Reihe "Klassiker der Kommunikations- und Medienwissenschaft heute"

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LITERATUR

Reihe „Klassiker der Kommunikations- und
Medienwissenschaft heute“
Die Entwicklung der Medien und ihrer sozialen, kulturellen und persönlichen Bedeu-
tung stellt auch die Medien- und Kommunikationswissenschaft vor neue Herausforde-
rungen: Wie immer, wenn sich die Fragestellungen und Forschungsfelder einer Wissen-
schaft grundlegend verändern, erhebt sich die Frage nach der Gültigkeit und Brauch-
barkeit ihrer Paradigmen und auch danach, was denn zu ihren gesicherten Beständen
gehört. Adorno und Benjamin, Lippmann und McLuhan: Was haben sie und andere
„Klassiker“ der Medien- und Kommunikationswissenschaft heute noch zu sagen? Mit
diesen Fragen will sich die Reihe „Klassiker der Kommunikations- und Medienwissen-
schaft heute“ in unregelmäßigen Abständen beschäftigen. Es geht nicht um den wenig
fruchtbaren Versuch einer Festlegung, wer denn nun zu den Klassikern des Fachs zu
zählen ist, auch nicht um eine möglichst vollständige oder „ausgewogene“ Galerie ent-
sprechender Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Ihren Zweck erfüllt die Reihe
aus der Sicht der Redaktion dann, wenn diese Beiträge einen Anstoß geben, dass sich die
Medien- und Kommunikationswissenschaft erneut und kritisch mit ihren Grundlagen
beschäftigt. Diskussionsbeiträge zu den in der Reihe vorgestellten „Klassikern“ und
ihrer Interpretation in den Beiträgen sind daher ebenso erwünscht wie Vorschläge, über
welche Autorinnen und Autoren künftige Beiträge lohnend sein könnten.

Marshall McLuhan Revisited. Der Theoretiker des
Fernsehens und die Mediengesellschaft

Friedrich Krotz

Im vorliegenden Aufsatz sollen die wesentlichen Aussagen des Werks von Marshall
McLuhan in einer kommunikationswissenschaftlichen Perspektive dargestellt und in
Hinblick auf heutige Fragestellungen diskutiert werden. Dazu wird zunächst ein
Überblick über seine zentralen Ideen gegeben. Dies leitet über auf sein Konzept davon,
was Medien sind und welche Bedeutung sie für Mensch und Gesellschaft haben. Dann
wird erläutert, welche medienbezogene Geschichtstheorie McLuhan entworfen hat.
Dem schließt sich eine Darstellung der Vorstellungen an, wohin sich Gesellschaft in Zu-
kunft entwickelt. Weiter geht es dann um die McLuhansche Metaphorik und seinen
Schreibstil. Zudem wird eine Übersicht über wichtige Gedanken gegeben, die McLuhan
von anderen Theoretikern übernommen hat. Abschließend werden dann einige kritische
Anmerkungen zu dem McLuhanschen Theorieentwurf gemacht sowie eine Antwort auf
die Frage gesucht, was sein Werk denn für die heutigen medienbezogenen wissenschaft-
lichen Fragestellungen beizutragen hat.

1. Einleitung: Marshall McLuhan heute
„Das Medium ist die Botschaft“, – mit diesem Schlagwort ist der kanadische Literatur-
wissenschaftler Herbert Marshall McLuhan in den sechziger Jahren weltweit bekannt
geworden. Andere seiner suggestiven und publicity-trächtigen Bilder waren die Ver-

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Krotz · McLuhan Revisited

kündung des „Endes der Gutenberg-Galaxis“, seine Sichtweise der „Medien als Massa-
ge“ und seine Prognose einer Entwicklung der „Weltgesellschaft zum globalen Dorf“.
Mit derlei Thesen war McLuhan1 in den 60ern in allen Feuilletons präsent, seine Bücher
waren Bestseller. Wer sich allerdings mit der Rezeptionsgeschichte seines Werks be-
schäftigt, wird schnell feststellen, dass diese Bekanntheit sich mehr auf die Griffigkeit
einzelner Bilder bezog. Nur wenige Wissenschaftler (insbesondere der deutschen Kom-
munikations- und Medienwissenschaft) haben sich mit seinen Thesen analytisch aus-
einander gesetzt2 oder sie gar systematisiert, empirisch überprüft oder fundiert weiter-
entwickelt.
   Gleichwohl sind McLuhans Schlagworte in Wissenschaft, Feuilleton und oft auch in
der Alltagskommunikation erhalten geblieben. Die neuen Entwicklungen der audiovi-
suellen Medien – das digitale Fernsehen, das World Wide Web, das mobile Telefon und
überhaupt die Verbindung von Telekommunikation, Medien und Computern – haben
heute das Interesse an ihm wiederbelebt. Vor allem Apologeten und Theoretiker der
Computer-Kommunikationsnetze beziehen sich immer wieder auf die eine oder ande-
re seiner Aussagen. Beispielsweise taucht der Name McLuhan im Stichwortverzeichnis
der Bände mit am häufigsten auf, die die wiederholt in Hamburg abgehaltene interna-
tionale Tagung „Interface“ protokollieren – eine Tagung, auf der die neuen Entwick-
lungen und ihre Konsequenzen von hochklassigen Experten thematisch diskutiert wer-
den3. Bücher und Essays beschäftigen sich mit McLuhan (vgl. z. B. Wasser 1.998 mit
weiteren Hinweisen). Und auch wer im Internet nach McLuhan sucht, wird gut bedient:
Die Suchmaschine Lycos.de beispielsweise (getestet am 8.2.2001) findet 1.998 deutsch-
sprachige Fundstellen – ein Foto von McLuhan gibt es unter www.vyne.com/McLu-
han/mcphoto.html, das McLuhan Program in Culture and Technology der Universität
Toronto findet sich unter http://wintermute.mcluhan.toronto.edu/ und eine Webseite
des McLuhan-Projekts zur Bewahrung und Weiterentwicklung seiner Gedanken ist un-
ter http://mcluhan.ca/mcluhan/ einzusehen.
   McLuhan ist also heute wieder aktuell, wobei es allerdings einer genauen Analyse be-
darf, um herauszufinden, wofür. Was eigentlich war seine originäre Leistung und wofür
ist er heute noch von Bedeutung? Im vorliegenden Aufsatz sollen noch einmal seine we-
sentlichen Aussagen dargestellt und dann in Hinblick auf heutige Fragestellungen dis-
kutiert werden. Dieses Vorhaben wird, dies ist explizit zu betonen, in einer kommuni-
kationswissenschaftlichen Perspektive, mithin auf der Basis einer sozialwissenschaftli-
chen Orientierung unternommen.
   Dazu wird zunächst ein Überblick über seine zentralen Ideen gegeben. Dies leitet
über auf sein Konzept davon, was Medien sind und welche Bedeutung sie für Mensch
und Gesellschaft haben. Dann wird erläutert, welche medienbezogene Geschichtstheo-
rie McLuhan entworfen hat. Dem schließt sich eine Darstellung der Vorstellungen an,
wohin sich Gesellschaft in Zukunft entwickelt. Weiter geht es dann um die McLu-
hansche Metaphorik und seinen Schreibstil. Zudem wird eine Übersicht über wichtige
Gedanken gegeben, die McLuhan von anderen Theoretikern übernommen hat. Ab-
schließend werden dann einige kritische Anmerkungen zu dem McLuhanschen

1 Geboren 1911, gestorben 1980.
2 Vgl. etwa Giessen, 1995.
3 Vgl. Dencker, 1992, 1995, 1997.

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Theorieentwurf gemacht sowie eine Antwort auf die Frage gesucht, was McLuhans
Werk denn für die heutigen medienbezogenen wissenschaftlichen Fragestellungen bei-
zutragen hat.

2. Die zentralen Ideen McLuhans
Allgemein gilt das 1964 erschienene Buch „Understanding Media“, das in seiner deut-
schen Übersetzung den Titel „Die magischen Kanäle“ trägt, als wichtigstes Werk von
McLuhan. Im ersten Teil dieses Hauptwerks umreißt McLuhan seine Theorie insge-
samt. Im zweiten diskutiert er dann in 26 Unterpunkten die einzelnen Medien: Die
Spanne dessen, was er dort bespricht, reicht vom gesprochenen Wort über die Comic-
zeitschrift MAD „als verrückte Vorschule des Fernsehens“ bis hin zu Radio, Fernsehen,
Waffen und Automation.
   „Das Medium ist die Botschaft“ ist die Überschrift des ersten Kapitels dieses Buches,
in dem McLuhan die Kernthese seines Ansatzes vorstellt: Die Menschen, die sich
bestimmter, gesellschaftlicher Medien bedienen, werden von diesen Medien ebenso
geprägt wie Gesellschaft, Wirtschaft und alle Bereiche ihres Alltags und Lebens. Auf
Gespräch und mündliche Überlieferung hin orientierte Gesellschaften unterscheiden
sich danach von denen, die über Schrift, Alphabet und Buchdruck verfügen. Und wie-
der ganz anders sind Gesellschaften, die durch elektrische oder elektronische Medien
wie das Fernsehen bestimmt sind. Die Arbeit McLuhans ist folglich in die Diskussion
um die Folgen von Medien auf Kultur und Gesellschaft, Alltag und Identität einzu-
ordnen.
   Die unterschiedliche Prägung der Menschen bzw. der historischen Gesellschaftsfor-
men durch die je wichtigen Medien kommt nun nach McLuhan nicht durch die Inhalte
zustande, die die Medien verteilen – in diesem Punkt unterscheidet sich sein Ansatz von
den üblichen Theorien und Fragestellungen der Kommunikationswissenschaft. Er illus-
triert seine Position beispielsweise durch seine Kritik an Schramm, der als einer der Er-
sten in den USA „Das Fernsehen im Leben unserer Kinder“ (so der Titel seines Buches,
Schramm 1961) untersucht hat. „Eine Analyse von Programm und ,Inhalt‘ gibt keine
Hinweise auf die Magie dieser Medien oder auf ihre unterschwellige Energie“, setzt
McLuhan (1992: 31) dagegen. Die Bedeutung der Medien für Mensch und Gesellschaft
entsteht nach McLuhan vielmehr aus den technischen Eigenschaften der Medien und da-
mit aus den Bedingungen medienvermittelter Kommunikation.
   Er setzt, um diesen Gedanken einsichtig zu machen, Medien und Maschinen gleich.
Wichtig für ihre Auswirkungen sei es, dass es sie gibt. Aber es sei ganz gleichgültig,
ob eine Maschine „Cornflakes oder Cadillacs produziert. Die Neugestaltung der
menschlichen Arbeit und des menschlichen Zusammenlebens wurde durch die Technik
des Zerlegens bestimmt, die das Wesen der Maschinentechnik darstellt.“ (McLuhan
1992:17).
   McLuhan vertritt also die These, dass jedes für eine Gesellschaft wichtige Medium als
Technik eine spezifische Wirkung auf die Menschen und die Formen des Zusammen-
lebens hat. War es früher der Buchdruck, der Wahrnehmungsfähigkeit und Denken der
Menschen geprägt hat, so sind es jetzt die elektrischen und elektronischen Medien. Die-
se These beinhaltet insbesondere, dass den technischen Kommunikationsbedingungen
eine besondere Bedeutung zukommt: „… elektrisches Licht und elektrischer Strom be-
stehen getrennt von ihren Verwendungsformen, doch heben sie die Faktoren Zeit und
Raum im menschlichen Zusammenleben genauso auf wie das Radio, der Telegraf, das
Telefon und das Fernsehen und schaffen die Voraussetzungen für eine Beteiligung der

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Gesamtperson.“ (McLuhan 1992: 19). Die Menschen können sich in McLuhans Per-
spektive gegen diese Auswirkungen auch nicht wehren: „Es ist das Thema dieses Buches,
daß nicht einmal das klarste Verständnis der besonderen Wirkung eines Mediums die
übliche ,Schließung‘ der Sinne beheben kann, die bewirkt, dass wir uns der gegebenen
Erfahrungsform angleichen.“ (McLuhan 1992: 374).
   McLuhan begreift gesellschaftliche Entwicklung dementsprechend als einen technisch
induzierten Prozess. Die Medien selbst verändern die Gesellschaft, und deshalb stehen
wir durch das Aufkommen des Fernsehens und der damit zusammenhängenden Medien
am Beginn einer neuen Epoche – ob wir wollen oder nicht. Die Verwendung von Elek-
trizität und von elektrischen oder elektronischen Medien, der Übergang von einer me-
chanisierten zu einer automatisierten Produktion, das bedeutsam Werden von Bildern
etwa im Fernsehen gegenüber der auf einem Alphabet beruhenden Schrift – all dies sind
ihm Zeichen für den Beginn eines neuen Zeitalters mit einem anderen Typus von Men-
schen und einer andersartigen Gesellschaft. Das gesamte Denken der Aufklärung und
des Buch- und Maschinenzeitalters, das auf begrifflicher Zerlegung und der Verwen-
dung logischer Schlussfolgerungen beruht, das analytische Denken also, das Naturwis-
senschaft und Ingenieurskunst ebenso bestimmt wie unser Verständnis von Vernunft,
Demokratie und Gesellschaft, ist damit zu einem Ende gekommen und wird von ande-
ren Denkstrukturen der Menschen und anderen Organisationsstrukturen in der Gesell-
schaft abgelöst.
   Dabei bewertet McLuhan den Übergang vom Buchzeitalter ins elektronische Zeitalter
ausgesprochen positiv. Die Entwicklung mündet in seiner Perspektive in einen gesell-
schaftlich ganzheitlichen und für die Menschen harmonischen Endzustand. Das Wesen
der Automationstechnik, die die Zukunft bestimmt, ist nach seiner Ansicht völlig anders
als das Wesen der bisherigen maschinisierten Zivilisation und hat auch ganz andere Aus-
wirkungen als diese (McLuhan 1992: 17). Automation „ist nicht eine Erweiterung der
mechanischen Prinzipien der Aufteilung und Trennung von Handlungen. Sie bedeutet
vielmehr den Einbruch der Unmittelbarkeit der Elektrizität in die mechanische Welt.
Deshalb betonen jene, die mit der Automation zu tun haben, daß diese genauso eine
Denkweise wie eine Handlungsweise darstelle.“ (McLuhan 1992: 396). Auch wenn der
Begriff der „Informationsgesellschaft“ in „Understanding Media“ nicht auftaucht 4, so
kündigt McLuhan sie gleichwohl an, wenn er schreibt, dass selbst große, weltweit ope-
rierende Firmen wie A.T.&T. oder General Electric bisher noch nicht recht begriffen
hätten, dass sie nicht mit Telefonapparaten oder Glühlampen handeln, sondern mit In-
formationen (McLuhan 1992: 19). Und er geht (in seinen späteren Schriften) in Rand-
bemerkungen auch auf das für ihn bereits in Sichtweite befindliche Computerzeitalter
ein – zumindest lassen sich manche Zitate so deuten.
   McLuhan tritt also mit einem umfassenden Anspruch auf. Er behauptet, dass die neu-
en technischen Möglichkeiten seiner Zeit, vor allem das Fernsehen, eine neue Epoche
einleiten. Er ist der Überzeugung, dass die Technik der Medien, über die eine Gesell-
schaft verfügt, für die darin lebenden Menschen, für ihren Umgang miteinander, für die
Organisation des Zusammenlebens und der Produktion sowie für Wahrnehmungs- und
Denkweisen von zentraler Bedeutung ist. Und er macht sich zum Propheten der kom-

4 Nach McQuail, 1994, S. 87, ist dieser Begriff Anfang der achtziger Jahre in Japan entstanden.
  Vgl. für eine genauere Analyse Kleinsteuber 1999.

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menden Gesellschaft, in der seiner Auffassung nach die drängenden Probleme der Men-
schen wie Vereinzelung und Entfremdung gelöst sein werden. Sein Ansatz umfasst da-
mit
• eine Konzeption von den Menschen und von den Medien,
• eine Theorie der Geschichte und der gesellschaftlichen Entwicklung in Abhängigkeit
   von der Entwicklung der Medien,
• eine Reihe weiterer, damit zusammenhängender Aussagen über die Hintergründe
   dieser Entwicklungen sowie Vorstellungen über die zukünftige Welt.
Diese Elemente sollen im Folgenden dargestellt werden.

3. McLuhans Konzept von Mensch und Medien
McLuhan verwendet einen sehr allgemeinen Medienbegriff, der weit über das hinaus-
reicht, was im Alltagsverständnis unter Medien fällt. Elektrisches Licht als „inhaltsloses
Medium“ (McLuhan 1992: 9) und „reine Information“ (McLuhan 1992: 18) gehört
ebenso dazu wie Schrift und Film, Fernsehen, Telegraphie und alle Arten von Maschi-
nen. Auch Kleidung und Wohnen als eine Art der „erweiterten Haut“ des Menschen,
Geld, Uhren und die Zahl ordnet er in seinem Buch „Understanding Media“ als Medien
ein, ebenso wie die Sprache, getreu seinem Diktum, dass der Inhalt jedes Mediums wie-
der ein Medium ist (McLuhan 1992:29). Medium ist ihm also jede Technologie und jedes
Konzept, mittels derer der Mensch mit der Welt in Beziehung tritt.
   Wie einige seiner Nachfolger 5 behandelt McLuhan insbesondere den Krieg und die
Entwicklung von Waffen als wichtige Triebkraft der Entwicklung der Medien. Seiner
Ansicht nach sind gerade Waffen „Ausweitungen“ des menschlichen Körpers. Der Bo-
gen erweitert danach die Hand und den Arm, das Gewehr das Auge und die Zähne
(McLuhan 1992:387). Der Krieg wird so zum „Prozess der Herstellung des Gleich-
gewichts zwischen ungleichen Techniken“ (McLuhan 1992: 390), und im elektrischen
Zeitalter wird auch die Information zur Waffe 6.
   Verständlich wird diese weite Begrifflichkeit 7 dann, wenn man berücksichtigt, in wel-
cher Perspektive McLuhan an sein Thema herangeht: „Leitmotiv dieses Buches ist der
Gedanke, daß alle Techniken Ausweitungen unserer Körperorgane und unseres Ner-
vensystems sind, die dazu dienen, Macht und Geschwindigkeit zu vergrößern.“ (McLu-
han 1992:109) 8. McLuhans Theorie geht dementsprechend nicht von Systemen, von
Kommunikation oder von Medien aus, sondern vom einzelnen, zunächst für sich ge-
dachten Menschen 9. Der Mensch wird als eine Art organische Einheit verstanden, die
durch Wahrnehmungsfähigkeit und Sinne, durch Verstand und unmittelbare körperli-
che Möglichkeiten wie Greifen oder Gehen geprägt ist. Alles, was die Menschheit sich
als Technik schafft, ist für McLuhan dann eine Ausweitung des Individuums bzw. sei-
ner Fähigkeiten und damit etwas Vermittelndes, eben ein Medium: Maschinen lassen

5 Insbesondere Paul Virilio.
6 Vgl. hierzu McLuhan, 1992, S. 100ff sowie S. 384 – 392.
7 Nach Buddemeier, 1975, S. 4. Vgl. auch McLuhan/McLuhan 1988, S. 3.
8 An anderer Stelle schreibt McLuhan überraschender Weise allerdings, dass Medien die Grund-
  funktionen haben, Informationen zu speichern und zu beschleunigen (McLuhan 1992:185), was
  diesen weiten Begriff dann wieder zurücknimmt.
9 Vgl. auch Kloock, 1995, S. 40f.

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sich als Erweiterung und Ergänzung des menschlichen Tastvermögens und der Hände
verstehen, Transportmittel als Substitution der Füße und des Gehvermögens. Die Kom-
munikationsmedien wie Schrift, Buchdruck und Fernsehen sind dann in McLuhans Per-
spektive eine Erweiterung der Sinne. Und das Fernsehen gilt McLuhan als eine direkte
Ausweitung des menschlichen Zentralnervensystems, weil beide auf elektrischer
Grundlage funktionieren (siehe unten).
   Hinter McLuhans Medientheorie steht damit notwendigerweise eine Wahrneh-
mungstheorie, denn Kommunikationsmedien werden ja als Erweiterung der Sinne be-
handelt. Danach erweitert ein Medium nicht alle Sinne gleichermaßen10, sondern nur
einzelne, während andere verkümmern: Schrift und Buchdruck etwa sprechen vor allem
den Sehsinn an und sind für McLuhan deshalb visuelle Medien – und Schrift ist deshalb
„Massage“ für das Auge. Schrift lässt gleichzeitig aber auch andere menschliche Sinne
wie das Hören unwichtiger werden – sie „amputieren“ den Menschen zugleich um diese
anderen Sinne, die man nicht so intensiv braucht, wie McLuhan das ausdrückt. Damit
lösen Medien das ganze, aufeinander bezogene Ensemble der menschlichen Sinne auf –
und damit auch die ganzheitlichen Wahrnehmungs-, Beurteilungs- und Handlungswei-
sen der Menschen.
   Medien verzerren insgesamt also die menschlichen Wahrnehmungen und prägen
darüber nach McLuhan menschliches Denken und Handeln und dann natürlich auch
Kultur und Gesellschaft und deren Struktur und Typ. War das Zeitalter des Buch-
drucks11 durch den hoch spezialisierten Sehsinn und zugleich durch das Zurücktreten
von Tastsinn und Hören geprägt, so machen nun nach McLuhan die elektrischen Medi-
en, vor allem das Fernsehen, diesen Prozess auf einer höheren Ebene rückgängig, inso-
fern sie die einseitige Betonung des Visuellen überwinden.
   Die Beeinflussung von Menschen und Gesellschaft kommt in der Theorie McLuhans
aber nicht nur durch die Einseitigkeit der Inanspruchnahme der Sinne durch ein Me-
dium zustande, sondern auch noch dadurch, dass jedes Medium entweder heiß oder kalt
ist und sich so auf spezifische Weise auf Mensch und Gesellschaft auswirkt 12. Damit
meint McLuhan eine Eigenschaft, die er weder eindeutig definiert noch einheitlich ver-
wendet. Am ehesten lässt sich – in Anlehnung an Miller (1972: 80ff.) – sagen, dass damit
das Konzept der Redundanz eines Informationskanals und die Konsequenzen, die sich
daraus langfristig für die Rezipienten ergeben, gemeint sind: Heiß ist ein Medium dann,
wenn es redundant ist, also mehr Informationen überträgt, als es eigentlich notwendig
ist – und die Menschen die Botschaft leicht interpretieren können. Beim Gespräch zwi-
schen zwei Menschen, dem paradigmatischen Fall eines heißen Mediums, spielen neben
den Worten ja auch Mimik, Gestik, Gerüche und vielfältige weitere Eindrücke eine
Rolle, die alle zusammen Sinn und Verständnis des Gesagten prägen. Photographie,
Film, Radio, Bücher, der Vortrag und überhaupt Serienprodukte sind heiße Medien,
denn sie erfordern nach McLuhan nur geringfügige interpretative Aktivitäten des Men-
schen, der sie rezipiert.13
   Umgekehrt ist ein Medium kalt oder kühl, wenn es beim Übertragen von Informa-
tionen Lücken lässt, die der Empfänger auffüllen muss. Beim Schreiben etwa gehen

10 Vgl. hierzu und den folgenden Aussagen dieses Abschnitts McLuhan, 1978, S. 42 – 72 sowie
   1992, S. 57 – 64.
11 Vgl. hierzu McLuhan, 1992, S. 184 – 198.
12 Vgl. zu diesem Begriffspaar insbesondere McLuhan, 1992, S. 35-47 sowie 1978, S. 42 – 72.
13 Vgl. hierzu auch Heinze, 1990, S. 122.

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zwangsläufig Sinnzusammenhänge verloren, die der Autor im Kopf hat, weil er sich mit
Hilfe der abstrakten Buchstaben und mit daraus gebildeten Worten ausdrücken muss
und außerdem notwendigerweise einen linear zu lesenden Text produziert. Der Leser
seinerseits muss – und kann – deshalb diese Lücken nach seinen Interpretationskontex-
ten füllen. Fernsehen, aber auch Cartoons und Comics, Telefon, das Seminar oder die
Hieroglyphenschrift sind kühle Medien, weil sie die verschiedenen Sinne mit unvoll-
ständigen Informationen beliefern.
   Die Unterscheidung zwischen heiß und kalt ist nun nach McLuhan nicht nur für eine
Charakterisierung von Medien wichtig. Diese Eigenschaften sind vielmehr mit dafür
verantwortlich, wie und was Menschen generell wahrnehmen, denken, fühlen und wie
sie zusammenleben – wie die vorherrschenden Medien sich also auf die Gesellschaft aus-
wirken. Heiße Medien nämlich „liefern spezifische Sinnesreize mit großer Trennschär-
fe und bewirken Sinnesreaktionen derselben Art. … (Sie) lassen … der Vorstellungskraft
nur wenig Spielraum“ (McLuhan 1978: 45). Kalte Medien dagegen liefern spezifische
Sinnesreize von geringer Trennschärfe und lassen der Vorstellungskraf viel Spielraum,
sie benötigen sie geradezu. Sie verlangen folglich starkes persönliches Engagement, wir-
ken integrativ und führen zur „Partizipation“ des Rezipienten (McLuhan 1978: 46).
Heiß bzw. kalt zu sein, sind also Eigenschaften von Medien, die dadurch bedeutsam
werden, dass sie die Menschen auf bestimmte vorherrschende Denk- und Handlungs-
weisen festlegen – sie aktivieren in bestimmter Weise oder auch nicht.
   Neben den bisher dargestellten, für alle Medien konstitutiven Eigenschaften – sie be-
tonen einzelne Sinne, trainieren sie und amputieren andere, ferner sind sie heiß oder kalt
– und den daraus resultierenden Folgen für Mensch und Gesellschaft haben einzelne
Medien nach McLuhan darüber hinaus noch weitere, spezifische Auswirkungen. Alpha-
bet, Schrift und Buchdruck produzieren insbesondere ein lineares Denken der Men-
schen14. Denn Schreiben und Lesen finden Wort für Wort statt. Fernsehen dagegen wird
von McLuhan als nichtlineares Medium gedacht, das assoziativ und vielfältig angelegt
ist. Eine zweite wichtige Eigenschaft des Mediums Fernsehen und der elektrischen Me-
dien liegt darin, dass sie zu einer Beschleunigung der Wahrnehmung führen15. Auch die-
se Beschleunigung ist nicht einfach nur eine Eigenschaft oder ein Faktum, sondern hat
für McLuhan bedeutsame Konsequenzen: „Der Sinn aller Dinge wird durch Beschleu-
nigung verändert, weil alle Schemata persönlicher und politischer gegenseitiger Abhän-
gigkeit sich durch Beschleunigung der Information ändern.“ (McLuhan 1992: 231).
„Wenn die Geschwindigkeit der Informationsübermittlung zunimmt, bildet sich in der
Politik die Tendenz heraus, von der Ernennung von Vertretern und Bevollmächtigten
abzugehen und sich der unmittelbaren Miteinbeziehung der ganzen Gemeinschaft in
den zentralen Akt der Entscheidung zuzuwenden.“ (McLuhan 1992: 236)16. (Dies ließe
sich als medial veranlasster Übergang zu mehr direkter Demokratie verstehen, wie er im-
mer wieder vom Internet erwartet worden ist).
   Die genannten Konsequenzen der Medien und ihrer technisch gegebenen Nutzungs-
bedingungen bestimmen also die Fähigkeiten der Menschen, die Art ihres Zusammenle-
bens und darüber überhaupt viele wichtige gesellschaftliche Prozesse. McLuhan hat, um

14 Vgl. hierzu etwa McLuhan, 1992, S. 100 – 108.
15 Vgl. hierzu etwa McLuhan, 1992, S. 352 – 392.
16 Diese medienspezifischen Auswirkungen beruhen auf Eigenschaften der Medien, die von spä-
   teren Autoren wie Flusser und Virilio aufgenommen und vertieft worden sind.

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den Übergang von der durch den Buchdruck geprägten Gesellschaft zum elektrischen
oder elektronischen Zeitalter zu charakterisieren, gelegentlich das Begriffspaar Implo-
sion und Explosion verwendet: Das elektrische Informationszeitalter verwandelt, wie
wir bereits gesagt hatten, nach McLuhan die arbeitsteilige Maschinengesellschaft, in der
wir bisher lebten, in eine automatisierte Gesellschaft. „Energie und Produktion gehen
jetzt einer Vereinigung mit Information und Wissen entgegen. Marketing und Konsum
werden eins mit Wissenschaft, Erkenntnis und Aufnahme von Information. Dies alles
geschieht im Zuge der elektrischen Implosion, die nun auf jahrhundertelange Explosion
und immer stärkere Spezialisierung folgt.“ 17
   Diese Argumentation zeigt, dass das Begriffspaar Explosion – Implosion eine
grundsätzliche Veränderung des menschlichen Zusammenlebens beschreiben will:
„Nach dreitausend Jahren der Explosion des Spezialistentums durch die technischen
Ausweitungen unseres Körpers wirkt unsere Welt nun in einer gegenläufigen Entwick-
lung komprimierend. Elektronisch zusammengezogen ist die Welt nur mehr ein Dorf.
Die elektrische Geschwindigkeit, mit der alle sozialen und politischen Funktionen in ei-
ner plötzlichen Implosion koordiniert werden, hat die Verantwortung des Menschen in
erhöhtem Maß bewußt werden lassen. Dieser Faktor der Implosion ist es, der die Lage
der Neger, der Teenager und einiger anderer Gruppen verändert. … Sie sind jetzt dank
der elektrischen Medien in unser Leben miteinbezogen wie wir in das ihre“ (McLuhan
1992: 13). Um Hintergrund und Zustandekommen dieser Entwicklung zu verstehen,
muss man die Theorie McLuhans im Hinblick auf die Entwicklung von Geschichte und
Gesellschaft nachvollziehen.

4. Medien und gesellschaftliche Entwicklung
Wenn Medien die Menschen, ihre Wahrnehmung, ihr Denken und ihren Alltag formen,
so offensichtlich auch Geschichte und Gesellschaft. Das Thema McLuhans ist dem-
entsprechend nicht nur eine Geschichte der Medien. Es geht ihm sehr viel weiter ge-
hend darum, die gesamte Kultur- und Gesellschaftsgeschichte in Abhängigkeit von den
je verfügbaren Medien zu erklären, die über die Wahrnehmung und Denkweise der Men-
schen zustande kommt. Er sieht jede Kultur und das gesamte soziale Gepräge
wesentlich durch die je vorherrschenden Medien beeinflusst. Vor allem drei Phasen
der Menschheitsgeschichte arbeitet McLuhan aus. Sie werden im Folgenden dargestellt 18.
   Er beschäftigt sich erstens mit einer voralphabetischen Epoche 19, in der die Menschen
im Stammesverband leben und das mündliche Sprechen die vorherrschende Kommuni-
kationsform ist. Dementsprechend lebt der Mensch jenes Zeitalters in einem akustischen
Raum, das Ohr ist das besondere und prägende Sinnesorgan. Dieser akustische Raum
muss – nach McLuhan im Gegensatz zum visuellen Raum – als organisch und homogen
verstanden werden, er ist ohne Zentrum und ohne Begrenzung. Dementsprechend sieht
McLuhan den Menschen der dadurch definierten Stammesgesellschaft als ganzheitlich,
spontan, gefühlsbetont, anteilnehmend und ohne besonders ausgeprägten Individualis-
mus. Das Ohr und die direkte zwischenmenschliche Kommunikation als vorherrschen-

17 McLuhan 1992, S. 397/398, Hervorhebung im Original.
18 Eine prägnante und übersichtliche Darstellung oder auch ein Hinweis darauf, ob es weitere Pha-
   sen der menschlichen Geschichte gibt, ist bei McLuhan 1992 nicht zu finden.
19 Vgl. hierzu etwa McLuhan, 1992, S. 65 – 68, 95 – 99 und 128 – 142.

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des Medium sorgen in jener Epoche für ein harmonisches Gleichgewicht der Sinne, für
harmonische Menschen und für ein harmonisches Zusammenleben 20.
   Mit der Erfindung der Schrift geht diese Epoche zu Ende, es beginnt die Ära des
Alphabets und später des Buchdrucks 21. Buchstaben, wie wir sie kennen, sind keine Bil-
der und keine Verweise auf etwas konkretes, wie es noch bei Hieroglyphen der Fall ist.
Hinter dem Alphabet steht vielmehr eine Abstraktionsleistung, mittels derer an sich be-
deutungslose Laute eigentlich ebenso bedeutungslosen Zeichen entsprechen. Von da an
kann aber jedes Wort aus den abstrakten Buchstaben des Alphabets visuell auf abstrak-
te Weise dargestellt werden. Die gesprochene Sprache wird so zur geschriebenen Spra-
che, die gelesen werden muss. Das Medium Schrift wirkt deshalb als „Massage“des Au-
ges – der Mensch des Zeitalters des Lesens oder der Gutenberg-Galaxis, wie McLuhan
diese Epoche nennt22, gibt ein Ohr für ein Auge ab 23.
   Dies hat dann nach McLuhan noch sehr viel weiterreichende Konsequenzen, denn die
Medien beeinflussen ja in seiner Sicht auch Denken, Erleben und Handeln der Men-
schen. Der visuelle Raum hat zwangsläufig einen Mittelpunkt, weil jedes Sehen in einer
bestimmten Perspektive und von einem bestimmten Standpunkt aus stattfindet 24. Es
entstehen so auch die individuellen Sichtweisen, weil der Buchdruck Wissen ja allgemein
zugänglich macht und die Menschen dadurch von interpretierenden Autoritäten unab-
hängig werden. Das Denken wird selbstständig, aber auch einseitig analytisch und eben-
so linear wie es die Schrift 25 ist: Der Mensch beginnt zu katalogisieren und zu kategori-
sieren, es entstehen Spezialisten und Technokraten, daraus später dann durch den Buch-
druck stabile, voneinander abgegrenzte soziale Gruppen, Klassen und Nationalstaaten.
Der Einzelne lebt vereinzelt, entfremdet, gefühllos und individualistisch. Das verkün-
dete Traktat und die einseitig abgehaltene Vorlesung ersetzen den Dialog der voralpha-
betischen Periode.
   Darüber hinaus sind gedruckte Bücher nach McLuhan in sich schon Wiederholun-
gen, und so leitet das Verfahren des Buchdrucks eine Umgestaltung der Produktions-
weise ein, die letztlich beim Fließband endet. Die dazugehörige Gesellschaft ist eine,
die durch mechanische Produktion und Maschinen, durch Zerlegung und Wiederhol-
barkeit des Geschehens geprägt ist: Die immer weiter gehende Durchdringung der Le-
bensbedingungen durch diese strukturelle Organisationsform nennt McLuhan „Explo-
sion“.
   Die dritte Epoche, die McLuhan behandelt, ist die der elektronischen oder elektrischen
Medien und insbesondere des Fernsehens, also die Epoche, zu deren Anfang McLuhan
seine Theorie entwickelt26. Er behauptet, dass diese Medien nun das Ende der Guten-
berg-Galaxis einleiten, und er bewertet dies als Forschritt (McLuhan 1992: 99). Die
elektrischen Medien geben dem Menschen auf neue Weise das zurück, was ihm Alpha-

20 Soweit zu sehen ist, handelt es sich hier um einen Analogieschluss McLuhans – es ist jedenfalls
   nicht zu sehen, wie er diese Verbindung zwischen Mikrogeschehen und Makrocharakterisie-
   rung des Zusammenlebens im Detail als Wirkungskette aufeinander bezieht.
21 Vgl. hierzu etwa McLuhan, 1992, S. 100 – 109, 184 – 191 und 199 – 209.
22 Vgl. hierzu McLuhan, 1992, S. 199 – 202.
23 Vgl. hierzu etwa McLuhan 1992, S. 100 – 109.
24 Vgl. hierzu etwa McLuhan 1992, S. 199 – 209 sowie Buddemeier, 1975, S. 4 – 9.
25 Vgl. hierzu McLuhan 1992, S. 100 – 108.
26 Vgl. hierzu McLuhan, 1992, S. 352 – 393.

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bet und Buchdruck entzogen haben. Ihre technische Besonderheit liegt darin, dass sie
das Zentralnervensystem insgesamt ansprechen und stimulieren. Der Mensch dehnt sich
mit ihrer Hilfe gewissermaßen in die ganze Welt hinein aus. Oder wie McLuhan es an
anderer Stelle ausdrückt: sein Wahrnehmen der Welt und sein Handeln in der Welt im-
plodieren in sein Zentralnervensystem. Jeder Mensch kann dann mit allen anderen Men-
schen Kontakt aufnehmen – wir leben im globalen Dorf 27. Die dazu kongeniale Pro-
duktions- und Lebensweise ist durch die Automation 28 charakterisiert.
  In unserem heutigen Verständnis sind die elektrischen bzw. elektronischen Medien
wie das Fernsehen audiovisuelle Medien, und es stellt sich die Frage, wieso sie so heil-
sam wirken sollen. Entscheidend für McLuhans These ist, dass er das Fernsehen nicht als
audiovisuelles, sondern als akustisch-taktiles Medium begreift. Nur deshalb kann es die
einseitigen und schädlichen Einflüsse des visuellen Buchzeitalters beenden. McLuhan
begründet diese überraschende Charakterisierung auf drei Arten, die zugleich zeigen,
wie Fernsehen seine Wirkung entfaltet.
• Erstens argumentiert er technisch: „Beim Fernsehen ist der Zuschauer Bildschirm. Er
   wird mit Lichtimpulsen beschossen. … Das Fernsehbild ist visuell gesehen datenarm.
   … es tastet pausenlos Konturen von Dingen mit einem Abtastsystem ab. Das so ent-
   standene plastische Profil erscheint bei Durchlicht, nicht bei Auflicht, und ein solches
   Bild hat viel eher die Eigenschaften der Plastik oder des Bildsymbols als die der Ab-
   bildung. Das Fernsehbild bietet dem Beschauer etwa 3 000 000 Punkte pro Sekunde.
   Davon nimmt er nur ein paar Dutzend in jedem Augenblick auf, um sich daraus ein
   Bild zu machen.“ (McLuhan 1992: 357, Hervorhebung im Original).
• Zweitens begründet McLuhan seine These vom Fernsehen als akustisch-taktiles Me-
   dium über die Nutzungsweise, die dieses kühle Medium erforderlich macht: „Das
   Fernsehbild verlangt in jedem Augenblick, dass wir die Lücken im Maschennetz
   durch angestrengte Beteiligung der Sinne ,schließen‘, die zutiefst kinetisch und taktil
   ist, weil Taktilität viel eher Wechselspiel der Sinne bedeutet, als den isolierten Kon-
   takt der Haut mit einem Gegenstand.“ (McLuhan 1992: 358).
• Drittens lässt sich also zunächst sagen, dass McLuhan das Fernsehen nicht als ein Me-
   dium begreift, das dem Menschen Geschehen audiovisuell auf einem Bildschirm prä-
   sentiert und dem man zusieht. Fernsehen bezieht seiner Meinung nach vielmehr den
   Zuschauer sowohl technisch als auch durch die Form seiner Präsentation unmittel-
   bar und umfassend ein. Es wirkt nach McLuhans Ansicht deshalb direkt in den Men-
   schen hinein, weshalb er Mensch und Bildschirm nicht voneinander trennt, sondern
   sie in Eins setzt. Dabei argumentiert er mit einem Analogieschluss, der dritten Argu-
   mentationslinie, um seine These von der weit reichenden Bedeutung des Fernsehens
   gegenüber den visuellen Medien Schrift und Buchdruck zu begründen: „Es ist ein
   grundlegender Aspekt des Zeitalters der Elektrizität, dass diese ein weltumspannen-
   des Netz aufbaut, das mit unserem Zentralnervensystem viel gemeinsam hat. Unser
   Zentralnervensystem ist nicht nur ein elektrisches Netz, sondern stellt ein einziges,
   ganzheitliches Erfahrungsfeld dar.“ (McLuhan 1992: 395). McLuhan ist dementspre-
   chend eigentlich ein Theoretiker des elektrischen Stroms: „Die Technik der Elektri-
   zität ist mit unserem Zentralnervensystem direkt verbunden …“ (McLuhan 1992:
   86). „Im gegenwärtigen Zeitalter der Elektrizität erleben wir, wie wir immer mehr in

27 Vgl. hierzu McLuhan, 1992, S. 352-392 sowie McLuhan/Powers 1995.
28 Vgl. hierzu McLuhan 1992, S. 393-407.

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     die Form der Information verwandelt werden und einer technischen Erweiterung des
     Bewußtseins entgegengehen.“ (McLuhan 1992: 75). Und: „Wenn wir einmal unser
     Zentralnervensystem zur elektromagnetischen Technik ausgeweitet haben, ist es nur
     mehr ein Schritt zur Übertragung unseres Bewußtseins auch auf die Welt der Com-
     puter.“ (McLuhan 1992: 79). Elektrizität also führt nach McLuhan „zu einer totalen
     Wandlung unserer Welterfahrung, der zwischenmenschlichen Beziehungen und Le-
     bensgewohnheiten“, so fasst Heinze (1990: 118) dies zusammen. Das menschliche
     Bewusstsein von diesem Prozess freilich hinkt der Entwicklung hinterher.

Festgehalten werden muss an dieser Stelle allerdings auch, dass sich McLuhans Argu-
mentation über die zukünftige Entwicklung der Fernsehgesellschaft nicht ohne Weite-
res auf Computer-Monitore oder HDTV-Fernsehen übertragen lässt: „Verbessertes
Fernsehen wäre kein Fernsehen mehr“ (McLuhan 1992: 358), heißt es an anderer Stelle.
Dennoch spricht McLuhan immer wieder davon, dass nicht nur das Fernsehen, sondern
alle elektrischen Medien gemeinsam das neue Zeitalter prägen werden. Dies ist dann kein
Widerspruch, wenn man annimmt, dass dem Fernsehen in der Theorie McLuhans zwar
eine besondere, hervorgehobene Rolle als wichtigstes Massenmedium zukommt, er aber
eigentlich eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung beschreibt, die durch das Zusam-
menwirken vieler, aufeinander bezogener Medien entsteht, wobei hier sein weiter Me-
dienbegriff Anwendung findet. Dann symbolisiert das Medium Fernsehen den Kern
einer umfassenden Entwicklung, weil sich daran die wesentlichen Prinzipien besonders
leicht aufzeigen lassen – es ist aber nicht die einzige Ursache dafür.

5 . Werbung, Kunst und der gesellschaftliche Endzustand

Die McLuhanschen Vorstellungen, wohin genau die Gesellschaft sich entwickelt, sind
über sein gesamtes Werk verstreut und werden nicht sehr konkret. Zunächst lässt sich
sagen, dass die Werbung und die Kunst für die zukünftige Gesellschaft eine wichtige
Rolle spielen.
   Der Werbung in den elektrischen Medien widmet McLuhan in „Understanding Me-
dia“ ein eigenes Kapitel. Sie treibt danach den assoziativen Mosaikstil des Fernsehens
voran und trägt damit dazu bei, die im Lesen und Schreiben angelegten linearen Struk-
turprinzipien zu überwinden.29 „McLuhan behauptete auch, in der Reklame eine Spra-
che entdeckt zu haben, welche die Schriftsteller der Moderne auch im Mythos, im Mär-
chen und Traum gefunden hatten; eine Art von unmittelbarem, assoziativem Denken,
wo sich Ideen und Bilder in freiem Zusammenspiel ohne formale Bindungen wechsel-
seitig hervorbringen.“ (Miller 1972: 66). McLuhan wertet damit Werber und Werbung
auf, indem er ihr Tun in einen übergeordneten Sinnzusammenhang einbettet30.
   Werbung im Fernsehen bringt nach McLuhan also nicht, wie es typisch für die Buch-
gesellschaft ist, persönliche Stellungnahmen oder Ansichten hervor, sondern bietet ganz
allgemein einen Lebensstil für jeden und doch zugleich für niemanden. Sie tendiert dazu,
„das Erzeugnis als einen integrierenden Bestandteil großer gesellschaftlicher Ziele und

29 Vgl. hierzu McLuhan, 1992, S. 261-268.
30 Nach Buddemeier, 1975, S. 175 ist dies der Grund, dass Medien und Werbung McLuhans The-
   sen in den sechziger Jahren so enthusiastisch begrüßt haben.

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Prozesse hinzustellen.“ (McLuhan 1992: 261). McLuhan zitiert in diesem Zusammen-
hang zustimmend die Ansicht, dass Werbung für die Integration der Gesellschaft sogar
wichtiger als Politik sei (McLuhan 1992: 264). Denn die Gesellschaft muss auch in Zu-
kunft über Integrationsmechanismen verfügen: Das Leben in einer Gesellschaft muss
insbesondere homogen sein, und dazu trägt die Werbung im Fernsehzeitalter wesentlich
bei. Sie greift mit ihrer Wiederholung und mit ihrem Prinzip des Angriffs auf das Un-
terbewusste, „nach dem letzten Ziel des elektronischen Zeitalters, nach dem Kollektiv-
bewußtsein. Wenn einmal zwischen der gesamten Erzeugung und dem gesamten Ver-
brauch eine prästabilisierte Harmonie aller Wünsche und Bestrebungen hergestellt sein
wird, hat sich die Werbung durch ihren Erfolg selber überflüssig gemacht.“ (McLuhan
1992: 262).
   Ferner schreibt der Literaturprofessor 31 McLuhan der Kunst und den Künstlern für
die Zukunft eine wesentliche Rolle zu. „Die neuen Medien und Techniken, durch die
wir uns selbst verstärken und ausweiten, stellen gewaltige kollektive Eingriffe dar, die
ohne antiseptische Mittel am Körper der Gesellschaft vorgenommen werden.“ (McLu-
han 1992: 82). Die Kunst schafft hier Abhilfe, indem sie dazu beiträgt, neue Ziele, Aus-
drucksformen und Inhalte zu finden. „Der ernsthafte Künstler ist der einzige Mensch,
der der Technik ungestraft begegnen kann, und zwar nur deswegen, weil er als Fach-
mann die Veränderungen in der Sinneswahrnehmung erkennt.“ (McLuhan 1992: 30).
Zwar macht es, so McLuhan, im Zeitalter der Elektrizität keinen Sinn mehr, darüber zu
reden, dass der Künstler seiner Zeit voraus sei. Jedoch: „Um einen Schiffbruch der Ge-
sellschaft zu verhindern, will der Künstler nun seinen elfenbeinernen Turm verlassen
und den Kontrollturm der Gesellschaft übernehmen.“ Er wird „unentbehrlich bei der
Gestaltung und Analyse und zum Verständnis der Lebensformen und Strukturen, die
die Technik der Elektrizität hervorbringt.“ (McLuhan 1992: 83). Denn der Künstler
kann mit seiner Arbeit das Verhältnis der Sinne zueinander berichtigen, ein Ziel, in dem
er den heutigen Menschen (noch) voraus ist. „Wir werden am stärksten das Gefühl emp-
finden frei zu sein, wenn wir am intensivsten einbezogen sind, ähnlich wie es die Künst-
ler aller Zeiten waren.“ (McLuhan 1992: 393).
   Über die Rolle der Werbung und der Kunst hinaus finden sich nur verstreute An-
merkungen über die zukünftigen Lebensformen der Menschheit in McLuhans Werk.
Der Mensch der Zukunft wird sich danach nicht mehr weiter spezialisieren, er wird viel-
mehr zum Informationssammler (Heinze 1990: 122), der quasi in neuen Welten lebt.
Dementsprechend lassen sich viele Charakteristika des neuen Menschen aus dem re-
konstruieren, was über die Konsequenzen der Elektrizität und des Fernsehens für das
menschliche Denken und die gesellschaftliche Organisation gesagt worden ist. Aber auch
für die Gesellschaft ergeben sich Änderungen. „Die Elektrizität zentralisiert nicht, sie
dezentralisiert.“ (McLuhan 1992: 51). Es bedarf nach Ansicht McLuhans auch keines
einheitlichen politischen Raums mehr. Und: „So entdecken die Menschen mit der Ver-
wendung der Elektrizität in mechanischen Situationen leicht Kausalzusammenhänge und
Modelle, die beim langsameren Tempo der mechanischen Veränderung einfach nicht be-
obachtet werden konnten. … Die elektrische Geschwindigkeit verlangt eine organische
Struktur der Weltwirtschaft genauso, wie die frühere Mechanisierung durch den Buch-
druck und die Straße die Bildung der nationalen Einheit möglich machte.“ (McLuhan
1992: 400).

31 Vgl. zur Biografie McLuhans insbesondere Miller, 1972, Kapitel 2 sowie Buddemeier, 1975.

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   In späteren Werken behauptet McLuhan auch, dass das elektronische Zeitalter die
rechtshemisphärische, also die gefühlsbetonte Kommunikation bevorzugen wird
(McLuhan/Powers 1995: 112ff.), dass sich eine psychologische Verschiebung aus der
Abhängigkeit von der visuellen, einheitlichen, homogenen Denkweise zu einer multi-
facettierten, konfigurativen Mentalität vollziehen wird (McLuhan/Powers 1995: 120)
und dass ganze Regionen wirtschaftlich gesehen ausgewogene Kombinationen von
Industrien entwickeln werden (McLuhan/Powers 1995: 123). Die Konsequenzen der
neuer Denkweisen sind also umfassend und für Mensch wie Gesellschaft integrativ.
Zusammenfassend lässt sich sagen: „Wir haben die Kunst gelernt, die gefährlichsten
gesellschaftlichen Unternehmen mit vollkommener Objektivität durchzuführen. Aber
unsere Objektivität war eine Einstellung des Nichtbeteiligtseins. Im elektrischen
Zeitalter, das unser Zentralnervensystem technisch so sehr ausgeweitet hat, daß es
uns mit der ganzen Menschheit verflicht und die ganze Menschheit in uns vereinigt,
müssen wir die Auswirkungen jeder unserer Handlungen tief miterleben.“ (McLuhan
1992: 12).
   McLuhans Vorstellungen von der zukünftigen Sozialisation und sein „Bildungs-
ideal“ betonen damit Spontaneität, intuitives Handlungsvermögen und Originali-
tät 32: Das Zeitalter der Automation verlangt den Einsatz aller Fähigkeiten gleichzeitig.
Eigentlich keine Bedeutung mehr haben die klassischen Kulturtechniken, Schule kann
in ihrer traditionellen Form weitgehend abgeschafft werden. Wie Buddemeier berich-
tet, haben McLuhans Anhänger zum Teil explizit gefordert, Kinder im Lesen und
Schreiben nicht mehr auszubilden, und auch McLuhan selbst habe davon gesprochen,
dass wir es bald nicht mehr wagen würden, unseren Kindern diese bisher grundlegen-
den Kulturtechniken zu vermitteln.33 Andererseits hat McLuhan aber auch behauptet,
dass die Lehrer als vielleicht einzige Berufsgruppe auch in Zukunft existieren werden
und dass Automation Bildung und Allgemeinbildung verlangt (McLuhan 1992: 398).
Insgesamt lässt sich jedenfalls ein anderes Bildungssystem (McLuhan 1992: 226f.) er-
warten.
   Anzumerken ist, dass McLuhan im Sinne der Sozialwissenschaft eine sozialtechnolo-
gische Vision der Gesellschaft entwirft, wenn er sich vorstellt, dass mit dem Einsatz ent-
sprechender Mittel, nämlich Medien und Inhalte, das Verhalten von Menschen und Ge-
sellschaften gesteuert werden kann: „Ganze Kulturen könnten so programmiert werden,
um ihr emotionales Klima zu stabilisieren, wie wir ja auch bereits etwas darüber wissen,
wie ein Gleichgewicht in der Weltwirtschaft aufrechterhalten werden kann.“ (McLuhan
1992: 42)

6. Metaphorik und Schreibstil
McLuhans Sprache und sein Stil sind ausgesprochen allegorisch, bilderreich und oft auch
sprunghaft. Die heißen und die kalten Medien, Explosion und Implosion sind Beispiele
dafür. Einer seiner Anhänger, Joshua Meyrowitz, hat sein Schreiben und seine Dar-
stellungsweise als „apodiktisch, deklamatorisch und endgültig“ (Meyrowitz 1990: 57)
charakterisiert. „… das erleichtert es, ihre Gedanken entweder völlig zu akzeptieren
oder vollkommen abzulehnen, aber erschwert es, sie weiterzuentwickeln oder näher zu

32 Vgl. hierzu insbesondere McLuhan, 1992, S. 393 – 407 sowie, etwa zur zukünftigen Bedeutung
   der Bücher, McLuhan 1978, S. 227 – 256.
33 Buddemeier, 1975, S. 18 und Fußnote 43.

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untersuchen“ (ebenda). Die in dem vorliegenden Text zitierten Aussagen illustrieren
diese These.
   McLuhans Sprache und seine Ausdrucksweise sind dementsprechend für einen
nicht mit seinen Thesen vertrauten Leser zum Teil schwierig zu verstehen. Zum einen
ist seine Ausdrucksweise oft undeutlich. Er definiert selten klar, was er mit einem Begriff
meint, seine Texte sind sehr assoziativ angelegt und viele seiner Hinweise, Bezüge und
Bilder an die USA der sechziger Jahre gebunden. Ist seine Sprunghaftigkeit in der Dar-
stellung einerseits seinem persönlichen Schreibstil zuzurechnen, so verweist sie ande-
rerseits direkt auf seine Theorie: Ein gedrucktes Buch ist wegen des darin angelegten
Zwangs zur linearen und wörtlichen Darstellung eigentlich gerade ein Medium, das an-
gesichts der neuen audiovisuellen Medien zu einer aussterbenden Spezies gehört.
   McLuhan schreibt folglich zum Teil auch bewusst nichtlinear und begreift seinen Text
als aus Mosaiksteinen zusammengesetzt. In seinem zusammen mit seinem Sohn Eric ver-
fassten Buch „Media Laws“ (McLuhan/McLuhan 1988) finden sich dementsprechend
weite Passagen, die man nicht mehr als linearen, fortlaufenden Text lesen kann. McLu-
han hat, wie Buddemeier berichtet, auch eine Zeit lang eine Zeitschrift namens „Coun-
terblast“ herausgegeben, die ohne Paginierung und ohne Angabe des Herausgebers etc.
erschien und damit einen radikalen Bruch nicht nur mit der Wissenschaftstradition,
sondern umfassender mit der Tradition des Publizierens in der Buchdruckgesellschaft
vollzog34.

7. Zum Entstehungskontext der Theorie McLuhans
Über die für die Theorie des 1980, also noch vor dem Siegeszug der dezentral genutzten
Personal Computer verstorbenen McLuhan wichtigen Einflüsse gibt Miller (1972) Auf-
schluss. Danach wuchs der 1911 geborene McLuhan im kanadischen Westen in einem
eher ländlich-konservativen und katholischen Milieu auf. Von 1946 an lehrte er an der
Universität von Toronto, wo er viele der Wissenschaftler traf, von denen er beeinflusst
wurde. Während er für seine ersten Jahre als traditionell orientierter Literaturprofessor
charakterisiert wird, der in seinen Texten etwa auch die Werbung kritisierte, schlug er
später einen Bogen zu einer umfassenderen Sichtweise, innerhalb derer die – zu seiner
Zeit – neuen Medien dann eine ausgesprochen positive Rolle erhielten.
   Zu den wichtigsten Autoren, auf die sich McLuhan bezieht, gehört Harold Innis, ein
in Deutschland kaum rezipierter kanadischer Wirtschaftswissenschaftler. Innis, der Be-
gründer der Toronto School eines „Nachdenkens über Medien“ (McQuail 1994: 85, ei-
gene Übersetzung) beschäftigte sich unter anderem mit der Lage der kanadischen Holz-
industrie. Er belegte empirisch, dass sie entscheidend davon abhängig war, was auf dem
US-amerikanischen Papiermarkt geschah. Von da aus gelangte er zur Frage nach der Be-
deutung der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft. Wie nach ihm McLuhan hat Innis
sich nicht für die Inhalte interessiert, die die jeweiligen Medien transportieren, sondern
für ihre technisch gegebene Verwendungsfähigkeit. Ihm ging es dabei aber nicht wie spä-
ter McLuhan um die Frage der Veränderung der Menschen und ihrer Wahrnehmungs-
fähigkeit, sondern eher um den Zusammenhang zwischen Kommunikationstechnik und
Macht. Seine beiden wichtigsten Bücher, die 1950 und 1951 erschienen, lassen sich als
eine „universelle Kultur- und Technikgeschichte der Kommunikation in den letzten

34 Die in dem vorliegenden Text verwendete Zitierweise, die oft auf ganze Abschnitte in McLu-
   hans Büchern verweist, passt sich diesen Bedingungen an.

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6000 Jahren“ (Kleinsteuber 1992: 322) lesen, ein Vorhaben, das seit damals nicht sehr viel
weitergekommen ist (Carey 1975).
   Innis35 unterscheidet anhand seiner Untersuchungen über Antike und Mittelalter har-
te von leichten Medien, eine Unterscheidung, die an die Kategorien Zeit und Raum an-
knüpft. Harte Medien wie Steintafeln überdauern lange Zeiträume, sind aber schwer zu
transportieren, während leichte Medien wie das Papyrus für Transporte gut, aber für
langfristige Archivierungszwecke weniger geeignet sind. Zentralistische und militäri-
sche Kulturen sind danach auf die Verwendung leichter Medien angewiesen, um die
Kontrolle über das Geschehen zu behalten. Dezentrale und theokratische Gesellschaf-
ten dagegen bedürfen eher harter Medien, um ihr Handeln durch den Bezug auf Über-
lieferungen und Traditionen rechtfertigen zu können. Innis geht aufgrund derartiger
Zusammenhänge und entsprechender empirischer Beobachtungen auch davon aus, dass
durch das Aufkommen neuer Medien oft die Machtbasis existierender Eliten untermi-
niert wird (McQuail 1994: 85).
   Auf Innis‘ Überlegungen gestützte Untersuchungen werden in den USA bis heute im
Zusammenhang mit Technikfolgeabschätzungen durchgeführt (Kleinsteuber 1992). In
Europa wurde sein Ansatz bisher nicht besonders wichtig genommen, findet aber heu-
te etwas mehr Beachtung. McLuhan jedenfalls hat seine historische Theorie der Medien
von Innis bezogen. Er geht aber da über Innis hinaus, wo er Medien und menschliche
Wahrnehmung miteinander verknüpft.
   McLuhan stützt sich weiter auf die Sapir-Whorf-Hypothese 36. Sie besagt, dass Spra-
che und ihre Struktur das Denken entscheidend prägen, dass sich Kulturen also durch
ihre Sprache voneinander unterscheiden. Denken ist danach eine Art nicht laut ge-
wordenes Sprechen. Vor allem Benjamin L. Whorf (1963) hat versucht, diese These durch
die empirische Untersuchung von nichteuropäischen Völkern zu begründen, die über
der damaligen Linguistik fremde Sprachstrukturen verfügen, etwa die Hopi-Indianer. In
der transkulturellen Kommunikationsforschung zählt diese Hypothese zum, wenn auch
in Einzelheiten umstrittenen Grundbestand an gültigem Wissen (vgl. z. B. Jandt 1999).
   McLuhan wandelt die Sapir-Whorf-These, um sie mit der Geschichtstheorie Innis’
zusammenbringen zu können, allerdings in entscheidender Hinsicht ab. Während
Whorf dem Alphabet und der Schrift keine eigenständige Bedeutung beigemessen hat,
weist McLuhan auch diesen (wie allen) Medien eine prägende Rolle für das menschliche
Bewusstsein und damit eine zur Sprache vergleichbare Bedeutung zu. Daran anknüp-
fend ist für McLuhan die Sprache dann auch sonst kein ausgezeichnetes Medium mehr,
wenn er erwartet, dass die neuen elektronischen Medien Sprache überwinden oder je-
denfalls bewirken, dass Sprache in seiner Bedeutung hinter das Visuelle zurücktritt. Dies
hat mit Whorfs Theorie nichts mehr zu tun.
   Schließlich bezieht sich McLuhan in seinen Texten auf eine Vielfalt weiterer Theore-
tiker, beispielsweise auf Einstein und seine Relativitätstheorie 37. Auch gibt es immer
wieder Hinweise auf die Kulturhistoriker Herbert Spencer38, Lewis Mumford 39 und Ar-

35 Vgl. hierzu auch die Textauswahl von Barck 1997.
36 Er bezieht sich allerdings, soweit zu sehen ist, nicht explizit auf diese Hypothese. Nur im
   posthum veröffentlichten Werk McLuhan/Powers, 1995, S. 256 (FN 7) wird dies erwähnt. Vgl.
   auch Miller, 1972, S. 78 – 80.
37 Etwa McLuhan 1992, S. 190f.
38 Etwa im Literaturverzeichnis von McLuhan/McLuhan, 1988, S. 249.
39 Etwa McLuhan, 1992, S. 63, 90, 117ff, 181.

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                   https://doi.org/10.5771/1615-634x-2001-1-62, am 12.02.2022, 22:53:59
                       Open Access –               - http://www.nomos-elibrary.de/agb
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