Besser gleich! Ein Aktionsplan zur Bekämpfung - Oxfam Deutschland

 
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gleich!
SCHLIESST DIE LÜCKE
ZWISCHEN ARM UND REICH!

Ein Aktionsplan
zur Bekämpfung
sozialer Ungleichheit
Besser gleich! Ein Aktionsplan zur Bekämpfung - Oxfam Deutschland
Impressum
Oxfam Deutschland e. V. ist eine unabhängige Nothilfe-
und Entwicklungsorganisation. Im internationalen Oxfam-
Verbund setzen sich 19 Oxfam-Organisationen mit rund
3 000 lokalen Partnern in mehr als 90 Ländern als Teil einer
globalen Bewegung für eine gerechte Welt ohne Armut ein.

HERAUSGEBER
Oxfam Deutschland e. V.
5. Auflage Januar 2019
V.i.S.d.P.: Marion Lieser
Oxfam Deutschland e. V.
Am Köllnischen Park 1
10179 Berlin
Tel.: +49 (0)30 45 30 69 0
E-Mail: info@oxfam.de

Aktualisierte deutsche Zusammenfassung des Kampagnen-
reports „Even It Up – Time to end extreme inequality“
Vollständiger Text unter:
http://www.oxfam.de/publikationen/even-it-up

KONZEPTION
Tobias Hauschild und Sandra Dworack

ÜBERSETZUNG
Reinhard Hermle

REDAKTION
Julia Jahnz, Charlotte Becker und Barbara Fürst

LAYOUT
Marischka Lutz, www.marischkalutz.de
Besser gleich! Ein Aktionsplan zur Bekämpfung - Oxfam Deutschland
Inhalt
  Die wachsende Lücke zwischen
  Arm und Reich – ein Kernproblem
  des 21. Jahrhunderts                                             4

  Triebfedern sozialer Ungleichheit                                8

  Zehn Punkte gegen soziale Ungleichheit                          10

     1.	
        Politik im Sinne der Bevölkerung gestalten                11
     2.	
         Chancengleichheit für Frauen schaffen                    12
     3.	
        Einkommen angleichen                                      14
     4.	
        Fair besteuern                                            16
     5.	
        Internationale Steuer­schlupflöcher schließen             17
     6.	
        Bildung für alle erreichen                                19
     7.	
        Das Recht auf Gesundheit durchsetzen                      21
     8.   Monopole auf Herstellung von Medikamenten abschaffen   23
     9.	
        Soziale Sicherung für alle schaffen                       24
     10.	
         Entwicklungsfinanzierung neu ausrichten                  25

  Anmerkungen27
Besser gleich! Ein Aktionsplan zur Bekämpfung - Oxfam Deutschland
4

                                                           © David Levene/Oxfam

    Die wachsende Lücke
    zwischen Arm und Reich –
    ein Kernproblem des
    21. Jahrhunderts
    Weltweit hat die soziale Ungleichheit extrem zugenommen:
    70 Prozent der Weltbevölkerung leben in Ländern, in denen
    die Lücke zwischen Arm und Reich in den vergangenen
    Jahrzehnten gewachsen ist. In vielen Staaten eignet sich eine
    wohl­habende Minderheit einen immer größer werdenden Anteil
    am Nationaleinkommen an. Ein Prozent der Weltbevölkerung
    besitzt fast die Hälfte des Weltvermögens. Es ist an der Zeit
    soziale Ungleichheit entschieden zu bekämpfen.
Besser gleich! Ein Aktionsplan zur Bekämpfung - Oxfam Deutschland
BESSER GLEICH!
                                               Die wachsende Lücke zwischen Arm und Reich – ein Kernproblem des 21. Jahrhunderts   5

Ein globaler Trend und seine Folgen                              Das Weltwirtschaftsforum hat wiederholt festgestellt,
                                                                 dass „gravierende Einkommensdisparitäten“ eines der
Die wachsende Einkommens- und Vermögensungleichheit              glo­balen Schlüsselrisiken des kommenden Jahrzehnts
ist eines der größten globalen wirtschaftlichen, sozialen        sind,3 ähnlich haben sich der Internationale Währungs-
und politischen Probleme. Bereits bestehende Ungleich-           fonds und die Weltbank9 geäußert – Institutionen, die
heiten aufgrund von Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit         normalerweise keine allzu kritische Sicht auf soziale
und Religion werden durch sie noch verstärkt. In Südafrika       Ungleichheit haben. Auch die OECD hat in einem viel
etwa ist das soziale Ungleichgewicht heute größer als zum        beachteten Bericht zur steigenden sozialen Schieflage
Ende der Apartheid.1                                             darauf hingewiesen, dass der Kampf gegen Ungleichheit

                                                                                             „
                                                                 in das Zentrum der po­litischen Debatte rücken müsse.10
Privatpersonen mit extrem hohen Vermögen leben nicht
nur in reichen Ländern. Der Mexikaner Carlos Slim gehört
seit Jahren zu den sieben reichsten Menschen weltweit.
In Afrika gibt es laut Forbes-Liste 19 Milliardärinnen und               Seit 20 Jahren tobt ein Klassenkampf,
Milliardäre. Diesem extremen Reichtum stehen 437 Millionen                 und meine Klasse hat gewonnen.
Afrikanerinnen und Afrikaner gegenüber, die in extremer
Armut leben müssen – Tendenz steigend.2                                            WARREN BUFFETT
                                                                          DRITTREICHSTER MENSCH AUF ERDEN 11

                                                                                             “
Auch in den Industrieländern, Deutschland eingeschlos-
sen, wird wachsende soziale Ungleichheit zum Problem.

                                                                 Regeln im Interesse der Elite
   Zahlen und Fakten
                                                                 Die unverhältnismäßige Konzentration von Vermögen ist Fol­­­-
      •   Sieben von zehn Menschen leben in Ländern,
          in denen die soziale Ungleichheit heute größer
                                                                 ge eines blinden Glaubens an die Kräfte des Marktes, und
                                                                 sie verstärkt sich weiter durch die Einflussnahme reicher
          ist als vor 35 Jahren.4                                Eliten. Diese besitzen immer mehr Macht – die Reichen
      •   2018 wuchs das Vermögen der Milliardäre und
          Milliardärinnen um 12 Prozent an. Das Vermö-
                                                                 schaffen sich ihre Regeln: Finanzinstitutionen geben allein
                                                                 für Lobbyarbeit auf EU-Ebene 120 Millionen Euro pro Jahr
          gen der ärmeren Hälfte der Weltbevölkerung             aus. Zum Vergleich: Der Etat für Aktivitäten in Brüssel von
          sank gleichzeitig um 11 Prozent. Die Zahl der          NRO, Verbraucherschutzorganisationen und Gewerkschaf-
          Milliardäre und Milliardärinnen hat sich in den        ten zusammen liegt pro Jahr bei rund 4 Mil­lionen Euro!12
          vergangenen zehn Jahren fast verdoppelt: Sie
                                                                 70 Prozent der 500 umsatzstärksten Unternehmen der Welt
          wuchs von 1125 im Jahr 2008 auf 2208 im Jahr
                                                                 haben Niederlassungen in Steuerparadiesen13 und nach
          2018.5
      •
                                                                 Schätzungen des französischen Steuerexperten Gabriel
          Ein Prozent der Weltbevölkerung besitzt fast
                                                                 Zucman drückt sich das reichste Prozent der Weltbevöl­
          die Hälfte des Weltvermögens.6
      •   Nach Schätzungen von Oxfam besaßen im Jahr
          2018 die reichsten 26 Personen auf der Welt
                                                                 kerung durch Steuertricks um Steuerzahlungen von etwa
                                                                 200 Milliarden US-Dollar pro Jahr.14
          genauso viel wie die gesamte ärmere Hälfte der
          Weltbevölkerung, d. h. 3,8 Milliarden Menschen.7
      •   Das Vermögen von Jeff Bezos, Besitzer von
          Amazon und derzeit reichster Mann der Welt,
                                                                 Extreme soziale Ungleichheit schadet allen

          beträgt 112 Milliarden US-Dollar. Nur ein              Extreme Ungleichheit hat gravierende Auswirkungen auf
          Prozent seines Vermögens entspricht den                den Zusammenhalt der gesamten Gesellschaft. Sie schä-
          Gesundheitsausgaben Äthiopiens, einem Land             digt das Vertrauen in die Politik und die Demokratie. Sie
          mit 115 Millionen Einwohner(inne)n.8                   beeinträchtigt das wirtschaftliche Wachstum und hemmt
                                                                 die soziale Mobilität. Sie fördert soziale und gesundheit-
                                                                 liche Probleme, wie z. B. psychische Erkrankungen.
Besser gleich! Ein Aktionsplan zur Bekämpfung - Oxfam Deutschland
6   BESSER GLEICH!
    Die wachsende Lücke zwischen Arm und Reich – ein Kernproblem des 21. Jahrhunderts

    Sie schürt Kriminalität und gewaltsame Konflikte. Nicht          Hunderte Millionen von Menschen haben heute keinen
    zu­fäl­lig ist die Weltregion mit der höchsten sozialen          ausreichenden Zugang zu Trinkwasser und Nahrung. Viele
    Ungleichheit, Lateinamerika, auch eine der unsichersten:         arbeiten bis zur völligen Erschöpfung, um sich und ihre
    Dort befinden sich 41 der 50 gefährlichsten Städte der           Familien zu ernähren, ohne Aussicht auf sozialen Aufstieg.
    Welt; zwischen 2000 und 2010 gab es eine Million Morde.15        Gerade die Ärmsten können sich keine private Vorsorge
    Länder mit extremer Ungleichheit weisen fast viermal             leisten und leben in unsicheren sozialen Verhältnissen.
    höhere Mord­raten auf als Staaten, in denen die Kluft nicht      In vielen Ländern erhalten sie wenig Schutz und Hilfe von
    so tief ist.16                                                   Polizei oder Justiz. Katastrophen treffen diejenigen, die
                                                                     weder Geld noch Einfluss haben, meist am heftigsten.
    Viele der von starker Ungleichheit geprägten Länder leiden       Auch fällt es ihnen am schwersten, hinterher wieder auf
    unter Konflikten oder instabilen Verhältnissen. Ein Beispiel     die Beine zu kommen.
    ist Syrien. Neben einer Vielzahl politischer Faktoren war auch
    die wachsende Einkommens- und Vermögensungleichheit              Die meisten dieser Menschen können ihre Situation kaum
    für die versteckte Instabilität vor 2011 verantwortlich.         verbessern, solange Reichtum und Macht in den Händen
    Kürzungen staatlicher Zuschüsse und eine Verringerung            der Eliten konzentriert bleiben. Es gilt, dieses Ungleich­
    der Beschäftigtenzahl im öffentlichen Sektor trafen einige       gewicht durch eine gerechtere Verteilung im Interesse der
    Gruppen weitaus stärker als andere.17 Dies zeigt: Soziale        Allgemeinheit aufzulösen.
    Ungleichheit erschüttert die Grundfesten der Gesellschaft
    und schadet allen.                                               Untersuchungen von Oxfam haben ergeben, dass sich
                                                                     beispielsweise in Kenia, Indonesien und Indien Millionen
                                                                     von Menschen aus der Armut befreien könnten, würde die
    Ein Hindernis für die Überwindung von Armut                      Einkommens­ungleichheit reduziert. Schöbe Indien der
                                                                     steigenden Ungleichheit einen Riegel vor, könnten in nur
    Vor allem behindert die sich immer weiter öffnende Schere        fünf Jahren 90 Millionen Menschen ihre extreme Armut
    zwischen Arm und Reich eine Überwindung der globalen             überwinden.20 Die US-Organisation Brookings Institution
    Armut. Sie zerstört die Chancen der bedürftigsten Menschen       kommt zu ähnlichen Ergebnissen. In den von ihr entwickel­

                               „
    auf ein Leben in Würde und Wohlstand.                            ten Szenarien gelingt bei reduzierter sozialer Ungleichheit
                                                                     463 Millionen mehr Menschen weltweit der Weg aus der
                                                                     Armut als bei steigender Ungleichheit.21

             Extreme Einkommensunterschiede
           verlangsamen den Kampf gegen Armut                        Eine neue Politik ist nötig
            und behindern die Entwicklung eines
               breiten Wirtschaftswachstums.                         Armut und extreme soziale Ungleichheit sind nicht unver-
                                                                     meidlich. Sie sind Folgen bewusster politischer Entschei-
                          KOFI ANNAN 19                              dungen. Regierungen können die Schere zwischen Arm und

                               “
                                                                     Reich schließen, indem sie sich vom reinen Marktglauben
                                                                     lossagen und sich den Interessen mächtiger Eliten ent­
                                                                     gegenstellen. Sie müssen die Strukturen ändern, die zum
                                                                     rasanten Anstieg der Ungleichheit geführt haben, sie
    Die Einkommensverteilung innerhalb eines Landes hat              müssen durch eine Umverteilung von Geld und Macht gute
    großen Einfluss auf die Lebenserwartung. Bangladesch und         Lebensbedingungen für die gesamte Bevölkerung schaffen
    Nigeria etwa haben ähnliche Durchschnittseinkommen;              sowie das Recht auf Bildung, Gesundheit und soziale
    im nur unwesentlich reicheren Nigeria klaffen die Gehälter       Sicherung – und damit gerechte Chancen für alle – durch-
    aber deutlich weiter auseinander. Für ein in Nigeria             setzen.
    gebore­nes Kind ist das Risiko, vor seinem fünften Geburts-
    tag zu sterben, dreimal höher als für ein in Bangladesch         Dafür müssen unter anderem transnational tätige Unter-
    geborenes.18                                                     nehmen und Vermögende stärker in die Verantwortung
Besser gleich! Ein Aktionsplan zur Bekämpfung - Oxfam Deutschland
BESSER GLEICH!
                                            Die wachsende Lücke zwischen Arm und Reich – ein Kernproblem des 21. Jahrhunderts   7

genommen werden. Insbesondere große Konzerne leisten          Ländern mit einem ambitionierten Maßnahmenkatalog
bisher einen zu geringen Anteil an der Finanzierung von       umgesetzt werden.
sozialen Leistungen in armen Ländern, weil sie Steuer-
schlupflöcher nutzen. Die Ebola-Epidemie in Sierra Leone      Im Herbst 2014 startete Oxfams weltweite Kampagne
beispielsweise ist 2014 auch aufgrund eines unterfinan-       „Even It Up!“ (in Deutschland: „Besser Gleich! Schließt die
zierten und damit unzureichenden Gesundheitssystems           Lücke zwischen Arm und Reich!“), um die Bekämpfung
außer Kontrolle geraten. Im Glauben, für Investoren durch     sozialer Ungleichheit auf die politische Tagesordnung zu
Steuervorteile attraktiver zu sein, hat das Land sechs        setzen. Ein zehn Punkte umfassender Aktionsplan fordert
Unternehmen Steuererleichterungen gewährt, die in der         konkrete Schritte zur Bekämpfung der sozialen Ungleich-
Summe dem Achtfachen seines staatlichen Gesund-               heit.
heits­etats entsprechen, obwohl es Hinweise gibt, dass
Steuererleichterungen nicht der entscheidende Grund für       Wir müssen die Spielregeln und Systeme ändern, welche
Investitionen sind.22                                         die Ungleichheit derzeit explodieren lassen. Es gilt, durch
                                                              zügige Maßnahmen Verteilungsgerechtigkeit in der Ge­
                                                              sell­schaft herzustellen, um gute Lebensbedingungen und
Gemeinsam gegen soziale Ungleichheit                          Chancen für alle zu schaffen. Dieses Anliegen teilen wir
                                                              mit den Kirchen, mit Gewerkschaften, sozialen Bewegun­
Um ein gerechteres wirtschaftliches und politisches           gen, Frauenorganisationen und Millionen von Menschen
System zum Wohle der Menschen zu errichten, sind              in aller Welt. Gemeinsam fordern wir politische Entschei-
weltweite konzertierte Aktionen nötig. Die Bekämpfung         dungsträger/-innen auf, etwas gegen die wachsende
der Ungleichheit ist eines der im September 2015 ver­         Ungleichheit zu tun. – Besser Gleich!
abschiedeten globalen Nachhaltigkeitsziele (SDGs,
Sustainable Development Goals). Es muss nun von allen                                                  © Tom Pietrasik/Oxfam
8   BESSER GLEICH!
    Triebfedern sozialer Ungleichheit

    Triebfedern sozialer
    Ungleichheit
    Viele Menschen denken, Einkommensungleichheit sei unver­
    meidbar oder eine notwendige Folge der Globalisierung und des
    technischen Fortschritts. Es sind jedoch vor allem gezielte
    politische und wirtschaftliche Entscheidungen, die Ungleichheit
    vergrößern. Zwei wirtschaftliche und politische Faktoren erklären
    zum großen Teil die Extreme, mit denen wir es heute zu tun
    haben: der übertriebene Glaube an die Kräfte des Marktes und
    die Machtübernahme durch Eliten.

    Deregulierte Marktkräfte sind eine                                nomischer Ungleichheit sind Wachstumsphasen kürzer
    Haupt­u rsache für wachsende soziale                              und zukünftiges Wachstum wird ausgebremst.25 Laut OECD
    Ungleichheit                                                      ist etwa in Deutschland das Bruttoinlandsprodukt pro
                                                                      Kopf zwischen 1990 und 2010 inflationsbereinigt um etwa
    Zweifelsohne hat die Marktwirtschaft in vielen Ländern für        26 Prozent gewachsen. Das Pro-Kopf-Wachstum wäre
    breiten Wohlstand gesorgt. Sie brachte aber auch immer –          aber ohne steigende Ungleichheit um fast sechs Prozent-
    teilweise extreme – soziale Schieflagen mit sich. Wie der         punkte höher ausgefallen.26 Extreme Ungleichheit verrin-
    Ökonom Thomas Piketty in seinem Buch „Das Kapital im              gert auch die armutsmindernde Wirkung von Wachstum.
    21. Jahrhundert“ nachweist, neigt dieses System dazu,             In vielen Ländern erzeugt Wirtschaftswachstum vor allem
    Vermögen in den Händen einer kleinen Minderheit zu kon-           Vorteile für die reichste Bevölkerungsschicht. Ein Beispiel:
    zentrieren und die soziale Ungleichheit zu vergrößern.23          Sambias Bruttoinlandsprodukt pro Kopf nahm zwischen
                                                                      2004 und 2013 um durchschnittlich drei Prozent jährlich zu.
    Der neoliberale Ansatz, der das wirtschaftspolitische             Nach den Kriterien der Weltbank wurde Sambia so zu einem
    Den­ken in den vergangenen Dekaden beherrschte, hat               Land mit mittlerem Einkommen. Trotzdem stieg der Anteil
    diese Entwicklung beschleunigt. Er geht davon aus, dass           der Menschen in extremer Armut hier von 65 Prozent der
    Wirtschaftswachstum nur dann anhält, wenn der Staat               Bevölkerung in 2003 auf 74 Prozent in 2010: eine Folge des
    dereguliert und das freie Spiel der Kräfte am Markt erhal­­­ten   hohen Grads an Ungleichheit im Land.27
    bleibt. Wirtschaftswachstum komme dann der gesamten
    Gesellschaft zugute. Maßnahmen gegen Einkommens­                  Dies ist kein neues Phänomen. In den 1980er und 1990er
    ungleichheit hingegen würden sich nachteilig auf das Wirt-        Jahren sahen sich Länder in Lateinamerika, Asien und
    schaftswachstum auswirken.                                        Osteuropa unter dem Druck der Schuldenkrisen Maßnah-
                                                                      men wie Deregulierung, Kürzung der öffentlichen Ausga-
    Das Gegenteil ist der Fall: Nach neuen wissenschaftlichen         ben, Privatisierung, Liberalisierung des Handels und der
    Erkenntnissen ist wachsende Ungleichheit sogar schädlich          Finanzmärkte, großzügigen Steuererleichterungen für
    für wirtschaftliches Wachstum.24 In Ländern mit großer öko-       Unternehmen und Reiche sowie einem Abbau von Arbeits-
BESSER GLEICH!
                                                                                              Triebfedern sozialer Ungleichheit   9

rechten ausgesetzt. Die Einkommensungleichheit nahm           erschweren die Finanzierung öffentlicher Dienstleis­-
entsprechend zu. Um das Jahr 2000 erreichte sie in Latein­    tun­gen wie Bildung und Gesundheit sowie Investitionen
amerika ein Rekordhoch.28 Die Zunahme der Armut während       in die kleinbäuerliche Landwirtschaft, die für den Abbau
dieser Zeit wurde Schätzungen zufolge zur Hälfte durch        von Armut und sozialer Ungleichheit enorm wichtig
eine Umverteilung des Wohlstands zugunsten der reichen        wären.
Bevölkerungsschichten verursacht.29 In den 20 Jahren
nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat sich die
                                                                  Zahlen und Fakten
Ungleich­heit in Russland aufgrund von Liberalisierung und

                           „                                        •
Deregulierung fast verdoppelt.30
                                                                        Finanzinstitute und ihre Lobbyvertretungen
                                                                        ge­ben jährlich über 120 Millionen Euro aus und
                                                                        beschäftigen über 1 700 Mitarbeiter/-innen,
                                                                        um die Politik der EU in ihrem Sinne zu beein-
            Einer der Fehler des Markt­-                                flussen. NRO, Verbraucherschutzorganisa­-
        fundamentalismus ist, dass er die                               tionen und Gewerkschaften geben für Aktivi-
     Einkommensverteilung und die Idee einer                            täten in Brüssel pro Jahr rund 4 Millionen Euro
       solidarischen Gesellschaft ignoriert.                            aus.33

                   JOSEPH STIGLITZ 31
                                                                    •   Um den Dodd-Frank Act zur Stabilisierung
                                                                        des Finanzmarktes zu schwächen und zu

                           “
                                                                        verzögern, gab die US-amerikanische Finanz­
                                                                        industrie rund eine Milliarde US-Dollar aus
                                                                        und beschäftigte Hunderte Lobbyisten.34
Obwohl neoliberale Politik zur Entstehung der jüngsten
globalen Finanz- und Wirtschaftskrise beigetragen hat32,
                                                                    •   In Pakistan beträgt das durchschnittliche
                                                                        Nettovermögen von Parlamentsabgeordneten
bleibt sie die weltweit vorherrschende Ideologie. Diese                 900.000 US-Dollar, doch Steuern zahlen nur
Geisteshaltung bestimmt beispielsweise die Bedingungen,                 wenige.35
die den verschuldeten europäischen Staaten im Zuge der
Krise auferlegt wurden: Deregulierung, Privatisierung und
eine Kürzung der Sozialleistungen für die Ärmsten. Gleich-
zeitig wurden die Steuern für die reiche Bevölkerung zum      Der gewaltige Lobbyeinfluss großer Unternehmen, der es
Teil gesenkt. Die soziale Ungleichheit ist auch hier massiv   ihnen erlaubt, die Spielregeln zu ihren Gunsten zu ändern,
gestiegen!                                                    verstärkt die Konzentration von Macht und Geld in den
                                                              Händen weniger. Viele der reichsten Menschen haben ihr
Fazit: Regulierung und eine faire Besteuerung sind not­       Vermögen dank exklusiver staatlicher Konzessionen und
wendig, um die Ungleichheit einzudämmen.                      im Zuge von Privatisierungen gemacht. So wurden nach
                                                              dem Zusammenbruch des Kommunismus Insider durch die
                                                              Privatisierung in Russland und der Ukraine über Nacht zu
Gesetzgebung im Interesse der Eliten                          Milliardär(inn)en. Carlos Slim erzielte seine Milliarden, indem
                                                              er sich die Exklusivrechte für Mexikos Telekommuni­kations-
Der Einfluss wirtschaftlicher und politischer Eliten ver­     Sektor sicherte, als dieser in den 1990er Jahren privatisiert
festigt seit langer Zeit die Ungleichheit. Geld be­deu­tet    wurde.36
politische Macht, die genutzt wird, um Vorteile zu sichern.
In reichen wie armen Ländern nutzen Eliten ihren poli­­-      Das blinde Vertrauen in die Marktkräfte und die politische
ti­schen Einfluss, um mit den jeweiligen Regierungen          Vereinnahmung durch Eliten haben zu mehr sozialer Un-
Ver­günstigungen auf Kosten aller anderen Bevölkerungs-       gleichheit geführt und die Regeln so geändert, dass die
gruppen auszuhandeln. Dazu zählen Steuererleichterun­         in größter Armut und am Rande der Gesellschaft lebenden
gen, Verträge zu Vorzugskonditionen, Landrechte oder          Menschen keine faire Chance haben, es zu Wohlstand zu
Subventionen sowie schwache, Korruption begünsti­gen­-        bringen.
­de Kontroll­mechanismen. Fehlende Steuereinnahmen
10

                                                           © Rajendra Shaw/Oxfam

     Zehn Punkte gegen
     soziale Ungleichheit
     Oxfams Zehn-Punkte-Programm fordert ein konzertiertes
     Vorgehen zum Aufbau eines transparenteren wirtschaftlichen
     und politischen Systems, das die Rechte aller Bürgerinnen und
     Bürger sichert. Regierungen, Organisationen und Unternehmen
     haben die Pflicht, sich dem drängenden Problem der Ungleichheit
     zu stellen. Sie müssen eine Politik verfolgen, die eine gerechte
     Verteilung von Geld und Macht zum Ziel hat.
BESSER GLEICH!
                                                                                        Zehn Punkte gegen soziale Ungleichheit   11

     	Politik im Sinne der
 1 . Bevölkerung gestalten
Menschen streben nach Ausgleich                                    Zahlen und Fakten

Wie Befragungen zeigen, meinen Menschen kultur- und ge­-
sellschaftsübergreifend, dass zu große soziale Unterschiede           •   Eine von Oxfam in Auftrag gegebene welt­
                                                                          weite Umfrage zeigt, dass die Sorge aufgrund
unfair, unmoralisch und schlecht für die Gesellschaft sind.               der sozialen Ungleichheit groß ist. Von 70 000
                                                                          Befragten in zehn Ländern sehen knapp zwei
Um erfolgreich der galoppierenden Ungleichheit zu begeg-                  Drittel die Schere zwischen Arm und Reich als
nen, müssen Regierungen auf ihre Bürger/-innen hören.                     drängendes Problem an.40
Die dafür nötige breite Mobilisierung der Öffentlichkeit hat
bereits begonnen: In vielen Staaten treten Menschen für
                                                                      •   In einer repräsentativen Umfrage der Fried-
                                                                          rich-Ebert-Stiftung aus dem Jahr 2016 gaben
Änderungen ein. Hunderttausende sind frustriert, weil sie                 82 Prozent der Befragten an, dass die soziale
keinen adäquaten Zugang zu sozialen Grunddiens­ten haben                  Ungleichheit in Deutschland zu groß sei.41
und ihre Stimmen kaum Gehör finden. Diese Unzufrieden-
heit ist global.
                                                                      •   71 Prozent der Bundesbürger/-innen wünschen
                                                                          sich laut AWO-Sozialberometer aus dem Jahr
                                                                          2014, dass der Staat stärker steuert und
                                                                          regulierend eingreift, um mehr Ausgleich zu
Die Macht des Volkes                                                      schaffen.42

In Chile, dem OECD-Land mit der größten Einkommens­
ungleichheit37, lösten 2011 die hohen Kosten für Bildung       Landes. Die Regierung, die den unteren und mittleren Ein-
Massenproteste aus. In ihrem Verlauf wuchs der Unmut           kommensgruppen Schutz vor den schlimmsten Folgen der
über die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermö-         Finanzkrise versprochen hatte, sah sich gezwungen, ein
gen sowie den Einfluss großer Konzerne auf die Politik.38      Referendum durchzuführen. 93 Prozent der Bevölkerung
Eine Koalition von Vertreter(inne)n von Studentenorgani­       lehnten den Vorschlag ab, dass die Steuerzahler/-innen
sationen und Gewerkschaften organisierte einen zwei­           und nicht die Banken für den Bankrott aufkommen sollten.
tägigen Streik, dem sich 600 000 Menschen anschlossen.         Dies führte 2012 zu einer neuen Verfassung mit Bestim-
Ende 2013 wurde eine neue Regierung gewählt, der auch          mungen zu Gleichheit, Informationsfreiheit und der Durch-
Schlüsselfiguren der Protestbewegung angehören. Sie            führung von Referenden.43
sind dem Kampf gegen Ungleichheit und einer Reform des
Bildungs­systems verpflichtet.39                               Fazit: Politik und Gesellschaft können aus dem Würge­-
                                                               griff der Eliten befreit werden, wenn sich Bürgerinnen und
2010 gab es in Island große Demonstra­tionen gegen die         Bürger zusammentun und entschlossen für eine fort-
Rettungspakete für drei der wichtigsten Banken des             schrittliche Politik eintreten.

    Maßnahmen
                                             Oxfam fordert

       Der Abbau sozialer Ungleichheit       •   ein klares Bekenntnis nationaler Regierungen und internationaler
                                                 Organisationen zum Ziel, bis 2030 extreme Ungleichheit zu überwinden;
       liegt im Interesse der Allgemein-
       heit und muss Leitprinzip aller       •   die Verabschiedung und Umsetzung nationaler Aktionspläne zur
                                                 Bekämpfung der Ungleichheit;
       internationalen Vereinbarungen
                                             •   die umfassende Offenlegung von Lobbyaktivitäten;
       und Ziel nationaler Politik werden.
                                             •   Meinungs- und Pressefreiheit.
12   BESSER GLEICH!
     Zehn Punkte gegen soziale Ungleichheit

         	Chancengleichheit
       2. für Frauen schaffen
     Einkommensungleichheit: ein Rückschlag                         Ungleichheiten verstärken einander
     für die Geschlechtergerechtigkeit
                                                                    Weitere Dimensionen der Ungleichheit, wie z. B. Hautfarbe,
     Eine der allgegenwärtigsten und ältesten Formen sozialer       Religion, Kaste, ethnische Zugehörigkeit und andere Zu­
     Ungleichheit ist diejenige zwischen Männern und Frauen.        ordnungen, die Menschen bei ihrer Geburt erfahren, ver-
     Geschlechter- und Einkommensungleichheit hängen sehr           stärken diese Benachteiligung noch. In Mexiko zum Beispiel
     eng zusammen und verstärken sich gegenseitig.                  beträgt die Müttersterblichkeitsrate bei indigenen Frauen
                                                                    das Sechsfache des nationalen Durchschnitts und ist so
     Männer sind an der Spitze der Einkommensskala über­            hoch wie in vielen Ländern Afrikas.48
     repräsentiert und besitzen durch hohe Positionen in Politik
     und Wirtschaft deutlich mehr Macht. Frauen hingegen
     stellen die überwältigende Mehrheit bei Niedriglohnjobs
     und in sehr prekären Beschäftigungsbereichen.

         Zahlen und Fakten
                                                                                             2235
                                                                                           GLEICHES GEHALT
                                                                                             UND GLEICHE

            •
                                                                                           BERUFSCHANCEN
                Weltweit verdienen Frauen im Durchschnitt
                23 Prozent weniger als Männer, in Deutsch-
                                                                                                                       4
                                                                                                             220
                land sind es 21 Prozent.44
            •   Weltweit leisten Frauen unbezahlte Pflege-
                und Sorgearbeit in Höhe von jährlich 10 Billio­                  215
                nen US-Dollar.45                                                       6
            •   In nur vier Tagen verdient ein Vorstands­
                                                                                                                   7
                                                                                                             208
                vorsitzender eines der fünf größten Textil­-
                konzerne so viel wie eine Näherin in
                Bangladesch in ihrem ganzen Leben.46                             203
                                                                                       8
            •   In Bangladesch sind 85 Prozent der in der
                                                                                                                   9
                Bekleidungsindustrie Beschäftigten Frauen.
                                                                                                             201
                Diese Jobs bieten kaum Arbeitsplatzsicher-
                heit und sind oft mit Gefahr für Leib und
                Leben verbunden. Die meisten Opfer des
                Einsturzes der Rana-Plaza-Bekleidungsfabrik
                                                                         BLEIBT DIE ENTWICKLUNG WIE SIE DERZEIT IST,
                im April 2013 waren Frauen.
                                                                              WIRD ES NOCH 216 JAHRE DAUERN,
                                                                                     BIS FRAUEN WELTWEIT
                                                                                 GENAUSO VIEL VERDIENEN UND
                                                                             DIE GLEICHEN BERUFSCHANCEN HABEN
     Studien haben ergeben, dass in Gesellschaften mit starker
                                                                                         WIE MÄNNER. 49
     Einkommensungleichheit weniger Mädchen einen höheren
     Schulabschluss erreichen, weniger Frauen in den Parlamen-
     ­ten vertreten sind und das Lohngefälle zwischen den           Die ärmsten 20 Prozent der äthiopischen Bevölkerung ha-
      Geschlechtern größer ist.47 Die weltweit wachsende Einkom­-   ben dreimal geringere Chancen auf Bildung als die reichs-
      mensungleichheit bedeutet daher einen schweren Rück-          ten 20 Prozent. Unterschiede zwischen Stadt und Land
      schlag für die Bemühungen um Geschlechtergerechtigkeit.       verschärfen diese Ungleichheit drastisch – insbesondere
13

                                                                                                  © Rajendra Shaw/Oxfam

zu Ungunsten von Frauen und Mädchen. Die ärmsten auf        Fazit: Die fehlende Gleichberechtigung der Geschlechter
dem Land lebenden Frauen haben eine sechsmal geringere      und Einkommensungleichheit greifen ineinander und ver-
Chance, jemals eine Schule zu besuchen, als die reichsten   stärken sich im Zusammenspiel mit anderen sozialen Un-
Männer, die in der Stadt wohnen.50 Ohne gezielte Verbes-    gleichheiten gegenseitig. Dies schafft „Benachteiligungs-
serungen wird es ihren Töchtern und Enkelinnen ebenso       fallen“, die die ärmsten und am weitesten an den Rand
ergehen.                                                    gedrängten Menschen, insbesondere Frauen und Mädchen,
                                                            tiefer in die Armut treiben – und dort festhalten.

    Maßnahmen                                   Oxfam fordert

                                                •   verstärkte Anstrengungen zur Beendigung des Lohngefälles
                                                    zwischen Männern und Frauen;

      Die Wirtschafts- und Sozialpolitik        •   gleiche Rechte für Männer und Frauen, beispielsweise bei den
                                                    Erb- und Landrechten;
      muss Einkommensungleichheit ver-
      ringern und dadurch Geschlechter-         •   einen finanziellen Ausgleich für unbezahlte Pflege- und
                                                    Betreuungsdienste;
      gerechtigkeit fördern. Denn von der
      sozialen Schieflage sind besonders        •   eine gerechtere Aufteilung von Pflege und Betreuung zwischen
                                                    den Geschlechtern;
      Frauen betroffen.
                                                •   spezifische Datenerhebungen, um die Auswirkungen
                                                    wirtschafts­politischer Maßnahmen auf Frauen und Mädchen
                                                    besser abschätzen zu können.
14    BESSER GLEICH!
      Zehn Punkte gegen soziale Ungleichheit

          	Einkommen
        3. angleichen
      Arm bleibt arm – und Reich wird immer reicher
                                                                           Zahlen und Fakten
      Eine weitverbreitete Annahme lautet, ein gewisses Maß an
      Einkommensungleichheit sei hinnehmbar, solange diejeni-                •    In Pakistan hat ein Junge, der in einer länd-
                                                                                  lichen Gegend geboren wurde und dessen
      gen, die etwas lernen und hart arbeiten, Erfolg haben und
                                                                                  Eltern den ärmsten 20 Prozent der Bevölke­
      zu Wohlstand kommen können. In Ländern mit extremer
                                                                                  rung angehören, nur eine 1,9-prozentige
      Ungleichheit sieht die Wirklichkeit jedoch anders aus. Die
                                                                                  Chance, in die Gruppe der reichsten 20 Pro-
      Kinder der reichen Bevölkerung ersetzen zum großen Teil
                                                                                  zent der Bevölkerung aufzusteigen.53
      ihre Eltern in der wirtschaftlichen Hierarchie; ebenso folgen
      die Kinder der in Armut lebenden Menschen ihren Eltern                 •    In den USA wird nahezu die Hälfte der Kinder
                                                                                  von Geringverdienenden später als Erwach-
      nach – unabhängig davon, wie begabt sie sind oder wie
                                                                                  sene selbst nur ein niedriges Einkommen
      hart sie arbeiten.                                                          erzielen.54

      Forschungen haben länderübergreifend nachgewiesen,
                                                                             •    Bleibt die Entwicklung wie sie derzeit ist,
                                                                                  wird es noch 216 Jahre dauern, bis Frauen
      dass extreme Einkommensungleichheit und geringe soziale                     weltweit genauso viel verdienen und die
      Mobilität stark miteinander korrelieren.51 Wer in einem Land                gleichen Berufschancen haben wie Männer.55
      mit hoher Ungleichheit in armen Verhältnissen geboren
      wird, stirbt höchstwahrscheinlich auch arm, und seine/ihre
      Nachkommen werden ebenfalls in Armut leben.

Anteil Erwerbs­e inkommen             70 %
am Bruttoinlandsprodukt
(BIP) weltweit und
                                      65 %
nach Ländergruppen 52

                                      60 %

                                      55 %
    Weltweit

    G20 Länder mit
                                      50 %
    hohem Einkommen

    G20 Länder mit mittlerem und
    niedrigem mittleren Einkommen     45 %

    Ländergruppen
    außerhalb der G20
                                      40 %
                                               90

                                                    92

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                                                                                                             08

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BESSER GLEICH!
                                                                                          Zehn Punkte gegen soziale Ungleichheit   15

Keine Aussicht auf sozialen Aufstieg                                 Zahlen und Fakten

Einkommen aus Erwerbsarbeit bestimmt die wirtschaft­-
liche Lage und die Zukunftschancen der meisten Men-                     •   Zwischen 1980 und 2016 gingen 27 Prozent
                                                                            des weltweiten Einkommenswachstums an
schen. Aber große Teile der in extremer Armut Lebenden                      die globalen Spitzenverdiener/-innen (das
haben keine Chance, der Armut zu entkommen, egal wie                        oberste Prozent). Die ärmere Hälfte der Welt­
hart sie arbeiten, denn zu viele erhalten Hungerlöhne.                      bevölkerung musste sich untereinander
Frauen sind hiervon wesentlich stärker betroffen als                        gerade einmal 13 Prozent des gesamten
Männer. Die Reichsten hingegen verfügen über hohe und                       Einkommenswachstums teilen.58
schnell steigende Einkommen sowie zusätzliche Erträge
aus ihren angesammelten Vermögen – die soziale Schere
                                                                        •   In Südafrika müsste ein Arbeiter in einer
                                                                            Platin-Mine 93 Jahre schuften, um die durch-
öffnet sich immer weiter.                                                   schnittlichen jährlichen Bonuszahlungen des
                                                                            Minenchefs zu verdienen.59
Seit 1990 nimmt der Anteil des Einkommens aus Erwerbs-
arbeit am Bruttoinlandsprodukt (BIP) ab, und zwar gleicher­
                                                                        •   Rund 40 Prozent der Arbeitskräfte – darunter
                                                                            deutlich mehr Frauen als Männer – sind im in­-
maßen in Ländern mit niedrigem, mittlerem und hohem                         formellen Sektor tätig, wo keine Mindestlöhne
Einkommen, und weltweit bringen einfache Angestellte                        bezahlt und Arbeitsrechte missachtet werden.60
ein immer kleineres Stück vom Kuchen nach Hause,
während diejenigen an der Einkommensspitze mehr und
mehr bekommen.56                                                 und Nichtachtung von Arbeitsrechten jedoch umkehren.
                                                                 In Brasilien etwa stieg der Mindestlohn zwischen 1995 und
Existenzsichernde Löhne zählen zu den wichtigsten An­            2011 real um beinahe 50 Prozent. Parallel dazu verringerten
liegen von Arbeiter(inne)n in armen Ländern. Gewerk­schaf-       sich Armut und Einkommensdisparitäten.
­ten verbessern die Chance auf faire Bezahlung. Das Lohn-
 niveau gewerkschaftlich organisierter Beschäftigter ist         Einige fortschrittliche Unternehmen und Genossenschaften
 durchschnittlich 20 Prozent höher als in vergleichbaren         schränken exorbitante Vorstandsvergütungen mittlerweile
 Betrieben und Industriezweigen, in denen es keine Gewerk-       ein. Der brasilianische Mischkonzern SEMCO SA zum Bei­-
 schaften gibt.57 Jedoch gibt es in vielen armen Ländern         spiel beschäftigt mehr als 3 000 Menschen in mehreren
keine starken Gewerkschaften, denn Arbeiter/-innen, die          Produktionsstätten und hält eine Lohnquote von 10:1 ein:
sich organisieren wollen, sehen sich häufig Repressionen         Das höchste Gehalt darf maximal zehnmal größer sein als
ausgesetzt.                                                      der niedrigste Verdienst.61

                                                                 Fazit: Weltweit macht extreme Ungleichheit für Millionen
Eine andere Arbeitswelt ist möglich                              in Armut lebender Menschen die Chancen auf ein besseres
                                                                 Leben zunichte. Es gibt Wege, dies zu verhindern. Eingrei­
Einige Länder konnten den negativen Trend in Bezug auf           fen von Seiten der politisch Verantwortlichen ist dazu
niedrige Löhne, menschenunwürdige Arbeitsbedingungen             unerlässlich.

   Maßnahmen                                           Oxfam fordert

     Wenn Unternehmen Gewinne erwirtschaften,
                                                       •      weltweit gesetzliche Mindestlöhne in existenzsichernder
                                                              Höhe einzuführen;
     dürfen nicht die Vorstandsvergütun­gen
     steigen, während Angestellte zu Löhnen
                                                       •      Unternehmen auf ein Verhältnis von höchster zu durch-
                                                              schnittlicher Bezahlung von maximal 20:1 zu verpflichten;
     unter dem Existenzminimum und zu menschen­-
     unwürdigen Bedingungen arbeiten müssen.
                                                       •      die Gewerkschafts- und Streikrechte von Arbeiter(inne)n
                                                              zu gewährleisten.
16   BESSER GLEICH!
     Zehn Punkte gegen soziale Ungleichheit

         	Fair                                                           Zahlen und Fakten
       4. besteuern                                                         •   Oxfam schätzt, dass die Einnahmen aus einer
                                                                                weltweiten Steuer in Höhe von nur 0,5 Prozent
                                                                                auf das Vermögen des reichsten Prozents
     Steuern können Ausgleich schaffen                                          der Bevölkerung in allen Ländern ausreichen
                                                                                würden, um allen 262 Millionen Kindern,
     Das Steuersystem ist eines der wichtigsten Instrumente, mit                die derzeit nicht zur Schule gehen, einen
     denen Regierungen etwas gegen Einkommensungleich­heit                      Schulbesuch zu ermöglichen und um staat-
     unternehmen können. Durch eine gerechtere Besteuerung                      liche Gesundheitsversorgung zu schaffen,
     sowie Sozialtransfers kann die von Marktkräften ge­triebene                die 3,3 Millionen Menschen das Leben retten
     Einkommensungleichheit signifikant korrigiert werden. Finn-                könnte.65
     land etwa hat durch eine progressive Besteuerung und ge-               •   In den G20-Ländern haben die Regierungen
                                                                                den durchschnittlichen Unternehmens­
     zielte Sozialausgaben die Ungleichheit halbieren können.62
                                                                                steuersatz von 40 Prozent im Jahr 1990 auf
                                                                                rund 30 Prozent im Jahr 2015 gesenkt.66
     Die Reichsten in die Pflicht nehmen

     Einige Länder haben mittlerweile Steuergesetze eingeführt,    Finanztransaktionssteuer auf möglichst viele Finanz­
     die auf den Abbau von Ungleichheit ausgerichtet sind.         produkte einzuführen. In der EU lag dies auch am fehlenden
     So wurde 2012 in Senegal ein neues Steuergesetz verab-        Elan der deutschen Bundesregierung. Dabei hätte die
     schiedet, das Vermögende und Unternehmen stärker in die       Steuer allein in Deutschland zwischen 11 und 36 Milliarden
     Pflicht nimmt, um zusätzliche Mittel für staatliche Dienst-   Euro pro Jahr einbringen können.64 Nun wollen Deutschland
     leistungen zu generieren.63                                   und neun weitere EU-Partner lediglich eine Steuer auf
                                                                   Aktiengeschäfte einführen, die nur einen Bruchteil der Ein­
     In einigen Ländern werden zudem Vermögenssteuern              nahmen bringt.
     diskutiert. Thomas Pikettys Empfehlungen haben breite
     öffentliche und politische Resonanz gefunden und die          Fazit: Eine stärkere Besteuerung von großen Unternehmen
     Debatte über eine globale Vermögenssteuer belebt. In der      und Vermögenden ist zur Bekämpfung der Ungleichheit
     Tat würde bereits eine geringfügige Besteuerung extremer      unabdingbar. Jedoch sind die Kräfte, die sich aus Eigen­
     Vermögen immensen Nutzen bringen.                             interessen gegen derartige Reformen wenden, sehr mäch-
                                                                   tig. Die Gefahr besteht, dass Lücken im internationalen
     Auch neue Abgaben, die vor allem den unterbesteuerten         Steuersystem nicht geschlossen werden und die reichs-
     Finanzsektor in die Verantwortung nehmen würden, wur-         ten Unternehmen und Privatpersonen unbehelligt weiter
     den nach Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise seit       Schlupflöcher ausnutzen können, keinen angemessenen
     2008 diskutiert. Leider sind seitdem alle Versuche auf        Steueranteil zahlen und sich so auch zukünftig ihrer ge-
     G20-Ebene und in der EU gescheitert, eine umfassende          sellschaftlichen Verantwortung entziehen.

         Maßnahmen
                                                                                    Oxfam fordert
             Regierungen im Globalen Norden und Süden müssen
             gemeinsam internationale Regelungen schaffen, um das
                                                                                    •   Einkünfte aus Vermögen stärker
                                                                                        zu besteuern;
             Ungleichgewicht bei der Besteuerung ärmerer Menschen im
             Vergleich zu den reichsten Unternehmen und Privat­personen
                                                                                    •   nationale Vermögenssteuern
                                                                                        einzuführen;
             zu korrigieren. Neben Arbeitseinkommen und Konsum müssen
             Vermögen angemessen an der Besteuerung beteiligt werden.
                                                                                    •   eine globale Vermögenssteuer
                                                                                        zu prüfen.
BESSER GLEICH!
                                                                                    Zehn Punkte gegen soziale Ungleichheit   17

    	Internationale Steuer­
  5. schlupflöcher schließen
Milliardenverluste durch Steuervermeidung                    um ausländische Direktinvestitionen anzuziehen. Solche
                                                             Anreize werden immer häufiger geschaffen und haben in
In armen Ländern, wo Sozialtransfers und Umverteilung be-    einigen der ärmsten Länder die Grundlagen für eine ange-

                                                                                       „
sonders nötig wären, sind die Steuersysteme leider oft nur   messene Unternehmensbesteuerung ausgehöhlt.
ansatzweise in der Lage, das nationale Einnahmepotenzial
auszuschöpfen.

   Zahlen und Fakten                                                      Wir können und müssen
                                                                            den Kurs ändern hin

      •   Entwicklungsländer verlieren durch die Steu-
          ervermeidung von multinationalen Konzernen
                                                                        zu einer fairen Besteuerung,
                                                                     zur Austrocknung von Steueroasen
          jährlich mindestens 100 Milliarden US-Dollar                 sowie zum gleich­berechtigten
          an Steuereinnahmen.67                                     Zugang zu sozialen Grunddiensten wie
      •   Nach einer Oxfam-Schätzung haben neun von
          zehn großen Unternehmen mindestens eine
                                                                          Gesundheit und Bildung.

          Niederlassung in einer Steueroase.68                                  JEFFREY SACHS 72
      •
                                                                                       “
          Oxfam schätzt, dass die Länder mit niedrigem
          und mittlerem Einkommen – China ausge-
          nommen – fast eine Billion US-Dollar zusätz-
          lich einnehmen könnten, würden sie Steuer-         Oft ist der Handlungsspielraum von nationalen Regierun­
          lücken auch nur zur Hälfte schließen.69            gen durch internationale Steuerschlupflöcher, zulässige
      •   Reiche Einzelpersonen haben laut einer
          Schätzung des französischen Wirtschaftswis-
                                                             Steuer­vermeidungspraktiken und fehlende internationale
                                                             Zusammenarbeit in Steuerfragen stark eingeschränkt.
          senschaftlers Gabriel Zucman derzeit Vermö-        Keine Regierung ist allein mächtig genug, um Industrie-
          gen in Höhe von rund 7,6 Billionen US-Dollar       giganten ihre Vorteile streitig zu machen. Große Unter-
          in Steueroasen angelegt. Den Heimatländern         nehmen können sich unzählige sachkundige Wirtschafts-
          dieser Personen entgehen dadurch rund 200
                                                             prüfer/-innen leisten, um die Steuern kleinzurechnen.
          Milliarden US-Dollar an Steuereinnahmen.70
      •
                                                             Multinationale Kon­zerne wie Apple oder Starbucks73 haben
          Bangladesch wird durch Steueroasen jähr-
                                                             durch die Nutzung von Steueroasen bereits Abgaben in
          lich um Einnahmen in Höhe von 310 Millionen
                                                             Milliardenhöhe umgangen. Gleiches gilt für vermögende
          US-­Dollar gebracht. Das wäre genug, um fast
                                                             Privatpersonen. Multimilliardär Warren Buffet nennt das
          20 Prozent des Budgets für Grundbildung zu
                                                             derzeitige Steuersystem unfair, da es ihm ermöglicht,
          finanzieren – in einem Land, wo auf 75 Kinder
                                                             weniger Steuern zu zahlen als sein Sekretär.
          im Grundschulalter nur eine Lehrkraft kommt.71

                                                             Steueroasen garantieren Geheimhaltung und niedrige
                                                             Steuersätze. Eine reale Geschäftstätigkeit ist hier keine
                                                             Voraussetzung für die Registrierung eines Unternehmens
Einen großen Teil des Problems macht der zunehmende          oder einer Bank. Ein Paradebeispiel für diese eklatante
Rückgang bei der Erhebung von Unternehmenssteuern            Praxis ist Ugland House, ein Bürogebäude auf den Kaiman­
aus. Multilaterale Organisationen und Finanzinstitutionen,   inseln. Es ist Sitz von 18 857 Firmen, was Barack Obama
z. B. Internationaler Währungsfonds (IWF) und Weltbank,      zu der treffenden Bemerkung veranlasste, dass es sich
empfehlen armen Ländern, Steuerentlastungen, Steuer-         „entweder um das größte Bauwerk oder den größten
befreiungen und Sonderwirtschaftszonen einzuführen,          Steuerbetrug der Welt“ handeln müsse.74
18   BESSER GLEICH!
     Zehn Punkte gegen soziale Ungleichheit

     Gefahr erkannt, Gefahr gebannt?                            nicht vertreten sind –, aber immerhin zeugt der Plan von
                                                                einer wachsenden Einsicht, dass das System geändert
     Durch Steueroasen ermöglichte Betrügereien treffen         werden muss.
     arme Länder überproportional. Erfreulicherweise beginnt
     die internationale Staatengemeinschaft mittlerweile,       Auch der IWF widmet sich der Besteuerung multinatio­na­-
     Maß­nahmen zu ergreifen. Im Rahmen des sogenannten         ler Unternehmen und weist auf die Notwendigkeit hin,
     BEPS-Prozesses (BEPS, Base Erosion and Profit Shifting)    das Steueraufkommen zugunsten der armen Länder
     haben die G20 und die OECD im Jahr 2013 einen Aktions­-    zu verändern.77 Zudem erwägt der IWF eine weltweite

                                 „
     plan gegen Gewinnkürzung und -verlagerung multinational    Gesamtkonzern­besteuerung.78 Sie soll sicherstellen, dass
                                                                Unternehmen dort Steuern zahlen, wo sie wirtschaftlich
                                                                tätig sind und ihre Gewinne erzielen.

               Die Kluft zwischen den Reichsten                 Fazit: Die internationale Staatengemeinschaft macht Fort-
                 und den Ärmsten anzugehen,                     schritte, z. B. in Bezug auf Steuertransparenz und einen
                 ist der Imperativ unserer Zeit.                automatischen globalen Austausch von Steuerinformatio­
                                                                nen. Dies soll den Schleier der Geheimhaltung lüften, der
                         GRAÇA MACHEL 75                        Steuervermeidung erleichtert. Ein gravierendes Manko aber

                                 “
                                                                ist, dass die armen Länder nicht mit am Verhandlungstisch
                                                                sitzen und nur unzureichend einbezogen werden. Dies
                                                                muss sich ändern.
     tätiger Unternehmen verabschiedet.76 Zwar dürften die
     ergriffenen Maßnahmen kaum ausreichen, um auch armen
     Ländern höhere Einnahmen aus der Besteuerung von
     Unternehmen zu ermöglichen – kein Wunder, wenn man
     bedenkt, dass diese in dem exklusiven Verhandlungskreis

          Maßnahmen                                    Oxfam fordert

                                                       •   Unternehmen dort zu besteuern, wo sie wirtschaftlich aktiv
                                                           sind und Gewinne erwirtschaften;
                                                       •   eine öffentliche länderbezogene Rechnungslegung von
                                                           Unternehmen über Gewinne und Steuern;

            Das Wirtschaftssystem darf nicht länger    •   ein öffentliches Register für wirtschaftliches Eigentum und
                                                           wirtschaftlich Begünstigte;
            Steuervermeidung multinationaler
            Unternehmen und reicher Einzelpersonen     •   den automatisierten internationalen Austausch von Steuer­
                                                           informationen auch mit armen Ländern, die selbst keine
            begünstigen, denn dadurch werden die
                                                           Informationen weitergeben können;
            öffentlichen Haushalte ausgehöhlt und
            die Möglichkeiten von Regierungen be-      •   Steueroasen durch Maßnahmen wie die Einführung schwarzer
                                                           Listen und Sanktionen zu unterbinden;
            schnitten, mehr gegen soziale Ungleich-
            heit zu tun.                               •   Transparenz über bestehende Steueranreize für Unternehmen
                                                           und Investoren herzustellen – auch über die damit verbun-
                                                           denen Steuerausfälle;
                                                       •   die Initiierung eines Reformprozesses auf Augenhöhe mit
                                                           armen Ländern und die Schaffung eines inklusiveren inter­
                                                           nationalen Steuerregimes.
19

                                                                                                  © Simon Rawles

  	Bildung für alle
6. erreichen
                                                       Soziale Grunddienste sorgen für Einkommen
Zahlen und Fakten

 •
                                                       Öffentliche Schulen mit gut ausgebildeten Lehrkräften
     Öffentliche Leistungen stocken das Netto­
                                                       sowie Krankenhäuser und Gesundheitszentren mit qua-
     einkommen der ärmsten Bevölkerungs­
                                                       lifiziertem Fachpersonal helfen, Einkommens- und Ver-
     schichten in den OECD-Ländern indirekt um
                                                       mögensarmut zu überwinden. Bildung und Gesundheits-
     bis zu 76 Prozent auf.79
 •   Zwischen 2000 und 2007 verminderte das auf
     staatliche Dienstleistungen zurückzuführen-
                                                       fürsorge sind Menschenrechte, und ihre gebührenfreie
                                                       Bereitstellung mildert die schlimmsten Folgen der unglei-
     de „virtuelle Einkommen“ die Einkommens­          chen Verteilung von Einkommen und Reichtum. Drückt man
     ungleichheit in allen OECD-Staaten um durch-      diese öffentlichen Dienstleistungen in einem monetären
     schnittlich 20 Prozent.80                         Wert aus („virtuelles Einkommen“) und rechnet diesen dem

 •   In Argentinien, Bolivien, Brasilien, Mexiko und
     Uruguay führte allein das „virtuelle Einkom-
                                                       faktischen Einkommen hinzu, dann ist festzustellen, dass
                                                       insbesondere die ärmsten Bevölkerungsgruppen durch
     men“ aus dem Gesundheits- und Bildungs­           eine indirekte Aufstockung ihres Gesamteinkommens pro-
     bereich zu einem Rückgang der Ungleichheit        fitieren.
     um 10 bis 20 Prozent.81
 •   Eine pakistanische Familie, die zu den
     ärmsten 20 Prozent der Bevölkerung zählt,         Bessere Bildung – weniger Ungleichheit
     müsste Finanzmittel in Höhe von 127 Prozent
     ihres Einkommens aufbringen, um alle ihre         Insbesondere Bildung ist ein Kernelement, um soziale
     Kinder auf eine vermeintlich billige Privat-      Ungleichheit zu verringern. Zugang zu guter, gebühren­-
     schule zu schicken.82 Ähnliches gilt für Malawi   freier öffentlicher Bildung erhöht die Chancen jedes
     und Indien.83                                     Menschen, ein selbstbestimmteres, gesünderes und pro-
 •   Frauen und Mädchen sind meist als erste
     ausgeschlossen, wenn für soziale Grund-
                                                       duktiveres Leben zu führen. Hier hat sich in den letzten
                                                       Jahren einiges zum Positiven gewendet. Seit Beginn des
     dienste bezahlt werden muss.
                                                       internationalen Aktionsprogramms „Bildung für alle“ und
                                                       der Verabschiedung der Millennium-Entwicklungsziele im
20   BESSER GLEICH!
     Zehn Punkte gegen soziale Ungleichheit

     Jahr 2000 gab es bemerkenswerte Fortschritte im Bereich          Gebühren und Privatisierung vernichten
     der Grundbildung.                                                Chancen

     Länder wie Äthiopien, Mosambik oder Vietnam haben Aus-           Mangelnde Finanzierung sowie die Berücksichtigung von
     gaben für ihre öffentliche Bildungssysteme priorisiert und       Partikular­interessen verschärfen soziale Ungleichheit.
     damit gute Erfolge erzielt. Vietnam etwa gibt 18 Prozent der     Zu viele Länder leiden unter den Folgen einer Politik, die
     Staatsausgaben für Bildung aus – dadurch konnten nicht           Bildung, Gesund­heitsfürsorge und andere öffentliche
     nur Ungleichheiten beim Bildungszugang angegangen,               Dienstleistun­gen gebührenpflichtig macht und privatisiert.
     sondern auch die Qualität des Unterrichts verbessert
     werden. Äthiopien und Mosambik gehen einen ähnlichen             Werden Gebühren für soziale Grunddienste erhoben,
     Weg und haben Ausgaben für Bildung priorisiert – sie             können Millionen von Kindern, Frauen und Männern diese
     wenden rund 22 Prozent ihrer Etats für Bildung auf. Das          nicht nutzen. Dass die Weltbank jahrelang genau dies
     zeigt, dass Fortschritte möglich sind.                           empfohlen hat, sieht ihr derzeitiger Präsident Jim Yong Kim
                                                                      mittlerweile als ideologisch bedingten Fehler an. Trotz des
     Weltweit sank die Zahl der Kinder, die keine Schule be-          Schadens, den solche Gebühren anrichten, sind sie jedoch
     suchen, zwischen 1999 und 2011 um fast die Hälfte. Eine          immer noch weit verbreitet. In einigen Ländern haben sich
     große Rolle spielte dabei in vielen Ländern die Abschaf­fung     in den letzten Jahren vermehrt private, gewinnorientierte
     von Schulgebühren. In Uganda beispielsweise stieg die            Schulen ausgebreitet, die armen Familien den Zugang zu
     Einschulungsquote danach in nur einem Jahr um 73 Pro-            Bildung zu vermeintlich günstigen Gebühren anbieten.
     zent, von 3,1 Millionen auf 5,3 Millionen eingeschulte           Die Realität sieht allerdings oft anders aus, denn die an­
     Kinder.84                                                        fallenden Gebühren belasten Familien schwer: In Ghana
                                                                      z. B. müssen die ärmsten Familien durchschnittlich
     Dennoch haben weltweit noch immer mehr als 260 Millionen         40 Prozent ihres Haushaltseinkommens aufwenden, um
     Kinder und Jugendliche zwischen sechs und 17 Jahren              wenigstens eines ihrer Kinder auf solch eine Schule
     keinen Zugang zu Bildung. Entwicklungsländer müssen              schicken zu können.86
     mehr eigene Ressourcen in Bildung investieren – minde-
     stens 20 Prozent der öffentlichen Mittel sollten in diesen       Fazit: Um Chancengerechtigkeit herzustellen, sind starke
     Bereich fließen. Derzeit geben die Länder im Schnitt gut         öffentliche Bildungssysteme nötig. Die Qualität des Unter-
     14 Prozent für Bildung aus. Das reicht nicht aus, um allen       richts muss durch eine Förderung der Lehramtsausbildung
     Kindern Zugang zu guter Bildung zu ermöglichen und be-           sowie gute Einrichtungen und Ausstattung verbessert
     sonders einkommensschwache Familien zu unterstützen.85           werden. Zudem müssen Maßnahmen ergriffen werden, um
     So wird Millionen Kindern ihr Recht auf Bildung verwehrt         den am stärksten benachteiligten Kindern den Anschluss
     und Einkommensschwache werden tiefer in die Armutsfalle          zu ermöglichen.
     getrieben.

          Maßnahmen
                                              Oxfam fordert

                                              •   die Abschaffung von Gebühren für den Schulbesuch, mindestens bis zur
                                                  Sekundarstufe;
             Allgemeiner Zugang zu
             qualitativ guten Bildungs-
                                              •   arme und reiche Länder müssen ihre Finanzierungsverpflichtungen im
                                                  Bildungsbereich einhalten. Arme Länder sollten 20 Prozent ihrer nationalen
             angeboten ist für die                Haushalte für Bildung aufwenden, davon die Hälfte für Grundbildung.
             Reduzierung sozialer                 Geberländer sollten entsprechend den Anteil der Hilfe für Bildung erhöhen;
             Ungleichheit unerlässlich.       •   gewinnorientierte Initiativen von Privatunternehmen im Bildungsbereich
                                                  sollten nicht mit öffentlichen Mitteln gefördert und kritisch begleitet werden.
BESSER GLEICH!
                                                                                      Zehn Punkte gegen soziale Ungleichheit   21

    	Das Recht auf
  7. Gesundheit durchsetzen
Bessere Gesundheitsfürsorge –                                  Budgets für Gesundheitsdienste im ländlichen Bereich
weniger Ungleichheit                                           immer kleiner, obwohl gerade dort die Menschen in größ­ter
                                                               Armut leben.89 Dies führt zwangsläufig zu einer weiteren
Gesundheit ist ein Menschenrecht; sie ist ebenso eine          Vertiefung der Kluft zwischen Arm und Reich.
Grundvoraussetzung, um arbeiten zu können und Geld zu
verdienen. Eine gute öffentliche Gesundheitsfürsorge ist
eines der wichtigsten Elemente zur Bekämpfung sozialer            Zahlen und Fakten
Ungleichheit. Zwischen 2008 und 2012 kürzten allerdings
zwei Drittel aller Entwicklungsländer aufgrund der welt-
weiten Finanz- und Wirtschaftskrise die Mittel für Gesund-           •   Jedes Jahr verarmen 100 Millionen Menschen,
                                                                         weil sie für Gesundheitsfürsorge bezahlen
heit.87 Solche Einschnitte treffen vor allem diejenigen, die             müssen.90
bereits zu den Ärmsten der Armen gehören.
                                                                     •   2015 starben 303 000 Frauen während der
                                                                         Schwangerschaft bzw. bei der Geburt.
                                                                         Das sind rund 830 Frauen pro Tag. 99 Prozent
Privatisierung – der falsche Weg!                                        der Frauen lebten in Entwicklungsländern.91

Die vermeintlichen Lösungsansätze weisen Paral­lelen
                                                                     •   2017 starben 5,4 Millionen Kinder weltweit
                                                                         vor ihrem fünften Geburtstag. Das sind rund
zum Bildungsbereich auf: Der Privatsektor soll es in vielen              15 000 Kinder jeden Tag.92
Fällen richten. Geberländer, unter anderem Deutschland,
und Geber­orga­nisa­tionen wie die Weltbank drängen da-
rauf, dass der Privatsektor eine größere Rolle im Gesund-
heitssektor spielt, obwohl dadurch erwiesenermaßen die
Ungleichheit oft wächst. In den allermeisten Fällen bietet     Starke öffentliche Gesundheitssysteme
der Privatsektor keine Versorgung für die gesamte Bevölke-     schaffen!
rung, sondern es entsteht ein Parallelsystem: Die Reichen
können aus den staatlichen Dienstleistungen aussteigen         Die dynamische Debatte zur Schaffung einer allgemeinen
und haben daher kein Interesse mehr, diese durch Steuer-       Gesundheitsabsicherung (Universal Health Coverage,
zahlungen zu unter­stützen.                                    UHC)93 bietet neue Chancen, den Zugang zu medizinischer
                                                               Versorgung weltweit zu verbessern. Weltbank-Präsident
Erhebliche Summen, die in den Abbau von sozialer Un-           Jim Yong Kim hat unmissverständlich festgestellt, dass
gleichheit investiert werden könnten, enden durch Steuer­      UHC beim Abbau von Ungleichheit und der Beseitigung von
vorteile und sogenannte „Public-Private-Partnerships“          Armut bis zum Jahr 2030 eine entscheidende Rolle spielt.94
(PPPs, Partnerschaften der öffentlichen Entwicklungs­
zusammenarbeit und der privaten Wirtschaft) in den             Und es gibt vielversprechende Fortschritte: Schwellen­
falschen Händen. In Indien wurden beispielsweise zahl-         länder wie China, Thailand, Südafrika und Mexiko erhöhen
reichen privaten Krankenhäusern Steueranreize für eine         die Investitionen in den öffentlichen Gesundheitsbereich
kostenfreie Behandlung mittelloser Patient(inn)en gewährt,     deutlich, viele Länder mit niedrigen Einkommen haben
die dann aber nicht erfolgte.88 Das im Rahmen einer PPP        die Ungleichheit durch Einführung einer gebührenfreien
finanzierte Queen Mamohato Memorial Hospital in Lesothos       und steuerfinanzierten Gesundheitsfürsorge verringert.
Hauptstadt Maseru verschlingt schon jetzt die Hälfte des       Thailand konnte die Gesundheitsausgaben der ärmsten
gesamten Gesundheitsbudgets des Landes – und die               Be­völkerungsschichten innerhalb eines Jahres halbieren;
Kosten­spirale dreht sich weiter. In der Folge werden die      Kinder- und Müttersterblichkeit sanken.95 Sri Lanka,
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