etablieren. In den 1980er Jah-         scher Regeln und Praktiken hervorgebracht,
                                ren traten auf subnationaler Ebene zu den             die die durch geographische, sprachliche, wirt-
                                traditionellen Parteien ökologische und natio-        schaftliche und kulturelle Spaltungslinien ge-
                                nalistische Parteien hinzu.                           kennzeichnete belgische Gesellschaft bisher
                                                                                      zusammengehalten hat. Ausdruck des in der
                                Bemerkenswert ist das unterschiedliche Wahl-
                                                                                      Verfassung und in diversen Gesetzen festge-
                                verhalten in den Regionen und Gemeinschaf-
                                                                                      schriebenen Ausgleichs der Interessen ist et-
                                ten trotz der in allen Landesteilen zeitgleich
                                                                                      wa die Vorgabe, dass für die Regierungsbil-
                                stattfindenden Föderal-, Regional- und Lokal-
                                                                                      dung auf föderaler Ebene Parteien aus beiden
                                wahlen: Während die Wallonie traditionell so-
                                                                                      großen Sprachgruppen benötigt werden.
                                zialistisch-laizistisch   wählt,   dominierten   in
                                Flandern lange Zeit christdemokratische und           In der aktuellen Föderalregierung unter Pre-
                                konservativ-liberale Parteien, ehe dort zuletzt       mierminister Charles Michel (von den franzö-
                                nationalistisch-separatistische Parteien Wahl-        sischsprachigen Liberalen, MR) sind Flamen
                                erfolge feiern konnten. Fast folgerichtig ist die     und Französischsprachige erstmals nicht pari-
                                politische Ausrichtung der Schwesterparteien          tätisch beteiligt: Drei flämischen Parteien (N-
                                landesweit unterschiedlich: Während etwa die          VA, CD&V, VLD) steht eine französischspra-
                                christdemokratische Partei in Flandern (Chris-        chige Partei (MR) gegenüber. Dies mag ein
                                ten-Democratisch en Vlaams, kurz CD&V)                Hinweis sein auf die oftmals feststellbare poli-
                                noch immer als Partei der rechten Mitte gilt,         tische Hegemonie flämischer Parteien im bel-
                                verfolgte die christdemokratische Partei in der       gischen politischen Diskurs, die nicht zuletzt in
                                französischsprachigen Gemeinschaft (centre            der größeren demographischen und wirt-
                                démocrate Humaniste, kurz cdH) in den ver-            schaftlichen Stärke Flanderns (aktuell etwa
                                gangenen Jahrzehnten zunehmend eine Politik           6,5 Mio. Einwohner) im Vergleich zur Wallonie
                                der Säkularisierung und der Abwendung vom             (3,6 Mio. Einwohner) begründet liegt. Obwohl
                                Konservatismus. Die christdemokratische Par-          die regionalistische N-VA aus den belgischen
                                tei in der Deutschsprachigen Gemeinschaft             Parlamentswahlen 2014 als landesweit stärks-
                                (Christlich Soziale Partei, kurz CSP) wiederum,       te Partei hervorging und es immer wieder zu
                                die in der Nachkriegszeit den Aufbau und das          Unstimmigkeiten in der heterogenen, vier Par-
                                Leben im heutigen „Ostbelgien“ wesentlich             teien umfassenden Föderalregierung kommt,
                                mitgeprägt hat, sieht sich noch immer dem             droht der belgische Staat aktuell nicht zu zer-
                                christlichen Erbe und dem Konservatismus              brechen. Paradoxerweise liegt dies gerade
                                verpflichtet.                                         auch an der N-VA: Obwohl die Partei offiziell
                                                                                      für die Unabhängigkeit Flanderns wirbt, so tritt
                                In den vergangenen Jahren konnten die flämi-
                                                                                      sie aufgrund ihrer Regierungsbeteiligung meist
                                schen Nationalisten der N-VA bei Wahlen gro-
                                                                                      gemäßigt auf. Zudem hat die N-VA über die
                                ße Stimmenzuwächse verzeichnen. Ihnen ist
                                                                                      vergangenen Jahre hinweg viele regionalis-
                                es gelungen, Fragen der Sprache und der na-
                                                                                      tisch orientierte flämische Wähler gebunden,
                                tionalen Identität mit Fragen der finanziellen
                                                                                      während    der    stark   separatistische,   EU-
                                und wirtschaftlichen Solidarität zu verbinden.
                                                                                      feindliche und von Beobachtern als rechtsext-
                                Der von der N-VA forcierte flämische Nationa-
                                                                                      rem eingeschätzte Vlaams Belang von deutlich
                                lismus ist in Teilen auch das Resultat der Un-
6

Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.   geringerer Bedeutung ist und derzeit nur drei      In Anbetracht dieser Umstände und der bishe-
                                von 150 Abgeordneten im belgischen Föderal-        rigen Staatsreformen erscheint der Schluss
                                parlament stellt. In der Französischsprachigen     naheliegend, dass Belgien noch nicht am Ende
EUROPABÜRO BRÜSSEL              Gemeinschaft hat die sozialistische PS regio-      seiner institutionellen Entwicklung angelangt
DR. HARDY OSTRY                 nalistische Bestrebungen absorbiert, wenn-         ist. Bereits während der Umsetzung der
OLIVER MORWINSKY                gleich diese im südlichen Landesteil schwächer     sechsten Staatsreform wurde von einzelnen
LUCAS SCHRAMM                   ausgeprägt sind als im Norden.                     Politikern eine siebte Reform gefordert; Über-
                                                                                   legungen gingen und gehen sogar bereits in
                                Dennoch bestehen zumindest mittel- und
Juni 2017                                                                          Richtung einer achten Reform. Dieser Diskurs
                                langfristig einige Gefahren für die staatliche
                                                                                   hat nun durch die Vorstöße der beiden N-VA-
                                Einheit Belgiens: Erstens scheint der kontinu-
www.kas.de/bruessel                                                                Politiker Bart De Wevers und Geert Bourgeois
                                ierlich   vorangetriebene    Aufbau    föderal-
                                                                                   an neuer Dynamik gewonnen. Es steht zu er-
                                administrativer Strukturen zentrifugale Kräfte
                                                                                   warten, dass die N-VA – und in weit stärkerem
                                eher verstärkt als abgeschwächt zu haben.
                                                                                   Maße der Vlaams Belang – angesichts der be-
                                Zweitens fördern nur wenige, meist symboli-
                                                                                   vorstehenden Wahlen auf verschiedenen föde-
                                sche Instrumente den Zusammenhalt der bel-
                                                                                   ralen Ebenen den flämischen Nationalismus in
                                gischen Nation, etwa die Monarchie oder die
                                                                                   noch stärkerem Maße als ohnehin schon for-
                                Hauptstadt Brüssel als gleichzeitige 'Haupt-
                                                                                   cieren werden. Auch werden in der Region
                                stadt Europas'. Folglich gibt es in Belgien –
                                                                                   Brüssel Forderungen nach einer stärkeren
                                drittens – eine nur schwach ausgeprägte Nati-
                                                                                   Selbstregierung immer lauter.
                                onalidentität: Umfragen zeigen regelmäßig,
                                dass sich sowohl Flamen als auch Wallonen in       Vielfache Ineffizienzen der derzeit bestehen-
                                erster Linie als Flamen beziehungsweise als        den Regelungen lassen eine zeitnahe siebte
                                Wallonen und erst in zweiter Linie als Belgier     Staatsreform und eine weitere Verlagerung
                                fühlen. Zumindest in Umfragen befürwortet          von Kompetenzen auf die subnationalen Ebe-
                                konstant ein Drittel der flämischen Bevölke-       nen in der Tat als möglich erscheinen. Wie be-
                                rung die Unabhängigkeit Flanderns.                 reits in der Vergangenheit, so würde auch eine
                                                                                   solche siebte Staatsreform eine Zweidrittel-
                                Als größte Gefahr für die Einheit Belgiens aber
                                                                                   mehrheit in der föderalen Abgeordnetenkam-
                                hat   sich   die   zunehmende    wirtschaftliche
                                                                                   mer sowie eine einfache Mehrheit in jedem
                                Asymmetrie zwischen Flandern und der Wal-
                                                                                   Parlament der drei Sprachgemeinschaften er-
                                lonie herausgebildet: Neuere Zahlen zeigen,
                                                                                   fordern. Denkbar etwa wäre eine Auflösung
                                dass die Arbeitslosigkeit in Flandern fünf Pro-
                                                                                   der Dualität von Regionen und Gemeinschaf-
                                zent beträgt, in der Wallonie hingegen acht
                                                                                   ten, womit Belgien anderen, 'klassischen' Fö-
                                (und in der Region Brüssel rund 18 Prozent).
                                                                                   deralstaaten wie Deutschland oder Österreich
                                Gemessen am EU-Durchschnitt beträgt das
                                                                                   ähnlicher werden würde. Im Zuge einer weite-
                                Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Flandern 120
                                                                                   ren Föderalisierung aber droht eine Konföde-
                                Prozent, in der Wallonie 88. Und die Beiträge
                                                                                   ration oder gar eine Separation.
                                zum belgischen BIP belaufen sich in Flandern
                                auf 57 Prozent, in der Wallonie auf 24. (Die       Daher könnte (und sollte) mit einem solchen
                                restlichen 19 Prozent entfallen auf die Region     Schritt gleichzeitig eine 'Re-Zentralisierung'
                                Brüssel, während Ostbelgien als Teil der Regi-     von Kompetenzen in einzelnen policy-Feldern
                                on Wallonie zu etwa 0,5 Prozent zum belgi-         einhergehen. In jedem Fall wünschenswert
                                schen BIP beiträgt). Das wirtschaftliche Nord-     erscheint eine weitere Reform des Senats, da
                                Süd-Gefälle erzwingt – da die Transferzahlun-      dessen momentane Stellung und Funktion all-
                                gen für die sozialen Sicherungssysteme föde-       gemein als unbefriedigend gelten. Der Senat
                                ral organisiert sind – eine massive finanzielle    könnte entweder aufgelöst und damit gänzlich
                                Umverteilung, die oft in (politische) Auseinan-    seiner Kompetenzen beraubt werden, oder
                                dersetzungen um die Ausgestaltung und die          aber er könnte zu einer 'echten' Zweiten
                                Finanzierung der Sozialsysteme mündet. An-         Kammer – etwa mit Legislativrecht und sus-
                                gesichts jährlicher Zahlungen von etwa 6,4         pensivem Vetorecht für Gesetzesvorschläge
                                Mrd. Euro an die Regionen Wallonie und Brüs-       der Abgeordnetenkammer – aufgewertet wer-
                                sel erachten viele Flamen die finanzielle Soli-    den. Nicht zuletzt für die belgischen Bürger
                                darität als überstrapaziert und sähen künftig      selbst wäre eine höhere Transparenz ihres po-
                                die Sozialleistungen gerne regional geregelt.      litischen Systems jedenfalls wünschenswert.
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