RECHTS-POPULISTISCHE PARTEIEN IN EUROPA: EINBINDUNG ODER ISOLATION? - Josef Lentsch / Marie Wutzler

 
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RECHTS-
POPULISTISCHE
PARTEIEN IN EUROPA:
EINBINDUNG ODER
ISOLATION?
Josef Lentsch / Marie Wutzler

                                ANALYSE
Impressum
Herausgeber
Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit
Truman-Haus
Karl-Marx-Straße 2
14482 Potsdam-Babelsberg

 /freiheit.org
 /FriedrichNaumannStiftungFreiheit
 /FNFreiheit

Autor
Josef Lentsch, Innovation in Politics Institute Germany
mit Unterstützung von Marie Wutzler

Redaktion
Referat Europa, Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit

Produktion
COMDOK GmbH

Kontakt
Telefon +49 30 220126-34
Telefax +49 30 690881-02
E-Mail service@freiheit.org

Stand
Juli 2020

Hinweis zur Nutzung dieser Publikation
Diese Publikation ist ein Informationsangebot der Friedrich-
Naumann-Stiftung für die Freiheit. Die Publikation ist kostenlos
erhältlich und nicht zum Verkauf bestimmt. Sie darf nicht von
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zum Zwecke der Wahlwerbung verwendet werden (Bundes-
tags-, Landtags- und Kommunalwahlen sowie Wahlen zum
Europäischen Parlament).
Inhalt
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS                               4

METHODISCHE HERANGEHENSWEISE                        5

ZUSAMMENFASSUNG                                     7

ZU GRUNDE LIEGENDE FAKTOREN HINTER DEN STRATEGIEN   9

LÄNDERKAPITEL                                       10

  ESTLAND                                           10

  FINNLAND                                          13

  NIEDERLANDE                                       16

  ÖSTERREICH                                        20

  SCHWEDEN                                          23

SCHLUSSFOLGERUNGEN                                  27
4   Einbindung oder Isolation?

Abkürzungsverzeichnis
ALDE		 Alliance of Liberals and Democrats for Europe        L Liberalerna
		     (Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa)   		 (Die Liberalen / Schweden)
		 Europäische liberale Parteienfamilie                    		ALDE-Mitglied

 C Centerpartiet                                              LI
                                                              Liberal International
		 (Zentrumspartei / Schweden)                                (Liberale Internationale)
		ALDE-Mitglied                                            		 Weltverband liberaler Parteien

 D66 Democraten 66                                         NEOS NEOS-Das Neue Österreich und Liberales Forum
		 (Demokraten 66 / Niederlande)                           		(Österreich)
		ALDE-Mitglied                                            		ALDE-Mitglied

 EK Eesti Keskerakond                                      PVV Partij voor de Vrijheid
		  (Estnische Zentrumspartei / Estland)                   		 (Partei für die Freiheit / Niederlande)
		ALDE-Mitglied                                            		rechtspopulistisch

EKR		European Conservatives and Reformists                 VVD Volkspartij voor Vrijheid en Democratie
     (Europäische Konservative und Reformer)               		 (Volkspartei für Freiheit und Demokratie /
		 Europäische Parteienfamilie konservativer               		Niederlande)
		 und europaskeptischer Parteien                          		ALDE-Mitglied

EKRE Eesti Konservatiivne Rahvaerakond                      PS Perussuomalaiset
		 (Estnische Konservative Volkspartei / Estland)          		 (Die Finnen / Finnland)
		rechtspopulistisch                                       		rechtspopulistisch

FPÖ Freiheitliche Partei Österreichs                        RE Reformierakond
		rechtspopulistisch                                       		 (Estnische Reformpartei / Estland)
                                                           		ALDE-Mitglied
FVD Forum voor Democratie
		 (Forum für Demokratie / Niederlande)                     SD Sverigedemokraterna
		rechtspopulistisch                                       		 (Schwedendemokraten / Schweden)
                                                           		rechspopulistisch
KESK Suomen Keskusta
		 (Finnische Zentrumspartei / Finnland)                   SFP Svenska Folkpartiet
		ALDE-Mitglied                                            		 (Schwedische Volkspartei / Finnland)
                                                           		ALDE-Mitglied
5

Methodische Herangehensweise
Die vorliegende Studie wurde im Zeitraum von Mai bis Juni                                     Konstruiert wird eine triadische Logik, „laut derer einem
2020 verfasst. Analysiert wurde der Umgang von neun libe-                                     moralisch reinen, homogenen Volk stets unmoralische,
ralen Parteien mit rechtspopulistischen Akteuren in fünf                                      korrupte und parasitäre Eliten gegenüberstehen – wobei
europäischen Ländern: Estland (Eesti Keskerakond, Reformie-                                   diese Art von Eliten eigentlich gar nicht wirklich zum Volk
rakond), Finnland (Svenska Folkpartiet, Suomen Keskusta),                                     gehört. [...] Die Eliten [gehen] eine unheilige Allianz mit
Niederlande (VVD, D66), Österreich (NEOS) und Schweden                                        parasitären Unterschichten ein, die ebenso nicht dem
(Liberalerna, Centerpartiet). Diese Länder wurden ausgewählt,                                 wahren Volk zuzurechnen sind“ 2.
um ein möglichst differenziertes Bild zu zeichnen, wie liberale
Parteien in nord-, mittel- und westeuropäischen Staaten mit                                   Yves Mény und Yves Surel3 heben drei Kernelemen-
rechtspopulistischen Parteien umgehen. „Liberale Parteien“                                    te des populistischen Narrativs hervor: (a) das Volk ist
werden in der vorliegenden Studie über ihre Zugehörigkeit zur                                 die Grundlage der politischen Gemeinschaft, (b) seine
liberalen europäischen Parteienfamilie (ALDE Party) definiert.                                Souveränität wird von einigen Akteuren oder Prozessen
                                                                                              missachtet, (c) dies müsse angeprangert und der Platz
Als Methoden kamen Primär- und Sekundärforschung zum                                          des Volkes in der Gesellschaft wiederhergestellt werden.
Einsatz. Primärquelle waren offizielle Vertreter und sach-                                    Siehe dazu etwa Donald Trump’s Motto „Make America
kundige Beobachter der Parteien, die in persönlichen, halb-                                   great again.”
strukturierten Videointerviews Rede und Antwort standen.
                                                                                              Rechtspopulisten nutzen dabei ihre Präsenz in der öffent-
Die Schlussfolgerungen dieser Studie basieren daher sowohl                                    lichen Debatte, um Diskurse zu prägen, zu verschieben
auf Analysen öffentlich zugänglicher Informationen sowie auf                                  und Agenda-Setting zu betreiben. Ziel ist es, durch Nut-
den Aussagen gut informierter Parteikenner. Aus Gründen der                                   zung von Reizvokabeln und kalkulierten provozierenden
Vertraulichkeit wurde auf namentliche Zitate verzichtet.                                      Verstößen gegen Höflichkeitsregeln und gesellschaft-
                                                                                              liche Normen die Grenzen des Sagbaren auszuweiten.
Anhand der auf diese Weise gewonnenen Informationen                                           Dabei steht weniger die politische Gestaltung durch
wurden die Parteien in Bezug auf ihrem Umgang mit rechts-                                     Regierungsbeteiligung als die Aufmerksamkeit und Deu-
populistischen Parteien entlang einer Achse von Isolation                                     tungshoheit im gesellschaftlichen und politischen Raum
(bzw. Nicht-Kooperation) zu Einbindung (bzw. Kooperation)                                     im Vordergrund.
geordnet. Des Weiteren wurden Faktoren, die die jeweilige
Strategie gegenüber den Rechtspopulisten erklären, verglei-                               b Rechtsradikalismus
chend herausgearbeitet.
                                                                                              Rechtsradikalismus ist ein Sammelbegriff für faschisti-
Zur Operationalisierung von Erfolg bzw. Misserfolg der von den                                sche, neonazistische, aggressiv nationalistische Ideolo-
Parteien angewandten Strategien werden in der Studie folgen-                                  gien. Er ist antipluralistisch, antiliberal, aggressiv nationa-
de quantitative und qualitative Indikatoren herangezogen:                                     listisch und entlang des Führerprinzips organisiert.

j ein Zuwachs bzw. Verlust an Stimmen bei Wahlen sowie                                        „Das Volk“ wird rassentheoretisch konstruiert und als „rei-
  die Unterstützung in Umfragen seit der letzten Wahl                                         nes Ganzes” dem „Fremden“ gegenübergestellt, gegen
j Regierungsbeteiligungen                                                                     das es sich zu verteidigen gilt. Grundlage dafür sind Ver-
j die subjektive Einschätzung der Parteienvertreter                                           schwörungstheorien wie „Umvolkung“ oder „der große
                                                                                              Austausch“.
In der folgenden Studie werden die Begriffe „Rechtspopulis-
mus“, „Rechtsradikalismus“ und „Rechtsextremismus“ folgen-                               b Rechtsextremismus
dermaßen definiert:
                                                                                              Rechtsradikalismus und Rechtsextremismus werden oft
    b Rechtspopulismus                                                                        synonym verwendet. In der deutschen Debatte unter-
                                                                                              scheidet das Bundesamt für Verfassungsschutz zwi-
      Als Rechtspopulismus wird die Ausformung des Popu-                                      schen den beiden Konzepten. Abgestellt wird dabei auf
      lismus im Bereich der politischen Rechten bezeichnet.                                   Gesinnung (radikal) versus Aktivität (extremistisch). „Als
      Kennzeichnend ist eine „Ideologie des Antagonismus                                      extremistisch werden die Aktivitäten bezeichnet, die dar-
      [...], die von einem ,reinen Volk‘ und einer ,korrupten Elite‘                          auf abzielen, die Grundwerte der freiheitlichen Demokra-
      ausgeht.“1 Rechte Parteien inszenieren sich dabei als Anti-                             tie zu beseitigen.”4
      Establishment Bewegungen, die sich gegen die herrschen-
      de „Machtelite“ in Wirtschaft, Politik und Kultur richten.
1
    https://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtspopulismus/240833/das-syndrom-des-populismus
2
    https://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/handle/document/60218/ssoar-zpth-2016-2-muller-Was_ist_Populismus.pdf;jsessionid=92175933D5CB8B2FB4601F4769C571E8?sequence=1
3
    https://link.springer.com/chapter/10.1057/9781403920072_1
4
    https://www.verfassungsschutz.de/de/service/glossar/extremismus-radikalismus
6   Einbindung oder Isolation?

Tab. 1 | Wahlergebnisse und Regierungsbeteiligungen der untersuchten Parteien seit 2010

                        2010    2011    2012    2013     2014     2015     2016     2017    2018   2019    2020

Centerpartiet            6,6%                             6,1%                              8,6%

D66                      6,9%           8,0%                                        12,2%

Keskerakond                     23,3%                             24,8%                            23,1%

Keskusta                        15,8%                             21.1%                            13,8%

Liberalerna              7,1%                             5,4%                              5,5%

NEOS                                             5,0%                               5.3%           8,1%

Reformierakond                  28,6%                             27,7%                            28,9%

SFP                             4,3%                               4,9%                            4,5%

VVD                     20,5%           26,6%                                       21,3%

        Regierungsbeteiligung
7

Zusammenfassung
Die in der vorliegenden Studie betrachteten liberalen Partei-        Die „Ja, aber“-Isolationisten arbeiten bei klarer Isolation auf
en verfolgen nicht eine, sondern durchaus unterschiedliche           der nationalen Ebene nur in Ausnahmefällen direkt oder
Strategien im Umgang mit Rechtspopulisten. Von den neun              indirekt kommunal zusammen, was mit den handelnden
Parteien in der Studie wählen sechs Parteien in unterschied-         Personen, der Autonomie der lokalen Organisationen und
licher Ausprägung die Strategie der Isolation und drei Par-          auch politischer Tradition begründet wird (Liberalerna, Center-
teien in ebenfalls verschiedenen Graduierungen die der Ein-          partiet, Reformierakond). Des Weiteren bestehen Fallbeispiele,
bindung. Auffallend ist, dass in drei von vier Ländern mit zwei      in denen liberale Parteien in der Opposition und Rechtspopu-
liberalen Parteien diese beiden Parteien jeweils unterschiedli-      listen gemeinsam Themen bearbeiten etwa im Rahmen von
che Strategien fahren; nur in Schweden arbeiten jeweils beide        Ausschüssen oder gegenseitiger Unterstützung von Anträ-
liberalen Parteien mit der selben Strategie.                         gen z.B. im Bereich parlamentarischer Kontrollrechte (NEOS).

Alle im Folgenden untersuchten liberalen Parteien sind Mit-
glied der Alliance of Liberals and Democrats for Europe Party        Kooperation
(ALDE Party), jedoch nur sieben von neun Parteien sind auch
Mitglied des liberalen Weltverbandes Liberal International (LI).     Die kleinere Gruppe der „Kooperatisten” untergliedert sich auf
NEOS besitzt bei LI nur Beobachterstatus, Eesti Keskerakon-          der einen Seite in jene, die zwar bereits mit Rechtspopulisten
dist kein LI-Mitglied.                                               regiert haben (KESK, VVD), aber klare rote Linien haben erken-
                                                                     nen lassen bzw. diese für die Zukunft formuliert haben (hier:
                                                                     „Ja, aber-Kooperatisten”); sowie auf der anderen Seite die
Isolation                                                            estnische Partei Eesti Keskerakond, die derzeit gemeinsam
                                                                     mit Rechtspopulisten regiert und außerhalb des Koalitionsab-
Die ”Isolationisten“ untergliedern sich in jene Parteien, die in     kommens keine roten Linien expliziert hat.
keiner Weise mit Rechtspopulisten kooperieren, und solche,
die dies nur mit lokalen Ausnahmen oder in klar umrissenen           Die „Ja, aber”-Kooperatisten begründen ihre Strategie mit
Grenzen im Parlament tun.                                            der Suche nach dem besten Koalitionspartner. Manchmal
                                                                     sei dies eine linke Partei, manchmal eine rechtspopulis-
Die erste Strategie könnte man als „Cordon sanitaire” oder           tische. Solange liberale Kernwerte nicht verletzt würden,
„Firewall”-Strategie bezeichnen. Den Rechtspopulisten soll auf       seien Koalitionen möglich. So wurde etwa die rechtspopu-
keiner Ebene keinerlei Zugang zu politischer Machtausübung           listische PVV von Geert Wilders in den Niederlande, mit der
gegeben werden. Begründet wird die Strategie einerseits              die VVD im Jahr 2010 eine Koalition eingegangen war, 2017
durch liberale Werte, die die jeweilige Partei zum „Gegenteil“       explizit als potenzieller Koalitionspartner ausgeschlossen.
oder zur „Antipode“ von Rechtspopulisten mache; anderer-             Diese Entscheidung hatte neben strategischen auch inhalt-
seits pragmatisch durch den zu erwartenden politischen Er-           liche bzw. wertebezogene Gründe.
folg, der für die jeweilige Partei mit starker Abgrenzung zu
rechtspopulistischen Positionen und deren Vertretern einher-         Auch die finnische KESK, die in der Vergangenheit mit den
geht, da ihre Wähler dies erwarteten. Je nach Situation geht         rechtspopulistischen Die Finnen regierte, sah rote Linien
diese Abgrenzung mit bewusstem Ignorieren oder scharfen              überschritten, als ein wegen Volksverhetzung Vorbestrafter
Attacken gegenüber den Rechtspopulisten einher.                      die Parteiführung des Koalitionspartners übernahm. KESK

Abb. 1 | Kooperation – Ja oder Nein?

                          Liberalerna
    SFP                   Centerpartiet
    D66                   Reformierakond                      NEOS

    NEIN                                       NEIN, aber …                                  JA, aber …                     JA

                                                                                             VVD             Eesti Keskerakond
                                                                                             KESK
8      Einbindung oder Isolation?

drohte in der Folge, die Koalition zu beenden. Die Finnen                                          Die Hypothese, Rechtspopulisten in der Regierung besser ver-
spalteten sich daraufhin: die daraus entstandene Partei                                            antwortlich zu halten und so „kleinkriegen” zu können, wird
Blaue Zukunft führte die Koalition weiter. Die Entscheidung,                                       zumindest im Fallbeispiel Estland widerlegt, wo die rechts-
mit der Partei Blaue Zukunft weiter zu koalieren, wird inner-                                      populistische EKRE in den Umfragen so stabil wie vor Regie-
halb der KESK so begründet, dass es besser sei, Rechtspo-                                          rungsantritt ist.
pulisten verantwortlich zu halten, anstatt sie in der Opposi-
tion groß werden zu lassen.                                                                        Die zur liberalen europäischen Parteienfamilie gehörende
                                                                                                   Eesti Keskerakond auf der anderen Seite hatte seit Beginn
Aus derzeitiger Sicht kommt das klarste „Ja” zu Einbindung                                         der Koalition mit EKRE massive Einbußen in den Umfragen
und Kooperation von der estnischen Eesti Keskerakond, die                                          hinnehmen müssen, die sie jedoch – zumindest zwischen-
sich gegenwärtig in einer Koalition mit der rechtspopulisti-                                       zeitlich – durch die Coronakrise und die damit verbundene
schen EKRE befindet und noch keine roten Linien hat erken-                                         erhöhte kurzfristige Unterstützung der Regierung durch die
nen lassen.                                                                                        Bevölkerung in Krisenzeiten wieder ausmerzen konnten. Un-
                                                                                                   geachtet dessen hat die Partei seit der Regierungsbildung mit
Die nachfolgende Studie hat ergeben, dass die Strategie der                                        EKRE signifikant an Zuspruch verloren. Nachdem sie bei den
Kooperation bei keiner der analysierten Parteien bisher erfolg-                                    Parlamentswahlen 2019 23 Prozent der Stimmen holte, ist sie
reich war. Liberale Parteien werden für eine Zusammenarbeit                                        aktuell auf einem Tiefstwert von 12 Prozent in Meinungsum-
mit Parteien am rechten Rand tendenziell vom Wähler abge-                                          fragen angelangt.
straft, wie die Beispiele der Keskusta in Finnland oder Eesti
Keskerakond in Estland zeigen.                                                                     In Finnland hat sich die rechtspopulistische Partei Die Fin-
                                                                                                   nen 2017 in der Regierung mit KESK gespalten, wie es auch
                                                                                                   die FPÖ in Österreich bereits in zwei Regierungen (Bundes-
Vergleich                                                                                          regierung Schüssel II 2003-2007, und Bundesregierung Kurz
                                                                                                   I 2017-2019) vorexerziert hat. Nur drei Jahre und eine Legis-
Von den sechs ”Isolationisten“ befinden sich derzeit zwei in                                       laturperiode später hatten sich die Umfragewerte von Die
einer Regierung (SFP, D66), zwei stützen eine rot-grüne Re-                                        Finnen aber bereits wieder erholt; zeitweise waren die Rechts-
gierung, ohne sich offiziell an dieser zu beteiligen (Centerpar-                                   populisten sogar stärkste Partei – ein Höhenflug, den erst die
tiet, Liberalerna), und zwei befinden sich in Opposition (NEOS,                                    Coronakrise beenden konnte.
Reformierakond). Von den drei ”Kooperatisten“ befinden sich
alle in einer Regierung (Eesti Keskerakond, KESK, VVD).                                            Während es zwar Evidenz dafür gibt, dass Rechtspopulisten
                                                                                                   in Regierungen besser öffentlichkeitswirksam verantwortlich
Langfristig betrachtet ist die VVD die erfolgreichste unter den                                    gehalten werden können als in der Opposition5, liegen um-
untersuchten liberalen Parteien: Sie ist seit 2010 in unter-                                       gekehrt zahlreiche Belege vor, dass die Normalisierung von
schiedlichen Konstellationen ununterbrochen an der Regie-                                          Rechtspopulisten durch Regierungsbeteiligungen verstärkt zu
rung und konnte in dieser Zeit ihre Wahlergebnisse immer                                           einer Diskursverschiebung6 beiträgt. Zusätzlich müssen „Kol-
über 20 Prozent halten. Aber auch die estnische Refomiera-                                         lateralschäden“ wie Korruptionsskandale und institutionelle
kond, die im Gegensatz zur VVD auf eine durchgängige Iso-                                          Schäden, und damit einhergehend ein möglicher Vertrauens-
lation der Rechtspopulisten setzt, ist langfristig betrachtet als                                  verlust der Bürger in die Politik, in Betracht gezogen werden.
hoch erfolgreich einzuschätzen; ebenso die SFP, die allerdings
als Repräsentantin einer ethnischen Minderheit mit regelmä-
ßig 4-5 Prozent der Stimmen eine Nischenstrategie fährt.

Tab. 2 | Analysierte Parteien und ihre Positionen im politischen System

                            Confidence &
 In Opposition In Regierung supply-Abkommen
			mit Minderheitsregierung

     Isolationisten                            NEOS (Österreich)                              SFP (Finnland)                          Centerpartiet** (Schweden)
                                               Reformierakond (Estland)                       D66 (Niederlande)                       Liberalerna** (Schweden)

Kooperatisten		 Eesti Keskerakond (Estland)
		KESK (Finnland)*
		VVD (Niederlande)*
*
    gegenwärtig ohne Beteiligung von Rechtspopulisten   **
                                                             C&S von rot-grüner Minderheitsregierung

5
    https://www.researchgate.net/publication/248944279_Success_in_Opposition_-_Failure_in_Government_Explaining_the_Performance_of_Right-Wing_Populist_Parties_in_Public_Office
6
    https://www.bpb.de/apuz/301138/vom-sagbaren-zum-machbaren-rechtspopulistische-sprache-und-gewalt
9

Zu Grunde liegende Faktoren
hinter den Strategien
Die unterschiedlichen Strategien der studierten Parteien          Die Struktur des politischen Systems und Landschaft:
erklären sich durch eine Vielzahl an internen und externen        In den Niederlanden ist die politische Landschaft von einer
Faktoren. Die wichtigsten Leitfragen dabei sind:                  Vielzahl an mittelgroßen und kleinen Parteien gekennzeich-
                                                                  net. Dieser Umstand sowie die strukturelle Notwendigkeit,
j		Politische Werte: Wie ist das Selbstverständnis                im parlamentarischen Betrieb eine doppelte Mehrheit in bei-
   der liberalen Parteien?                                        den Kammern zu erzielen, machen die Zusammenarbeit von
                                                                  mehreren Parteien notwendig und eine vollständige Isolati-
j		Politische Struktur: Was ist notwendig und was ist             on von Rechtspopulisten schwierig bzw. nicht zielführend. In
   möglich, um Mehrheiten zu schaffen? Wie ist der                Finnland wiederum gibt es auf lokaler Ebene keine Regierun-
   Parlamentarismus aufgebaut?                                    gen, sondern Gremien, in denen alle Parteien vertreten sind
                                                                  („Consensus government”). Auch dies macht eine komplette
j		Politische Kultur: Was ist akzeptabel?                         Isolation von vornherein schwierig und drückt sich dement-
   Welche allgemein akzeptierten Normen gibt es?                  sprechend inhaltlich aus.

Wie ist das Selbstverständnis?                                    Was ist akzeptabel?

Liberale Werte wurden in den Interviews, mit Ausnahme von         Die politische Kultur definiert, was in der Wählerschaft, aber
Eesti Keskerakond, von allen liberalen Parteien als ausschlag-    auch innerhalb des politischen Spektrums, an Konstellatio-
gebend für die getroffene Strategieentscheidung gegenüber         nen als zulässig betrachtet wird und was nicht. In den nor-
Rechtspopulisten ins Feld geführt. In unterschiedlicher Ge-       dischen Ländern gibt es etwa eine starke Tradition, dass
wichtung wurden Werte wie eine offene Gesellschaft, offene        große Parteien Verantwortung übernehmen. In Schweden
Märkte, individuelle Freiheit und Rechtsstaat genannt.            wurde Liberalerna von den Medien als „undemokratisch”
                                                                  angegriffen als sie die Schwedendemokraten in den Stadt-
                                                                  räten ignorierten. In Österreich ist die rechtspopulistische
Was ist notwendig, was ist möglich?                               FPÖ seit 1956 Teil des politischen Systems. Darüber hinaus
                                                                  war sie bereits in den 1980er Jahren an einer Regierung
Das liberale Umfeld:                                              beteiligt und später sowohl in den 2000er Jahren als auch
Gibt es eine oder zwei liberale Parteien im Land? In letzterem    jüngst von 2017 bis 2019. Eine Regierung stellte die FPÖ so-
Falle macht eine Differenzierung der Strategie machtpragma-       wohl mit den Sozialdemokraten wie auch mit der konserva-
tisch Sinn; eine Situation wie in Estland droht aber, das Klima   tiven Volkspartei. All das führte dazu, dass sowohl in einem
zwischen den beiden liberalen Parteien zu vergiften.              Großteil der Wählerschaft als auch innerhalb der politischen
                                                                  Klasse eine Zusammenarbeit mit der FPÖ nicht per se auf Un-
Das Umfeld der Gegner:                                            verständnis stößt.
Gibt es eine oder zwei rechtspopulistische Parteien im Land?
Zwei ermöglichen eine differenzierte Herangehensweise             Eine politische Strategie einer liberalen Partei muss alle die-
(siehe VVD gegenüber den beiden rechtspopulistischen Par-         se Faktoren, die in einem Spannungsverhältnis zueinander
teien PVV und FVD).                                               stehen, mit einbeziehen und sie gegeneinander gewichten.
                                                                  Das wirft viele Fragen auf. Im Folgenden werden die Antworten,
Die Natur der Gegner:                                             die die liberalen Parteien in den jeweiligen Ländern gefunden
Handelt es sich um eine Bewegung, die rechtsradikale Ele-         haben, analysiert.
mente duldet oder sogar als rechtsextrem zu bezeichnen ist,
oder um eine Bewegung, die zwar populistisch ist, aber das
Potenzial zu einer Mitte-Partei hat? Handelt es sich um

j „Rechtspopulismus 1.0“ – hier definiert als offen auslän-
  derfeindlich, plump, wenig innovativ (PVV, EKRE, PS);
   oder um

j „Rechtspopulismus 2.0“ – d. h. systemkritische, subtil
  fremdenfeindliche und unkonventionelle Parteien (FVD,
  FPÖ, SD)? Letztere sind schwerer zu fassen, wandelba-
  rer und sprengen oft das Rechts-Links-Schema, was eine
  klare Abgrenzung erschwert.
10 Einbindung oder Isolation?

Estland
            Situation                                                                             Sitze). 2002 und 2005 war Keskerakond an zwei Regierun-
                                                                                                  gen (2002 mit RE und 2005 mit RE und der Partei Volksunion)
In Estland gibt es zwei ALDE-Mitgliedsparteien im Parlament,                                      beteiligt. 2017 stellte die Partei erstmals mit Jüri Ratas den
Eesti Keskerakond (EK) und Reformierakond (RE), sowie eine                                        Premierminister in einer Koalition mit den Sozialdemokraten
rechtspopulistische Partei, die Eesti Konservatiivne Rahvae-                                      und der christdemokratischen Isamaa (Volksunion). Auf eu-
rakond (EKRE).                                                                                    ropäischer Ebene verschlechterten sich ihre Ergebnisse seit
                                                                                                  dem Höchststand 2009 von 26,1 Prozent (zwei der damals
                                                                                                  sechs Sitze) auf 22,4 Prozent 2014 und 14,4 Prozent bzw.
            Genese                                                                                einen Sitz bei der Europawahl 2019. Sie ist ALDE-Mitglied.
                                                                                                  2001 bewarb sich die Partei erfolglos für eine Mitgliedschaft
Die Estnische Konservative Volkspartei (EKRE) wurde im                                            bei Liberal International. Verglichen mit der Estnischen Re-
März 2012 aus den Resten der Estnischen Volksunion ge-                                            formpartei ist sie die kleinere der beiden liberalen Parteien
gründet, die 2011 ihre Repräsentanz im Parlament verlor.                                          Estlands.
Die 2006 gegründete rechtskonservative Estnische Nationa-
le Bewegung schloss sich der Partei an. Die Partei ist rechts-                                    Die Reformierakond (Reformpartei, RE) ist eine klassisch li-
radikal, EU-skeptisch, xeno- und homophob und pflegt                                              berale Partei. Ihre Vorsitzende ist seit April 2018 Kaja Kallas,
Kontakte zur deutschen Neonazi-Szene. So wurden die in                                            Tochter des Parteigründers Siim Kallas. 1994 gegründet, ist
Deutschland und Estland tätigen rechtsextremen „Soldaten                                          sie seit dem darauffolgenden Jahr im estnischen Parlament
Odins“ als Sicherheitspersonal bei EKRE-Parteiveranstaltun-                                       vertreten. 2003 erhielt die Partei, auch aufgrund ihrer EU-
gen angestellt.                                                                                   freundlichen Politik, 17,7 Prozent und damit 19 der 101 Par-
                                                                                                  lamentssitze und erneuerte ihre Regierungsbeteiligung. In
Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament 2014 erhielt                                            2007 steigerte sie dieses Ergebnis deutlich auf 27,8 Prozent,
die Partei nur 4 Prozent der Stimmen, konnte aber fünf Jahre                                      bzw. 31 Sitze. Dieses Ergebnis hält sie seitdem mit leichten
später ihr Ergebnis mit 12,7 Prozent deutlich steigern und                                        Schwankungen. Mit aktuell 34 Abgeordneten stellt sie die
hält zurzeit einen der sieben estnischen Sitze im Europäi-                                        größte Fraktion. Reformierakond stellte die Premierminister
schen Parlament. EKRE gehört dort der EU-skeptischen                                              von 2002–2003 (Siim Kallas), von 2005–2014 (Andrus An-
Fraktion Identität und Demokratie an, in der auch die Ver-                                        sip) und von 2014–2016 (Taavi Rõivas). Auf europäischer
treter der Lega (IT), des Rassemblement National (FR), der                                        Ebene konnte RE ihr Ergebnis seit 2004 (12,2 Prozent) bei
Alternative für Deutschland (DE) und der Freiheitlichen Partei                                    jeder Wahl verbessern (26,2 Prozent in 2019) und hält aktuell
Österreichs (AT) sitzen.                                                                          zwei der sieben estnischen Sitze im Europaparlament. RE ist
                                                                                                  Mitglied bei der ALDE Party und Liberal International.
Bei den nationalen Parlamentswahlen 2015 zog EKRE mit 8,1
Prozent ins Parlament ein und bildete die kleinste Fraktion
mit sieben Sitzen. Das Ergebnis steigerte sie 2019 auf 17,8                                                  Aktuelle Entwicklungen
Prozent bzw. 19 Sitze und ging daraufhin eine Regierungs-
koalition mit der liberalen Zentrumspartei (Keskerakond) und                                      Nach der Wahl 2019, aus der die Reformierakond als stärks-
der Volkssunion (Isamaa) ein. Sie stellt fünf der 15 Minister.                                    te Partei hervorging, schlug der amtierende Premierminister
Das von ihr geführte Ministerium für Außenhandel und Infor-                                       und Parteivorsitzende der Eesti Keskerakond Jüri Ratas ein
mationstechnologie musste innerhalb eines Jahres nach                                             Angebot der ebenfalls liberalen RE für Koalitionsverhandlun-
etlichen Skandalen (häusliche Gewalt, falsche Angaben ge-                                         gen aus und ging stattdessen eine Koalition mit der christ-
genüber dem Parlament) viermal neu besetzt werden. Auch                                           demokratischen Isamaa (Volksunion) und der rechtspopulis-
der Minister für ländliche Entwicklung musste nach Korrup-                                        tischen EKRE ein. Auf diese Weise konnte er Premierminister
tionsvorwürfen zurücktreten. Parteivorsitzender ist seit der                                      bleiben. Zuvor hatte er im Wahlkampf eine Koalition mit EKRE
Gründung im Jahr 2012 der Historiker und ehemalige Bot-                                           aufgrund ihrer ausländerfeindlichen Haltung ausgeschlos-
schafter in Moskau Mart Helme. Sein Sohn Martin Helme ist                                         sen. Die Entscheidung für eine Koalition mit der EKRE führte
sein Stellvertreter und Fraktionsvorsitzender.                                                    national und international zu großer Kritik und brachte Eesti
                                                                                                  Keskerakond zunächst niedrigere Umfragewerte ein.7 Auch
Die Eesti Keskerakond (Zentrumspartei) lässt sich im politi-                                      innerhalb der Partei gab es öffentliche Kritik und prominente
schen Spektrum mitte-links mit sozialpopulistischen Tenden-                                       Mitglieder kündigten ihren Austritt an.
zen verorten. Sie wurde wenige Wochen nach Erlangung der
Unabhängigkeit 1991 gegründet. Bei den Parlamentswah-                                             Ratas rechtfertigte seine Entscheidung damit, dass die Steu-
len 2003 erhielt sie 25,4 Prozent der Stimmen und somit 28                                        erpläne von RE nicht mit der Linie seiner Partei vertretbar
Sitze. Dieses Ergebnis konnte sie über die vergangenen Jah-                                       seien und die Partei auch in einer Koalition mit EKRE „weiter-
re mit kleineren Verlusten halten (2019: 23 Prozent, bzw. 26                                      hin für jede Person in Estland eintrete, unabhängig von Ge-

7
    https://poliitika.postimees.ee/6544638/uuring-valijad-eelistavad-koike-muud-kui-keskerakonna-ekre-isamaa-liitu
11

schlecht, Alter und Einkommen, Nationalität oder Wohnort.”8                                 sche nationale Autonomie ein. Die Bewahrung der „nationalen
Nicht zuletzt als Folge der Koalitionsabsage an RE stiegen                                  Identität“ steht an oberster Stelle. Zudem kritisiert sie die
deren Zustimmungswerte. Trotz dem unfreiwilligen Gang in                                    Zentralisierung der öffentlichen Verwaltung und Monopoli-
die Opposition bleibt RE auf Platz 1 der Umfragen.9                                         sierung der Medien.15

In der Coronakrise konnte allerdings auch Eesti Keskerakond
als Partei des Premierministers von dem „Rally around the                                   In ihren Kernthemen haben die drei Parteien keine offensicht-
flag“-Effekt profitieren und stieg seit März in den Umfragen.                               lichen Überschneidungen. Bis auf kurze Koalitionen 2002 und
Selbiges gilt für EKRE, die zwischenzeitlich ebenfalls an Zu-                               2005 gab es keine erfolgreiche Regierungszusammenarbeit
stimmung verloren hatte. Reformierakond musste in der Op-                                   zwischen Reformierakond und Eesti Keskerakond.
position hingegen seit März 2020 leichte Einbußen in den
Umfragen hinnehmen, blieb aber stärkste Partei. Zum Zeit-
punkt des Verfassens der Studie (Juli 2020) sind alle drei                                            Strategie
Parteien wieder in etwa auf dem Niveau der Parlamentswahl
von März 2019.                                                                              Reformierakond
                                                                                            Laut Vertretern von Reformierakond sei EKRE eine populis-
             Verhältnis von EKRE, Reformierakond                                            tische Partei alten Stils, die ihre Wählerschaft in ländlichen
             und Keskerakond in den Medien                                                  Regionen rekrutiere, denen es früher im sowjetischen Kol-
                                                                                            chosewesen bessergegangen sei. Die Partei sei nicht sehr
j		 Etliche Artikel konzentrieren sich auf die Kritik an Premier-                           innovativ, könne stattdessen jedoch gut mit Ängsten umge-
    minister Jüri Ratas und darauf, wie er Parteiprinzipien außer                           hen und wüsste die sozialen Medien, aber auch klassische
    Acht lässt, um seine eigene Machtposition zu erhalten.10                                Medien, für sich zu nutzen. So besitzt ihr Vorsitzender Ra-
                                                                                            diosender in ländlichen Gebieten, mit denen die EKRE zahl-
j		 Weiterhin wird über die interne Debatte in der Eesti Kesker-                            reiche Menschen erreiche.
    akond um den Umgang mit der Entscheidung des Vorsit-
    zenden berichtet.11                                                                     Eine Zusammenarbeit mit EKRE wurde von Reformierakond
                                                                                            ausgeschlossen. Vor der Parlamentswahl 2019 war die Stra-
j		In zahlreichen Artikeln wird über die Kritik von Reformie-                               tegie von RE, EKRE komplett zu ignorieren. Dies habe EKRE-
   rakond an der Regierung und Eesti Keskerakond berichtet,                                 Politiker sehr geärgert und sei eine gute Strategie gewesen.
   z.B. über ein mögliches Misstrauensvotum im Zusam-                                       Im Gegensatz dazu hätten die Sozialdemokraten EKRE unter
   menhang mit einer erhaltenen Spende und damit verbun-                                    politisches Dauerfeuer genommen, was ihre Bedeutung ver-
   dener Intransparenz.12                                                                   stärkt hätte. Aufgrund der fundamental unterschiedlichen
                                                                                            Werte sei laut RE-Führung keine wie auch immer geartete
                                                                                            Regierungszusammenarbeit mit EKRE realisierbar.
             Programmatischer Vergleich
                                                                                            Nach den Wahlen, in deren Folge Eesti Keskerakond und
Reformierakond vertritt klassische wirtschaftsliberale Posi-                                EKRE eine Koalition eingingen, habe sich die Situation aller-
tionen und setzt sich für eine Legalisierung weicher Drogen                                 dings drastisch verändert und einen Strategiewechsel nötig
sowie der Abschaffung der Wehrpflicht ein.13                                                werden lassen. EKRE sei sehr präsent in der Regierung, da
                                                                                            der Premierminister schwach sei. Damit werde die populis-
Eesti Keskerakond lässt sich politisch nicht leicht verorten.                               tische Agenda der EKRE gleichzeitig Regierungsagenda und
Während sie sich selbst als sozial-liberal beschreibt, stimmen                              könne nicht mehr ignoriert werden.
einige Positionen mit dieser Selbstpositionierung nicht über-
ein. So ist die Partei gegen die gleichgeschlechtliche Ehe und                              Die neue Strategie von Reformierakond ist daher, die Agenda
für härtere Strafen bei Drogendelikten. Wirtschaftspolitisch                                der Rechtspopulisten mit der Agenda der gesamten Regie-
steht sie für eine progressive Einkommensteuer und die                                      rung gleichzusetzen, und sich so maximal von der Regierung
umverteilende Rolle der sozialen Marktwirtschaft in einem                                   zu distanzieren. Für eine Einschätzung, ob diese Strategie
starken Staat.14                                                                            erfolgreich ist, sei es aber noch zu früh. Die Umfragewerte
                                                                                            von RE sind jedoch stabil. Die Frage stelle sich aber durch-
EKRE folgt in ihrem Programm dem Motto „Estland zuerst”,                                    aus, ob RE mit politischem Dauerfeuer und direkten Attacken
äußert sich daher EU-kritisch und tritt für komplette politi-                               auf die Rechtspopulisten die Unterstützung für EKRE in der

8
     https://keskerakond.ee/et/meedia/uudised/2697-keskerakond-ei-n%C3%B5ustu-reformierakonna-%C3%BChiskondlikku-ebav%C3%B5rdsust-suurendava-ettepanekuga.html, https://
     poliitika.postimees.ee/6545151/juri-ratas-see-kusimus-on-juba-eos-vale
9
     https://www.postimees.ee/6951834/reitingud-reformierakond-liider-keskerakond-suurendas-ekrega-vahet
10
     https://ekspress.delfi.ee/persoon/juri-ratase-rank-solvumine-keskerakonna-esimees-on-voimu-nimel-koigeks-valmis?id=85584477,
     https://www.reuters.com/article/us-estonia-electi- on-nationalists-idUSKBN1QS287
11
     https://poliitika.postimees.ee/6544626/kolvart-erakonna-pusimine-on-tahtsam-kui-olemine-opositsioonis
12
     https://poliitika.postimees.ee/6991316/reformierakond-kaalub-50-000-eurose-annetuse-tottu-ratase-umbusaldamist
13
     https://www.reform.ee/programm
14
     https://www.keskerakond.ee/et/erakonna-liikmed/programm.html
15
     https://www.ekre.ee/konservatiivne-programm/
12 Einbindung oder Isolation?

Bevölkerung nicht unbeabsichtigt verstärke. In diesem Fall       Die Entscheidung für die Koalition mit EKRE wird machtprag-
könne sich die Strategie nach Aussagen von Parteivertretern      matisch begründet: Man habe die Wahl gehabt zwischen dem
wieder ändern. RE sei in dieser Hinsicht flexibel – Strategie    Gang in die Opposition und dieser Regierung. Um an der Re-
und Taktik korrespondierten mit der Lage. Derzeit sei aber       gierung zu bleiben, habe es mathematisch nur zwei Möglich-
das erklärte Ziel der RE, Unzufriedenheit in der Wählerschaft    keiten gegeben – entweder eine Koalition mit Reformierakond
mit den Regierungsparteien zu erzeugen.                          oder mit EKRE. Die ebenfalls liberale Reformierakond hätte
                                                                 Eesti Keskerakond zwei Zugeständnisse abverlangt, die par-
Eine Herausforderung sei es, auch in der Opposition die eige-    teiintern nicht zustimmungsfähig gewesen seien: zum einen
nen Wähler an sich zu binden, da die Partei ihre Politik nicht   Zugeständnisse bei Minderheitenschulen [russischsprachige
mehr aus eigener Kraft umsetzen könne. Als Weiterbildungs-       Esten gehören zu den Stammwählern von EK, Anm. d. Verf.]
maßnahmen für RE-Mitglieder für den Umgang mit Rechtspo-         sowie Vorschläge zu einer Steuerreform. Erst danach habe
pulisten sind derzeit parteiinterne Debatten- und Medientrai-    man begonnen, mit EKRE Verhandlungen zu führen.
nings im Angebot. Es ist geplant, dieses Angebot sukzessive
auszubauen.                                                      Nach Einschätzung eines Parteivertreters gäbe es in der ge-
                                                                 genwärtigen Mitte-rechts-Koalition viele gemeinsame Punkte,
Was die Strategien auf nationaler und kommunaler Ebene           obwohl man in einer Koalition mit liberalen Parteien wie der
betrifft, so gibt es lokale Unterschiede. Auf nationaler Ebene   Reformierakond natürlich mehr Gemeinsamkeiten sähe.
sei man sich einig, dass es keine Koalition geben kann, aber     Für die Koalition mit ERKE hieße das, dass EK nun häufiger
das gelte nicht für alle lokalen Einheiten. Wenn ein EKRE-Ver-   Kompromisse finden müsse. Vor dem Hintergrund des Ab-
treter in seinem Wahlkreis respektiert werde und er mit RE-      bruchs der Koalitionsgespräche mit Reformierakond ist dies
Vertretern eine Koalition bilde, sei das etwas Anderes. Laut     eine bemerkenswerte Aussage, da es zeigt, dass der Abbruch
Einschätzung eines RE-Vertreters schade dies der Gesamtor-       weniger inhaltlich begründet war als in der Tatsache, dass
ganisation nicht, denn jeder verstehe, dass es dabei um kom-     Eesti Keskerakond in diese Koalition als Juniorpartner hätte
munalpolitisch aktive Menschen gehe.                             gehen müssen und daher aus machtstrategischen Gründen
                                                                 den Rechtspopulisten der EKRE eine Regierungsbeteiligung
                                                                 ermöglichte.
Eesti Keskerakond
                                                                 Die Frage nach einem möglichen Strategiewechsel in der Zu-
Eesti Keskerakond reklamiert für sich, EKRE in der Regierungs-   kunft sei im Moment recht theoretisch. Die Partei ist zuver-
koalition gemäßigt zu haben, auch wenn dies viel Arbeit be-      sichtlich, dass es auch in dieser Koalition möglich ist, hohe
deute: So hat es laut einem Parteiinsider viele verschiedene     Zustimmungswerte zu erreichen.
Gespräche und Diskussionen vor der Koalitionsbildung ge-
geben. Zum Eigenschutz der EK existiere in der Regierungs-
koalition eine Vereinbarung zwischen den drei Parteien, dass
alles im Konsens entschieden werden müsse. Dieses Drei-
parteien-Abkommen hielt EKRE aber trotzdem nicht davon
ab, den von Eesti Keskerakond gestellten Sozialminister per-
sönlich ins Visier zu nehmen, um Entscheidungen der eigenen
Regierungskoalition zur Finanzierung von LGBTI-Projekten zu
kritisieren. Dieses „Foulspiel“ kommentierte ein Vertreter der
Eesti Keskerakond damit, dass die EKRE natürlich nach wie
vor die Taktiken von rechtspopulistischen Parteien nutze.
13

Finnland
              Situation                                                                                Laufe ihrer Geschichte mehrfach den Ministerpräsidenten.
                                                                                                       Anfang der 2000er war sie noch die stärkste Fraktion im fin-
In Finnland gibt es zwei liberale Parteien im Parlament, die                                           nischen Parlament (2003: 24,7%; 2007: 23,1%). Im Jahr 2007
Suomen Keskusta (Finnische Zentrumspartei, KESK) sowie                                                 ging sie eine Regierungskoalition mit der konservativen Natio-
die Partei der schwedischsprachigen Minderheit, die Svenska                                            nalen Sammlungspartei, dem Vihreä liitto (Grüner Bund) und
Folkpartiet (Schwedische Volkspartei, SFP). Es gibt eine                                               der SFP ein. Vier Jahre später musste KESK ihr bis dahin
rechtspopulistische Partei im Parlament mit dem Namen                                                  schlechtestes Ergebnis seit fast hundert Jahren verkraften
Die Finnen (Perussuomalaiset, PS).                                                                     und kam nur auf 15,8 Prozent. Dies hatte parteiinterne Dis-
                                                                                                       kussionen zur Folge, insbesondere um Streitpunkte wie die
                                                                                                       Haltung zur EU und die Rückbesinnung auf die historische
              Genese                                                                                   Verwurzelung im Agrarsektor. 2015 konnte sie ihr Ergebnis
                                                                                                       wieder auf 21,1 Prozent steigern, verlor aber 2019 erneut
Perussuomalaiset (Die Wahren Finnen, seit 2012 Die Finnen)                                             deutlich und erreichte nur 13,8 Prozent. KESK gehört der
ging 1995 aus der schon damals populistischen Bauern-                                                  aktuellen Regierungskoalition mit vier weiteren Parteien an
partei hervor. Ein erster Erfolg gelang der Partei bei der Parla-                                      und stellt sechs Minister/innen. Es kam zu einem Führungs-
mentswahl im April 2011, bei der sie mit 19,1 Prozent dritt-                                           wechsel in der Partei und Katri Kulmuni übernahm den Vor-
stärkste Kraft wurde (2007: 4,1%). Bei der Parlamentswahl                                              sitz. Während KESK auf europäischer Ebene im Jahr 2004
2015 konnte die Partei dieses Ergebnis bestätigen und trat                                             noch 23,4 Prozent erreichte, verlor sie 2009 deutlich (19,0%),
als zweitstärkster Koalitionspartner einer Regierungskoalition                                         konnte aber dieses Ergebnis 2014 immerhin halten (19,7%).
bestehend aus rechts-liberaler Keskusta und der Nationalen                                             Bei der Europawahl 2019 erreichten sie ähnliche Werte wie
Sammlungspartei (EVP-Mitglied) bei.                                                                    bei den nationalen Wahlen (13,6%) und hält damit noch zwei
                                                                                                       EP-Sitze. KESK ist Mitglied bei ALDE und LI.
Nachdem der offen rechtsradikale Jussi Halla-aho im Juni
2017 zum PS-Parteivorsitzenden gewählt wurde, erklärte                                                 Svenska Folkpartiet (Schwedische Volkspartei, SFP) grün-
der damalige Ministerpräsident Sipilä (KESK), dass er sich                                             dete sich ebenfalls 1906 und vertritt primär die Interessen
nach dem Rechtsruck der Partei keine Koalition mehr mit                                                der schwedischsprachigen Minderheit in Finnland. Seit 2011
Die Finnen vorstellen könne und drohte, diese aufzukündi-                                              war sie an vier Regierungen beteiligt und stellt aktuell eine
gen. Um die Regierungskoalition nicht scheitern zu lassen,                                             Ministerin und einen Minister. Die Ergebnisse bei nationalen
gaben 20 von 38 Parlamentsabgeordneten von Die Finnen,                                                 Wahlen liegen die letzten zwanzig Jahre relativ stabil zwi-
darunter alle Kabinettsmitglieder, drei Tage später die Grün-                                          schen 4,3 und 4,9 Prozent. Bei Europawahlen sind die Ergeb-
dung einer neuen, moderateren Parlamentsfraktion namens                                                nisse etwas höher (2004: 5,7%; 2009: 6,1%; 2014: 6,7% und
Neue Alternative bekannt, aus der die im Vergleich zu den Die                                          2019: 6,1%). Damit halten sie aktuell einen Sitz im Europäi-
Finnen gemäßigtere rechtspopulistische Partei Sininen Tule-                                            schen Parlament. SFP ist ALDE- und LI-Mitglied. Vorsitzende
vaisuus („Blaue Zukunft“) hervorging. Schon bei der nächsten                                           ist seit 2016 Anna-Maja Henriksson.
Parlamentswahl im April 2019 wurden Die Finnen mit 17,5
Prozent jedoch erneut zweitstärkste Fraktion, während
Blaue Zukunft lediglich 1,0 Prozent der Stimmen erreichte                                                     Aktuelle Entwicklungen
und seitdem nicht mehr im Parlament vertreten ist.
                                                                                                       Der stellvertretende Vorsitzende des Jugendflügels von
Gegenwärtig befinden sich Die Finnen in der Opposition                                                 Die Finnen bezeichnete sich selbst bei einer Veranstaltung
und sind laut Umfragen die stärkste Partei mit 22,4 Prozent                                            im Februar 2020 als Ethnonationalist und Faschist.16 Als
(März 2020). In einem System, in dem grundsätzlich alle                                                offizielle Jugendorganisation erhielt die Finnische Jugend
Parteien miteinander koalieren, haben sich Die Finnen als                                              staatliche Förderung, jedoch darf der Staat laut Gesetz keine
stärkste Opposition gegen dieses Modell etabliert. Auf euro-                                           faschistischen Gruppen unterstützen. Die Finnen beendeten
päischer Ebene konnte die Partei ihre Ergebnisse in den letz-                                          daher umgehend ihre Zusammenarbeit mit der Jugendorga-
ten Jahren kontinuierlich steigern (2004: 0,9%; 2009: 9,8%;                                            nisation.17 Anfang März 2020 gründete die Partei einen neu-
2014: 12,9%). Im Moment halten Die Finnen mit 13,8 Prozent                                             en Jugendflügel, der verspricht, demokratisch zu arbeiten
zwei Sitze im Europäischen Parlament und gehören dort der                                              und den Rechtsstaat zu akzeptieren.18
EU-skeptischen Fraktion Identität und Demokratie an.
                                                                                                       Nach einer Kontroverse um Beratergebühren legte Katri Kul-
Suomen Keskusta (Finnische Zentrumspartei, KESK) gründe-                                               muni Anfang Juni 2020 ihr Ministeramt nieder, blieb aber
te sich bereits 1906 als Maalaisliitto (Landbund). Sie stellte im                                      KESK-Parteivorsitzende.

16
     https://svenska.yle.fi/artikel/2020/02/24/kallade-sig-sjalv-fascist-utesluts-av-sannfinlandarna
17
     https://www.hs.fi/politiikka/art-2000006428704.html
18
     https://www.hs.fi/politiikka/art-2000006428704.html
14 Einbindung oder Isolation?

           Verhältnis von Die Finnen,                                                             Ganzen als erfolgreich angesehen. Es sei nicht unbedingt eine
           KESK und SFP                                                                           Gewinnerstrategie, aber die beste aller verfügbaren. Aufgrund
                                                                                                  der starken Unterstützung in der Bevölkerung hätten Die Fin-
j Kritik gab es an einem Buch des Thinktanks von Die                                              nen immer einen großen Einfluss auf die Politik, ob sie nun
  Finnen zur „Tyrannei der Frauen in der Gesellschaft“. Das                                       in der Opposition oder in der Regierung seien. Darum sei es
  von KESK geführte Ministerium für Kultur und Wissen-                                            besser, sie in der Regierung verantwortlich zu halten.
  schaft untersucht seitdem die Kürzung/Streichung von
  Steuermitteln für den Thinktank.19                                                              In Finnland ist die politische Kultur von Pragmatik gekenn-
                                                                                                  zeichnet: die stimmenstärksten Parteien übernehmen Regie-
j Öffentliche Schlagabtausche zwischen Die Finnen und                                             rungsverantwortung. Das hat über die Jahre zu Mitte- links-
  SFP gibt es bezüglich des Einleitens strafrechtlicher Ver-                                      und Mitte-rechts-Regierungen geführt. Die Finnen fallen aus
  folgung eines Abgeordneten von Die Finnen.20 Die SFP                                            diesem Muster, da sie die erste rechtspopulistische Partei
  sitzt dem Parlamentsausschuss vor, der sich für eine                                            ist, die gleichzeitig viele Stimmen gewinnen konnte (über
  Aufhebung der Immunität stark gemacht hatte.                                                    Strecken ist die Partei sogar die stärkste Kraft). Trotzdem
                                                                                                  wirkt die politische Kultur auch hier: Als bei einer Fernseh-
                                                                                                  debatte die Parteivorsitzenden der anderen Parlaments-
           Programmatischer Vergleich                                                             parteien gefragt wurden, ob sie Die Finnen in die Regierung
                                                                                                  aufnehmen würden, sagten nur zwei Parteien sofort „Nein“.
j KESK und Die Finnen verbindet inhaltlich primär eine                                            Die anderen entgegneten, es sei „unwahrscheinlich, aber wir
  Skepsis gegenüber der EU, die bei Die Finnen jedoch                                             müssen es uns ansehen“ und „es ist Tradition, dass alle Par-
  deutlich ausgeprägter ist.21                                                                    teien miteinander reden und die Parteien mit den meisten
                                                                                                  Wählerstimmen Regierungsverantwortung übernehmen.“
j Die Finnen treten für eine Abschaffung von Schwedisch                                           Insofern wirkt die politische Kultur Finnlands insgesamt
  als verpflichtende Fremdsprache in der Schule ein und                                           eher auf Einbindung hin.
  beziehen damit eine konträre Position zur SFP, die für die
  Interessen der schwedischsprachigen Minderheit eintritt.22                                      Selbstverständlich ist diese Einbindung jedoch nicht: Dass
                                                                                                  der damalige KESK-Vorsitzende Juha Sipilä Die Finnen 2015
j Wirtschafts- und sozialpolitisch vertreten Die Finnen eher                                      in die Regierung holte, wurde mit der Person von Timo Soini
  linke Positionen, treten beispielsweise für eine Vermö-                                         begründet, dem damaligen vergleichsweise gemäßigten Vor-
  genssteuer und eine Erhöhung der Steuern auf Kapital-                                           sitzenden von Die Finnen, der auch bei KESK durchaus ange-
  gewinne ein. Die SFP steht hingegen für eine liberalere                                         sehen war.
  Steuerpolitik.23
                                                                                                  KESK formulierte nach dem Wahlgewinn eine Liste von Fra-
j KESK und Die Finnen verband bis vor fünf Jahren die                                             gen und sandte sie an die anderen Parteien, um Koalitions-
  Ablehnung von gleichgeschlechtlichen Ehen. Im Jahr                                              möglichkeit zu eruieren. Die Antworten von Die Finnen wurden
  2016 stimmte KESK allerdings im Parlament für deren                                             als zufriedenstellend gewertet. Es gab keine großen Mei-
  Einführung.24                                                                                   nungsverschiedenheiten, insbesondere in Bezug darauf, was
                                                                                                  zu dieser Zeit als wichtigste Frage empfunden wurde: die Stei-
j Im Gegensatz zu zahlreichen anderen rechtspopulisti-                                            gerung der Beschäftigung. Hätte es gewichtige wertebasierte
  schen Parteien leugnen Die Finnen den menschenge-                                               Differenzen gegeben, wäre dies laut einer ehemaligen KESK-
  machten Klimawandel nicht. Gleichzeitig priorisieren                                            Repräsentantin etwas Anderes gewesen. Nichtsdestotrotz
  sie Industrie und Arbeitsplätze über klimapolitische                                            gab es Kritik an KESK, Die Finnen in die Regierung zu holen.
  Abwägungen.25
                                                                                                  Die Positionierung von KESK gegenüber Die Finnen änder-
                                                                                                  te sich 2017 schlagartig. Auslöser war die Wahl des wegen
           Strategie                                                                              Volksverhetzung vorbestraften Jussi Halla-aho zum neuen
                                                                                                  Vorsitzenden von Die Finnen. KESK-Vorsitzender Sipilä droh-
                                                                                                  te in der Folge ein Ende der Koalition an. Die Finnen spalteten
Keskusta (KESK)                                                                                   sich daraufhin: die daraus entstandene Partei Blaue Zukunft
                                                                                                  führte die Koalition weiter und die verbliebene Rumpfpartei
Die Strategie von KESK gegenüber den rechtspopulistischen                                         ging in Opposition. Dies änderte jedoch nichts daran, dass
Die Finnen ist es, diese einzubinden und verantwortlich zu                                        Die Finnen sich nach einer bis ins Jahr 2019 andauernden
halten. Diese Strategie wird von der Partei im Großen und                                         Schwächephase wieder erholt haben und bis zum Ausbruch

19
   https://www.keski-uusimaa.fi/kotimaa-ulkomaat/2097294, https://www.iltalehti.fi/politiikka/a/15aae86a-5841-4aed-afae-172e27eacec9
20
   https://www.uusisuomi.fi/uutiset/rkpsta-kuitti-jussi-halla-aholle-politisointia-on-se-etta-kertoo-kantansa-ennen-kuin-asiaa-on-kasitelty-nain-perussuomalaiset-tekivat/272de778-
   ea4d-4e53-8cbc-f9e89f181ce6
21
   https://www.euractiv.com/section/eu-elections-2019/news/eu-country-briefing-finland/
22
   https://www.perussuomalaiset.fi/tietoa-meista/arvomaailmamme/
23
   https://sfp.fi/politik/beslut-politiska-program/foretagsamhet-och-arbetsliv/skattepolitiskt-program-2014/
24
   https://en.wikipedia.org/wiki/Same-sex_marriage_in_Finland#:~:text=Same%2Dsex%20marriage%20in%20Finland%20has%20been%20legal%20since%201,effect%20on%201%20
   March%202017.
25
   https://www.perussuomalaiset.fi/wp-content/uploads/2019/06/Eduskuntavaaliohjelma-2019_SU_In_English_1.pdf
15

der Coronakrise ein Jahr lang in den Umfragen als stärkste          Diese Strategie wird von der SFP bisher als erfolgreich ein-
Partei in Finnland firmierten.                                      geschätzt. Während die SFP seit Jahren stabil bei 4-5 Prozent
                                                                    liegt, schwankt die Unterstützung für Die Finnen stark. Zwar
KESK hingegen hat seit dem Hoch 2017 permanent an Un-               stand die Partei 2019 kurz davor, bei den Wahlen stärkste Par-
terstützung verloren und liegt mit derzeit um die 12 Prozent        tei zu werden, was sich dann jedoch nicht realisierte. Wenn
deutlich hinter Die Finnen zurück. Dies ist einer der Gründe,       Finnland eine verhältnismäßig kleine populistische Partei habe,
weshalb – anders als Ministerpräsident Sipilä im Jahr 2017 –        sei das kein Problem, so der SFP-Vertreter. In Umfragen stehen
die KESK-Vorsitzende Katri Kulmuni im August 2019 erklärte,         Die Finnen derzeit allerdings immer noch bei 18 Prozent.
dass sie sich vorstellen könne, mit Die Finnen zusammen-
zuarbeiten, obwohl „dunkle Mächte hinter der Partei stehen          Die von der KESK in Betracht gezogene Alternative, Die Finnen
könnten.“ Dies beinhalte auch, in einer gemeinsamen Regie-          in die Regierung zu holen, möge eine Weile funktionieren, aber
rung mit Halla-aho zu sitzen. Das stellt, je nachdem ob man         der Preis dafür wird von der SFP als zu hoch angesehen – eine
die Entscheidung Sipiläs gegen eine Koalition mit Die Finnen        rassistischere Gesellschaft und eine Umsetzung rechtspopu-
unter Führung Halla-ahos strategisch oder taktisch einordnet,       listischer Politik wäre die Folge. Das sei auf lange Sicht sehr
eine Rückkehr zur oder Fortführung der Strategie der Einbin-        gefährlich und komme die Gesellschaft teuer zu stehen.
dung und des „Verantwortlichhaltens“ dar. Ob diese Strategie
auch gilt, sollten Die Finnen als stärkste Partei Anspruch auf      Natürlich müsse auch die SFP die Positionen der Partei Die
den Premierminister-Posten anmelden, dazu gibt es keine             Finnen politisch in Betracht ziehen, jedoch nicht um jeden
Aussage.                                                            Preis. Denn dann gestalteten Die Finnen sogar aus der Oppo-
                                                                    sition heraus Politik, so ein SFP-Vertreter Für die SFP seien
Ein weiterer Grund für die Rückkehr zur Einbindung ist der          Grundprinzipien wie die Rechtsstaatlichkeit so wichtig, dass
Verlust von KESK-Wählern an Die Finnen. Der Verlust von             man davon nicht abweichen werde. Die Parteibasis sei sehr
Teilen des eigenen Elektorats wird von Parteivertretern als         nahe an der Parteipolitik und wolle nicht, dass ihre Partei
Gefahr angesehen, die das Potential hat, KESK langfristig zu        populistischer werde. Laut einem SFP-Repräsentanten sei es
zerreißen. Grund für die Wählerwanderung seien u.a. die ge-         vielmehr wichtig, an den eigenen Prinzipien festzuhalten. So
meinsamen agrarischen Wurzeln beider Parteien. Die liberale         sei man gerade dabei, einen Teil der Politik der vergangenen
KESK müsse einige dieser Wähler zurückgewinnen. Wie dies            Regierung, von der Die Finnen ein Teil waren, wieder zurück-
geschehen soll ist jedoch umstritten: Es gäbe verschiedene          zunehmen. Insofern sieht sich die SFP als echten „Gegenpart”
Flügel innerhalb der Partei, von denen einige möchten, dass         zu den Rechtspopulisten und wolle auch so wahrgenommen
KESK nach rechts rücke, während andere wollen, dass sich            werden.
die Partei in Richtung der Mitte orientiere. Dementsprechend
wird der innere Zusammenhalt von KESK als gefährdet be-             Dass in parlamentarischen Ausschüssen miteinander ge-
trachtet.                                                           arbeitet werde, sei Tradition in Finnland. Grenze man Die Fin-
                                                                    nen institutionell aus, würde man sie laut einem SFP-Vertreter
Was die Zukunft betrifft, so gibt es auch bei KESK die Sorge,       zu Opfern machen. In inhaltlichen Fragen arbeite man jedoch
dass Die Finnen die roten Linien dessen, was im politischen         nicht mit ihnen zusammen. Dies gelte auch für die kommuna-
Diskurs akzeptabel ist, kontinuierlich verschieben. Eine wei-       le Ebene. Auf lokaler Ebene gibt es in Finnland keine Regierun-
tere Sorge ist, dass Die Finnen von einer traditionellen aus-       gen, sondern Gremien, in denen alle Parteien vertreten sind. In
länderfeindlichen Partei in eine moderne, inhaltlich breiter        gewisser Weise sitzen die finnischen Parteien also im selben
aufgestellte rechtspopulistische Partei mutieren könnte, die        Entscheidungsgremium. Nach Aussagen der Parteiführung
sich nicht so leicht einordnen ließe. Das würde es für KESK         arbeite die SFP aber normalerweise nicht mit Die Finnen zu-
noch schwerer machen, sie wirksam zu bekämpfen.                     sammen, sondern stehe auf entgegengesetzten Seiten, was
                                                                    die Inhalte betrifft. Auf absehbare Zeit sei auch keine Verän-
                                                                    derung dieser Strategie zu erwarten.
Svenska Folkpartiet (SFP)
                                                                    Die SFP orientiert sich bei der Strategiefindung auch am Bei-
Die Strategie von Svenska Folkpartiet gegenüber Die Finnen          spiel anderer Staaten. Man sei sehr darüber besorgt, was
ist die der Isolation. Ein führender Vertreter der SFP formu-       man in anderen Ländern beobachte, wo Parteien versucht
liert dies so: Die SFP mache ihre eigene Politik und ändere         hätten, Populisten zu umarmen, um Wähler zu gewinnen.
sie nicht wegen anderer Parteien. Man sei in der Regierung          Nach Einschätzung der SFP würden dabei nur die Populis-
und versuche, sich vor eigenen populistischen Anwandlungen          ten gewinnen, da andere Parteien ihre Agenda übernähmen.
weitgehend zu schützen. Die meisten Wähler von Die Finnen           Stattdessen sollten liberale Parteien an Werten wie Gleichbe-
seien laut einem SFP-Vertreter Menschen, die sich von der           rechtigung und Rechtsstaatlichkeit festhalten. Es sei wichtig,
Globalisierung abgehängt und von der Politik vernachlässigt         nicht nachzugeben. Auch Themen wie eine freie Presse und
fühlen, lediglich ein kleiner Teil sei rassistisch. Man werde die   ein qualitativ hochwertiger Journalismus seien zu wichtig, um
Rassisten nicht einbeziehen, aber man müsse Veränderungen           sie für parteipolitische Zwecke zu opfern. Wenn sich die Men-
in der Gesellschaft erzeugen, im Interesse dieser vermeintlich      schen auf ”Fake News“ verließen, werde das zu einem großen
abgehängten Menschen.                                               Risiko. Freie Presse und freie Politik seien die Kernfundamen-
                                                                    te einer liberalen Demokratie. Aus diesem Gründen halte SFP
                                                                    an ihrer Strategie der Isolation fest.
16 Einbindung oder Isolation?

Niederlande
           Situation                                                                                 Das nationalkonservative und EU-skeptische Forum voor De-
                                                                                                     mocratie (FVD) wurde 2015 als Thinktank gegründet und 2016
In den Niederlanden gibt es zwei liberale Parteien im Parla-                                         in eine Partei umgewandelt. 2017 zog FVD mit 1,8 Prozent
ment, die Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (Volkspar-                                         knapp ins niederländische Parlament ein und erhielt zwei
tei für Freiheit und Demokratie, VVD) und die Democraten 66                                          Sitze. Dieses Ergebnis konnte die Partei bei der Europawahl
(D66). Ebenso gibt es zwei rechtspopulistische Parteien im                                           2019 (11% bzw. 3 Sitze) im selben Jahr deutlich steigern. Im
Parlament, die Partij voor de Vrijheid (Partei für die Freiheit,                                     EU-Parlament gehört FVD der Fraktion der Europäischen
PVV) und das Forum voor Democratie (Forum für Demokratie,                                            Konservativen und Reformer (EKR) an, einer 2009 gegrün-
FVD).                                                                                                deten Fraktion konservativer, EU-kritischer und rechtspopu-
                                                                                                     listischer Parteien. Im Jahr 2019 konnte FVD einen Überra-
                                                                                                     schungserfolg bei den Provinzwahlen erzielen und stärkste
          Genese                                                                                     Partei werden.26

Die PVV ist eine rechtspopulistische und islamophobe Partei,                                         FVD-Gründer und Vorsitzender ist der Jurist und Historiker
die von Geert Wilders (alleiniges Mitglied der Partei!) im Jahr                                      Thierry Baudet. Die programmatisch wichtigsten Forderun-
2006 gegründet wurde. Wilders war zuvor Mitglied und Abge-                                           gen sind ein Referendum zum EU-Austritt der Niederlande so-
ordneter der liberalen Volkspartij voor Vrijheid en Democratie                                       wie die Einführung der direkten Demokratie. Weiterhin ist FVD
(VVD), welche aus der 1948 gegründeten Partij voor de Vrij-                                          gegen Einwanderung und für die Stärkung des Militärs. Wirt-
heid entstand. Im Jahr 2004 verließ Wilders die VVD-Fraktion                                         schafts- und steuerpolitisch vertritt die Partei auch liberale
und war bis zur Wahl 2006 fraktionsloser Parlamentarier.                                             Positionen.

Bei ihrer ersten Wahl 2006 konnte die PVV sofort mit 5,9 Pro-                                        Die liberale Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD) wur-
zent und somit neun Sitzen ins niederländische Parlament                                             de 1948 gegründet. Seither war die VVD an vielen Regierun-
einziehen. Bei der Europawahl 2009 wurde die PVV mit 17                                              gen beteiligt und war sonst oft die größte Oppositionspartei.
Prozent zweitstärkste Kraft und erhielt vier Sitze im Europäi-                                       Seit 2010 stellt sie mit ihrem Parteiführer Mark Rutte den
schen Parlament. Bei den nationalen Wahlen 2010 erreichte                                            Ministerpräsidenten. Die Wahlergebnisse zu Anfang der
die PVV 15,5 Prozent bzw. 24 Sitze. Aufgrund der schwierigen                                         2000er Jahre schwankten zwischen 14 und 18 Prozent (2002:
Machtverhältnisse einigten sich VVD und die Christdemokra-                                           15,4% bzw. 24 Sitze; 2003: 17,9% bzw. 28 Sitze; 2006: 14,7%
ten (CDA) auf eine Minderheitsregierung unter Duldung der                                            bzw. 22 Sitze). Aus den Wahlen im Jahr 2010 ging die VVD
PVV. Parallel dazu wurde bekannt, dass etliche Abgeordnete                                           mit 20,5 Prozent und 31 Sitzen als stärkste Kraft hervor. Da-
der PVV-Fraktion für verschiedene Delikte angeklagt worden                                           raufhin ging sie eine Minderheitsregierung mit der christde-
waren (Urkundenfälschung, Vandalismus). Den Umfragewer-                                              mokratischen CDA ein, die von der rechtspopulistischen PVV
ten der Partei tat dies aber keinen Abbruch.                                                         gestützt wurde.

Nach innerfraktionellen Querelen verlor die PVV bei den Neu-                                         Im Jahr 2012 kam es zu Neuwahlen, bei denen die VVD das
wahlen 2012 rund 5 Prozent und neun ihrer Sitze. Bei der                                             beste Ergebnis ihrer Geschichte (26,8% bzw. 41 Sitze) erreich-
Europawahl 2014 verlor sie ebenfalls einige Prozente (minus                                          te und eine Große Koalition mit der sozialdemokratischen
4 Prozentpunkte auf 13%), konnte aber ihre vier EP-Sitze be-                                         PvdA einging. Bei der Parlamentswahl 2017 verlor die VVD
halten. Im Vorfeld der Parlamentswahl 2017 war die PVV in                                            neun Sitze und erreichte nur 21,3 Prozent, blieb aber weiter-
den Umfragewerten teils stärkste Kraft und Geert Wilders                                             hin stärkste Kraft. Eine Koalition mit der PVV schloss Partei-
wurde als möglicher Ministerpräsident gehandelt. Letztend-                                           chef Mark Rutte explizit aus: „Die Chance, dass die VVD mit
lich konnte die PVV, trotz leichter Zugewinne, mit einem Wahl-                                       der PVV regieren wird, liegt bei null. Es wird nicht passieren.“27
ergebnis von 13,3 Prozent (20 Sitze) nur knapp zweitstärkste                                         Dank einer Koalition mit der christdemokratischen CDA, der
Partei werden und unterlag der VVD deutlich.                                                         liberalen D66 und der streng christlichen ChristenUnie konnte
                                                                                                     Mark Rutte Ministerpräsident bleiben.
Bei der Europawahl 2019 musste die PVV erstmals stärkere
Einbußen einstecken: Sie erreichte nur 3,5 Prozent und verlor                                        2019 verlor die VVD ihre Mehrheit im niederländischen Senat
damit vorerst alle Sitze. Im Zuge des Brexit erhielt die Partei                                      (Provinzvertretung), nachdem FVD bei den Provinzwahlen
nachträglich einen EP-Sitz und ist seit Februar 2020 wieder                                          stärkste Partei geworden war.28 In der Folge koalierte die VVD
im Europäischen Parlament vertreten. Sie gehört dort der                                             mit FVD in zwei Provinzen.
Fraktion Identität und Demokratie an. Die besondere Partei-
struktur macht Wilders zum alleinigen Entscheidungsträger.                                           Aktuell hält die VVD fünf Sitze im Europäischen Parlament.
Inhaltlich ist ihr Kernthema Islam- und Fremdenfeindlichkeit.                                        Sie ist Mitglied der ALDE und bei LI. Wirtschafts- und gesell-

26
   https://www.politico.eu/article/mark-rutte-to-lose-senate-majority-after-dutch-local-elections/
27
   https://www.ft.com/content/e2584e74-db20-11e6-9d7c-be108f1c1dce
28
   https://www.politico.eu/article/mark-rutte-to-lose-senate-majority-after-dutch-local-elections/
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