Ratsbericht - Konrad-Adenauer-Stiftung
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Oktober 2020 Ratsbericht Europabüro Brüssel Kein Brexit-Deal um jeden Preis – zentrale Entscheidungen auf Wiedervorlage Europäischer Rat am 15. und 16. Oktober 2020 Dr. Hardy Ostry, Kai Gläser, Ludger Bruckwilder, Sophia Pena Pereira, Isabell Wiesner Das Treffen des Europäischen Rates vom 15. und men zur Eindämmung der Pandemie ein. Auch der Gip- 16. Oktober widmete sich einer Reihe von strate- fel selbst blieb vom Infektionsgeschehen nicht ver- gisch wichtigen Themen. Zum einen standen die schont. Ratspräsident Charles Michel begrüßte ein de- nach dem Brexit zu regelnden Beziehungen zum zimiertes Plenum und verabschiedete ein noch dezi- Vereinigten Königreich auf der Agenda. Die Zeit mierteres. Der sich in Quarantäne befindende polni- drängt, und ein No-Deal-Szenario wird wahr- sche Premierminister Mateusz Morawiecki wurde von scheinlicher. Die EU demonstrierte Geschlossen- vorne herein von seinem tschechischen Kollegen heit und verdeutlichte, einen Deal nicht um jeden Andrej Babiš vertreten, Kommissionspräsidentin Ur- Preis zu wollen. Zum anderen diskutierte der Rat sula von der Leyen musste bereits am ersten Gipfeltag die EU-Klimaziele. Hierbei zeigte sich, dass die Ak- die Runde verlassen, da ein Mitarbeiter in ihrem nähe- zeptanz für ambitionierteren Klimaschutz insge- ren Umfeld positiv getestet wurde. Die finnische Pre- samt zunimmt. Dennoch wird es in den nächsten mierministerin Sanna Marin wandte ihren Kollegen am Verhandlungsrunden eine große Herausforderung zweiten Tag ebenfalls den Rücken zu und begab sich bleiben, verschiedene Positionen in Einklang zu vorsorglich in Quarantäne. Angesichts dieser Um- bringen. Da das jetzige Treffen zudem inhaltlich stände musste sich Michel kritische Fragen gefallen und buchstäblich im Zeichen von Corona stand, lassen, ob ein Treffen in Präsenzform nötig gewesen dürfte hinter einem nächsten Gipfel in Präsenz- ist, besonders, da es nur zwei Wochen zuvor einen Son- form aber ein Fragezeichen stehen. Nichtsdestot- dergipfel gegeben hatte. Inhaltlich verständigte man rotz werfen nächste Treffen bereits ihre Schatten sich zum Thema Corona jedenfalls erneut auf eine en- voraus. Abgesehen vom Thema strategische Part- gere Zusammenarbeit und bessere Koordination. Dies nerschaft mit Afrika diskutierte der Rat nämlich in betrifft insbesondere die Quarantänevorschriften, die außenpolitischer Hinsicht erneut die sich ver- Test- und Impfstrategien sowie die Reisbeschränkun- schärfenden Spannungen mit der Türkei. Mögliche gen. Michel betonte ausdrücklich, dass sich die EU und Entscheidungen hierzu wurden allerdings vertagt, die Mitgliedsstaaten bemühen, besser und effektiver vorerst. zusammenzuarbeiten. Gleichzeitig unterstrich er, dass die Kompetenzen jedoch in diesem Politikfeld nahezu Nachdem es noch vor lediglich zwei Wochen einen ausschließlich bei den einzelnen Mitgliedsstaaten lie- Sondergipfel gegeben hatte, trafen sich die Staats- und gen. Regierungschefs nun erneut in Präsenzform in Brüssel, dieses Mal zu einem regulär angesetzten Ratsgipfel. Kurz nach dem Gipfel verkündete Angela Merkel au- Die Corona-Infektionszahlen waren seit dem letzten ßerdem, dass der geplante informelle Gipfel zu China Treffen in fast allen Mitgliedsstaaten stark gestiegen. im November in Berlin abgesagt wird. Ob der nächste Einige Länder überschreiten bereits die Höchstwerte Ratsgipfel in acht Wochen wieder in Brüssel stattfin- vom Frühjahr und führen wieder verstärkt Maßnah- den wird oder man sich, wie zu Beginn der Pandemie,
Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. Ratsbericht Oktober 2020 2 2 wieder virtuell treffen wird, wird in den kommenden konnte und ein No-Deal-Szenario damit immer wahr- Wochen entschieden. scheinlicher wird. Brexit Entwicklung Hintergrund Bei der Ankunft zum Gipfel unterstrichen zahlreiche Staats- und Regierungschefs den Willen zur Einigung, Im zähen Ringen um die künftigen Beziehungen zwi- betonten jedoch, dass ein Abkommen nicht um jeden schen der Europäischen Union und dem Vereinigten Preis angestrebt werde. Bundeskanzlerin Angela Mer- Königreich standen die Zeichen vor dem Ratsgipfel auf kel erklärte bei ihrer Ankunft im Europa-Gebäude, es Konfrontation und ließen die Möglichkeit eines Aus- müsse „ein faires Abkommen sein, von dem beide Sei- tritts ohne Abkommen wahrscheinlicher werden. Ende ten profitieren können“. Diesem Tenor schlossen sich September hatten sich die beiden Chefunterhändler sowohl mehrere Amtskollegen als auch Ratspräsident Michel Barnier (EU) und David Frost (Vereinigtes Kö- Charles Michel an. Insgesamt wurde deutlich, dass der nigreich) zur neunten – und formal letzten – Verhand- Europäische Rat den Ball nach den jüngsten Entwick- lungsrunde der Brexit-Gespräche getroffen und ver- lungen im britischen Feld sieht und erwartet, dass Lon- sucht, die größten Meinungsverschiedenheiten aus don Bewegung in die festgefahrenen Verhandlungen dem Weg zu räumen. bringt. Irlands Premierminister Micheál Martin be- Die anfängliche (zumindest öffentlich kundgetane) Zu- tonte vor der Abreise nach Brüssel, dass sich das Nach- versicht Barniers wich jedoch nur einen Tag später, als barland in den noch offenen Fragen bewegen müsse, das britische Unterhaus dem von der Regierung Boris da die Zeit für eine Einigung immer knapper werde. Johnson eingebrachten Binnenmarktgesetz mehrheit- Beim Eintreffen in der belgischen Hauptstadt unter- lich zustimmte. Dieses selbst innerhalb der britischen strich er nochmals die roten Linien der Verhandlun- Politik umstrittene „Internal Market Bill“ sieht einsei- gen. Während sich die Vertreter der baltischen Staaten, tige Veränderungen des mit der Europäischen Union die traditionell enge Beziehungen mit Großbritannien ausgehandelten Austrittsabkommens vor. So sollen pflegen, dafür stark machten, die Differenzen zu über- etwa die darin festgeschriebenen Zollregelungen und brücken und gemeinsam an einem Kompromiss zu ar- Ausfuhrkontrollen im Warenhandel zwischen dem beiten, erklärte Frankreichs Präsident Emmanuel zum Vereinigten Königreich gehörenden Nordirland Macron, dass die EU für einen Austritt ohne Abkom- und Großbritannien sowie EU-Vorgaben im Bereich men bereit sei. der Staatshilfen für britische Unternehmen ausgesetzt Als EU-Chefunterhändler Barnier mit den Staats- und werden. Mit diesen Änderungen verspricht sich die bri- Regierungschefs zusammentraf, mussten diese ihre tische Regierung eine bessere Ausgangssituation für Mobiltelefone abgeben, um sicherzustellen, dass die den Fall, dass kein Abkommen mit Brüssel erzielt wer- Verhandlungen über mögliche Spielräume im Umgang den kann. Auf Seiten der EU stieß dieses Vorgehen er- mit dem Vereinigten Königreich nicht vorschnell nach wartungsgemäß auf wenig Gegenliebe. Die Union lei- außen dringen. Barnier betonte, dass er der britischen tete am 1. Oktober ein Vertragsverletzungsverfahren Seite angeboten habe, in den kommenden Wochen in- wegen einseitiger Verstöße gegen das Austrittsabkom- tensiv zu verhandeln, um eine Einigung noch vor Ende men ein. Mit Blick auf das angestrebte Handelsabkom- des Monats erzielen zu können. Diese Deadline gilt als men galt fortan die Marschroute, dass man zwar an ei- essentiell, da das größte Handelsabkommen in der Ge- nem Deal mit dem ehemaligen Mitgliedsstaat interes- schichte der Staatengemeinschaft vor Inkrafttreten siert sei, diesen jedoch nicht um jeden Preis zu errei- noch von beiden Seiten beraten und ratifiziert werden chen versuche. muss. Um einem Abkommen und damit einem geregel- Bei den Verhandlungen zum Handelsabkommen und ten Ausscheiden des Vereinigten Königreiches aus der damit zu den zukünftigen Beziehungen zwischen Brüs- EU einen Schritt näher zu kommen, wolle Barnier be- sel und London liegen die größten Differenzen in den reits am kommenden Montag nach London reisen und Bereichen Fischerei, einheitliche Regelungen zu mit seinem britischen Pendant weiter verhandeln. An Staatshilfen im Wirtschaftsbereich (Level Playing der Grundausrichtung der Mitgliedsstaaten und damit Field) und Streitschlichtung, die vor allem auf gegen- dem – aus britischer Sicht – Hauptgrund des Stillstands seitiges Vertrauen zwischen den Verhandlungspart- änderte sich jedoch auch während dieses Gipfels nern abzielt. War der Gipfel bis vor wenigen Monaten nichts. noch als Endpunkt der Verhandlungen über die zu- In der Abschlusserklärung sprachen sich die Staats- künftigen Beziehungen angesehen worden, wich diese und Regierungschefs zwar geschlossen für die Fortfüh- Hoffnung im Laufe der vergangenen Wochen der Ge- rung der Verhandlungen aus und betonten, weiterhin wissheit, dass (bislang) keine Einigung erzielt werden
Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. Ratsbericht Oktober 2020 3 3 an einer gütlichen Einigung mit dem Vereinigten Kö- Trotz verbaler Aufrüstung aus London kann jedoch nigreich interessiert zu sein sowie möglichst enge Be- konstatiert werden, dass Boris Johnson die Verhand- ziehungen zwischen beiden Seiten anzustreben. lungen – anders als zuvor mit Blick auf den 15. Oktober Gleichzeitig machten die Staats- und Regierungschefs angekündigt – trotz aktuell geringer Aussicht auf Er- jedoch unmissverständlich klar, dass der Schlüssel zur folg nicht abgebrochen hat. Die aufgrund der Corona- Lösung der ungeklärten Fragen in London liege und Pandemie bereits ohnehin erheblichen wirtschaftli- sich die britische Regierung in maßgeblichen Punkten chen Einbußen seines Landes dürften dabei eine ent- auf die Position der EU27 zubewegen müsse. Zugleich scheidende Rolle gespielt haben. Am Ende des Tages erneuerten die Teilnehmer ihre deutliche Kritik am kann das Vereinigte Königreich kein Interesse an ei- Binnenmarktgesetz und unterstrichen, dass das aus- nem solchen Szenario haben. Doch auch für die EU ist verhandelte Austrittsabkommen vollständig umge- die Liste der negativen Implikationen, die mit einem setzt werden müsse. Um für alle Eventualitäten vorbe- solchen Schritt einhergehen würden, lang: Zollschran- reitet zu sein, verabredeten die Staats- und Regie- ken würden wiederaufgebaut, die Wettbewerbsbedin- rungschefs jedoch auch, sich verstärkt auf ein No-Deal- gungen könnten sich auseinanderentwickeln, und der Szenario vorzubereiten, um sicherzustellen, dass die störungsfreie Personen-, Waren- und Dienstleistungs- ökonomischen Folgen eines ungeordneten Ausschei- verkehr würde (zumindest zeitweise) unterbrochen dens abgefedert werden könnten. werden. Dies beträfe vor allem die Staaten, deren Wirt- schaftsbeziehungen zu Großbritannien bislang beson- Die Reaktion aus London ließ nicht lange auf sich war- ders eng waren (z.B. Irland, die Niederlande, Belgien, ten: Chefunterhändler Frost zeigte sich von den Brexit- Frankreich und Deutschland). Beschlüssen des Europäischen Rats überrascht und enttäuscht. Per Twitter erklärte er, dass von EU-Seite Die kommenden Wochen werden zeigen, ob in letzter augenscheinlich kein Wille mehr vorhanden sei, inten- Sekunde doch noch eine Lösung am Verhandlungstisch siv an den zukünftigen Beziehungen zu arbeiten und gefunden werden kann, und ob die Briten den Vertrau- bezeichnete die Forderung nach ausschließlich briti- ensbruch, der durch die Verabschiedung des Binnen- schen Zugeständnissen als „unüblichen Verhandlungs- marktgesetztes vollzogen wurde, wiedergutmachen ansatz“. Boris Johnson stimmte seine Landsleute am können. Mit Blick auf mögliche Zugeständnisse auf Sei- Freitag in einem TV-Interview auf einen harten Brexit ten der Europäischen Union wird es vor allem darauf ein und konstatierte ebenfalls, dass die EU offensicht- ankommen, die Geschlossenheit der 27 zu bewahren lich kein Interesse an einem Freihandelsabkommen und Staaten, denen diese Kompromisse besonders mit dem Vereinigten Königreich habe. Mit Blick auf schwerfallen, mit anderweitigen Entschädigungen ent- mögliche weitere Verhandlungen betonte Johnson, gegenzukommen. dass das Verhandlungsteam der EU willkommen sei, aber nur, wenn es seinen Ansatz „fundamental“ än- Klimawandel dere. Kommissionspräsidentin von der Leyen und Ratspräsident Michel äußerten sich anschließend un- Hintergrund abhängig voneinander und betonten, man arbeite wei- Vor einem Jahr wäre die Diskussion um eine Reduktion terhin an einem Durchbruch, um die Verhandlungen von 55 Prozent der Treibhausgase bis 2030 im Ver- mit einem Deal abzuschließen. Charles Michel betonte: gleich zum Niveau des Jahres 1990 womöglich kaum „Die Beschlüsse des Gipfels haben Bestand. Was ges- denkbar gewesen. Seitdem hat sich viel getan: Neben tern richtig war, bleibt auch heute richtig“. der Vorstellung des Green Deals haben sich die Staats- Kommentar und Regierungschefs beim Dezembergipfel letzten Jah- res – mit Ausnahme von Polen – darauf geeinigt, bis Mit Blick auf ein mögliches Freihandelsabkommen 2050 Klimaneutralität zu erreichen. Dieses Ziel wurde zwischen der Europäischen Union und dem Vereinig- anschließend in den Vorschlag für das erste europäi- ten Königreich haben die Staats- und Regierungschefs sche Klimagesetz (März 2020) aufgenommen. Seitdem im Rahmen dieses Gipfels ihre Verhandlungsposition wurde das Thema jedoch im Europäischen Rat nicht gegenüber den britischen Partnern unterstrichen. Ein mehr schwerpunktmäßig behandelt. Die Corona-Pan- Abkommen wird angestrebt, jedoch nur, wenn die Rah- demie, die Verhandlungen zum Mehrjährigen Finanz- menbedingungen stimmen. Während einzelne Mitglie- rahmen (MFR) sowie zum Recovery Fund beherrsch- der des Rates nach Ende des Gipfels die verbindenden ten in der Zwischenzeit die Debatten. Dennoch wurde Elemente beider Seiten hervorhoben, erklärte Emma- bei den vorgeschlagenen Plänen zur Krisenbewälti- nuel Macron in seiner Pressekonferenz, dass es nicht gung immer das grüne und digitale Transformations- die Aufgabe der EU sei, Boris Johnson glücklich zu ma- potential betont. Das Aufbauinstrument „Next Genera- chen und verband damit die erneute Aufforderung an tion EU“ zur Ankurbelung der Konjunktur mit einer die gegenüberliegende Seite des Ärmelkanals, sich in Schlagkraft von 750 Milliarden Euro und der MFR sind den Verhandlungen zu bewegen.
Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. Ratsbericht Oktober 2020 4 4 darauf ausgelegt, ausdrücklich EU-Programme zu un- Sebastian Kurz hält den Vorschlag für grundsätzlich terstützen, die zur Beschleunigung des ökologischen sinnvoll, fordert jedoch weitere Maßnahmen, um die und digitalen Wandels und damit maßgeblich zum Kli- Ziele besser mit der Wirtschaft zu vereinbaren. maschutz beitragen sollen. Insgesamt wächst jedoch die Zustimmung für das neue Im März verabschiedeten die Umweltministerinnen Ziel, eine Entwicklung, die auch Merkel in der anschlie- und -minister der EU die langfristige Klimastrategie ßenden Pressekonferenz herausstellte. Weitere Län- der EU zur Verringerung der Treibhausgasemissionen, der wie Griechenland und Italien, Belgien unter der die bis Ende 2020 gemäß dem Übereinkommen von neuen De Croo-Regierung sowie die zwei südosteuro- Paris dem UNFCCC vorgelegt werden muss. Jeder Mit- päischen Mitglieder Rumänien und Kroatien haben die gliedsstaat muss nun bis Ende des Jahres seinen natio- Unterstützung der Klimaziele zum Teil verkündet oder nalen Plan (NDCs; Nationally determined contributi- zumindest angedeutet. Zu den ehrgeizigsten Kandida- ons) einreichen. ten zählt wohl Estland. „Wir [Estland] streben sogar 70 Prozent weniger an“, sagte der estnische Ministerprä- Im September folgte dann die Vorstellung des „2030 sident Jüri Ratas zu Beginn des Gipfels. Climate Target Plan“. Dieser Vorschlag der Kommis- sion sieht vor, das Europäische Klimagesetz zu ver- Wie zu erwarten, wurde der Beschluss über das neue schärfen, indem das 55-Prozent-Ziel für 2030 in das Klimaziel für 2030 auf den Dezembergipfel verscho- Europäische Klimagesetz als Zwischenziel eingebaut ben. Nach dem Gipfel betonte Merkel nochmals, dass werden soll. Laut der Folgeabschätzung (Impact Asses- im Dezember eine Entscheidung getroffen werden sment) kam die Kommission zu dem Ergebnis, dass die wird und Deutschland mit dem 55-Prozent-Ziel „sehr Reduktion um 50 bis 55 Prozent aus volkswirtschaftli- einverstanden“ ist. Die Entscheidung sei „eine Frage cher Sicht möglich ist. Bisher liegt die Zielvorgabe bei des Ehrgeizes, aber auch eine Frage der Solidarität zwi- 40 Prozent. Das 55-Prozent-Ziel soll außerdem als NDC schen den Mitgliedsstaaten“, so Michel auf der Presse- aufgenommen und dem UNFCCC-Sekretariat mitgeteilt konferenz. werden. Kommentar Anfang Oktober stimmte das Parlament mit knapper Kurz gesagt, die Abschlusserklärung fiel erwartungs- Mehrheit für ein noch ambitionierteres Klimaziel: 60 gemäß nüchtern und knapp aus. Schon vorab wurde Prozent weniger Emissionen bis 2030! Trotz des er- über den Wortlaut der Erklärung debattiert, denn in höhten Drucks seitens des Parlaments sollte es bei die- der Erklärung heißt es nicht, wie so oft, dass die Vor- sem Ratsgipfel hauptsächlich um eine erste Grundsatz- schläge der Kommission begrüßt werden, sondern in debatte über das Klimaziel 2030 gehen. Eine finale Ent- diesem Fall wurden sie nur „diskutiert“. Trotzdem lässt scheidung wird erst beim nächsten Ratsgipfel im De- sich mittlerweile eine erhöhte Zustimmung zu dem Kli- zember erwartet. Mit der Verabschiedung des Klima- maziel feststellen. Die Klimaambitionen werden gesetzes im Dezember würde die deutsche Bundesre- grundsätzlich von allen Mitgliedsstaaten unterstützt, gierung damit auch im Zeitplan ihrer eigenen Agenda nur das vorgeschlagene Tempo wird von einigen Län- für die Ratspräsidentschaft bleiben. dern nicht mitgetragen. Es bleibt fraglich, wie und in Entwicklungen welcher Form Michel und die Unterstützer der Klima- ziele die Gegner Tschechien und Bulgarien bis Dezem- Kurz vor dem Gipfel haben sich elf Mitgliedsstaaten ber überzeugen können. In der abschließenden Presse- (Dänemark, Estland, Finnland, Frankreich, Irland, Lett- konferenz erwähnte er ausdrücklich noch einmal, dass land, Luxemburg, die Niederlande, Portugal, Spanien die nationalen Umstände und Ausgangspunkte natür- und Schweden) mit einer gemeinsamen Erklärung aus- lich berücksichtigt werden. Zur Erinnerung: Nicht je- drücklich hinter den Kommissionsvorschlag gestellt, der Mitgliedsstaat muss gleichermaßen CO2-Emissio- den Ausstoß der Treibhausgase bis 2030 um mindes- nen reduzieren. Im Frühjahr 2021 wird die Kommis- tens 55 Prozent zu reduzieren. Bundeskanzlerin Mer- sion eine Lastenverteilung vorschlagen, dabei wird ein kel signalisierte ebenfalls die Unterstützung Deutsch- jeweiliger Zielwert pro Land definiert. lands und betonte, dass sich alle EU-Mitgliedsstaaten bis Dezember gemeinsam zu diesem Ziel bekennen Im Dezember sind die Staats- und Regierungschefs sollten. Bulgarien und Tschechien lehnen die neuen dann regelrecht gezwungen, eine Entscheidung zu tref- EU-Klimaziele jedoch nach wie vor ab. Beide halten an fen. Zumal einen Tag später, am 12. Dezember, die Fol- dem bestehenden 40-Prozent-Ziel fest, welches laut gekonferenz des Madrider Klimagipfel 2019 geplant Regierungschef Bojko Borissow für Bulgarien die „ab- ist. Konkrete Ergebnisse wären zu diesem Zeitpunkt si- solute Obergrenze“ darstellt. Das stark von der Kohle cherlich von Vorteil, um auch auf internationaler abhängige Polen vertritt ähnliche Ansichten und be- Bühne die oft betonte Vorreiterrolle in Sachen Klima- fürchtet, erhebliche wirtschaftliche Einschnitte. Öster- schutz wirklich zu übernehmen. Eine gemeinsame Ent- reich zählt ebenfalls zu den Kritikern. Bundeskanzler
Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. Ratsbericht Oktober 2020 5 5 scheidung zum Klimagesetz ist außerdem Vorausset- jüngst gemeinsam an, Varosha wieder zugänglich zu zung für die dann bevorstehenden Verhandlungen mit machen, obwohl es de jure zum Gebiet der Republik dem Europäischen Parlament. Zypern gehört. Entwicklungen Außenpolitik Bereits kurz vor Beginn des Gipfels und am ersten Gip- Hintergrund feltag drängten die Mitgliedsstaaten Griechenland und Der zweite Tag des Ratsgipfels stand überwiegend im Zypern, das Thema Türkei erneut auf die Gipfelagenda Zeichen von Außenpolitik. Bereits beim Sondergipfel zu nehmen. Besonders der griechische Ministerpräsi- Anfang Oktober waren außenpolitische Themen domi- dent Kyriakos Mitsotakis (Nea Dimokratia, EVP) schlug nierend gewesen. Bei jenem Treffen vor zwei Wochen einen nachdrücklichen Ton an. „Die Türkei ist konsis- hatten sich die Staats- und Regierungschefs ausführ- tent hinsichtlich ihres provokativen und aggressiven lich den Themen Türkei, Belarus und China gewidmet, Handelns. Die EU muss ebenfalls Konsistenz zeigen“, sowie dem Giftanschlag auf den russischen Oppositio- sagte Mitsotakis und forderte Konsequenzen, falls die nellen Alexei Navalny. Nun standen die Beziehungen Türkei ihr Verhalten nicht ändere. der EU zu Afrika prominent auf der Gipfelagenda. Wei- Ratspräsident Michel willigte ein, das Thema Türkei tere außenpolitische Topthemen spielten allerdings für den zweiten Tag des Gipfels auf die Agenda zu neh- erneut eine wichtige Rolle, wenngleich sie im Vorfeld men und in der Tat beinhaltete die Abschlusserklärung nicht auf der Agenda des Gipfels zu finden waren. erneut diesbezügliche Beschlüsse. Allerdings sind Die Beziehungen zu Afrika sind seitens der EU bereits diese nicht substanziell abweichend von den Positio- seit knapp einem Jahr in der Prioritätenliste nach oben nen, auf die man sich schon beim letzten Mal geeinigt gerückt. Ursula von der Leyen war kurz nach ihrem hatte. Eher sind sie als unterstreichend zu bewerten Amtsantritt Anfang Dezember 2019 ganz bewusst auf und bedeuten, dass das Thema auf Wiedervorlage für ihrer ersten Auslandsreise als Kommissionspräsiden- den nächsten Gipfel gelegt wird. Der Rat fordert An- tin nach Addis Abeba, dem Sitz der Afrikanischen kara dazu auf, die zuvor erwähnten Handlungen einzu- Union, gereist. Dies war als starkes Symbol aufgenom- stellen und auf einen Abbau der Spannungen hinzuar- men worden, eine neue Partnerschaft mit Afrika anzu- beiten. Außerdem bekräftigt er seine uneinge- streben. Die Corona-Pandemie nahm in diesem Jahr je- schränkte Solidarität mit Griechenland und Zypern. doch die Dynamik aus diesem Prozess. Eigentlich hätte Die gemeinsamen Beschlüsse zum Thema Afrika sind es in 2020 einen Gipfel zwischen der Europäischen und umfänglich und dürften bei den Staats- und Regie- der Afrikanischen Union geben sollen. Charles Michel rungschefs weitestgehend unstrittig gewesen sein. Die musste diesen jedoch auf das nächste Jahr verschieben. Formulierungen unterstreichen die wichtige Rolle der Nichtsdestotrotz besuchte der Außenbeauftragte der strategischen Beziehung in vielerlei Hinsicht. Die EU EU, Joseph Borrell, nun jüngst die Afrikanische Union. sei Afrikas größter Handels-, Investitions- und Ent- Mit diesem Besuch und dem aktuellen Ratsgipfel mit wicklungspartner. Außerdem wird die Notwendigkeit Afrika auf der Agenda versucht die EU offensichtlich, einer engen Zusammenarbeit besonders im aktuellen die Erneuerung einer Partnerschaft mit Afrika weiter Kontext der Corona-Pandemie betont. voranzutreiben. Nur ein Punkt führte zwischen den Staats- und Regie- Die Lage im östlichen Mittelmeer rund um die Erschlie- rungschefs offenbar zu Diskussionen. Einige Mitglieds- ßung von Gasfeldern und die Spannungen mit der Tür- staaten forderten mit Blick auf den Themenkomplex kei waren bereits beim vorangegangenen Ratsgipfel Migration, dass Rückführungen und ein Rücknahmeab- ein Thema mit hoher Priorität gewesen. Die Gipfeler- kommen Erwähnung finden sollten. Letztlich heißt es klärung hatte verschiedene Beschlüsse umfasst, die im Abschlussdokument ausführlich, aber umständlich, von vielen Kommentatoren als eine Strategie mit Zuck- die EU möchte „zusammenarbeiten, um die Frage der erbrot und Peitsche gegenüber Ankara interpretiert Mobilität und alle Aspekte der Migration, einschließ- worden waren. In der Zwischenzeit hatte die Türkei je- lich der regulären Migration, der Bekämpfung der ille- doch erneut ein Erkundungsschiff in das von Griechen- galen Migration, der Rückübernahme sowie der Be- land beanspruchte Seegebiet entsandt. Hinzu kommt kämpfung von Schleusernetzen, auf beiden Kontinen- eine neue Provokation der Türkei, die das seit den ten und zwischen ihnen, zu behandeln.“ Die gewählte 1970er Jahren zur Geisterstadt verfallene Varosha be- Formulierung verdeutlicht die Komplexität des The- trifft. Dieser einstige Touristenort liegt im militäri- mas Migration eindrücklich, ist gleichwohl in Einklang schen Sperrgebiet zwischen der Republik Zypern (EU- mit dem jüngst von der Kommission vorgestellten Mig- Mitglied) und der türkischen Republik Nordzypern. rationspakt, der die Migrationspolitik der EU neu zu re- Nordzyperns Premierminister Ersin Tatar und der tür- geln versucht. Ebenfalls ein Unterfangen mit hoher kische Präsident Recep Tayyip Erdoğan kündigten
Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. Ratsbericht Oktober 2020 6 6 Komplexität und ein Thema, welches den Rat bald be- Der für das nächste Jahr vorgesehene Gipfel von Afri- schäftigen wird. kanischer und Europäischer Union kann hierbei eine wichtige Rolle spielen. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass die The- men Belarus, südliche Partnerschaft und der Abschuss Das Thema Türkei beschäftigte den Rat bei diesem Gip- von Flug MH17 ebenfalls Erwähnung im Abschlussdo- fel unliebsamer Weise erneut. Auch wenn Charles Mi- kument des Gipfels fanden. chel es womöglich gerne nicht auf die Agenda gehoben hätte, so blieb ihm angesichts der neusten türkischen Kommentar Provokationen keine Wahl. Die beim letzten Ratsgipfel Die Tatsache, dass der Rat sich der Partnerschaft mit gewählte Zuckerbrot-und-Peitsche-Strategie hat ihr Afrika ausführlich widmete, ist ein wichtiges Zeichen. Ziel, die Türkei zur Deeskalation zu bringen, bisher ein- Besonders unter dem Eindruck aktueller Krisenthe- deutig verfehlt. Aktuell deutet zudem nichts darauf hin, men wie der Corona-Pandemie oder dem drohenden dass die Strategie in den kommenden Wochen Wir- No-Deal-Brexit ist es ein beruhigendes Signal, dass der kung entfalten könnte. Dennoch entschied man sich, Rat strategisch wichtige Themen auch im Modus des die Drohkulisse aktuell unverändert zu lassen und ver- Krisenmanagements nicht aus den Augen verliert. Dass tagte mögliche Verschärfungen. Es ist wahrscheinlich, es ausgerechnet beim Themenkomplex Migration die dass man sich beim nächsten Treffen, ob in Präsenz- einzigen wirklichen Diskussionen gab, zeigt jedoch, form oder virtuell, dem Thema Türkei erneut wird zu- dass Afrika seitens der EU vornehmlich aus der Migra- wenden müssen. Dass sich die Ausgangslage bis dahin tionsperspektive betrachtet wird. Einerseits ist dies maßgeblich geändert haben wird, ist unwahrschein- nachvollziehbar, besonders aus der Wahrnehmung der lich. Immerhin könnte bis dahin ein neuer US-Präsi- von illegaler Migration am meisten betroffenen Mit- dent gewählt worden sein, der wieder einem verstärkt gliedsstaaten. Andererseits sollte der Erneuerung der multilateralen Ansatz in der internationalen Politik fol- Partnerschaft mit Afrika unabhängig vom Thema Mig- gen könnte. Dass Präsident Erdoğan aber auf Deeska- ration auch aus strategischen Gründen hohe Priorität lation umschwenkt, ist in jedem Fall unwahrscheinlich. eingeräumt werden. Zurecht stellt der Rat fest, „es gibt Sicher wird er aber nicht um jeden Preis an seinem nicht nur Herausforderungen, sondern auch Chancen“. Vorgehen festhalten. Sollte der EU keine andere Wahl Um diese Chancen zu nutzen, sollte die EU den Weg ei- bleiben, müssen und sollten die Staats- und Regie- ner Erneuerung der Partnerschaft mit Afrika konse- rungschefs beim nächsten Treffen mögliche Sanktio- quent fortsetzen und – ohne Migration auszuklam- nen gegen die Türkei diskutieren. mern – alle relevanten Themen in den Blick nehmen. Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. Dr. Hardy Ostry Leiter Europabüro Brüssel www.kas.de/bruessel hardy.ostry@kas.de Der Text dieses Werkes ist lizenziert unter den Bedingungen von „Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international”, CC BY-SA 4.0 (abrufbar unter: https://creativecom mons.org/licenses/ by-sa/4.0/legalcode.de) www.kas.de
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